Schnydrig: UND DRAUSSEN DER SOMMER

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UND DRAUSSEN DER SOMMER SOMMER

Roman

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Lektorat: Liliane Studer, Thomas Gierl

Korrektorat: Philipp Hartmann

Umschlaggestaltung: Pank, Zürich, www.pank.ch

Coverillustration: Paula Troxler, www.paulatroxler.com

Layout / Satz: Eliane Häfliger, www.elianehaefliger.ch

Druck: Finidr, Tschechische Republik

Printed in the EU

Herstellerinformation: Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, St. Alban-Vorstadt 76, CH-4052 Basel, info@zytglogge.ch Verantwortliche Person gem. Art. 16 GPSR: Schwabe Verlag GmbH, Marienstraße 28, D-10117 Berlin, info@schwabeverlag.de

ISBN: 978-3-7296-5205-7 www.zytglogge.ch

UND DRAU SS EN DER SOMMER

ROMAN

PROLOG

VOR DEM FEST

Mimi saß am Küchentisch und schrieb Karten. Was für eine Hitze. Alle, die zum Geburtstag eingeladen waren, sollten zur Begrüßung etwas Persönliches bekommen. Einen Spruch. Einen Reim. Einen Dank. Keine Floskeln.

Geburtstage hatte sie nie gemocht. Aber irgendwann hatte auch sie keine andere Wahl gehabt. Entweder feiern oder in Vergessenheit geraten. Sie freute sich, dass die Familie mal wieder zusammenkam. Wobei es streng genommen gar nicht ihre Familie war, sondern die von Anna, der besten Freundin, die sie jetzt von ihrem Lieblingsfoto an der Wand anlachte.

Wie ich dich vermisse. Jeden Tag. Das freundlichste Lächeln inmitten all derer, für die ich keine Karte mehr schreibe.

Mimi schob die Schreibsachen unter die Zeitung; es hatte an der Tür geklingelt. Was für eine Hitze.

HITZESTAU

Paula öffnete die Augen. Es war Sonntag, kurz nach sieben Uhr. Die Sonne drang durch einen schmalen Spalt zwischen den Läden hindurch, direkt auf den feuchten Fleck, den Harald auf seinem Kissen hinterlassen hatte. Nach der Leidenschaft das Sabbern. Zum ersten Mal seit Wochen musste sie sonntags nicht zum Dienst ins Altenheim. Der Sonne war es egal. Paula drehte sich weg und zog die Decke über den Kopf.

Dennoch hörte sie, wie Harald auf seiner Mission durch die Wohnung schlurfte. Seit drei Jahren führte er in den Monaten Juni, Juli und August Buch über Temperatur und Luftfeuchtigkeit. Vier Zimmer, vier Messstationen, drei Werte pro Tag (morgens um sieben, abends um sechs, nachts um halb drei). Das Gleiche in den Wintermonaten Dezember, Januar und Februar. Notiert wurde auf einen Block. Dann, einmal die Woche, übertragen in die Excel-Tabelle. Sicherheitskopie auf Diskette. Warum er diese Messungen nur drinnen machte, was mit den Daten passierte und wieso er sich im Frühling und Herbst eine Pause gönnte, blieb sein Geheimnis. Anfangs hatte sie noch reklamiert, wenn nachts der Wecker mit der italienischen Nationalhymne ertönte. Harald ließ sich zwar nicht davon abbringen («der Nachtwert ist der spannendste»), wechselte aber nach drei Wochen zu Puccini.

«Siebzehnter Juli 1994. Der Tag des Endspiels. Sieben Uhr zwei. Messstation drei. Flur. Einundzwanzig Komma vier. Ein-undzwanzig-Komma-vier.» Laut und deutlich. Sichergehen, dass die Werte auch richtig erfasst werden. An jenem Sonntag ergänzte Harald in jedem Raum, dass es der Tag des großen Endspiels war. Am Abend spielten seine Italiener in Pasadena gegen Brasilien.

Paula konnte hören, wie er zwischen den Zimmern die Aufstellung der Squadra Azzurra aufsagte und dabei seine Nummer elf stets wiederholte. «Con il numero undici, Demetrio Albertini.» Mit dem repetierenden Harald driftete Paula zurück in Richtung Schlaf. Sie packte ihr Kissen und klemmte es sich vor den Bauch. Hauptsache irgendeine Form von Nähe. Armselige Gedanken. In dieser Beziehung mit einem Hobbymeteorologen.

Sie öffnete die Augen, wusste nicht, ob sie lächeln oder weinen sollte. Gedanken im Halbschlaf seien dem Unterbewusstsein am dichtesten auf der Spur, hatte Mimi letzthin im Heim gesagt, als mal wieder jemand am Tisch eingenickt war und vor sich hin redete. Paula dachte kurz an Julie, an die großen Veränderungen von nächster Woche, und wieder an Harald. Con il numero undici. Dann döste sie endlich weg.

Manni presste seinen Kopf an die Schranktür und schloss die Augen. Schmerzen. Ein pochendes Ungeheuer, dieser elende Sonntag. Direkt hinter der Stirn.

Im Bett eine aufgebrachte Petra. «2009. Das Jahr des Büffels.» Druck im Kessel.

Er bewegte sich nicht. Alles war zu viel. Das berüchtigte Loch nach dem Rausch.

«Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?» Petra wurde lauter. Das war keine Frage. Eher eine suggestive Ohrfeige. «Du kommst um halb sechs nach Hause gestolpert. Besoffener Büffel rennt meinen Drachenbaum über den Haufen, um mich um acht wieder zu wecken und zu erklären, dass er spontan für eine Woche auf Reisen geht.» Wer in der dritten Person über Anwesende spricht, hat das Spielfeld des Dialogs längst verlassen. «Und das Allerschlimmste: mit Katastrophen-Steven.» Sie hatte sich im Bett aufgesetzt und schlug mit den Handflächen auf die Matratze. «Du willst mir doch nicht sagen, dass das dein Ernst ist.»

Doch. Mein Ernst. Alle wissen, was ich will. Und nicht bloß das. Sie wissen sogar, was ich nicht will. Dabei will ich nur Ruhe.

«Du rücksichtsloser Büffel!», polterte Petra.

«Es ist doch nur eine Woche», entgegnete Manni und tastete nach seinem Schlafsack, der auf dem Schrank lag. Beim Strecken schoss die letzte Nacht einmal quer durch den Körper.

Dabei hatte alles ganz unspektakulär angefangen. Er war mit seinem ältesten Freund Steven zum Billard und Bier im Karl Karambol verabredet gewesen. Stammkneipe. Stammfreund. Stammproblem. Steven machte mal wieder eine schwierige Phase durch. Seine letzte Anstellung als Fahrer für die Pflegeheime der Region hatte er nach einem Bluttest verloren. Das war neun Monate her. Er hatte der Leiterin des Fahrdienstes noch zu erklären versucht, dass Kiffen am Vorabend den Fahrstil beruhigen würde und die alten Menschen ihn immer für sein ruhiges Steuerrad gelobt hätten. Half alles nichts. Jeder hat seine Auflagen. Steven hatte seither zu Hause rumgesessen, sich dem OnlinePoker zugewandt und ohne Pausen Öfen geraucht. Einmal im Monat («mein letzter Zugang zur Gesellschaft») spielte er im Karl Karambol Billard oder Flipper, traf einen von zwei Freunden (Manni oder Mike) und trank Bier. Ausnahmsweise.

Das Karambol war weitgehend leer gewesen. Draußen die vierte Tropennacht in Folge. Kein Wetter für Billard. Es schien aber schon seit Jahren kein wirklich gutes Wetter mehr zu sein für Karl und den Billardsport. Seine besten Jahre hatte das Karambol in den späten Achtzigern gehabt. Das war die Zeit der lokalen Billard-Größen Vokuhila-Franz und Robert, genannt «Kennedy», der mit neonfarbenen Leggings, unwiderstehlicher Technik und John-F-Siegerlachen alles in Grund und Boden spielte.

Die Partien an diesem Abend waren einseitig verlaufen. Nach dem fünften Sieg hatte sich Steven mit den Worten «Mensch, Manni, du bist mit deinem Kopf verdammt nochmal nicht am Tisch» genervt an den Guns N’ Roses-Flipperkasten verabschiedet, wo er wie ein Getriebener auf die Tasten hämmerte und lautstark Gott, die Welt und Axl Rose verfluchte. Manni saß derweil an der Bar, hörte sich Karls Räubergeschichten an (Griechenland-Balkan-Reise Mitte der Achtziger) und trank drei Stangen Helles. Wenn man selbst nicht reden mochte, war man bei Karl

an der richtigen Theke. Er war ein Großmeister des Monologs, erwartete keine Beteiligung der Zuhörerschaft und hatte die eigenartige Angewohnheit, sich die Fragen gleich selbst zu stellen. Manni lauschte mit einem Ohr und verfolgte gleichzeitig das Snooker-Spiel im Fernsehen. Im Hintergrund lief Musik aus den Charts. Damit kannte sich Karl gut aus. Bei Pokerface sang er im Refrain ansatzlos die Antwort she’s got me, like nobody mit. Ein Moment für die Ewigkeit. Lady Gaga. Passive Zerstreuung im Halbrausch. Bis Steven angestürmt kam und Manni fast vom Hocker gerissen hätte. «Karl, bring uns irgendwas mit Strom.»

Karl mochte es nicht, unterbrochen zu werden. Der Not gehorchend griff er nach kurzem Protest hoch zu seinen Spirituosen.

«Manni, aus mit der Sparflamme. So kann es nicht weitergehen. Du gibst hier seit Monaten den hadernden Halbschuh, und ich habe mir eine todbringende Doppelsucht angelacht.»

«Ich glaube, du hast genug», warf Karl ein und stellte die Flasche ab.

«Auch damit muss endlich mal Schluss sein», wurde Steven laut. «Nicht Karl Karambol, nicht Steve fucking Jobs, nicht Frau Auflagen beim Fahrdienst. Niemand sagt Steven, was er tun und lassen soll. Auch nicht, wann genug ist. Steven spielt die Kirchenorgel selbst. Bei Knockin’ on Heaven’s Door ist mir ein Licht auf gegangen. Wir brechen unsere Zelte ab, lassen Technik und Rausch hinter uns und gehen auf eine lange Wanderung.»

Manni machte große Augen.

«Ja, mein Freund, eine Wanderung hin zu uns selbst», bekräftigte Steven.

Das wiederum fand Karl sehr überzeugend. Er nickte, stellte zwei Cocktailgläser auf den Tresen und sagte mit sanfter Stimme: «Die besten Ideen starten mit einer Wanderung. Oder einem guten Drink.»

Anna hörte ihre Familie vom Spaziergang nach Hause kommen. Wahrscheinlich hatte Hans die Kinder gebeten, leise zu sein. Sie

flüsterten. So, wie Kinder eben flüstern. Sie öffnete die Augen. Sonntagmorgen. Am Ende der Woche wartet das ganze verdammte Dorf in der Kirche auf dich. Sie blickte aus dem Fenster. Die Mauersegler hatten sich schon in den Süden verabschiedet. Eine Zeile von Rilke geisterte ihr seit gestern durch den Kopf. Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Hans tippte Anna an die Schulter. Sie hatte ihn gar nicht kommen hören.

«Magst du mitkommen zum Amt? Die Kinder würden sich freuen. Ida singt mit dem Chor.»

«Wie geht es der Kleinen?»

«Doch, gut. Ursula ist eine große Hilfe.»

«Aber sie ist selbst noch ein Kind.»

«Mama, ich bin zwölf», mischte sich Ursula vom Gang aus ein.

Anna grinste und schloss die Augen. Hans streichelte ihren Hals.

«Du kannst dich danach sofort wieder hinlegen. Wir werden ohne dich in die Schützenlaube gehen.»

Anna nickte, ohne die Augen zu öffnen.

In der Kirche spürte sie die Blicke auf ihrem Rücken. Und die angenehme Kühle. Die Kinder verhielten sich besonders artig an diesem Tag. Ursula hatte ihre jüngere Schwester Gerda vor der Kirche mehrmals gebeten, auch ja still zu sein. Die kleinste Schwester, seit einigen Wochen endlich auf den eigenen Beinen unterwegs, schlief zufrieden im Wagen.

Ein begnadeter Sänger war Hans nicht. Mit seinem lauten Bass und schiefen Tönen sorgte er für hochgezogene Augenbrauen auf der Vorderbank. Erst zur Hälfte der Messe bemerkte Anna die neuen Glasmalereien, von denen Hans ihr erzählt hatte.

Seine Predigt begann der Pfarrer mit den Worten, dieser September 1961 bringe zwar außergewöhnlich warme, sommerähnliche Temperaturen. Die politische und menschliche Kälte in unseren Breitengraden, die nehme jedoch weiter zu. Er mahnte die Gemeinde, die Herzen offen zu halten, und stellte weitere sonderbare Vergleiche an mit der dicken Mauer, die sie in Berlin gebaut

hatten. Anna biss sich auf die Unterlippe. Erzähl du mir nichts von Mauern.

Das letzte Lied war dem Kirchenchor vorbehalten. Gehe ein in deinen Frieden. Annas Blick schweifte ins Kirchenrund. Ihre Augen kreuzten die von Berta, ihrer Freundin aus dem Frauenverein. Berta nickte freundlich. Und sie schaute in die tiefen Augenhöhlen des unheimlichen Metzgersohnes. Dessen Gesicht war fahl und frei von Freundlichkeit. Auch die Frau vom Dorfladen drehte sich um, ihre Blicke fragend. Wo warst du all die Wochen? Immerzu schickst du deine Kinder.

Hastig senkte Anna den Kopf.

«Gleich hast du es geschafft», flüsterte Hans ihr ins Ohr. Er nahm ihre Hand, während von der Empore die letzten Orgelklänge verhallten.

Draußen wartete Kamil mit seiner Trommel, belustigte die Leute mit einer kuriosen Kombination aus Tanzeinlage und unkoordiniertem Getrommel und verkündete euphorisch das wöchentliche Schießen in der Schützenlaube. Anna musterte ihn. Mit dem ausgeleierten Hut und der zu kleinen Weste über der endlos weiten Hose hatte er sich längst den Ruf eines bärtigen Dorforiginals erspielt. Während die anderen in der Kirche waren, brachte er sich jeweils in der Wirtschaft in Stimmung.

Wie jeden Sonntag schritt eine Gruppe von vierzig Leuten nach der Messe Richtung Schützenlaube. Anna verabschiedete sich von den Kindern. Hans gab Kamil per Handzeichen zu verstehen, dass er dem Tross folgen werde.

Ida hatte sich unterdessen eilig von der Empore geschlichen und drückte ihre Schwägerin Anna, obwohl die steif dastand und ihre Arme hängen ließ. Den Kindern reichte Ida eine Tüte mit Backwerk und signalisierte Hans mit einem einzigen Blick, dass sie sich um Anna kümmern werde.

Ohne weitere Worte machten sich die beiden Frauen auf den Weg.

Harald hatte einen rigiden Frühstücksplan. Am Sonntag bestand dieser aus einem Fünf-Minuten-Ei («dreihundert Sekunden, keine mehr, keine weniger»), einem Aufbackbrötchen (Sesam) und Aprikosenkonfitüre (Pflaume an allen anderen Tagen). Seit sich Paula über seine Eikochmarotten lustig gemacht hatte, fragte er nicht mehr, ob sie ein Ei mitessen wolle. Mit den Eiern fängt es an. Die Eieruhr tickt. Jeden Sonntag fünf Minuten Restliebe weggelöffelt.

Paula füllte stoisch Kaffee in den Filter. Die Frauenstimme im Radio berichtete von Kühen mit Sonnenbrand in Deutschland. Harald setzte einen hellhörigen Blick auf. Jede Hitzewelle war auch seine Hitzewelle. Wäre er eine Farbe, er wäre Beige. Über seinem Platz auf der Eckbank thronte seit dem Tag des Einzugs ein Kunstdruck vom Hundertwasserhaus in Wien. Mit solchen Bildern fängt es an. Irgendwann wird jemand aus der Wohnung getragen. Paula schauderte es. Woher kommen diese Gedanken? Die Reporterin kündigte eine Schaltung zu einer namenlosen Koryphäe vom Max-Planck-Institut an, sagte vorher aber noch die erlösenden Worte: «Erst mal Musik.»

Harald widmete sich seinem Ei, Paula erfreute sich an Meat Loaf.

«Wir könnten ein bisschen rausgehen», sagte Harald noch in der ersten Strophe.

«Wieso meinst du?», fragte Paula. Halb Frage, halb Absage.

«Nur so. Einen Ausflug machen.»

«Jetzt?»

Er nickte. Sie trank noch einen Schluck aus ihrer Grease-Tasse und meinte, dass ihr nicht so gut sei. Sie wolle sich nochmals hinlegen.

«Sicher», sagte Harald. Wie er dasaß in seinem Schlafanzug, mit Ei und Aromat. Wie ein kleines Kind, das niemanden zum Spielen hat.

Im Bett hörte Paula, wie Harald seinen Eierbecher ausspülte, summte und zu sich selbst sagte: «Nichts ist hartnäckiger als getrocknetes Eigelb.» Ihre Augen wurden feucht. Es war auch

ihre Schuld, dass das alles so gekommen war. Sie streichelte Haralds Kissen. Der Sabberfleck war noch immer feucht. Harald verabschiedete seinen Becher wie jede Woche mit: «Bis nächsten Sonntag, auf Eiersehen.» Mensch, Harald. Die Tränen schossen, ihr Entschluss stand fest.

Ursula mochte es, in der Schützenlaube zu sein und das Treiben zu beobachten. Zwischen den sonntäglichen Kirchgängen am Morgen und am Abend war das eine willkommene Abwechslung. Die Männer setzten alle ihren schwarzen Schützenhut auf. Besonders erfreuten sich die Kinder an den türkisfarbenen Bändern und Bommeln. Sie versuchten, ihre Väter und Großväter zu animieren, die Köpfe so zu schwingen, dass die Bommel durch die Luft wirbelten. Nach dem mäßigen Erfolg widmeten sich die Sprösslinge ihren Spielen im Schatten der Laube. Ursula übte mit der Kleinen laufen, während ihre andere Schwester Gerda mit dem Ball spielte. Sie war sieben Jahre alt und ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Zumindest sagten das die Leute im Dorf.

Ursula lenkte die Kleine in Richtung der Tische, wo die Männer, nachdem der Wein aus den Fässern in die mitgebrachten Flaschen abgefüllt worden war, langsam Platz nahmen.

«Eine Mordshitze ist das», klagte Kamil beim Ablegen seiner Trommel. Ein Glaubensbekenntnis wurde gesprochen. Die etwas größeren Kinder hielten inne, wie ihnen befohlen wurde, und falteten ihre Hände zum Gebet.

Zumeist lockerte Kamil bald schon die andächtige Stille mit einem Witz auf, bei dem nur die Erwachsenen lachten. An diesem Sonntag verzichtete er darauf, verkündete jedoch, dass er «etwas Destilliertes» mitgebracht habe. Die Menge johlte kurz und heftig.

Die Männer hatten sich auf ihre Gewehre zu konzentrieren und fachsimpelten über Material und Technik. Kamil scherzte, dass sein Aprikosenwasser für eine besonders ruhige Hand sorge.

Ohne Vorwarnung fragte Henry, der Mann mit dem dunklen Teint und der Schauspielerfrisur: «Du, Hans, was ist eigentlich mit Anna? Hat sie es mit den Nerven?»

Ursula schaute zu ihrem Vater hoch. Augenblicklich wurde es still in der Runde.

«Müde ist sie», antwortete Hans nach einer kurzen Pause. «Der letzte Winter war streng. Mit dem Spätabort … Zum zweiten Mal …»

Er suchte nach Worten. Kamil schaute ernst zu ihm hinüber. So hatte Ursula den Trommler noch nicht gesehen.

«Die unausgesprochenen Dinge sind die schwierigsten», sagte Henry, stand auf und trat in den Schützenstand. Die anderen Männer blickten zu Hans, dann auf die Schießanlage und warteten, bis endlich der erste Schuss erklang.

Ursula suchte vergeblich Augenkontakt mit ihrem Vater.

Hans sah zur Kapelle hoch. Was wollte Henry ihm damit sagen? Sicher, Henry nahm nie ein Blatt vor den Mund. Er war ein Mann der klaren Sprache. Keine Floskeln oder Andeutungen. Stets war Henry derjenige, der in der Gemeindeurversammlung aufstand und die unangenehmen Fragen stellte. Nachfragen brauchte es bei ihm keine. Aber was kümmerte ihn Annas Zustand? Und wieso fragte er nicht unter vier Augen?

Er kannte Henry schon lange. Es war keine freundschaftliche Beziehung im eigentlichen Sinn, aber eine doch vertraute Bekanntschaft, zwei Leben mit vielen Berührungspunkten. Sie waren gemeinsam in der Rekrutenschule gewesen, ihre Frauen unterrichteten im selben Schulhaus, und beide waren sie Aktivmitglied in der Gesangsvereinigung Loge Immerfeucht.

Im Dorf gab es vier Möglichkeiten, die Menschen aufzuteilen. Sie wählten schwarz oder sie wählten gelb, sie hatten Reben oder nicht, sie waren Mann oder sie waren Frau und: Sie mochten Henry oder sie gingen ihm aus dem Weg.

Hans gehörte zu den wenigen, die ein zwiespältiges Verhältnis zu Henry hatten. Er schätzte einerseits seine direkte Art und den Enthusiasmus für Angelegenheiten, die über die Dorfgrenze hinausgingen. Sein weltmännisches Auftreten und das Umgarnen

der weiblichen Dorfgesellschaft hingegen waren ihm mehr als suspekt. Kamil hatte Henry vor Jahren bei einem Streit im Bahnhofbuffet einen Satz an den Kopf geworfen, den er schon länger mit sich herumgetragen hatte und der bei Gleichgesinnten zum geflügelten Wort geworden war: «Du meinst, du seist eine Mischung aus James Dean und Konrad Adenauer, dabei bist du Sohn eines alten Rebstocks und kein bisschen schlauer.»

Henry schoss eine makellose erste Runde. Ein grausam guter Schütze war er, unter Druck und Beobachtung stehend gar eine Note zielsicherer. Als er sich wieder hinsetzte, notierte er sein Resultat und gab Hans Grüße an Anna mit.

Hans schloss langsam die Augen, holte Luft und erhob sich. Die Reihe war an ihm.

«Wir wollten doch endlich mal reden.» Pause. «Richtig reden.»

Petra seufzte noch lauter, als sie es für gewöhnlich in solchen Situationen tat. Manni rollte innerlich die Augen. Laut Seufzen ist fast die unterste Schublade der Streitkultur, kurz nach Telefonaufhängen.

«Ja eben. Für ein richtiges Gespräch braucht es hinreichend Vorarbeit. Diese Woche wird auch uns von Nutzen sein. Steven und ich wollen zu uns finden, mit Klarheit sehen, uns einmitten.»

«Einmitten? Von Nutzen sein? Du bist doch noch betrunken.»

Er hatte nicht erwartet, dass sie sich über seine Absichten freuen würde. Aber diese Reise sollte tatsächlich auch ihrer Beziehung dienen. Endlich mal klare Ansagen machen. Petra wollte nach Kanada. Drei Jahre Winnipeg. Arbeiten im Forschungsprojekt an der Uni («einmalige Chance»), Englisch lernen («super Gelegenheit»), im Van das Land erkunden («stell dir das mal vor, wir zwei im Yoho-Nationalpark»). Anschließend: Rückkehr und Familie gründen («perfekter Zeitpunkt»). Alles in genau der Reihenfolge. Alles genau so, wie in Petras Kopf ausgemalt.

«Am Ende dieser Woche werde ich dir Antworten liefern. Canada. The Peg. The Future. The Family.»

«The bescheuert!», wetterte Petra, stand ruckartig auf und verschwand in die Küche, wo sie weitere Salven Richtung Schlafzimmer abfeuerte: «Und diese Sprache. The Future. Hinreichend. Antworten liefern. Wie redest du? Gestern hieß es noch kältestes Loch der Welt und Kackwindeln. Ein Vollquatsch ist das.» Die Zubereitung ihres allmorgendlichen Vitamindrinks erfolgte in entsprechender Geräuschkulisse. Laut, schnell und von Wut erfüllt.

In so einer Lage gewinnt man am besten etwas Zeit auf dem Klo. Deeskalation bei der Morgentoilette. Absitzen, kurz sammeln, einen ersten Satz parat legen, Gesicht waschen, den freundlichen Blick im Spiegel überprüfen. Kaffee kochen, Tassen rausholen und einen Schritt auf das Gegenüber zugehen.

Noch bevor Manni überhaupt in die Nähe der Kaffeekanne kam, redete Petra Tacheles: «Also, Indiana Jones, hier kommt meine Ansage. Tu, was du nicht lassen kannst. Mitte dich mit deinem Kiffkopf ein. In einer Woche habe ich eine Entscheidung zu Kanada. Sonst bin ich weg.»

Als er leergeschluckt zur Antwort ansetzen wollte, unterbrach sie ihn forsch: «Und sieh bloß zu, dass du pünktlich zum Fest zurück bist.»

«Auf keinen Fall verpasse ich Mimis Geburtstag. Und … Danke für dein Verständnis.» Er versuchte, ihr die Schulter zu streicheln.

«Glaub ja nicht, dass ich diesen Quatsch wirklich unterstütze», riss sie sich los. «Erwachsene Menschen sollten auch ohne einen Abenteuertrip Entscheidungen treffen können.»

Manni widmete sich mit hängendem Kopf der Kaffeekanne. Zu gekonnter Deeskalation gehört auch zu wissen, wann man den Rückzug antreten muss.

In zwei Stunden steht Steven vor der Tür. Frische Luft wird helfen.

«Du solltest mit dem Herrn Pfarrer reden», sagte Ida, während sie den Tisch abräumte. «Du könnest dich jederzeit bei ihm melden.

Er ist ein so vorzüglicher Seelsorger. Und er hat sich immer um euch Lehrerinnen gekümmert.»

«Indem er gesagt hat, eine Lehrerin verliere in der Bekanntschaft mit einem Mann ihre Sicherheit vor den Kindern?», entgegnete Anna. Sie faltete das rot-weiß karierte Tischtuch langsam zusammen und legte es auf die Bank.

«Anna, du willst doch nicht den Herrn …»

«Entschuldige, Ida. Lass uns Kuchen backen», lenkte Anna ein. «Die Kinder werden sich freuen.» Sie versuchte sich an einem Lächeln. «Und du hast doch bestimmt eine deiner Geschichten mitgebracht.»

Ida war nicht danach. Anna war öfters ausweichend und wenig redselig. Aber wenn es um den Pfarrherrn ging, bekam ihre Stimme etwas ungewohnt Bissiges.

Anna holte die Butter aus dem Kühlschrank. Die restlichen Zutaten und das Rezeptbuch hatte Hans schon bereitgelegt. «Hier steht: die Butter schaumig rühren und nach und nach Zucker, Vanillezucker, Eier und Salz hinzugeben. Alles vermengen.»

Ida tat, wie ihr befohlen. Für eine Weile waren die beiden Schwägerinnen in die Herstellung des Teigs vertieft. Erst als Ida die klebrige Masse mit einem Teigschaber in der Form glattstrich, begann sie ansatzlos, von der waghalsigen Eunice Winkless zu erzählen, die sich 1905 in Colorado im Rahmen einer Wette mit einem Pferd von einem zehn Meter hohen Gerüst in ein Wasserbecken gestürzt hatte. «Über tausend Menschen hatten nicht schlecht gestaunt, als sie Eunice in ihrem weißen Kleid auf dem Holzgerüst erblickten.»

Anna liebte es, wenn Ida Geschichten erzählte. Über die Jahre hatte sie von vielen Legenden gelesen, absurden Ereignissen aus aller Welt. Meist von Menschen, die sich auflehnten oder andere Idee hatten. Ida träumte davon, die Episoden irgendwann in einem Buch zu sammeln. «Das Tragische war, dass Eunice vor Gericht erscheinen musste, um die zugesicherten hundert Dollar zu bekommen. Nur weil sie eine Frau war.»

«Und in fünfzig Jahren hat sich nichts verändert», schüttelte Anna den Kopf.

«Dabei stürzen auch wir uns täglich in die Tiefe», lächelte Ida und schob die Kuchenform in den Backofen. «Möchtest du, dass wir zur Schützenlaube spazieren, zu Hans und den Kindern?»

«Nein. Ich würde mich lieber noch etwas hinlegen. Morgen fahren wir auf die Alp hoch. Das wird eine mühsame Reiserei.»

«Sei unverzagt, Schwägerin. Hans hat mich gefragt, ob ich für ein paar Tage mitkommen will. Vielleicht könntet ihr etwas Unterstützung gebrauchen.»

Einen kurzen Moment zögerte Anna. «Die Kinder würden sich freuen. Und du könntest deine Geschichten erzählen.»

«Dann werde ich am Dienstag nachkommen.» Ida nahm ihre Hand. «Und jetzt ruh dich aus, ich warte hier und mache inzwischen die Küche sauber.»

«Du bist ein Engel», flüsterte Anna und verabschiedete sich.

Manni hatte Steven gebeten, unten zu warten, um nicht zusätzlich Öl ins Feuer zu gießen. Weitere Eskalationsstufen waren tunlichst zu vermeiden. Petra hatte nicht vor, sich noch zu beruhigen, und gab bei Fragen nach Zelt und Medikamenten ausschließlich bissige Antworten («Helden stellen keine Fragen» und «Ritalin für Steven nicht vergessen»).

Die Verabschiedung: ein Kuss, frei von Liebe, Widerwillen wegen der Alkoholfahne und ein bedrohlich klingendes «Samstagmittag».

Auch wenn er froh war, aus dem Haus zu kommen, hatte Manni inzwischen eingesehen, dass dieser Trip möglicherweise nicht die beste Idee war.

Steven saß auf der Treppe bei den Briefkästen, tippte in sein Handy und zog gierig an einem Joint.

«Was ist los? Kein Rausch und keine Technik war die Ansage.»

«Das ist ja eine Begrüßung», blies Steven dichten Rauch aus den Wangen. «Keine Angst, Fidel. Das Telefon klebe ich in euer Milchfach und der letzte Joint ist aus in drei, zwei, eins.» Er nahm

einen letzten tiefen Zug, verabschiedete sich mit einer mächtigen Wolke und den Worten: «Babe, I’m gonna miss you.»

«Und wo sind deine Sachen?», fragte Manni irritiert. Steven hatte nur seinen löchrigen roten Eastpak-Mini-Rucksack dabei.

«Wenn das Reiseziel nicht bekannt ist, wäre jedes Gepäck außer Unterhosen, Socken und Shirts das potenziell verkehrte. Und zudem: Es ist 2009, ich besitze eine Kreditkarte. Und du, MacGyver? Ein Zelt? Glaub ja nicht, dass ich mir das mehr als eine Nacht antue.»

Manni schielte nach oben. Insgeheim hatte er gehofft, Petra am Fenster stehen zu sehen. Doch noch ein gutes Gefühl zum Abschied, ein versöhnliches Winken, eine Geste der Zuversicht. Zu sehen war aber nur Frau Bollinger im ersten Stock, die beharrlich am Küchenfenster stand und beobachtete, wo es nichts zu beobachten gab.

«Hilft alles nichts», entwich es ihm.

«Was?», sagte Steven. «Selbstgespräche kannst du dir für die nächsten Tage auch abschminken. Hier herrscht der Dialog, Agent Zitteraal.»

Es war wie im Fiebertraum, andauernd wachte Paula auf. Sie hörte Harald, wie er im Nebenzimmer telefonierte. Wahrscheinlich mit seinem Bruder. Der war der einzige Mensch, mit dem Harald sonst noch telefonierte. Aber eigentlich auch nur an Weihnachten oder Geburtstagen. Aus dem emotionslosen Gebrumme hörte sie italienische Ziffern heraus. Klar. Das Endspiel. Jungs. Männer. Fußball. Krabbelecke.

Nach dem Gang ins Bad folgte als Erstes der erprobte Blick in den Spiegel. «Hallo Paula», hatte sie dann immer gesagt, verbunden mit der Gestik einer Nachrichtensprecherin. Heute nicht. Es war ihr nicht nach Jux. Sie studierte die bitteren Augen, hatte Mühe, Blickkontakt mit sich selbst zu halten. Im Radio spielten sie die Singlecharts von vor zwanzig Jahren. Platz acht. The Golden

Age of Rock ’n’ Roll von Mott the Hoople. «Damals mit Queen auf Tour. Kennt heute fast niemand mehr. Schade eigentlich.»

Super Satz. Moderatorenfloskel. Schade eigentlich. Der Song stand ihrer Stimmung diametral entgegen und löste im Spiegel sichtbares Unbehagen aus. Just als sie das Radio ausmachen wollte, erklangen die ersten Takte von Nummer sieben. Waterloo. Sie blickte auf. Hallo Paula, nickte sie sich zu. Erinnerst du dich? Sommer 74. Fünfzehn Jahre alt. Zum ersten Mal verliebt, in den strahlenden Andreas. Der erste Liebeskummer. Andi interessierte sich nicht für Jüngere. Die unglücklichen Wochen auf der Alp, weg von ihren Freundinnen, eingebrannt in der jungen Seele. Kein Trost von der Verwandtschaft, nur das Transistorradio und eine ABBA-Kassette, die der Onkel aus dem Jugoslawien-Urlaub mitgebracht hatte.

Harald klopfte an die Badzimmertür: «Ist das ABBA?»

«Was ist denn?», fragte sie schroff zurück. Was soll man da auch antworten.

Er suchte nach Worten und trommelte dabei gegen die Badezimmertür.

«Wollen wir jetzt noch eine Runde spazieren gehen? Vielleicht kurz bei Esposito vorbeischauen?»

«Gib mir eine Viertelstunde.» Sie stellte das Radio wieder lauter und schaute sich im Spiegel zu, wie sie sein Türtrommeln nachäffte. Ach, Harald, es tut mir so leid. Platz sechs. Sugar Baby Love von The Rubettes. Ein zynischer Abgesang auf jenen Sonntagvormittag. Wäre die Situation nicht so verdammt bitter gewesen, sie hätte ihr zumindest ein Lächeln entlockt.

Für Harald war die Welt, wie sie immer war. Er grüßte alle, die seinen Weg kreuzten. Selbst die Unbekannten. So war das in Haralds Welt. Er berichtete Paula die letzten Neuigkeiten aus dem Camp der italienischen Nationalmannschaft. Über Ecken kannte sein Bruder einen gewissen Giovanni von der Gazzetta dello Sport. Und dieser Giovanni war den Begebenheiten dicht auf der Spur. «Manchmal ist Giovanni dem Geschehen sogar voraus», witzelte Harald, ohne dass Paula eine Miene verzog.

Als der Kiosk der Espositos in der Ferne zu sehen war, bat Harald Paula mit Nachdruck, nichts von den bahnbrechenden Neuigkeiten betreffend Aufstellung und Fitnesszustand auszuplaudern. «Nicht, dass Giovanni Ärger kriegt. Du kennst die Espositos. Kleiner Kiosk, aber Kontakte nach ganz Italien.»

«Ich kann mir sowieso nichts merken», beruhigte sie ihn.

Und schon waren die Begrüßungssalven von Gino Esposito zu hören. «Araldo, amico mio, è arrivato il giorno!» Gino herzte seinen «Araldo» lange, ehe er sich Paula zuwandte: «Oh Paula, du brauchst jetzt ein Caffè Doppio von deine Freund Gino. Non c’è problema.»

Ginos Frau Carla winkte freundlich aus dem Kiosk, hielt den Siebträger der Espressomaschine hoch und betätigte die Stereoanlage. Musik gab es nur, wenn Gäste da waren.

Gino begann direkt, den Song Gianna von Rino Gaetano mitzusingen. Dabei ersetzte er «Gianna» jeweils durch «Paula». «Paula, Paula aveva un coccodrillo e un dottore.» Dabei tänzelte er leichtfüßig, was Harald spontan zum übertriebenen Mitwippen und einem «grande Gino» verleitete. Paulas Empfinden machte im gleichen Atemzug einen Rückwärtssalto von ehrlich zu peinlich berührt. Ach, Harald, ich will kein Mitleid haben.

«Wir sind noch keine Stunde gelaufen», insistierte Manni, nachdem Steven die Tankstelle am Ortsausgang zur ersten Raststätte erklärt hatte.

«Ja und? Wir haben die ganze Woche Zeit», entgegnete Steven. «Eine Expedition wird in Ruhe angegangen. Rast und Ruh. Das ist die beste aller Tankstellen: das einzig wahre Thunfisch-Sandwich, nette Menschen und saubere Toiletten für adretten Stuhlgang.»

Manni mochte nicht diskutieren. Schon jetzt auf Kriegsfuß mit diesem heillosen Unterfangen. Dünger für schlechtes Gewissen.

«Und mal abgesehen von Leckereien und Klo: Wir müssen hier noch ein paar Dinge schriftlich festhalten. Regeln, Vorhaben, Sanktionen, das große ABC des Qualitätsmanagements.»

Manni schüttelte den Kopf. «Du hast sie doch nicht alle.»

«Stimmt, Inspektor. Darum sind wir hier. Und du, mein Freund und Miesepeter, hast halt auch nicht alle Federn im Fell. Wir müssen über deine Depressionen reden. Deine Familiengeschichte. Schwermut in deinen Genen. Ziellosigkeit. Über fehlende Kompetenzen in der Kommunikation. Halb Mensch, halb Funkloch.»

Manni hielt Steven seine flache Hand auf die Brust. «Jetzt geh du erst mal in Ruhe auf den Thron. Ich bestelle Kaffee, Papier und Stift. Und du hörst auf mit deinem Gelaber.»

Steven schaute böse, überlegte kurz, weiterzureden, verschwand dann aber, verworrene Unmutsbekundungen fauchend, Richtung Toilette.

Auf dem Rückweg erblickte Steven am Nebentisch seinen ehemaligen Oberstufenlehrer Frank, der Mitglied der freiwilligen Feuerwehr war (Captain Frank). Nach getaner Arbeit hing der stämmige Mittfünfziger am Tresen über seinem Bier, als wäre er tagelang im Einsatz gewesen.

«Haben einen Halbnackten aus einer Birke holen müssen.»

«Und was wollte der da?»

«Wenn man das wüsste. Entweder bei Margrit spannen oder irgendwelche okkulten Erfahrungen mit blutigen Bäumen machen.»

«Habt ihr nicht gefragt?»

«Dem armen Schorsch war nicht nach Reden. Die Scham und einen Kochlöffel Birkenholz im Unterschenkel. Die Kantonspolizei wird das schon aus ihm herauskitzeln.»

«Schorsch wer?», fragte Steven.

«Schorsch ist nur ein Platzhalter. Berufsgeheimnis gibt es auch bei der freiwilligen Feuerwehr. Das Hinken wird ihn verraten. Schorsch Hinkebein», lachte Captain Frank. «Aber sag du, was ist aus dir geworden, Steven? Hast du Mathematik studiert?»

«Nicht ganz. Aber immer noch ein Zahlenronaldo vor dem Herrn. Ich bin professioneller Pokerspieler geworden», antwortete Steven stolz.

Captain Frank lachte verzückt, trank das Bier in einem Zug aus und stand auf. «Sind wir am Ende nicht alle nur Glücksspieler?» Er schlug Steven kräftig auf die Schulter, rülpste und verabschiedete sich mit einem einfachen Kinnheber.

Nachdenklich kehrte Steven an den Tisch zurück. «Hast du das gehört?»

«Die ganze Tankstelle hat mitgehört.»

«Captain Frank ist ein verdammter Philosoph.»

Manni nickte mit großen Augen. «Lass uns anfangen.»

Sie sammelten Ideen, diskutierten und bestellten nach dem zweiten Kaffee dann doch ein Bier. Bilanz der langen Sitzung war, dass es keine Regeln brauchte. Außer Internet- und Kiffverbot. Und weil das vor allem Steven betraf, hatte der ausgehandelt, dass Alkohol als «heiliger Gral der Substitute» geduldet werde.

Zwei Stunden später tauchte Captain Frank wieder im Tankstellenshop auf. Seine Feuerwehrkleider hatte er gegen einen senfgelben Jogginganzug mit der Aufschrift California the land of fruits and nuts getauscht. Beim Rausgehen winkte er mit seiner Tiefkühlpizza. «Hoch lebe der Singlesonntag.»

Steven und Manni prosteten ihm zu und schauten sich an. Es war Zeit, abzuziehen.

Erst hörte Ursula die Kirchenuhr schlagen. Das Zeichen für den stoppeligen Kamil. Exakt eine Stunde vor Beginn der Abendmesse begann er wieder, auf die große Trommel einzuschlagen. Während die Männer Gewehre und Flaschen verpackten, wurden Kamils Tanzeinlagen immer wilder. Die Kinder jubelten und hatten ihren Spaß. Hans rief Gerda, die etwas abseits mit zwei anderen Kindern ungestüm umhersprang, zu sich und forderte sie auf, sich zu mäßigen. Ursula bettete ihre kleinste Schwester währenddessen in den Wagen. Die Hitze hatte das Kind in einen Schleier von Müdigkeit gehüllt.

Auf dem Nachhauseweg fragte Ursula, was dieser Henry genau gemeint hatte.

«Ach, Henry. Der redet viel an einem warmen Sonntag.»

«Aber was meinte er wegen Mama?»

Hans sah zu Gerda, die den Kinderwagen schob und vor sich hin sang. Seine Stimme wurde leiser. «Wenn du abends besonders müde bist, so, dass du die Augen kaum noch offenhalten kannst. Wenn deine Arme und Beine richtig schwer werden. So fühlt sich Mama jetzt.»

«Und wieso schläft sie nicht einfach, bis die Müdigkeit weg ist?»

Er lächelte. «Mama hatte einen strengen Winter. Da reicht es nicht, ein paarmal auszuschlafen. Aber das geht vorbei. Die Woche auf der Alp wird ihr helfen.»

Ursula nickte. «Muss ich nochmal mit in die Kirche? Ich könnte Mama beim Packen helfen.»

Hans streichelte seiner Tochter über den Kopf. «Du kommst schön mit. Tante Ida hat ihr bestimmt schon geholfen.»

«Schau, Gerda, da!» Ursula zeigte mit dem Finger auf den Balkon. Ida stand in der nach wie vor brennenden Sonne und winkte den Kindern zu: «Kuchen ist fertig.»

Auf Kommando rannte Gerda los, während Ursula fragend zu ihrem Vater blickte. Der versicherte, den Kinderwagen zu übernehmen.

Als die zwei Schwestern das Treppenhaus hinaufgepoltert kamen, eilte Ida vor die Tür und ermahnte sie, ruhig zu sein. «Eure Mutter schläft.»

Ursula wandte sich an ihre Schwester und wiederholte: «Mama schläft. Es ist wichtig, dass sie oft und lange schläft.»

Während sich Gerda schmatzend in Ekstase schlemmte, lauschte Ursula den Gesprächen der Erwachsenen. Hans und Ida sprachen über die Messe (Theo, der älteste Chorsänger, war wieder beim Singen eingenickt), die Schützenlaube (Kamils wilde Tänze) und die Woche auf der Alp. Hans teilte den Kindern mit, dass Ida sie

dort besuchen werde. Tante Ida unterbrach den Freudentaumel mit einem Fingerzeig auf das Schlafzimmer und sagte: «Heute Abend bringe ich euch alle schön ins Bett. Wenn das klappt, packe ich am Dienstag ein paar von Onkel Jules’ Würsten ein.» Die Kinder reckten lautlos die Arme hoch und rieben sich die Hände.

Harald kniete vor seinem Schrein. Seit der zweiten Halbzeit flackerten Kerzen in den italienischen Nationalfarben. Paula fragte sich, wieso die grüne Kerze viel schneller abbrannte, während Harald nervös seine Statistikzettel durchforstete. «Irgendwo muss dieses Blatt doch sein. Cazzo di merda!»

Er war bei Fußballspielen schwer zu ertragen. Aber wenn er italienisch fluchte, war alles aus. Klar, es war das Finale der Weltmeisterschaft. Paula hatte versprochen, an seiner Seite dabei zu sein. Und natürlich, die Spannung war auf dem absoluten Höhepunkt. Ein Elfmeterschießen war selbst für die neutrale Zuschauerin eine spezielle Angelegenheit. Was musste das erst im fanatischen Harald auslösen? Er hatte Blätter für alles, natürlich auch Elfmeterstatistiken mit den bevorzugten Schussecken der Brasilianer.

Auf dem Feld formierte sich allmählich das Grüppchen, das zum Elfmeterpunkt schreiten würde. Harald hyperventilierte den Namen «Demetrio» in Dauerschleife und hörte auf zu suchen. «Den mit den kurzen Ärmeln mag ich», meinte Paula, als der brasilianische Torwart Taffarel auf dem langen Weg zum Tor eingeblendet wurde. Dafür erntete sie einen gehässigen Blick. Sie fragte auch, wieso sich Baresi schon seiner Schoner entledigt hatte (das wirke zu nonchalant). Harald ignorierte die Frage, faltete seine Hände und nuschelte irgendwas von «Gott im Himmel».

Danach laute italienische Wortfetzen, Schläge auf den Tisch, ein kurzes «Demetrio» und theatralisches Sich-fallen-Lassen. Wie er die Fassung verliert. Wie er sich gehen lässt. Paula schloss die Augen und atmete schwer. Was zum Teufel mache ich hier?

Als auch noch Baggio weit über das Tor schoss, Taffarel zu Boden ging und Gott mit zum Himmel erhobenen Fingern für alles dankte, war es endgültig vorbei. Harald konnte nicht anders. Er schluchzte los wie ein kleiner Junge. Mit letzter Kraft füllte er das Matchblatt aus und vergrub seinen Kopf in der Couch.

Sie hob ein Kissen vom Boden auf. Das ist doch bloß ein Fußballspiel. Reiß dich zusammen! Sie ging in die Küche, wo die Lasagne, die er extra für dieses Spiel vorbereitet hatte, immer noch unberührt auf dem Herd stand, deckte die Form mit Alufolie zu und blickte auf den Kalender, wo für die Woche nur ein Termin notiert war: MITTWOCH Julie.

Nach drei Stunden Marsch blieb Manni unvermittelt stehen. Er schlug vor, das Zelt bei den Bäumen am Kanal aufzustellen. Steven hielt kurz inne, war einverstanden, begann aber sogleich, gegen das wilde Campen zu wettern. Seine Aussage, dass das auf jeden Fall die erste und letzte Nacht im Zelt sein würde, nahm er postwendend zurück: «Endgültig ist ungültig. Schließe nie etwas aus. Mach keine Versprechen. Stelle keine Ultimaten. Das ist eine der Lehren, die wir immer und immer wieder ziehen. Ziehen müssen!»

«Aha», meinte Manni.

«Aha heißt Pustekuchen. Manni, das gilt auch für dich. Du hättest dich nicht dazu verpflichten sollen, eine endgültige Entscheidung von unserer Reise mitbringen zu müssen. Das ist Druck. Wir wollen keinen Druck. Wir wollen freiwilliges, mündiges und überlegtes Handeln. Du bist unter Druck, seit du denken kannst.»

«Jetzt aber», knurrte Manni.

«Stimmt doch. Hätte sich David Bowie von Ultimaten und Druck leiten lassen, die Musikgeschichte wäre eine andere geworden.»

«Ich habe mich schon gefragt, wo der schlaue Musikvergleich bleibt.»

«Das weißt du Kunstignorant natürlich nicht. Aber Bowie war lange auf der Suche nach einem Künstlernamen. Erst war er als

David Jones unterwegs. Und weil das zu sehr nach Davy Jones von den Monkees klang, nannte er sich fortan Tom Jones. Stell dir das vor, Bowie als Tom fucking Jones. Dann kam der andere Tom Jones, der Sex Bomb- Tiger Tom Jones, mit seiner ersten Single um die Ecke und Bowie entschied sich noch um. Das ganze Universum wäre ein anderes heute, wenn David Bowie Tom Jones geblieben wäre. Und alles, was das Universum in diesem Fall gerettet hat, war etwas Zeit, ein kurzes Zögern und Geduld. Merk dir diese Geschichte.»

Steven öffnete die Rotweinflasche, die er an der Tankstelle besorgt hatte, und suchte auf seinem MP3-Player nach dem neuen Album von Bowie. Manni überlegte, Feuer zu machen, ließ es aber sein. Es war noch immer ziemlich warm.

«Und Feuer stinkt.» Steven war in Fahrt und kam von Bowie auf Twin Peaks, und von Twin Peaks kam er auf das Genre Horrorfilme. Manni schweifte kurz ab. Tut sich etwas? Vermisse ich Petra? Unangenehmer Gedanke. Lieber den Monolog von Steven.

Der war mittlerweile bei den Horrorfilmen der 70er-Jahre angekommen. Im Speziellen beim Subgenre Tierhorror und Phase IV, einem Film, in dem eine explodierende Population von Ameisen die Menschheit bedroht. Bald war Manni angenehm benebelt von Stevens bildhaften Berichten und vom Wein. Er verabschiedete sich und bemerkte einen ersten Windstoß. Vielleicht würde es doch noch ein Gewitter geben.

Steven blieb sitzen, zündete eine Kerze an und wechselte zu Tom Waits. Manni hörte im Zelt noch, wie Steven im Selbstgespräch «Captain Frank, du verdammter Philosoph» sagte, und schlief auf der Stelle ein.

Just in dem Augenblick, als Hans und Ursula zum Amt aufbrechen wollten, kam die verschlafene Anna aus ihrem Zimmer und schaute als Erstes in den Stubenwagen.

«Wie fühlst du dich?», fragte Ida.

Anna zuckte mit den Schultern.

«Ursula und ich gehen in die Kirche», sagte Hans. «Ida kann die Kleinen ins Bett bringen. So kannst du dich noch etwas ausruhen vor der langen Fahrt. Die Berge werden dir guttun.»

Anna drückte die Hand ihres Mannes und sagte zu Ida, dass sie ruhig mit in die Kirche gehen solle. Ein paar gute Gedanken würden auch ihr helfen. Das mit den Kindern mache sie schon.

«Ehrlich, schaffst du das?»

«Natürlich schaffe ich das», antwortete Anna mit Nachdruck.

«Und was ist dann mit Onkel Jules’ Würsten am Dienstag?»

«Keine Angst, Gerda», beschwichtigte Hans. «Ich bin sicher, Tante Ida bringt euch trotzdem ein paar davon mit.»

Zum Abschied lächelte Anna kurz und bedankte sich bei Ida mit einem Kopfnicken.

Eigentlich war die Zeit der großen Sommergewitter vorbei. Im Bett liegend konnte Anna aus großer Entfernung ein Donnergrollen hören. Sie drehte sich langsam zur Seite. Hans war noch in der Küche und kümmerte sich um das Geschirr. Bevor Anna wieder wegdöste, rollte ein nächster Donner über das Tal, jetzt viel näher. Sie hob ihren Kopf und blickte ins Nichts. Nach einigen Sekunden konnte sie die Konturen des Kirschbaums vor dem Fenster erkennen. Plötzlich erhellte ein Blitz den Himmel, und Anna sah die großen steilen Sandfurchen im Süden, die sich wie Wasserfälle vom Grat in den gewaltigen Föhrenwald hinunterstürzten. Der Wald, in dem Anna und Mimi am Freitag, dem 1. April 1938, beim Suchen von Lotwurzen von einem Unhold überrascht wurden. Er hatte ein Fell oder etwas Ähnliches übergezogen und sich von hinten an die Mädchen herangeschlichen. Mit vereinten Kräften, einem Ast und Schreien hatten sie ihn schließlich vertreiben können. Bald war die Panik der stürmischen Euphorie über ihre furchtlose Tat gewichen. Zu Hause hatten die Freundinnen den Vorfall nie erwähnt. Wer weiß, womöglich hätte es geheißen, sie hätten eine Wildsau gekreuzt oder sich alles nur eingebildet. Jugendliche Fantasie. Vielleicht hätten die Väter gar Arrest gegen sie verhängt. Wer weiß. So schwiegen Mimi und Anna und beschworen an jenem Tag, zusammen unbesiegbar zu sein.

Luftmassen setzten sich in Bewegung. Anna bildete sich ein, den noch fernen Regen zu hören. Riechen konnte sie ihn auf jeden Fall. Zeilen von Rilke schossen durch ihren Kopf. Nach spätem Gewitter, das atmende Klarsein. Die kommende Woche in den Bergen, frische Luft, die Geschichte von mutigen Freundinnen. Die Adern voll Dasein.

1961. Anna kämpft gegen die Dämonen ihrer Krankheit.

1994. Paula beschließt, aus ihrem bisherigen Leben auszubrechen.

2009. Manni begibt sich auf einen wahnwitzigen Selbstfindungstrip.

In seinem zwischen Kammerspiel und Roadmovie angesiedelten Roman erzählt Samuel Schnydrig von je einer Woche, die für seine Figuren alles verändert. Die Tage sind geprägt von extremer Hitze und schwerwiegenden Entscheidungen. Immer drängender wird dabei die Frage, was die drei Generationen verbindet. Entlang biografischer Bruchlinien balanciert der Autor zwischen dem alltäglichen und dem unheimlichen Leben.

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