Markus Wüest: Haaresbreite

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DER COIFFEUR IST AUF DER SUCHE

ROMAN

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Markus Wüest

Haaresbreite

DerCoiffeur ist auf der Suche

Roman

«Wer dem Glück nachjagt, muss leichtes Gepäck haben.»

HonorédeBalzac

Die Ferne

Die letzten beiden Stunden des Flugs waren nicht mehr ganz so lästig. Und als die A330 schließlich durch die Wolken bricht, ganz sanft, ohne dass es auch nur im Geringsten schüttelt, und David Friedrich nun endlich die Ostküste der USA sehen kann, zieht er einmal ganz tief Luft in die Lungen und freut sich zum ersten Mal so richtig fest. Zuvor ist er in Gedanken noch im Geschäft gewesen. Und zwei Stunden hat er gedöst. Mehr als acht Stunden dauert so ein Flug von Zürich nach Boston, und da ist es von Vorteil, wenn man ein Viertel davon einfach im Halbschlaf wegstecken kann. Erst recht beschwerlich wird so eine lange Reise aber, wenn die Maschine fast bis auf den letzten Platz gefüllt ist.

Mit seinem Sitznachbarn, vermutlich einemTessiner, hat er kaum ein Wort gesprochen. Keine Lust. Erst im Moment, als die Maschineauf dem Bodenaufsetzt und derKäpt’nsich mit seiner typisch sonoren FlugkapitänstimmezuWortmeldet –werdendieseMänner nach ihrerStimmlage rekrutiert? –,sich für die Reise mit der Swiss bedankt und allen einen schönen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten – «oder Ihrer Enddestination anderswo» – wünscht, fragt er den dunkelhaarigen, rund 30-Jährigen neben sich, ob er zum ersten Mal in Boston sei.

Der Mann – er leidet höchstwahrscheinlich an Zöliakie, denn er hat ein «special meal»ohne Gluten vorgesetzt erhalten – spricht nur gebrochen Deutsch, aber eindeutig ein Schweizerdeutsch, denn es hat unverkennbar ein paar Dialektwörter drin. Nein, sagt er, er arbeite am MIT und mache diese Reise deshalb regelmäßig. Auf die Gegenfrage, ob er, David, denn auch schon in Boston gewesen sei, nickt der Basler Coiffeur.

«Ja, zuletzt aber vor vielen Jahren. Mein Onkel lebt in Maine. Ich gehe ihn besuchen.»

Zu mehr reicht es nicht. Ein paar Minuten später sind sie am Gate, alle lösen den Sicherheitsgurt, noch bevor das entsprechende Zeichen erlischt, und stehen auf, wenn es die Umstände zulassen. Der Tessiner holt seinen übergroßen Rucksack aus dem Fach über ihren Sitzen. David muss warten, bis sich die Reihe der Wartenden zu bewegen beginnt, dann quetscht auch er sich aus der engen Sitzreihe in den Gang, nimmt seine Reisetasche und seine Jacke und macht sich auf, das Flugzeug zu verlassen.

In der Business-Sektion sieht es aus, als wäre eine wilde Affenhorde in aller Eile davongestoben. Wolldecken, Zeitungen, Kleiderbügel, Kopfhörer, Kissen und allerlei anderes wurden achtlos liegen gelassen. Beim Ausgang steht die Maître de cabine, eine Baslerin, wie er an ihrem Dialekt unschwer erkennen konnte, als er achteinhalb Stunden vorher in Zürich beim Einsteigen von ihr begrüßt worden war.

«Goodbye und auf Wiedersehen!», sagt sie.

«E schöne Daag Ihne», gibt er ihr zur Antwort. Sie schmunzelt. Allzu viele Basler waren wohl nicht an Bord. Er hätte ihr gerne ein Kompliment wegen ihrer pfiffigen Frisur gemacht, verzichtet aber im letzten Moment darauf. Wäre wohl zu aufdringlich. Macht man heute nicht mehr. Zudem: Er muss ja nicht zwingend immer seine Expertise in Sachen Frisuren und Haarpflege durchschimmern lassen. Es hütet sich vermutlich auch der Dermatologe, beim Aussteigen eine Bemerkung zu Leberflecken oder störenden Mitessern fallen zu lassen. Oder ein Schuhmacher zu bemerken, dass dringend die Absätze frisch gemacht oder gesohlt werden sollten.

Der Vorteil der vielen amerikanischen Schülerinnen und Schüler, die an Bord waren – reiche Privatschulen können sich solche Trips nach Europa gelegentlich leisten –,wird

David sofort klar, als er in die große Halle tritt, wo über den Einlass in die USA entschieden wird. Bei der blauen Linie, die für die Fremden aus aller Herren Länder vorgesehen ist, kommt er schnell vorwärts, weil die rund 50 jungen Menschen, die bei ihm im hinteren Teil der «Economy»saßen, alle den US-Pass haben und in den roten Sektor dürfen.

Statt also ewig anstehen und warten zu müssen, wie bei seinem letzten Besuch in den Vereinigten Staaten, als er via Atlanta einreiste, steht er nun in Boston schon nach weniger als fünf Minuten einer etwas müde und uninspiriert wirkenden, bewaffneten Uniformierten gegenüber, die nur schnell ein Foto von ihm macht, etwas gar oberflächlich seinen Pass durchblättert, nach dem Zweck seiner Reise fragt und ihn dann willkommen heißt.

Umso mehr Zeit verstreicht bei der Gepäckausgabe. Fast eine halbe Stunde dauert es, bis sein Koffer kommt. Nachher, bei der Autovermietung, wird seine Geduld erneut auf die Probe gestellt. Dummerweise ist unmittelbar vor ihm ein Osteuropäer dran, der sich kaum auf Englisch verständlich machen kann, aber Tausende von Fragen wegen der Versicherungen, des Kindersitzes und des Straßenzolls stellt.

Bei David geht das schneller. Er hat seinen Mietwagen via TCS reserviert, er hat die nötigen Versicherungen alle schon gebucht, lässt sich keine zusätzliche aufschwatzen und ist auch nicht gerade wählerisch, wenn es um das Fahrzeugmodell geht, das ihm während der nächsten zwei Wochen zur Verfügung gestellt wird. Einen Chevy teilt man ihm zu, Modell Equinox – zu Deutsch:Tagundnachtgleiche. Merkwürdig.

Eine Stunde später hat er den Großraum Boston fast hinter sich. Der Tag schickt sich an, der Nacht zu weichen, und sein Auto vibriert leicht, aber stetig bei einem Tempo um die 75 mph. Da war selbst der Flug in der A330 ruhiger. Immer-

hin:Google Maps hat ihn sicher vom Flughafen bis zur I-95 gelotst, der Autobahn, die ihn nach Maine bringen wird.

Vorfünfzehn Jahren war er zuletzt bei Onkel Charlie zu Besuch. Er kann sich nicht an die Details der Fahrt erinnern, die ihm bevorsteht, aber als akribischer Mensch – wenigstens in den meisten Fällen – hat er sich ein paar Tage vor der Reise daheim via Google die Strecke angesehen. Er weiß, dass es zwischen Boston und Portland, Maine im Wesentlichen geradeaus geht, immer in Richtung Norden. Langweilige Autobahnfahrerei flankiert von Wald auf beiden Seiten mit einem einzigen Höhepunkt im wörtlichen Sinn:die imposante Brücke über den Piscataqua River, der die beiden Bundesstaaten New Hampshire und Maine voneinander trennt. So hoch gebaut, dass Ozeanriesen ohne Weiteres darunter passieren können.

Es ist jetzt fast 19 Uhr. Wenn er «durchziehen»würde, ohne Halt, auf direktem Weg, könnte er um halb neun bei Charlie in Black Cove sein. Das Dorf liegt etwa eine Stunde nördlich von Portland. Er hat sich das gut überlegt. Er weiß, Charlie würde ohne Weiteres mit dem Abendessen auf ihn warten oder selbst schon rechtzeitig essen und David etwas warm stellen.

Charlie ist 74 Jahre alt. Der ältere Bruder seines Vaters. Er ist noch rüstig, fit und unternehmungslustig, und trotzdem hat sich David dagegen entschieden, um diese Zeit noch bei ihm aufzutauchen. Stattdessen stellt er kurz vor der zweiten Ausfahrt in Maine seinen Blinker, verlässt die Autobahn und fährt auf der Route 1 – der alten Küstenstraße, die von den Keys in Florida bis zur kanadischen Grenze führt – ins hübsche Küstendörfchen York. Dort hat er ein Zimmer in einem Bed &Breakfast reserviert.

Onkel Charlie hat er nichts davon gesagt, dass er im Grunde noch an diesem Abend hätte bei ihm auftauchen können.

Stattdessen hat er ihm erzählt, er wolle noch eine Nacht in Boston bleiben – was eine Notlüge war. Er hat keine Lust verspürt, Boston anzuschauen. Stadt bekommt er in Basel genug, er will Land.

Die letzten Wochen im Geschäft waren sehr streng gewesen. Er hat neben seiner täglichen Arbeit fast jede Woche ein, zwei Termine mit einem Architekten oder seinem Finanzplaner gehabt. Der Ausbau von «Haargenau»soll in wenigen Wochen beginnen;mindestens die Pläne dafür sollen eingereicht werden.

Er hat das Geschäft von seinem Vater übernommen, der vor mehr als einem Jahr vor dem Universitätsspital angefahren wurde und dabei so unglücklich hinfiel, dass er auf der Stelle verstarb. Mit dem geerbten Geld will er den Salon nun ausbauen – obwohl der Vater sich vielleicht im Grab umdreht, seit er das vom Himmel aus hoch skeptisch beobachtet. Nicht maximal. Nicht luxuriös. So viel Geld hat er erstens nicht zur Verfügung, und zweitens gäbe es an der St. AlbanVorstadt für Luxus in Quadratmetern auch gar keinen Platz.

Noch vor drei Tagen saß er über eine Stunde mit Felix Frett zusammen, dem Architekten. Thema:die richtige Strategie wählen. Im Kanton Basel-Stadt gilt seit ein paar Jahren ein derart übles Bauverhinderungsgesetz, dass ihm der Gedanke gekommen ist, den illegalen Weg zu beschreiten.

Die Hausbesitzerin Frau Möbian, die ihm wohlgesinnt ist – eine Dame aus einem alten Basler Geschlecht mit viel Geld, viel Renommee, vielen guten Freunden und viel Sinn für praktische Lösungen –,hat ihm signalisiert, sie würde ihm durchaus ihren Segen geben, sollte er beschließen, «vorwärtszumachen», statt beim Bau- und Verkehrsdepartement auf Gnade, Einsicht und vor allem speditives Handeln zu hoffen.

Davids Hausarzt, Dr. Camenzind, hat ihm vor zwei Monaten seinen Leidensweg geschildert (und dabei hoffentlich da-

rauf verzichtet, diese Extraminuten gemäß dem Ärztetarif abzurechnen … ). Er hatte ein Haus an bester Lage auf dem Bruderholz erwerben können und wollte es ein bisschen «auffrischen».

«Über ein Jahr habe ich verloren, bis das BVD mir endlich grünes Licht gegeben hat, Herr Friedrich. Über ein Jahr! Ich habe ungefähr 50’000 Franken wegen dieser sturen Bürogummis im BVD verloren.»

«Was würden Sie im Nachhinein anders machen, Herr Doktor, wenn ich fragen darf?»

«Bauen. Ohne Bewilligung.»

David hat sich diese renitente Einsicht des guten Doktors zu Herzen genommen. So wie auch den Rat, wieder ein bisschen mehr Sport zu treiben. Und mehr rotes Fleisch zu essen. Wegen des latenten B12-Mangels.

Das B&B – «The Roaring Lion» – ist gemütlich. Die Besitzerin, Robin, eine nette ältere Dame. Ihr Mann, Bill, sei noch an einem Meeting, sagt sie, als sie ihm das Zimmer zeigt. Er sei engagiert in der Lokalpolitik.

David lässt sich das beste Restaurant in der Nähe empfehlen, hievt den Koffer die steile Treppe hinauf, schält sich aus den Kleidern, die er seit Basel anhat, und zieht etwas Frisches an, nimmt aber einen Pullover mit. Es sei «nippy»heute Abend, hat ihm Robin gesagt. Er versteht das als frisch –oder kühl.

Tatsächlich hat er erwartet, Ende Mai sei es auch hier, am obersten Ende der US-Ostküste, wärmer, frühlingshafter. Immerhin ist in Basel schon fast der Sommer eingekehrt. Wäre er ein Amerikaner, er würde sich wohl in seinen Mietwagen setzen und die paar Meter bis zum «Sulking Bull»fahren. Aber er hat den langen Flug in den Knochen, acht Stunden sitzen, und es fällt ihm nicht im Traum ein, ins Auto zu stei-

gen. Der schmollende Bulle – weil es dort vor allem Fisch auf der Karte hat? – ist auch per pedes gut zu erreichen.

Er kann das Meer riechen. Er weiß auch schon, was er sich gönnen wird:ein Dutzend frische Austern. Er hat Ferien. Er kann jetzt ein paar Tage die Seele baumeln lassen. Und er freut sich auf Onkel Charlie. Der ist zwar manchmal ein komischer Kauz, wenn sie miteinander am Telefon reden – David hat ihn im Verdacht, ein Trump-Wähler zu sein –,aber Charlie hat auch eine sehr humorvolle Seite. Er ist belesen, klug und als pensionierter Accountant ein kühl rechnender Zahlenmensch.

Aber, das ist ihm zuletzt an Weihnachten aufgefallen, als sie länger miteinander geredet haben, er fängt an, ein bisschen vergesslich zu werden, und stellt sich bei technischen Dingen manchmal unglaublich dumm an.

Das Restaurant ist erstaunlich voll. Noch hat die Touristensaison in Maine nicht begonnen. Solange die Kinder noch in der Schule, die Teenies noch auf der Highschool und die Vielversprechenden noch auf dem College sind, müsste mehr oder weniger tote Hose sein, hat er gedacht. Doch man lässt ihn schließlich zehn Minuten warten, bis ein Tisch für ihn frei wird.

Das gibt ihm Gelegenheit, dort in der Wartezone ein bisschen die Ohren zu spitzen und sich wieder mit den Amerikanern und dem Amerikanischen vertraut zu machen. Er war als junger Coiffeur einmal ein halbes Jahr im Land unterwegs. Und er hat die Zeit damals genutzt, die Sprache recht fließend zu lernen. Braucht ein bisschen Auffrischung, that’ s true, aber kommt gut.

Im Schrebergarten

Gianluigi Fontanella sitzt mit einem Bier in seinem Gartenhäuschen. Er ist seit anderthalb Jahren pensioniert und genießt den Ruhestand. Zur großen Überraschung von Salvatore und Eddie, seinen beiden Söhnen, mischt er sich nicht mehr ins tägliche Business ein. Also nicht, wie man richtig Briefe sortiert und einwirft – das ist Eddies Beruf –,sondern wie man Wände abwäscht, grundiert und neu streicht. Oder Decken weißelt. Oder Türen abschleift und streicht. Das ist Salvatores Business.

Eddie war schon als Jugendlicher klar, dass er mit dem Malergeschäft seines Vaters nichts anfangen kann. Jedenfalls nicht, solange sein Vater der Chef ist. Deshalb die Karriere als Pöstler. Salvatore dagegen hatte schon als Bub Spaß, wenn er mit den Farben des Vaters hantieren konnte. Es gab zwar einmal ein krasses Missgeschick – erstaunlich, wie viel Farbe in so einem Kessel drin ist! –,und der Vater explodierte, stieß siedend heiße Lava in Form eines typisch italienischen Wortschwalls aus, fasste sich aber nach etwa zwei Stunden wieder, und fortan war der Weg von Salvatore in den Augen der ganzen Familie sonnenklar.

Gianluigi Fontanella war Malermeister. Er hatte täglich mit Farben zu tun. Aber das bedeutet nicht, dass er eine besondere Beziehung zu Grün hat. Weder im linken noch im rechten Daumen. Er nutzt den Garten lediglich als sein sommerliches Refugium – es sei denn, er ist zusammen mit Mamma gerade in Apulien.

Was ihm Mamma gerade knapp zutraut:Gießen. Wobei auch das nur unter enger Beaufsichtigung zu geschehen hat. Denn Gianluigi ist ein großzügiger Mensch, ein überschwäng-

licher Mensch, der allen alles gönnt. Und somit den Pflanzen notorisch zu viel Wasser.

«Duersäufst sie wieder!», hat Eddie gerade noch mithören können, als er vorher in den Garten gekommen ist. Sein Auto steht am Langen Loh. Die Straße markiert die Kantonsgrenze zwischen Basel-Stadt und Baselland, seit den dummen Baslern 1833 nichts Besseres eingefallen ist, als sich im Streit in zwei (Halb‐)Kantone aufzuteilen.

Gianluigi und Mamma wohnen an der Wanderstraße in Basel, ihr Garten aber ist auf Allschwiler Boden. Also im Kanton Baselland. Verstehe das, wer wolle.

Gianluigi hat die Kritik an seiner Bewässerungsmethode scheinbar locker weggesteckt. Er liegt mehr in seinem Gartenstuhl, als dass er in ihm sitzt, gönnt sich einen Schluck, schaut Mamma beim Vernichten des Unkrauts zu und strahlt, als er Eddie sieht.

«Post für mich?»

Es ist ein Spruch, den Vater seit ungefähr fünfundzwanzig Jahren fast jedes Mal macht, wenn er seinen jüngeren Sohn sieht. Nur wenn sie gemeinsam in Süditalien sind oder wenn sein Vater mal Fieber hat – also 37,1 Grad – und leidet, also quasi stirbt, kommt ihm dieser Satz zur Begrüßung nicht über die Lippen.

«Ciao Papa.» Eddie beugt sich über seinen Vater, drückt ihm einen Kuss auf die leicht feuchte Stirn. Dann geht er zu seiner Mutter, umarmt sie und gibt ihr ebenfalls einen Kuss. Sie hat braungrüne Hände, weil sie gerade im Dreck gewühlt hat, und gibt sich Mühe, ihren Eddie ja nicht anzufassen.

«Nimmst du ein Bier?Hast du Zeit?», fragt der Vater.

«Ja, gerne.»

«Hast du alle Schlitze getroffen?»

Mamma stöhnt und wirft Gianluigi einen bösen Blick zu. Aber der lässt sich nicht beirren. Seinen Sinn für Humor de-

finiert er immer noch selbst, und was kann er dafür, dass Violetta manchmal ein bisschen prüde ist?

Eddie holt im Gartenhäuschen einen dritten Gartenstuhl und klappt ihn auf. Nie und nimmer würde er es wagen, sich den von Mutter zu schnappen.

«Ja, heute ging alles gut, Papa.»

«Freut mich. Und was führt dich zu uns?»

«Hmm. Erstens hatte ich Lust, euch zu sehen» – Mamma schenkt ihm einen stolzen Blick, Vater stößt mit ihm an – «zweitens suche ich etwas.»

«Was denn?»

«Ein Klassenfoto.»

«Und warum?»

«Einfach so.»

«Man sucht nie etwas einfach so, Eduardo. Das ist Mist. Komm, erzähl schon, weshalb willst du dieses Foto sehen?»

«Weil ich vielleicht eine der Klassenkameradinnen von damals bald wieder treffe.»

«Jacqueline?» Mutter steht nun bolzengerade auf dem schmalen Plattenweg zwischen den Karotten rechts und dem Brokkoli links.

«Wie kommst du gerade auf sie?»

«Schau mich an, Eduardo!Bin ich blöd?Bin ich blind? Bin ich alt und dumm?»

«Nein.»

«Diese Jacqueline hat dir schon damals den Kopf verdreht, als deine Hormone anfingen, Wirkung zu zeigen. Jacqueline dies, Jacqueline das. So ging das. Wochenlang. Und dann schnappte sie dir einer weg. War es nicht dieser David?»

«Nein. Das war später.» Eddie kann sich gut an die Szene im Restaurant Schlüssel beim letzten Klassentreffen erinnern. David hat ihm zwar versichert, dass nichts passiert sei, aber

der Schatten eines Zweifels ist immer noch da. Wird nie ganz verdrängt werden können, auch wenn er mit David enger befreundet ist denn je. «Eswar nicht David. Es war dieser Gockel aus der Parallelklasse, Jan.»

«Wie auch immer. Ich versteh nicht, weshalb du jetzt wieder mit der anfängst, Eduardo.»

«Mamma, ich fang nichts an. Ich treffe sie vielleicht.»

«Und wofür dann das Klassenfoto?»

«Als Gag.»

Mamma macht einen Augenaufschlag wie ein Strafrichter, wenn der Angeklagte sagt, er sei nur deshalb mit 180 Sachen durchs Dorf gebrettert, weil er dringend aufs Klo musste.

«Und wie kommst du darauf, dass das Foto immer noch bei uns ist?»

«Weil ich nicht alle Sachen mitgenommen habe, als ich ausgezogen bin, Papa. Mamma sagte – und ich kann mich sehr gut daran erinnern –,essei ja vielleicht nur temporär und sie befürchte, dass ich nicht gut zu den Erinnerungen von damals Sorge trage. Stimmt’ s, Mamma?»

«Stimmt. Wir hatten dir ein schönes Fotoalbum auf deinen 20. Geburtstag zusammengestellt, Papa und ich, und du hast es kaum beachtet. Dummer Junge. Ich gebe dir noch etwa zehn Jahre, bis du herausfinden wirst, wie kostbar solche Erinnerungen sind. Und weil du jung und dumm warst, habe ich mich geweigert, dir alles mitzugeben. Punkt.»

«Dann ist ja gut. Dann weißt du bestimmt, wo die Sachen sind.»

«Bei Salvatore.»

«Bei Salvatore?»

«Ja. Als wir in die kleinere Wohnung umgezogen sind, haben wir auch den Dachboden geräumt. Und da Salvatore in seinem großen Haus so viel Platz hat – und die Dinge ohne-

hin früher oder später bei ihm landen, wenn wir mal nicht mehr sind –,hat er fast alles.»

Wie der billige Witz seines Vaters mit dem Treffen der Schlitze und dem «Post für mich?» kann es seine Mutter nicht lassen, das Haus seines Bruders immer mit dem Adjektiv «groß»zuschmücken. Es ist nicht einfach ein Haus. Es ist ein «großes Haus».

Ob sie es absichtlich macht?Eddie hat bis jetzt nie direkt gefragt. Eine Schwäche von ihm. Mangelnde Konfliktfähigkeit. Vielleicht sollte er ihr ganz einfach sagen, dass ihn das nervt, dieses großeHaus.

Aber vielleicht verwendet seine Mutter das Adjektiv auch ganz im ursprünglichen und praktischen Sinn:beschreibend. Denn das Haus ist tatsächlich groß. Es bietet Salvatore, seiner Frau Silvia und den drei Töchtern jede Menge Platz. Es steht in Flüh. Also nicht gerade unmittelbar in Stadtnähe, aber doch noch in deren Einzugsgebiet. Sein Bruder konnte es sich aus zwei Gründen leisten:weil er das Malergeschäft des Vaters erfolgreich weiterführt und weil er handwerklich geschickt ist. Er hat zusammen mit einem Freund an dem alten Bauernhaus selbst viel umgebaut, erneuert, erweitert.

Eddie wird einfach den Eindruck nicht los, als sei seine Mutter – vielleicht auch sein Vater? – von ihm enttäuscht. Weil er eben nur Pöstler geworden ist. Weil er ein wenig unambitioniert durchs Leben ging – bisher. Weil sie vielleicht der Überzeugung sind, er hätte auch mehr aus sich machen können. So wie Salvatore. Mit seinem großen Haus. Er lässt sich auch dieses Mal nichts anmerken. Meint er. Aber seine Mutter knufft ihn, als sie an ihm vorbeigeht. Liebevoll. Sie lächelt. Weiß sie, dass sie ihn mit ihrem «groß» aufziehen kann wie eine extravagante Armbanduhr?Oder eine alte Standuhr. Die mit diesen doofen, bleischweren Tannzapfen, die an Ketten baumeln.

Obwohl es Eddie niemandem auf die Nase bindet, obwohl er auch David während Monaten nicht eingeweiht hat, wissen seine Eltern – und somit vermutlich auch Salvatore –ganz genau, dass er sich neben seinem offiziellen Job ein paar lukrative Nebeneinkünfte zu sichern verstanden hat. Und mit dem Haus an der Grellingerstraße, das er kürzlich hat vermitteln können, trifft innerhalb weniger Wochen nochmals ein großer Batzen ein. Ein großer!Was es genau mit jener Liegenschaft auf sich hat, wissen seine Eltern nicht. Eddie und David haben einander geschworen, nie etwas über diese seltsame Geschichte zu erzählen.

Eddie hat sein Bier fast leer. Mamma fragt ihn, ob er mit ihnen Abend essen mag. Es gebe frisches Gemüse und Papa lege bald ein paar Steaks auf den Grill. Sein Vater strahlt. Seine Augen fangen an zu leuchten, wie immer, wenn er grillieren darf.

«Nein, sorry. Ich habe noch was vor.»

«Gehst du schon wieder mit dem Coiffeur Bier trinken? Du weißt schon, dass das viel mehr an deinem Bauch hängen bleibt als ein guter Schluck Wein?»

«Ich weiß, Papa. Ich weiß. Und ich würde auch gerne bleiben. Und ich treffe mich nicht mit David. Der ist gestern für vierzehn Tage in die USA geflogen.»

«Ah?»

«Ja, er besucht seinen Onkel in Maine.»

«Was hast du denn sonst vor?»

«Ich bin mit Raphaela verabredet … »

«Schürmann?», fragt seine Mutter, während sie sich hinter dem Gartenhaus die Hände wäscht. «Gibt es die immer noch?Ich dachte, das seien Tempi passati … »

«Mamma. Ich habe dir doch erklärt, dass wir uns immer mal wieder guttun. Es gibt Phasen in unserem Leben, da passen wir perfekt zueinander.»

Sie lässt ein etwas verächtliches Schnauben hören. «Und dann kommst du hierher und suchst ein altes Klassenfoto von Jacqueline?»

«Habe ich mich nicht gerade deutlich ausgedrückt?Habe ich nicht von Phasen gesprochen?Haben es Phasen nicht an sich, dass sie kommen und gehen?»

«Eduardo.» Und ihm ist klar, was jetzt folgen wird. Seine Mamma nimmt ihn wieder ins Gebet. Wenn sie einen Satz mit seinem Namen beginnt, ist dies ein untrügliches Zeichen. «Eduardo, das kommt nicht gut. Du bist keine Biene mehr, die von Blüte zu Blüte springt … »

«Mamma, bitte.»

«Dubist in einem Alter, in dem du eine Frau brauchst, die gut für dich ist. Die zu dir schaut, wenn die Zeit kommt, in der jemand zu dir schauen muss. Ich kann das nicht für immer machen. Papa!Sag auch was!»

«Eddie», sagt Papa, «solange du immer noch die Schlitze triffst … »

Bevor er anfangen kann zu lachen, gießt Mamma ihm mit der Spritzkanne den Kopf nass.

Onkel Charlie

VonYork bis Black Cove sind es rund 60 Meilen. Etwas mehr als eine Stunde, denn auf der Route 1kommt man nicht schneller vorwärts und David verspürt an diesem etwas bedeckten Morgen keine Lust, noch einmal die Autobahn zu benutzen. Er kennt diesen Küstenabschnitt von Maine nicht, hat aber schon von Orten mit klingenden Namen wie Ogonquit, Old Orchard Beach und Scarborough gehört (was übrigens nichts mit «Scarborough Fair»von Simon &Garfunkel zu tun hat, denn in diesem Lied geht es um das Scarborough an der englischen Ostküste).

Bill und Robin verwickeln ihn beim Frühstück in ein längeres Gespräch und da er keine Eile hat, lässt er sich gerne darauf ein. Es geht um außergewöhnliche amerikanische Präsidenten, um Inflation, um Sommerferien in Italien und ein bisschen um Frisuren. Bill hat daran eher weniger Interesse, weil er quasi kahl geschoren ist. Robin trägt ihre Haare kurz, aber stylish geschnitten und ist sichtlich stolz, als David ihr sagt, er hätte es selbst nicht (viel)besser machen können.

Kurz nach zehn fährt er los. Seine Gastgeber im «Roaring Lion»geben ihm noch ein paar gute Tipps mit auf den Weg, unter anderem den Hinweis, das Portland Art Museum zu besuchen oder mindestens einen Abstecher an den alten Hafen dort in der größten Stadt Maines in Erwägung zu ziehen.

David bleibt unverbindlich. An Portland kann er sich ein wenig erinnern. Wenn ihn in der Schweiz oder in Deutschland jemand aus dem Freundes- oder Bekanntenkreis fragt, wo Onkel Charlie zu Hause ist, sagt er der Einfachheit halber meist sowieso:Portland. Black Cove kennt niemand. Wie auch?Ist halt nicht so mondän wie Camden, weiter oben an der Küste. Oder Bar Harbor im Acadia National Park. Oder

wie Rockland, das es wegen seines Hummerfestivals in eine literarisch hochstehende Reportage von David Foster Wallace geschafft hat.

Kurz vor Portland ändert er seine Meinung. Er verlässt die Route 1und saust auf der I-95 bis Brunswick und erst ab dann wieder auf der Route 1. Kurz vor Bath biegt er nach links ab und fährt auf einer Nebenstraße nach Black Cove.

Der kleine Hafen befindet sich am Ende einer holprigen Straße namens Boot Road. Viel gibt es in Black Cove nicht zu sehen. Ein paar Häuser an der letzten Kreuzung mit der Straße nach Small Point. Das ist das Kaff am Ende dieser Landzunge. Black Cove liegt an deren östlicher Seite. Dort, bei der Kreuzung, hat es eine Tankstelle, einen kleinen Laden, eine Gärtnerei, einen Hardware-Store – für Handwerkszeug aller Art – und eine Töpferei. Am Ende der Boot Road, wo das Meer beginnt, kann man an guten Tagen direkt am Dock frischen Hummer oder – «catch of the day» – frischen Fisch kaufen.

Wer zu Onkel Charlie will, muss etwa 500 Meter vor dem Ende der Straße nach links abbiegen. Die Straße hat keinen Namen. Man verpasst sie leicht. Unter Bäumen hindurch geht’ sein kurzes Stück, etwa fünfzig Meter, tiefer in den Wald hinein. Vonder Straße aus ist das Haus nur im Winter zu sehen, wenn alles Laub am Boden liegt und man genau weiß, wonach man Ausschau halten muss.

David fährt prompt an der Abzweigung vorbei. Erst als er das Meer sieht, den Hafen und den Parkplatz am Ende der Straße, realisiert er:Zuweit gefahren!

Er schimpft kurz mit sich. Führt das Versehen aber darauf zurück, dass er wirklich lange nicht mehr auf Besuch war. Worauf er erneut kurz mit sich schimpft. Dabei ist es doch schön hier in Maine. Doch als er noch der beliebte und begehrte Szene-Coiffeur am Prenzlberg in Berlin war, als er

noch mit Siobhan zusammen war, der Irin aus Cork, da zog es ihn immer anderswohin. Nach Irland, nach Italien, nach Marrakesch …

Vielleicht, das hat er am Morgen im «Roaring Lion»Bill und Robin offen und ehrlich erzählt, hätte er nun diesen Besuch auch wieder auf irgendwann später verschoben, wenn er Charlie nicht die Andenken bringen möchte, die ihn an seine Schweizer Wurzeln erinnern.

Als er nach dem Tod seines Vaters schweren Herzens Charlie angerufen und informiert hatte, war der zuerst einmal so schockiert gewesen, dass das Gespräch nach wenigen Minuten zu Ende gegangen war. Bei der zweiten Unterhaltung, die fast zwei Stunden gedauert hatte, war es Charlie darum gegangen, eine Erklärung dafür zu liefern, weshalb er nicht bei der Beerdigung dabei sein könne. Und beim dritten Gespräch, Ende Oktober vergangenen Jahres, hatte er die alten Familienfotos in Werner Friedrichs Besitz und den Schmuck ihrer Mutter – Davids Großmutter – erwähnt. Beides hätte er sehr gerne, hatte Charlie gesagt, falls es ihm recht sei. Verknüpft mit der Einladung, ihn in Black Cove zu besuchen.

In der Vorbereitung der Reise hatten sie während der letzten beiden Wochen noch drei- oder viermal miteinander telefoniert. Charlie hatte wissen wollen, ob David in Begleitung einer Frau komme. David hatte verneint. Zwar hatte er mit Leonie im März mal darüber gesprochen, als es um die Buchung der Flüge ging, aber ihm war schon von Beginn klar gewesen, dass sie nur mäßig Lust hatte, mitzukommen.

«Maine im Herbst?Dawäre ich sofort dabei», hatte sie gesagt. Aber diese weite Reise Ende Mai in die USA?Lieber nicht.

Sie schützte dann eine grundsätzliche Abneigung gegen die Vereinigten Staaten vor, einen wichtigen Fortbildungstermin

im Geschäft und zudem den 60. Geburtstag ihres Vaters. Im April sahen sie einander dann kaum. Und er merkte, wie wenig er sie vermisste. Anfang Mai saßen sie zusammen am Rhein – es war heiß – und ihre Beziehung war kalt. So kalt, dass sie, ganz friedlich, ganz sachlich, ganz ohne Drama, beschlossen, sie zu beenden.

Für sein Geschäft war Ende Mai eine gute Zeit, um eine solche Reise zu machen, weil da keine seiner Angestellten Ferien eingegeben hatte. Zudem mochte er Charlie nicht mehr länger warten lassen. Immerhin war sein Vater schon bald anderthalb Jahre tot, und er hatte gefunden, es sei höchste Zeit, nach Maine zu fliegen.

Beim zweiten Anlauf trifft er die richtige Einfahrt in den Wald. Die Bäume tragen zwar frische Blätter, hellgrün und saftig, doch nach ungefähr zwanzig Metern erkennt er Charlies altes Haus dort an der kleinen Lichtung mit der alten, etwas windschiefen Garage und dem kleinen See, nun ja: Tümpel.

David parkiert vor der Garage. Die große Schiebetür ist offen, aber es steht kein Wagen darin. Überhaupt ist kein anderes Auto zu sehen. Es ist jetzt kurz vor Mittag und er vermutet, dass Charlie rasch wegmusste. Etwas irritierend, weil er doch weiß, dass sein Neffe gegen Mittag auftaucht, aber es wird sich bestimmt eine Erklärung finden.

David holt den Koffer aus dem Kofferraum, sieht sich das Haus und die Umgebung rasch an – alles mehr oder weniger, wie er es in Erinnerung hat, außer der Garage, also der alten Scheune, die damals noch weiß getüncht war. Nun ist sie dunkelrot. Eine der typischen Farben in Neuengland, wenn es um Scheunen geht.

Der Hauseingang befindet sich mittig unter einem Vordach. Dort stapelt Charlie auch sein Brennholz. VonRegen geschützt und trotzdem an der Luft, damit es gut trocknen

kann. Die Haustür ist nicht verschlossen. David streift sich an der Fußmatte – «Welcome» – die Schuhe ab, was sich auszahlt, denn der Boden ist nicht asphaltiert, auf Charlies Grundstück ist alles Kies oder festgestampfte Erde. Es muss hier vor kurzer Zeit geregnet haben, denn der Boden ist feucht. David prüft die Sohlen seiner Turnschuhe. Sauber. Er tritt ins Haus und ruft:«Charlie?», wartet einen Moment, und dann noch einmal:«Onkel Charlie?», lauter und fragender.

Aber eigentlich ist ihm klar, dass niemand antworten wird. Er ahnt es:Das Haus ist leer. Eine schwarz-weiße Katze taucht auf, mustert ihn mit ihren grünen Augen, streckt sich, ist sich aber offensichtlich unsicher, ob sie ihm trauen kann. Sie beschließt, vorsichtig zu sein, und macht sich davon.

David stellt den Koffer bei der Garderobe hin. Sie führt direkt in die große Küche, die zugleich auch Stube und Denkzelle ist. Als David zuletzt hier zu Besuch war, vor fünfzehn Jahren, und ebenso schon am Ende seiner langen Amerikareise als 24-Jähriger, war die Kücheninsel, also dieser frei stehende Klotz gleich bei der Küche, Charlies bevorzugter Aufenthaltsort. Und David erkennt:Hier stehen immer noch seine Kochbücher griffbereit, hier steht der Zettelkasten mit den wichtigen Telefonnummern, das große Glas voller Schreibwerkzeug aller Art, und hier klebt auch ein Post-it.

«David, herzlich willkommen. Entschuldige. Ich muss rasch etwas erledigen. Ich bin spätestens um 14 Uhr zurück. C»

Nun gut, denkt sich David und ist schon mal beruhigt, dass Charlie daran gedacht hat, dass er heute aufkreuzt, und sich die Mühe genommen hat, eine Nachricht zu hinterlassen. Keine Selbstverständlichkeit. Bei Charlie. Der neigt dazu, impulsiv zu sein. Was ihn wesentlich von Davids Vater Werner unterscheidet. Der war ein klar strukturierter Organisa-

tor, der in seinem Geschäft im ganzen Leben nie einen Termin verpasst hat.

Es hat seinen Grund, weshalb Charlie bald nach seiner abgeschlossenen Lehre als Speditionskaufmann in die USA verschwunden ist, während Werner Friedrich schon mit fünfundzwanzig Jahren die Meisterprüfung schaffte und mit achtundzwanzig sein eigenes Geschäft eröffnete.

David hat Hunger. Er ahnt zwar, welches Zimmer ihm Charlie zuweisen wird – die Auswahl ist nicht groß –,doch er hält es für klüger, den Koffer für den Moment dort stehen zu lassen, wo er ist, und den Kühlschrank zu erforschen. David findet jede Menge Eier – die Schalen sind merkwürdig pastellfarben;was das wohl für Hühner sein mögen? – und Toastbrot. In einer Tupperware hat es noch einen Rest Maissalat und er bedient sich gierig. Macht ein Spiegelei, toastet zwei Scheiben Brot, findet ein großes Glas und begnügt sich mit kaltem Leitungswasser. Auch wenn er drei Büchsen Bier entdeckt hat, die Charlie kühl hält. Für ihn?

Als Charlie auch um 15 Uhr noch nicht auftaucht, wird

David allmählich etwas ungeduldig. Und vor allem weiß er nicht recht, was er mit dem angebrochenen Nachmittag anstellen soll. Eine zweite Katze taucht auf. Rötlich gefärbt. Sie ist mutiger und streicht ihm um die Beine. Er krault sie am Hals und sie fängt an zu schnurren. Als er sich von der Couch erhebt, auf der er lümmelte, folgt sie ihm aufgeregt. Vermutlich in der Hoffnung, es gebe frisches Futter, steuert sie zielstrebig in Richtung Küche. Doch David hat etwas anderes im Sinn. Er ergreift seinen Koffer, geht nach oben, und weil er genau weiß, welches Charlies Zimmer ist – das erste rechts –,wählt er am Ende des Ganges das unter der Dachschräge. Das hat ihm immer schon gefallen und es sieht zu seiner Verwunderung noch fast genau gleich aus wie vor fünfzehn Jahren.

Während er das Wichtigste auspackt, meint er einmal zu hören, wie sich ein Auto nähert. Er hält inne mit einem Stapel Unterwäsche auf seinem Arm, für die er im Kasten gerade einen guten Platz gefunden hat. Doch da kommt niemand.

Ein paar Minuten später hört er ein Telefon klingeln. Er wartet einen Moment, beschließt dann aber – weil das Klingeln nicht aufhört –,nach unten zu gehen. Das Telefon –ein Festnetzanschluss wie eh und je – steht dort, wo es immer stand. Nur das Klingeln kommt von anderswo. Doch bis er endlich auf der Kücheninsel unter einem unorganisierten Haufen Papiere das Handy entdeckt, ist es stumm. Das Smartphone hängt an einem Kabel. Charlie muss es zum Laden eingesteckt haben. Vorallem aber hat er es liegen gelassen, als er «rasch»aus dem Haus ging. Also ist er nicht zu erreichen, selbst wenn David nun endgültig ungeduldig wird.

Als Charlie auch um 18 Uhr nicht zurück ist, fängt er an, sich zu sorgen. Sein Onkel hat sich auf seinen Besuch gefreut, da ist er sich sicher. Was hält ihn so lange auf?Weshalb meldet er sich nicht wenigstens einmal?

David kennt keinen Menschen in Black Cove. Charlie lebt, soweit er weiß, allein. Die Adressen in dem Verzeichnis nützen auch nichts. Er vermag sich aber daran zu erinnern, dass der kleine Laden der Dreh- und Angelpunkt von Black Cove war. Und vermutlich immer noch ist. Der Laden ist strategisch perfekt gelegen. Wer auch immer von hier aus in Richtung Bath fährt, muss am Laden, an der Tankstelle und dem Hardware-Store vorbei.

Einen Versuch ist es wert.

David zieht sich «amerikanischere»Kleider an, ein Sweat-Shirt, alte Jeans, bequeme Sneakers, und greift sich seine Autoschlüssel. Katze eins und Katze zwei schauen ihm enttäuscht nach, als er das Haus verlässt. Sie haben mit Futter gerechnet.

Erst als er in den «General Store»tritt und die Frau sieht, die gerade in einem der Regale Büchsen einreiht –Bush’ sMaple Cured Beans –,merkt er, dass sein Gedächtnis besser ist, als er denkt. Er kann sich jedenfalls an das Gesicht erinnern. Er hat sie immer mit Phoebe aus der TV-Serie «Friends»verglichen:hochgewachsen, blond, etwas ausgeflippt und mit einem Hang zu schrägen Theorien, was die Struktur des Universums im Großen und Ganzen angeht. Ihr Name aber fällt ihm partout nicht mehr ein.

Sie hält in ihrer Arbeit inne und schaut auf, offensichtlich neugierig, wer um diese Zeit noch in den Laden kommt, denn, das muss man wissen, in dieser Gegend von Amerika wird kurz nach 18 Uhr gegessen. Ob sie sich auch dunkel an David erinnert, ist unklar. Sagen tut sie nichts. Aber als David fragt, ob sie Charlie gesehen habe – mit der entschuldigenden Einleitung, dass er wisse, wie ungewöhnlich die Frage ist –,legt sie ihren Kopf etwas schief, streicht sich die langen Locken aus dem Gesicht, mustert ihn erneut, dieses Mal etwas genauer.

«So, you are the guy from Switzerland.»

«Yes», sagt er, ziemlich überrascht.

Charlie habe erzählt, dass sein Neffe auf Besuch komme, und sie könne sich auch an ihn erinnern, jetzt, da er vor ihr stehe, aber zum Aufenthalt von Charlie könne sie nichts Näheres berichten. Er solle doch bei Pete an der Tankstelle fragen. Und ob er denn aus dem Laden etwas brauche. Tut er nicht. Er bedankt sich für den Tipp, verabschiedet sich und geht rüber zu Pete.

Doch welcher der beiden Männer, die dort bei der Zapfsäule stehen, ist Pete?Vermutlich der in den dunkelblauen Latzhosen und mit dem roten Putzlappen, der gerade dem anderen gestikulierend etwas erklärt.

«Sind Sie Pete?»

«Sehe ich aus wie Pete, John?», sagt der Kerl zum anderen, mit dem er gerade fachsimpelt.

«Nein, du siehst verdammt aus wie Steve», sagt der große Bärtige, der ein Harley-T-Shirt trägt, obwohl es nur etwa fünfzehn Grad warm ist.

«Oh, Entschuldigung. Man hat mir im Laden gesagt, ich solle mich bei Pete erkundigen.»

«Worüber denn?»

«Meinen Onkel Charlie.»

«Ja, frag Pete. Ich hab Charlie heute noch nicht gesehen.»

«Ich schon», sagt John.

«Ach!Wo, wenn ich fragen darf?»

«Ist es wichtig?»

«Ich bin aus der Schweiz. Er hat mich heute erwartet, aber ich habe bis jetzt vergeblich auf ihn gewartet.»

«Erhat mir am Morgen drei Hummer abgekauft. Unten. Am Hafen. Sei für eine spezielle Gelegenheit, hat er gesagt. Habe an eine Frau gedacht.»

«Nun ja», sagt David. «Datäuschen Sie sich vermutlich.

Die spezielle Gelegenheit bin ich.»

«Das wird mir jetzt auch klar.»

«Wann war das?»

«Gegen zehn, wir waren gerade zurück.»

«Vom Fischen?»

«Nein, vom Segelfliegen … »

John wirft Steve einen vielsagenden Blick zu. Die beiden scheinen sich zu amüsieren.

«Okay. Ich verstehe. Sie sind ein Hummerfischer und Sie kamen um zehn zurück in den Hafen. Und da war Charlie. Ich bin gegen zwölf Uhr aufgekreuzt. Und da war kein Charlie.»

«Frag Pete», sagt Steve.

«Wollte ich ja. Ist er hier?»

Die beiden nicken simultan und deuten mit ihren großen, schweren Schädeln in Richtung Büro.

Tatsächlich erweist sich Pete, ein kleiner drahtiger Mann mit einer lustigen Nickelbrille und etwa so alt wie Charlie, als bessere Quelle. Ja, Charlie sei hier gewesen. Ja, Charlie habe vollgetankt. Ja, er habe gesagt, wohin er unterwegs sei. Ja, das könne er verraten:Rockland.

«Rockland?Ist das nicht eine gute Stunde von hier?»

«Mehr.»

«Komisch. Er wusste doch, dass ich gegen Mittag eintreffe. Weshalb musste er so dringend nach Rockland?»

«Keine Ahnung. Was besorgen?»

«Was es nur in Rockland gibt?»

«Zum Arzt?»

«Den gibt es auch nur in Rockland?»

«Nein. Den gibt es auch in Bath. Oder Brunswick. Wobei das eine Frau ist, und zu der geht ihr Onkel nicht. Sehen Sie, ich will Ihnen ja nur helfen. Ich bringe nur mögliche Erklärungsansätze ein.»

«Hat er sonst noch was gesagt?»

«Dass das Wetter schöner sein könnte, da doch Besuch aus der Schweiz eintrifft.»

«Okay, das ist auch nicht sehr hilfreich. Und wann genau war er hier und hat getankt?»

«Kurz nach zehn.»

«Danke.» David geht wieder nach draußen. Steve und John quatschen immer noch, unterbrechen aber ihre Unterhaltung, als David an ihnen vorbeigeht.

«Glück gehabt?» fragt Steve.

«Nein, nicht wirklich.»

«Schade», sagt John. «Das Leben ist halt manchmal wie eine Lotterie. Man muss die richtigen Fragen stellen, um die richtigen Antworten zu erhalten.»

David schaut ihn irritiert an. «Was heißt das nun wieder? Was hätte ich denn fragen sollen?»

«Ach, nehmen Sie ihn nicht ernst», sagt Steve beschwichtigend. «Das ist einer seiner Lieblingssprüche. Das sagt er immer, wenn er den Eindruck erwecken will, er trage unter seiner Mähne wirklich ein Hirn in der Gegend rum.»

«Als Charlie auch um 18 Uhr nicht zurück ist, fängt er an, sich zu sorgen. Sein Onkel hat sich auf seinen Besuch gefreut, da ist er sich sicher. Was hält ihn so lange auf? Weshalb meldet er sich nicht wenigstens einmal?»

Wo ist Onkel Charlie? Das fragt sich der Basler Coiffeur David Friedrich, als er an einem schönen Frühlingstag in dessen Haus in Maine, im Nordosten der USA, ankommt. Eigentlich war alles abgemacht. Er findet jedoch nur eine Nachricht vor, dass Charlie noch kurz etwas erledigen müsse und bald wieder zurück sei.

Nachdem er einen Tag vergeblich gewartet hat, fängt David an, nach ihm zu suchen. Eine Suche, die ihn durch halb Nordamerika führt und die zusehends komplizierter wird. Stets verpasst er seinen Onkel ganz knapp. Und dann wird er auch noch ausgeraubt.

Unterdessen stößt in Basel Davids Freund, der Postbote Eddie Fontanella, auf einen falsch adressierten Brief, der seine Neugierde weckt. Er wird ebenfalls in eine Suche verwickelt, die ihn bis ins Oberwallis treibt.

ISBN 978-3-7 296-5208- 8

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