Therese Bichsel: Das Jahr ohne Sonne

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Therese Bichsel

Das Jahr ohne Sonne

Roman

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ISBN:978-3-7296-5204-0

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DasJahr ohneSonne

«LeiderstiegdieNotbisherimmer!MitNotwardhier dasKorneingebracht.VielHaberundErdfrüchte wurdeneingeschneitundkümmerlichgerettet. DieWeinlesehatsototalallerortengefehlt,dassan vielenOrtengarnichtgelesen,undananderndie unreifenTraubenmiteisernenHeuschrotenzermostet wurden.Mankannsagen:alleshatgefehlt.»

GottliebJakobKuhn«ChronikvonRüderswyl»

«ImNovemberundDecemberdesJahres1816wardie TheurungdasallgemeineGespräch. … dieNothwurde immerfurchtbarer,undstiegununterbrochenmitjeder Woche,mitjedemTage,sogarmitjederStunde … »

PeterScheitlin«MeineArmenreiseinden KantonGlarusundindieUmgebungender StadtSt.GallenindenJahren1816und1817»

«Mirward’ einTraum,dervölligTraumnichtwar: ErloschenwarderSonneSchein;dieSterne Bewegtentrübsichdurchdenew’ genRaum, Strahllosundpfadlos;unddieeis’ geErde TriebblindundschwarzdurchmondesleereLuft. DerMorgenkamundging,dochward’ snichtTag; DerMenschvergaβ dieLeidenschaftausAngst VorderVerödungrings,undalleHerzen ErstarrtenindemheiβenFlehnumLicht.»

LordGeorgeByron«Finsterniβ»

Vorwort

1816wardasJahrohneSommer:Esregnetefastpausenlos undwarkalt,SchneefielnochimJuli.DieLeutewarenverunsichert,mancheglaubtenaneineStrafeGottes,einigebefürchtetendenWeltuntergang.InderFolgezeitkameszu großerNot.WirkennenheutedieGründefürunsereKlimakrise.DamalswardiewichtigsteUrsacheunbekannt:Der AusbruchdesVulkansTambora1815imweitentferntenIndonesien.

VomextremenWetterwarenallebetroffen.DreiFrauenstehenimZentrumdesRomans:diejungeAppenzellerinAnna KathrinDiem(1803 – 1879),dieBernerPfarrfrauElisabeth Kuhn(1783 – 1850)unddieenglischeSchriftstellerinMary Shelley(1797– 1851).

InderOstschweizführtedasAusnahmewetterzuMissernte undHungersnot.WegendergleichzeitigenKriseinderTextilbranchefehltenauchdiewichtigenEinkünfteausdemWeben.DieBauernfamilieDiemausSchwellbrunn – derVater warAnfang1816gestorben – sparteanallenEckenundEnden.Die13-jährigeAnnaKathrin(alsKindHatiligenannt) halftatkräftigmitimKampfumdieExistenz.Trotzdemwar derErhaltdesBauernbetriebsinFragegestellt,dieFamilie suchtenacheinemneuenWeg.

MaryShelleyverbrachtedendunklenSommer1816amGenfersee.DieTochterderenglischenFeministinMaryWollstonecraftunddesSozialphilosophenWilliamGodwinwar vondenfortschrittlichenIdeenihrerElterngeprägt.Mary warerstneunzehnundMuttereinesunehelichenJungen.Mit

ihremGeliebten,demDichterPercyShelley,gingsieauf Reisen.DenFreundeskreisamGenferseedominierteder charismatischeLordByron.DieDüsternisinspiriertezum Schreiben – MarybegannihrenberühmtenRoman«Frankenstein».

ImWinter1817warElisabethKuhn33-jährig,Muttervon dreiKindernundPfarrfrauinRüderswilimEmmental.ElisabethwardieTochtereinesBernerZimmermeisters.SelbstbewussthattesiealsAchtzehnjährigeversucht,ihrenBekannten GottliebKuhn,VikarinSigriswil,mitihrerFreundinzuverkuppeln.NachgescheitertenLiebschaftenfandenGottlieb undElisabethzueinander.ElisabethwurdePfarrfrauimEmmentalmitvielfältigensozialenAufgaben.DieNotderarmen LeuteunddieDunkelheitderZeitsetztenihrzu.

EingestreutindenRomansindWetterbeobachtungenaus denChronikenzweierMänner:PfarrerundVolkslieddichter GottliebJakobKuhn(1775 – 1849),EhemannvonElisabeth inRüderswilimEmmental,undLandwirtChristianHagmann(1784 – 1869)ausSevelen,Rheintal.

ThereseBichsel

Sommer1816

SieschlägtdieAugenauf.EsistdüsterinderKammer,diesie mitderMutterteilt.EinGeräuschistinihremOhr.DerRegen.ErprasselteinmalmehraufsDach.DieMutterächztim Schlaf.AnnaKathrinbewegtihresteifenHände.Esregnet nichtnur,esistkalt.

TrotzdemerhebtsiesichvonihremLager,ziehtdas Nachtgewandaus,schlüpftindieKleider.MutterElisabeth wirdfrohsein,dassdasFeuerbereitsbrennt,wennsieindie Küchekommt.EsistderMutterzugönnen,dasssieauch einmaletwaslängerschlafenkann,sonstistsieimmerdieErste.RaschflichtAnnaKathrindenZopf,gehtnachunten. VomStallhörtsiedasMuhenderKühe,dieBrüdersindam Melken.

AnnaKathrinblästindieGlutvomVorabend,Flammen züngelnauf,undsielegtHolznach.IhrjüngsterBruder kommtmiteinemMilchkesselherein,Stallluftschwapptin dieStube.HansConradlässtsichaufdieBankfallen.Sieentschließtsich,HaferbreizumFrühstückzubereiten.Oftessen sieErdäpfelausdemOfenrohr,dieBrüderbeklagensichüber die«ewigen»Erdäpfel.AllebraucheneineAufmunterung andiesemweiterenSchlechtwettertag.Esgibtsovieledavon. SiegießtMilchundWasserindenTopf,kochtdieFlüssigkeitauf,gibtetwasZuckerundeinePriseSalzzuunddieHaferflocken.NachkurzerZeitistderBreifertig.Sielässtihn nochetwasziehen.

«DieserSommeristzumVerzweifeln.Eswächstnichts, wirkönnennichtheuen»,sagtdersechzehnjährigeBruder, derihrderNächsteist,nichtnuraltersmäßig.

«Ichweiß.»AnnaKathrinstelltdenTopfaufdemTisch, verteiltLöffel.

MutterElisabethbetrittdieStube,ihreAugensindverweint.WiedereinmalhatAnnaKathrinsieinderNacht schluchzengehört,seitdemToddesVatersimJanuarkommt dasimmerwiedervor.EinenMomentspätertretendieälterenBrüderein,angeführtvonJohannes.Schweigendsitzen alleumdenTopf,dieMuttersprichtdasGebet,sietauchen dieLöffelein.DerTopfistschnellleer.

JohannesschlägtmitderFaustaufdenTisch.«DasWetterlässtunsdiesenSommerimStich.Fastimmeristesnass, immerkalt.DasGrasistkaumgewachsen.LetztesJahrum dieseZeitwarenwirfertigmitdemHeuet.Jetzthabenwir nochnichteinmalangefangen.AuchwennVaternochlebte, wärenwirnichtweiter.Abererhätteunsratenkönnen,was zutunistineinemsolchenSommer,derkeinerist.Kennt mandasvonfrüher?»

DieMutterschautihrenältestenSohnan,Johannesist fünfundzwanzig.NachdemTodihresMannesisterindie FußspurendesVatersgetreten.«DieletztenSommerwaren auchnichtbesondersgut»,stelltsiefest.«EinenSommer wiediesenhabeichabernochnieerlebt.DieAltenschütteln denKopfundsagen,dassesdasnochniegegebenhat.VielleichthätteHansUlricheucheinengutenRatgebenkönnen. Eristnichtmehrunteruns.»Sieüberlegt,blicktaufihre HändeunddannaufihreKinder – Johannes,Friedrich, Hansueli,Bartholome,HansConradundAnnaKathrin. «WirmüssendurchhaltenunddieArbeitenerledigen,sogut esgeht»,sagtsienachdrücklich.«DieErntediesesSommers trägtunsdurchdennächstenWinter.»

Johannesnickt,erscheintgestärkt,stehtvonderBankauf. «HeutescherenwirdieSchafe.FriedrichundHansueli,ich

braucheeuch.BartholomeundHansConradunterstützen MutterundAnnaKathrinbeimSpulenundWeben.»

ScharrenderFüße,Getrappel,dieälterenBrüderverlassen dieStube.AnnaKathrinwischtdenTopfaus.

«IchstelledasWebstückfertig,dukannstspulen»,sagt HansConradzuihr.«DannbistdudranmitdemZetteln.» Erzwinkertihrzu,streichtsichdashelleHaarausdemGesicht,dasähnlichgekraustistwieihres.

ErfolgtderMutterüberdieStufennachuntenindenKeller,wozweiWebstühlenebeneinanderstehen.SiekannHans Conradnichtbösesein.Erwebtgut,wirddasStückzuEnde weben,demMusterfolgen.DerBruderistgeschickt,erwebt gern.AberdasZetteln,dasBefestigenderLängsfädenauf demWebstuhl,magernicht,erüberlässtesgernMutterund Schwester.

AnnaKathrinundBartholomesetzensichandieSpulräder.DerVorteilist,dasssieinderStubeinderNähedes OfensspulenundnichtimfeuchtkaltenKeller.Sienimmt vombereitsgesponnenenGarn,wickeltesaufdieHaspel,verbindetesmitderSpule.DannsetztsiedasSpulradmitder KurbelinGang,drehtmitderHandrundumundrundum undführtdenFadengleichmäßigaufdieSpule.Wieimmer gräbtsichdasharteLeinengarninihrenFinger,siebefeuchtet ihn.LieberspultsieweichesBaumwollgarn.

BartholomehatebenfallsmitdemSpulenbegonnen,sein Rückenistgebeugt,dasdunkleHaarfälltihminsGesicht.

DasSpulenisteintönig.Abermanchmal,wennderFaden gleichmäßigfließt,kommtauchsieinFluss.Siedrehtund dreht,derFadenfließtundfließtunddieGedankenauch,sie lösensichindiesemFlussauf,siedenktnichtmehrüberihre Tätigkeitennach,siegrübeltnichtmehr,allesistimFluss.So mussessein,wennmanineinemFlussschwimmt,daskann sienichtundwürdeesnichtwagen,manwirdvomFlussge-

tragen,einwunderbares,erhabenesGefühl,manistleicht, schwerelosundohneSorgen.

NacheinigerZeitwirdsieausihremFlussgerissen.Das SurrenanihrerSeitehataufgehört.Bartholomehältinne,er hateineSpulevoll,nimmtsievonderWinde,stütztden KopfindieHände.«DieseArbeitistsolangweilig»,murmelter,«dasSpulenhängtmirzumHalsraus.»

«Ichspulejaauchschon,seitichsiebenjährigbin.Jetzt binichzwölfundimmernochhäufigamSpulrad»,sagt AnnaKathrin.

«DubisteinMädchen,dasistüblichfürdich,Hatili. WeilwirkeinejüngerenBrüderhabenunddudieeinzige Schwesterbist,müssenHansConradundichauchspulen.»

Hatili – sonenntmansieinderFamilie,seitsiesicherinnernkann.Sieverteidigtsich:«Mutterhilftauchmitbeim Spulen,sieistdiebesteWeberin.Aberichweiß – ichwürde auchlieberweben.»

«Weben?IchwürdegernhinterdenBüchernsitzen,lernen,etwaswerden.Aberdasistjafürunsereinsnichtmöglich,schongarnichtjetzt,daVaternichtmehrlebt.»

«WelchenBerufwürdestduwählen?»

Erschautsiean.«Schulmeistermöchteichwerden – das würdemirgefallen.Bücherwürdeichlesen,ganzviele.Ich wäresonettmitdenSchulkindernwieLehrerGrob,zudem duindieSchulegehst.IchvermissedieSchulstundenund auchdenKonfirmandenunterrichtbeimPfarrer.Sovielhabenwirgelernt.Undjetztsitzeichdaundspuleundwebe. DieBrüderundichkönnendochnichtallehierbleibenund vomHofundWebenleben.AnderejungeBurschenkönnen einenBeruferlernen,siegehenfortvonzuHause.DasLeben istungerecht.»

Bartholomeistachtzehn.Sieversteht,dasserweggehen möchte.AberderVateristgestorben,dieBrüderwerdenge-

brauchtinHausundHof.Undjetztmitdemschlechten Wetter,dadasGrasunddieKartoffelnundErbsenundÄpfelkaumwachsen,müssensiemehrweben,dieMutterhates deutlichgesagt.«Vielleichtkannstduspäternochetwaslernen?»

«Später,später … »,äfftBartholomesienach.Aberer greiftnachdemLeinengarn,wickeltesaufdieHaspelund beginntvonNeuemmitdemSpulen.

AnnaKathrin,diewährenddesGesprächsweitergespult hat,nimmtnunauchihrevolleSpuleab,setzteineleereein, haspeltundbeginntwiedermitdemDrehenundSpulen,im EinklangmitdemBruder.

AmMittagversammelnsichalleumdenTisch.DieMutter servierteinedünneGemüsesuppeundlässtausderKupferpfanne,diesieausdemOfenrohrnimmt,einpaarfrüheErdäpfelaufdenTischkullern.SiesprichtdasGebet,danktGott fürdieSpeisen.

«DieseErdäpfelsindwinzigklein»,maultHansConrad undstecktsicheinenindenMund.

«DafürkannMutternichts.»Johannesblicktstreng. «DiefrühenErdäpfelsinddiesesJahrsehrklein,undwenn esmitdemWettersoweitergeht,werdenauchdieKnollen derspäterenSortennichtgrößer.»

Allesindbetreten,dennErdäpfelkommenjedenTagauf denTisch,siesinddaswichtigsteLebensmittelimBauernhaushalt.DieMutterholtetwasButterausdemKellerund reichtkleineStückeBrotdazu.DieSöhneundAnnaKathrin essenschweigend.

NachdemEndederMahlzeitstelltsichJohannesans Fenster,erschütteltdenKopf.«NochimmerfälltRegen. Wirmüssenfrohsein,dassesnurnochnieseltundderBoden nichtweiterdurchtränktwird.WirfahrenmitdemScheren

fort»,ernicktFriedrichundHansuelizu,dieauchschon überzwanzigsindundnurwenigjüngeralserselbst.Siesind gewohnt,demältestenBrudermitderkräftigenStaturzugehorchen,undzuckelnhinterihmher.Baldhörtmandie Schafeblöken.

EswirdArbeitgeben,denktAnnaKathrin,dieabräumt: DasWaschen,Trocknen,KämmenundVerspinnenderWolleundschließlichdasStricken – dasistFrauenarbeit.

Siemüssensichnichtabsprechen,dieMutterundHans ConradübernehmenamNachmittagdasSpuleninderStube,BartholomeundAnnaKathrinbetretendenWebkeller.

Feuchtigkeitschlägtihnenentgegen.AnnaKathrinsetzt denKorbmitdenSpulenab.EinBlickdurchsFensterzeigt ihr,dassderSäntisnichtzusehenist,derjetztschwacheRegenwirdsichfortsetzen.AlleschauenzumhohenBerg,der ausdemBauernhausZwickergutzusehenist,wennersich nichthinterWolkenverbirgt:DerSäntiszeigtdasWetteran. Auchwennernichtzusehenist,denktAnnaKathrin,istes gutzuwissen,dasserdaist.Niemandkannihnwegnehmen, keinUnwetterkannihnwegwaschen.Immerwerdensiesich andiesemBergfesthaltenkönnen,früheroderspäterwirder sichwiederzeigen.

BartholomehatsichandenzweitenWebstuhlgesetzt,die SpuleimSchiffcheneingelegt.Erbeginntzutreten,wechselndwirdeinTeilderZettelfädendurchdenTrittangehoben,erschießtdasSchiffchendurch,ziehtdenWebkamm heran,umdenFadenandieWebkantezudrücken.BartholomeisteinzuverlässigerWeber,erarbeitetrasch,dieBewegungensindfließend.DasWebensagtihmweitmehrzualsdas eintönigeSpulen.

ÜberraschtstelltAnnaKathrinfest,dassHansConrad nichtnurdasTuchfertiggewobenundabgeschnittenhat, sondernbereitseinengrößerenTeildesneuenZettelseinge-

richtethat.ZettelnisteineGeduldsarbeit,dieLängsfäden werdeneinzelnaufdemWebstuhlbefestigtundgespannt. TrotzdemmachtsiedasZettelnnichtungern,siearbeitet gerngenauundsorgfältig.MitdemKlackenundKlappern vonBartholomesWebstuhlimOhrgehtihrdieArbeitleicht vonderHand.ImvergangenenJahrhatihrdieMutterdas Zettelnbeigebrachtundsiegelobt,weilsieesraschbeherrschte.

BartholomehatdieZeitvergessen,erstaunt,alsdie SchwesternachwenigenStundenmitdemZettelnfertigist. NunsetztsichauchAnnaKathrinhin,siewirdeinHandtuchwebenunddannnocheinsundnocheins.MitderMutterwillsiebaldzumMarktinHerisaugehen,Handtücher lassensichgutverkaufen.AnnaKathrinsetztdieSpulemit demLeinengarninsSchiffchenunddannbeginntauchsie mitdemWeben.DasSchiffchenschießthinundher,sie ziehtdenWebkammundbetätigtdieTritte.Siekommtin einenFlussundmöchtemitniemandemtauschen,dasWebenerfülltsie,dasSchiffchenfliegtfast,kaumkannsieihm folgenmitdenAugen,aberdasmusssieauchnicht,esläuft wievonselbst,sieisteinsmitdemWebstuhl.DieseArbeitist schönundsinnvoll,siewirdihnenGeldeinbringen,aberes istnichtnurdas,sieliebtdasWeben,sieliebtdieGeräusche, dasKlackennunimEinklangmitBartholomesWebstuhl, fastklingteswieMusikinihrenOhren – dieMusikdesWebens.

DaistauchderGeruchdesLeinengarns,siemagihn,esist einerdiger,frischerGeruch,siehatfrischgeschnittenesGras undHeuvorAugen.ImKellersaugtdasLeinenFeuchtigkeit auf,derGeruchverstärktsich.OftverwebensieBaumwollgarn,dassievomHändlerinSchwellbrunnerhalten.Auch dieserGeruchistihrangenehm,ererinnertanHolz,istsanft undwarm.Sieweißnicht,wodieBaumwolleherkommt,wo

siewächst.DasweicheGarnistschmiegsam,ausihmentstehenkostbareStoffefürfeineKleider.SiesiehtnobleDamen vorsich,diesichindiesefeinenKleiderhülleninallendenkbarenFarben – moosgrün,eisblauundpurpurrot.DieDamenstolzierenherumindiesenKleidern.Undsiedrehensich imTanzmitebensonobelgekleidetenHerren.DerTanzfindetineinemSaalvollerSpiegelstatt,siehatgehört,dasses solcheSpiegelsälegibt.DieKleidersindFarbtupferinden Spiegeln,dieAugenderTänzerinnenglänzen,siewirbelnherumundfallendochnichthin,weildieHerrensieumdie TaillefassenundsicherüberdasParkettdesSpiegelsaalsgeleiten.

AnnaKathrinnimmterstwiederwahr,dasssieimfeuchtenKellerdes«Zwicker»amWebstuhlsitzt,alseinSonnenstrahlüberihreSchulteraufdasdichtgewobeneTuch fällt.Siehältinne,drehtsichum,gehtzumFensterundöffnetesweit.DieSonneblendet,sieleuchtetdieLandschaft aus,dienassenWiesenundFelderundWälder.Unddahinter siehtsiedenSäntis,ihrenLieblingsberg.Eristhervorgekommenundzeichnetsichtrutzigvordemplötzlichhellblauen Himmelab,dernurnochvonwenigengrauenSchlieren durchzogenist.

DasKlappernimKellerhatganzaufgehört,Bartholome trittnebensie,geblendethälterdieHandvordieAugen. «Dasistsoschön,Hatili»,sagter,«manglaubteskaum, dassesdieSonnenochgibt.»

DerSpiegelsaal,densieebennochvorsichgesehenhat, löstsichaufsamtdenTanzpaaren,dieSpiegelzerspringenin tausendTeilchen.AnnaKathrinwischtsichüberdieAugen undmöchtenirgendwoandersseinalshier,imBauernhaus ihrerFamilie,dasman«Zwicker»nennt.SiehatdieHand aufdieFensterbankgelegt,spürtdieWärmederSonnenstrahlenaufihrerHaut,dievonLaubfleckengesprenkeltist.

«DuwirstnochmehrvondiesenFleckenkriegen,wenn dudeineArmeeinfachsoindieSonnehältst»,lachtBartholome.«KommzurückandenWebstuhl.»

SiesitzenvomLichtabgewandt.AberAnnaKathrinspürt dieSonneaufihremRücken,eristwarm,undihreHände sindesauch.WiederschießtsiedasSchiffchendurchdieFäden,dasGewebeistgewachsenundwirdweiterwachsen.Das KlappernistinihrenOhren,dieWärmetutgut,eswebtsich wievonselbst.

DasHafermusvomFrühstückwärmtihrenMagen,rasch schreitendieMutterundAnnaKathrindenHügelhinauf, werfeneinenletztenBlickzurückzumHof.Friedrichund HansuelisitzenheuteandenWebstühlen,siesindbegabte Weberundfroh,füreinmalderFuchteldesältestenBruders Johanneszuentrinnen.DieserhatdiejüngerenBrüderBartholomeundHansConradmitzurFeldarbeitgenommen. MutterElisabethundTochterAnnaKathrinhabenLeinenhandtücherundEierinihrenTragkörben;dieEiersindin Stofffetzengewickelt.

DerHimmelistbedeckt,aberesisttrocken,dasistgünstig fürihrenWegnachHerisauaufdenMarkt.Schwellbrunn tauchtvorihnenaufmitseinenspitzenHäusernunddem breitenFabrikantenhausAlder,wosiedieBaumwollebeziehen.HeuteistnichtdasFabrikantenhausihrZiel,siegehen weiterandenWirts-undGeschäftshäusernentlang,gelangen zurKirche.

DieMutterhältinne.«WirbittenGottumseinenSegen»,bestimmtsie.

SienehmendieKopftücherab,betretendieKirche,helles LichtfälltdurchdiegroßenFensterimSchiffaufdieHolzbänke,siesindganzalleinimGotteshaus.

DieMutterfaltetdieHändeundsenktdenKopf,Anna Kathrintutesihrgleich.«LieberGottimHimmel,dasWetteristdiesenSommersehrschlecht,wirhabenmitständiger Nässe,ReifundUnwetternzukämpfen.DieAngstistgroß, dassdieErntesehrschlechtausfallenwird.Wirgehennach HerisaumitunserenWebstücken.Bittestehunsbeiindiesen schwierigenZeiten.»Siefügtdas«Vaterunser»an,ihre Stimmeistgepresst,wirdaberallmählichgelöster.

ErhobenenHauptesverlassensiedieKirche,gestärkt,ihre Sorgenwiegenjetztwenigerschwer.DieKopftüchersind schnellwiederüberdiesorgfältiggeflochtenenZöpfegezogen undverknüpft.

SechsSchlägeerklingenausdemhohenGlockenturm.Sie sputensich,dieMutterkenntdenWeg,raschfällterab.Sie sindnichtalleinunterwegs,esgibtandereFrauenundMädchenundMägdemitKörbenamArmoderaufdemRücken undMännerundjungeBurschen,dieRinderundSchafemit sichtreiben.DurchFelderundWälderundWiesenführtder Weg,überStockundStein,bissieendlichdieenggedrängten HäuserHerisausvorsichsehen.DurchdieSchmiedgasse führtihrWeg,KlopfenundHämmerndringenanihrOhr, dasWiehernderPferde,diebeschlagenwerden;Feuerlodern imInnernderSchmieden.SiebiegeneinaufdenPlatzvor derKirche,dieumeinigesgrößerundstattlicheristalsjenein Schwellbrunn.Undwieder,wiebeimletztenMarktbesuch, fälltihrdiesesHausauf:DiegrauenFensterlädensindbemalt,rundumdieFenstergibtesVerzierungen,undüberder HaustürprangeneinLöwenkopfundinGoldgefassteWappen.EineMarktfrauausHerisauhatihnengesagt,dassdas HauseinemnoblenHerrnWettergehöre.DerHerrWetter musseinsehrreicherMannsein,dassereinsolchkostbares HausseinEigennennenkann.

«Komm,Hatili,staunenichtdieHäuseran.UnserZiel istderMarkt,wirwollennichtdieLetztensein!»,mahntdie Mutter.

MittenimStromderLeuteerreichensiedenObstmarkt. EinbuntesDurcheinandervonStändenisthieraufgebaut. ObstundGemüsewerdenangeboten,KräuterundHonig, KäseundZiger,Brot,EierundSpeckundauchStoffeund Tücher.NebeneinemgroßenStandsindKistenaufgestapelt, dieBäuerinausHerisau,dieselbstkeineTextilienanbietet, gibtihneneinigeab,siedürfendaraufihreHandtücherund dieEierauslegen.

DerMarktistgutbesucht,Menschendrängenanihnen vorbei,einfachgekleideteFrauenundBäuerinnenwiesie selbstundMägde,aberauchFraueninTrachtundsolchemit vornehmenKleidern,geschnürtunterderBrust.Einesolche Damebleibtvorihnenstehen,prüftdieHandtücherzwischendenFingern,lobtdasfeineGewebe,riechtdaranund befindetdieTücherfürgut.DieMutternenntdenPreis,fordertetwasmehralsgewöhnlich;dieDamewillnureinekleineReduktion,weilsiegleichzehnStücknimmt.DieAugen derMutterglänzen,alssiedieGeldstückeinihrenBeutelkullernlässt.DieDamelegtdieHandtücherinihrenKorbund gehtdavon.

DieBäuerinamStandschautihrnach.«Dasistdiereiche FrauWetterausdemschönenWetterhaus»,merktsiean. «MeistschicktsienureinederMägdeaufdenMarkt.Aber ihrdurftetdienobleDameselbstbedienen,offensichtlichist siemiteurerWarezufrieden.»

DieMuttererrötetobdemKompliment.Wiewennder KaufdurchdienobleKundineingutesOmengewesenwäre, verkaufensienuneinHandtuchnachdemanderen.Esist warmgewordenaufdemPlatz,AnnaKathrinziehtdasKopftuchvonihremHaar,daskunstvollgeflochtenundhochge-

stecktist.DiesenMorgenhatsiesichbesondersMühegegebenmitderFrisurunddabeiangespanntindenkleinen Wandspiegelgestarrt,dieMutterhatihrgeholfen.

EinpaarBurschenbleibenvorihnenstehen.«Schaudir diesesMädchenan!GutgewachsenistsieundsiehatKraushaarinderFarbevonWeizen,inZöpfengebändigt.Siegefälltmir!»DieMutterhatdieBurschennichtgehört,sietretenheran.DerAnführerstarrtunverhohlenaufAnna KathrinsBrust.«DürfenwirdeineTochterzumTanzbitten?»,fragterdieMutter.«UntenspielteineMusikauf. Wirbringensiebestimmtwiederzurück!»

AnnaKathrinspürtdieBlickeaufsich,ihrwirdheiß,die BlickesindklebrigwieHonig.

«Wodenktihrhin»,antwortetdieMutterresolut, «meineTochteristerstzwölf,siewirdvonniemandemzum Tanzausgeführt!»

«Schade»,sagtderBursche,«sieschautvielreiferaus,ist größeralsdieMutterundkräftig.Wirkommenwieder,wenn siezuhabenist!»

DieMutterstütztdieArmeindieSeite.«MeineTochter wirdauchdannnichteinfachmiteuchgehen.»

DieBurschenlüftendenHut.«Naja,vielleichtistdie TochternichtsokratzbürstigwiedieMutter,wirwerdensehen!»

AnnaKathrinverschränktdieArmevorderBrust.Esist nichtdasersteMalinderletztenZeit,dasssiesolcheBlicke aufsichspürt.Istdas,weilihrKörperjetztRundungenhat? «IchbinganzwiemeineMutter!»,sagtsiebestimmt.

«Oh,daswollenwirdochnichthoffen!»,meintderAnführerundlacht.«DeineGestaltunddeinWeizenhaargefallen,Mädchen – wirwerdensehen,wasausdirwird.»Erverbeugtsichlachend,pfeifendziehendieBurschenihresWeges.

AnnaKathrinschautnichtzurMutter,sieverkauftdie verbliebenenEieraneineMagd,diefürihreHerrschaftauch nochdasletzteHandtucherwirbt.

DieMutterwiegtdenGeldbeutelinderHand,siestrahlt, stecktihntiefindieRocktasche.SiebringendieKistenzum StandderNachbarn,schlüpfenindieRiemenihrerTragkörbe,diekaummehrGewichthaben.«Wirbedankenunsin derhiesigenKirchefürdiesensegensreichenMarkttag»,sagt sieundstrebtaufdieHerisauerKirchezu.Siestellendie TragkörbenebendieEingangstür.DieMutternimmtdas Kopftuchab,siebetretendenKirchenraum.HellesLichtfällt auchhierdurchgroßeFensteraufdereinenSeite,aufderanderenziehtsicheineEmporeentlang.VorneinderKirche blicktmannichtaufeineMauerwieinSchwellbrunn,sonderndaisteinChormithohenFenstern.AnderDeckeim Schiff,imChorundumdieFenstergibtesgraueundgoldene Verzierungen.AnnaKathrinstocktderAtem,sofeinsind dieseundsokostbar.DieseKircheunddasHausvonHerrn undFrauWetterundeinigeandereHäuser – siesindso stattlich,dakannihrDorfnichtmithalten.Mutterund TochtersetzensichaufeinederHolzbänke,siefaltendie Hände.DieMuttersenktdenKopf,danktdemliebenGott innig,dasserihnendiesenerfolgreichenMarkttagbeschert hat,undbittet,dassdochvielleichtallesnichtsoschlimm kommenmöge,wiemandenkenkönnte,dassesvielleicht auchmitdemWetterbaldbesserwerde.WenigstensandiesemTagistkeinRegengefallen.

SieverlassendieKirche,ziehendurchdieSchmiedgasse, woimmernocheifriggehämmertundgeklopftwirdunddie Pferdetänzeln,undschlagendenWegnachSchwellbrunn ein.

Ja,denktAnnaKathrin,inHerisauistvieleskostbarer, abersieistdochfroh,dasssiedenOrtjetztverlassen,dennsie

gehörennichthierher.IhrDorfistSchwellbrunnobenauf derKrete,siemüssenhinaufsteigenzudiesemeinfacheren Ort,dortkennensiealles,dieschlichteKirche,dieWirtshäuser.DasGeldzumEinkehrenhabensienicht,aberdasgehört sichauchnichtfürFrauen,dieMännervordenWirtschaften werdenihnenzuwinken,mankenntsich.InSchwellbrunn werdensiedenSäntiserblicken,dessenGipfelheuteinden Wolkensteckt,danndurchdenWaldhinaufundaufderanderenSeitehinunterbiszuihremBauernhaus,dem«Zwicker»,wandern.Dortsindsiedaheim,derSäntisunddie ganzeBergkettesindvonihremDaheimnochbessersichtbar alsvonSchwellbrunnaus.SicherwartendieBrüderschonauf sie,siewerdengroßeAugenmachen,wennsiedieleerenKörbesehenunddengutgefülltenGeldbeutel,dendieMutter aufdemTischausleerenwird.

DasGesichtderMutteristfröhlich,dieLiniensindwenigertiefalssonst,sieträllerteinLiedvorsichhin,dasAnna Kathrinnichtkennt,abersiestimmttrotzdemein,lässtsich vonderMelodiemittragen.Beschwingtschreitensieaus.

AnnaKathrinfolgtderMutterüberdieWiese,sieziehenmit derGabeldasGrasauseinander,dassieandenbeidenAbendenzuvorinWalmenzusammengenommenhaben,umes vorderFeuchtigkeitdesTauszuschützen.VorzweiTagen habendieälterenBrüderdiegroßeWiesegemäht – endlich trauteJohannesdemWetter.SeitzweiTagenhatesnichtgeregnet,siehoffensehr,dasssiedasHeutrockeneinbringen können.AllerdingsverstecktsichdieSonneseitdemMorgen indenWolken.

AnnaKathrinhatzugeschaut,wiedieBrüderüberdie Wiesevorrückten.ImDreiklangschwangensiedieSensen, gingennebeneinanderherundhieltendennötigenAbstand ein.SiemagdieseschwingendeBewegung,dasZischender

SensenblätterimGras – irgendwieklingteswieMusikinihrenOhren.IndiesemJahrstehtdasGrasnurhalbsohoch wieüblich.DennochwollteesJohannesgeschnitten,getrocknetundinsTenngebrachthaben,dennertrautdemWetter nicht;voreinerWocheüberzogReifdieWiesen,derHeuet hatbereitsVerspätung.

MitderMutterundHansConradgingsiehinterdenälterenBrüdernher,BartholomewaramWebstuhlgeblieben.Sie lockertendasgeschnitteneGrasmitderGabel,zettetenes. DeraromatischeGeruch,dervomGrasaufstieg,beflügelte AnnaKathrin.SiebrauchteneinpaarStundenfürdieArbeit, kamenaberzügigvoran,dadieGrasmengebedeutendkleiner waralsinfrüherenJahren.AmNachmittaghattensiedas HeugewendetundesamAbendzuWalmenzusammengetragen.AmgestrigenTaghattensiedieArbeitenwiederholt. DasHeuwarrechttrockenundleichtzuwenden,aberJohanneshattenochwartenwollenmitdemEinbringen.

NacheinerkleinenStärkungamMittagwilligtJohannes ein,derWagenstehtbereit,siebeginnenmitdemAufladen. DasHeuduftet,esistvollerBlüten,KräuterundBlätter. AnnaKathrinschnuppert.Diesenwarmen,würzigenDuft magsienochlieberalsjenendesfrischgeschnittenenGrases. SieisteifrigbeiderArbeit,sammeltaufderGabelsovielHeu wiemöglich,stemmtdieLadungzumWagenhoch,immer vonNeuem.

AlssiewiedereinengroßenBallenHeuhochstemmt,verspürtsieeinZiehen,ihrBauchschmerzt.Sielässtsichnichts anmerken,fährtfortmitderArbeit.DasZiehenwirdimmer stärker.SiekenntBauchwehnicht,dieMutterleidetmanchmaldarunter.Sieistblassgeworden,derSchmerzzehrtan ihr,abersiestemmtweiterHeuaufdenWagen,biservollgeladenist.JohanneslässtdieZügelaufdemRückendesPferdestanzen,esziehtan,derWagenruckeltüberdieWieseauf

denHofzu.DieBrüderfahrenmit,umraschabzuladen, denndiedunklenWolkenhabensichbedrohlichzusammengezogen.SiestützensichaufihreGabeln,ruheneinenMomentaus.DasZiehenistnochstärkergeworden,AnnaKathrinstöhnt.

DieMutterblicktinsblasseGesichtderTochterunderschrickt.«Wasistmitdir?»

AnnaKathrinspürt,dassihretwasdasBeinhinunterläuft, siehebtdenbraunenRockan.EineroteBlutbahnziehtsich überihrenSchenkel.EntsetztschautsiezurMutter.

Dieseatmetauf.«Dasistnormal»,sagtsiezurTochter. «Dubistgewachsen,Hatili,bisteingroßesMädchen,bald einejungeFrau.VonjetztanwirstdujedenMonatbluten.»

«Aberichhabemichdochnichtverletzt?»

«DasBlutkommtausdeinemInneren,esistnichtgefährlich.Später,wennwirzurücksindaufdemHof,gebeichdir einenStofflappen,duwirstihnaneinemGürtelfestbinden unddamitdasBlutauffangen.Jetztisteswichtig,dasswirdas Heueinbringen,einUnwetternaht.Aufdeinemdunklen RockzeichnetsichdasBlutnichtab,lasseseinfachfließen. MachdeineArbeit,dieBrüderwerdennichtsmerken.»

«AberdiesesZiehenimBauch,dieserSchmerz?»

«Dasgehörtdazu,achtenichtdarauf.»DieMutterüberlegt.«Vorhinhabeichgesagt,dassdasmonatlicheBlutungefährlichist.Dasstimmtnicht.DasBlutbedeutet,dassdu Kinderempfangenkannst.DudarfstdichmitkeinemMann einlassen,hörstdu?»SieschautdrohendzuAnnaKathrin, sohatdiesedieMutternochnieerlebt.«WennduvoneinemManneinKinderwartest,ohneverheiratetzusein,wird großeUnehreüberdichkommen.HabGottvorAugen,geh denMännernvorderHeiratausdemWeg.»

AnnaKathrinverstehtnicht,wasdieMuttermeint. ManchmalbegleitensieältereSchulkameradenüberdenHü-

gel – sinddiesegefährlichfürsie?IstderHausierergefährlich,mitdemsieletzthineinenlustigenSchwatzhatte,alser nebenihrdesWegeszog?OdermeintdieMutterdiejungen Burschen,dieihrdenHofmachen,wieletzthinaufdem MarktinHerisau?Wasistesdenn,dasdieseMännertun? Reichtes,wennsieihrnahekommen?VoreinigerZeithatsie einjungesPaarbeobachtet,dassichgeküssthat.Istesdas,was dieMuttermeint?AlssieneulichalleinvonSchwellbrunn nachHausezurückkehrte,nähertesichihrplötzlicheinunbekannterMannvonhintenundversuchte,unterihrenRock zugreifen.DemhatsiesofestaufdieHandgeschlagen,dass erverblüfftzurückblieb.RaschhattesiezuHansJakobRotachaufgeschlossen,dereinigeWegbiegungenvorihrgegangenwar,vonderRisistammtunddengleichenWeghatte wiesie.OderkannihrauchHansJakobgefährlichwerden? Gernwürdesiefragen,aberdieMutterhatsichabgewandt, sielädtHeuaufihreGabel.

DieBrüdersindbereitszurückmitdemWagen,ebenfahrensievor,vonNeuemladensieauf.Siemerkt,dasssiedas ZiehenimBauchunddenSchmerzvergisst,wennsiesich ganzderArbeithingibt,LadungumLadungstemmtsiehoch, einBlutrinnsalfließtüberihreBeine,aberniemandschaut dorthin.EinpaarRegentropfenfallen,siebeeilensichnoch mehr,endlichistdasletzteHeuaufgeladen.HansConrad ziehtsiehochaufdenWagen,siesetztsichnebenihn,spürt dasStechenderHalmenicht,aberwiederdasZieheninihremInnern.SieruckelnmitdemWagenaufdenHofzu.

AnnaKathrinistinGedankenversunken.Istsiejetzteine jungeFrauundnichtmehrnureingroßes,kräftigesMädchen?EinKindkönnteinihrwachsen,hatdieMuttergesagt. Aufeinmalistsiestolz:IhrKörperkanneinKindhervorbringen!Natürlichwirdsiezusehen,dassesnichtzurUnzeit passiert.SiewirdinErfahrungbringen,wiemanesmacht,

damitmannichtunerwartetmitKinddasteht.Wennesaber einmalsoweitist,wennsieeinenMannanihrerSeitehat, wirdsiesichfreuen,Kinderzubekommen.DieMutterhat fünfSöhneundeineTochter.SieselbstwirdauchvieleKinderhaben,vielleichtnochmehr,davonistsieüberzeugt.Und heuteistderAnfang.DasBlutistda,esmachtsiezurjungen Frau.IhrKörperstrafftsich,siefühltsichsicherundstark, dasZiehenimBauchunddasBlutanihremBeinstörensie nichtmehr.

TropfenfallenausdemgrauenHimmel,einpaarBlitzezucken,sienimmtesgelassen.JohannesknalltmitderPeitsche, umdasPferdanzutreiben.Geradenochrechtzeitig,bevordas WasserwieausKübelnvomHimmelfällt,biegensieunter dasVordachbeimTennein.

AlsAnnaKathrinaneinemfrühenMorgendieAugenaufschlägt,istesungewöhnlichhellinderKammer,dasLichtist weiß.SiestößtdaskleineFensteraufunderstarrt:DieWiesenundHügelsindweiß,soweitsieblickenkann.SchneeflockenfallenvomHimmel!ZumGlückhabensiedaswenige HeudiesesSommersbereitseingebracht.

DieMuttertrittnebensieunderschrickt.«ImErntemonatAugustkannesfrühenSchneefallgeben.AberEndeJuli, imHeumonat?Dashabeichnochnieerlebt.»

«IstindiesemSommerdennallesandersalssonst?»

Elisabethnickt.SiestreichtsichdasKraushaarausder Stirn,dasjenemderTochterähnelt,aberbraunist.«Das WetterwardieletztenJahreauchnichtbesondersgut.Aber soschlechtwiediesenSommerwaresnochnie.DiesintflutartigenRegenfälle,dieErdrutsche,vondenenmanimmer wiederhört,diewiederkehrendenSchneefälle,jetztsogar EndeHeumonat.»SieblicktAnnaKathrinan.«Beiuns kamderVerlustdeinesVatersdazu.Ichbinnichtdieeinzige

Frau,dieinjungenJahrenWitwewird.AberseinTodwiegt schwer,esbrauchtMannundFrauinderFamilie.Zum GlückübernimmtJohannesvielVerantwortung,auchfür euchjüngereGeschwister.EristmireinegroßeStütze,auch wennereurenVaternichtersetzenkann.»Sieüberlegt. «MeinejüngerenSöhnesindbalderwachsen,unddu,Anna Kathrin,bistseitKurzemeinejungeFrauundschongrößer gewachsenalsich.ImHerbstwirstdudreizehn!»

AnnaKathrinblicktverlorenaufdasWeiß,ihristkalt, auchinnerlich.DasHochgefühl,dieseStärke,diesieinsich spürte,weilsiejetztauchzudenFrauenzählt,dieKindergebärenkönnen,hatnichtangehalten.Eswarmühsam,den Stoffauszuwaschen,derdasBlutauffing.Sieweißjetzt,wieso sichdieMuttermanchmalabsonderte,umineinemBecken solcheStoffrestenzuschrubben.Jetztmachensiedasgemeinsam.DieAngstbleibt,dassBlutüberihrBeinrinnt,vielleicht,wennnachMartinidieSchulewiederanfängt,undalle aufihreBeinezeigenundsieauslachenwerden.Abernein, dieMutterundalleanderenFrauenundeinigeMädchenin ihremAlterkommendamitzurecht – ihrwirdesauchgelingen.ImMomentsetztihrnurdasWeißzurUnzeitzu.Im Wintermagsiees,wennderSchneedichtfällt,sieimHaus bleibenunddenganzenTagimKellerwebenindenStunden,indenengenügendLichtdurchdieFensterfällt.Daist derSchneemitseinemstrahlendenWeißnützlich.

DieKühemuhenlautimStall,dieBrüdersindschontätig. DieMutterhatsichdieKleiderübergestreift,sieklatschtin dieHände.«Komm,esistwichtig,dassdasHafermusbald aufdemTischsteht,wenndieMännerausdemStallkommen.DerSchneewirdihnenauchzusetzen.»Raschflechten siedieHaare,windensieumdenKopf,steckensiefest.

TatsächlichistdieStimmungangespannt,alssieumden Tischsitzen.JohannesschautmissmutigaufdasWeißdraußen,schweigendlöffelterdasMus.

«Heutegibtesdraußennichtszutun,allesistmitSchnee zugedeckt»,stelltFriedrichfest.«Hansueliundichwerden imKellerweben.»

«Daswürdeeuchsopassen»,entgegnetJohannesgiftig. «IhrmistetamVormittagdenStallaus,schichtetdasHeu umundhacktHolz.Wirwerdenrichtiganfeuernmüssen, wennwirandiesemkaltenSommertageinbisschenWärme insHausbekommenwollen.»

«Warumimmerwir?»,maultHansueli.«Wirsinddie bestenWeberimHaus.WillstduunserejüngerenBrüder BartholomeundHansConradandenWebstuhlschicken? SiewerdendieWebstückeverderben.MindereWarekönnen wirnichtverkaufen.»

Johanneshatsicherhobenundbautsichstreitlustigvor seinenBrüdernauf.«Ihrmacht,wasichsage.Diejüngeren Brüderkommenmitmir,wirflickendieZäune.DieMutter undAnnaKathringehenamMorgenindenKeller,siesind begabteWeberinnen.AmNachmittag,wennallesHolzgespaltenist,sindFriedrichundHansuelidranmitWeben, MutterundAnnaKathrinsinddannamSpulen.»

JetztschweigendieälterenBrüder,siesindeinigermaßen zufriedenmitderZuteilung.AberBartholomeundHans Conradgrummeln,weilsiedenganzenTaganderSeitevon JohannesZäuneflickensollen.BeischönemWettersindsie gerndraußen,aberjetzt … Bartholomemeint,dasserandiesemTagsogardaseintönigeSpulenderArbeitdraußenvorziehe.

MutterElisabetherhebtsichnunebenfalls,sieklopftauf denTisch.«Mirgefälltnicht,wasichheuteandiesemTisch höre.NiemandvonunsträgtSchuldamschlechtenWetter,

dasunseinmalmehreinholt.AuchwennunsdasWetterbedrückt:WirerfüllenunserePflichten.AnnaKathrinundich werdenwebenundspäterspulenunddannbisweitinden Abendhineinflicken – ihrbringtunseureKleiderund Strümpfe,andenenFlickarbeitnötigist.AllehabenihreAufgaben.JohanneshateinenvernünftigenTagesplanaufgestellt, erhatsichnichtausgenommenvondenschwerenArbeiten, imGegenteil.WirwerdendiesenPlanerfüllen.VielleichtstehenunsnochhärtereZeitenbevor.DerWinterwirdkommennachdiesemschlechtenSommer,vielleichtfrüher,als unsliebist.Wirhaltenzusammen.»SiefaltetdieHände, danktGottfürdieSpeisenaufdemTisch.

DieWortederMutterwirken.AllesenkendieKöpfe, murmelndieDankeswortemit,bittenumdenSegenfürdas Tagwerk.

ImWebkellerfälltderAbglanzdesSchneesdurchdieFenster.EsfallenkeineFlockenmehr,aberdasWeißwirdnicht soschnellverschwinden,dieWolkenhängentief.

AnnaKathrinstarrtaufdieWolkengebilde.«Wieschön wärees,wennwirdieseWolkeneinfachvomHimmelklaubenkönnten – fortundwegdamit!»

«Hatili»,mahntdieMutter.«WirsindnichtHerrüber dieWolkenunddasWetter.Wirnehmenes,wiees kommt!»

DieTochtermurrt,drehtdenWolkendenRückenzu.Es istkalt,FeuchtigkeitsteigtausdemLehmbodenauf,siereibt sichdieerstarrtenFüße.AmVortaghatsiemitderMutter gezettelt,jetztistalleszumWebenbereit.Siesetztsichan denWebstuhl,legteineneueSpuledesgelbenBaumwollgarnsein,dassiebeimFabrikantenbezogenhaben,undbald flitztdasSchiffchensoflinkhinundherwieihreGedanken.

Drei

Frauenschicksale in der Klimakrise 1816/17

Dieser Sommer lässt uns im Stich. Wir frösteln, starren in den Himmel, wie wenn von dort die Erlösung käme. Aber sie kommt nicht. Was passiert da gerade, was geschieht mit der Welt und mit uns?

Therese Bichsel verwebt in ihrem Roman «Das Jahr ohne Sonne» Geschichte und Fiktion zu einem eindringlichen Zeitporträt über ein Jahr voller Dunkelheit und Not –und über die Menschen, die dennoch nicht aufgeben.

ISBN 978-3-7296-5204- 0 9 783729652040

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