CORINA BURKHARDT








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© 2025 ZytgloggeVerlag, Schwabe VerlagsgruppeAG, Basel Alle Rechtevorbehalten
Lektorat: Angelia Schwaller
Korrektorat :AnjaRebhann
Covergestaltung :JenniferRuppert
Layout/Satz :3w+p, Rimpar
Druck: CPI books GmbH, Leck
Herstellerinformation:Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, St. Alban-Vorstadt76, CH-4052 Basel, info@zytglogge.ch Verantwortliche Person gem. Art. 16 GPSR :Schwabe Verlag GmbH, Marienstr. 28, D-10117 Berlin, info@schwabeverlag.de
ISBN 978-3-7296-5188-3
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Liebe Leser*innen,
dieses Buch enthält Inhalte, die potenzielle Trigger sein können. Am Ende des Buches findet sich eine Themenübersicht, die Spoiler für den Roman enthalten.
Callum und ich stürmen nach draußen. Ihm entfährt ein Schrei, er springt die Treppenstufen hinab, während ich wie angewachsen stehen bleibe und ihm geschockt nachsehe.
In mir bricht alles zusammen. Die hochschießende Panik lässt meine Glieder vereisen und ich kann kaum noch atmen. Nach Luft ringend starre ich auf den reglosen Körper, der in verdrehter Stellung am Fuße der Haupttreppe von Whiskey O’ Donnell liegt. Auf den Stufen sind wenige Blutstropfen zu sehen. Ich bin wie erstarrt und kämpfe gegen das Bedürfnis, losschreien zu wollen, während Callum, ohne zu zögern, auf das Grauen zu rennt. Bleib ruhig, Conor. Du darfst jetzt nichtdurchdrehen.Dudarfstnichtdurchdrehen… «Erist bewusstlos und blutet stark am Kopf!», brüllt Callum hysterisch in sein Smartphone. Unmittelbar danach stellt er es auf Lautsprecher und legt es auf den Boden.
Eine Frauenstimme gibt ihm Anweisungen, die an mir vorbeigehen. Puls am Handgelenk kontrollieren, Atmung an NaseundBrustüberprüfen.StabileSeitenlage…
Ich höre die Worte und sehe, wie mein Bruder handelt, aber das alles ergibt keinen Sinn. Nichts ergibt Sinn. «Du darfst nicht sterben, du darfst nicht sterben, du darfst nicht … », flüstere ich benommen vor mich hin. Der Puls hämmert in meinem Kopf. Die Umgebung fängt an, sich zu drehen, und auch wenn ich mit aller Kraft die Lippen aufeinanderpresse, beben sie erbarmungslos.
Als es mir gelingt, die Stufen hinunterzugehen, erkenne ich, wie stark Callum zittert, wie angstvoll seine Augen aufgerissen sind und wie sehr er um Fassung ringt. Tränen schießen mir in die Augen, während ich darauf warte, dass unser Freund sich aufrichtet und die Situation klärt. Verarscht, ihr Idioten!Das ist nur ein gescheiterter Versuch, witzig zu sein. Das ist es doch?
«Erhört nicht auf zu bluten!», entfährt es Callum.
Ich raufe mir vor Verzweiflung die Haare, ein panisches Wimmern entweicht meiner Kehle, im nächsten Moment zieht ein leises Schluchzen meine Aufmerksamkeit auf sich.
«Das wollte ich nicht. Scheiße, Scheiße … », wimmert er immer wieder. «Ihr müsst mir glauben, es war ein Unfall.»
«Was hast du getan?», frage ich mit brüchiger Stimme.
Aiden
Früher konnte ich gut schlafen. Ich habe mich hingelegt und bin kurz darauf eingenickt, doch seit einem Jahr hat sich das geändert. Seit ich von Kathies Schwangerschaft und der Fehlgeburt erfahren habe, wandle ich jede Nacht zwischen Wachsein und Schlaf. Ich fühle mich erschöpft und werde den Verdacht nicht los, demnächst dem Wahnsinn zu verfallen.
Denkannichts,denkannichts,denkan nichts…
Es hat keinen Wert. Fuck!Ich schiebe das Laken schroff von mir und sehe zum Nachtisch. Die Anzeige des Weckers steht auf fünf Uhr neunundzwanzig. Ich kann nicht in Worte fassen, wie sehr ich ungerade Zahlen hasse. Sie tackern mich wie Heftklammern an der Matratze fest, bevor die Dreißig mich aus der Bewegungslosigkeit befreit.
Gleichzeitig als ich mich aufrichte, hüllt ein Blitz Conors Wandgemälde in Licht. Nicht zum ersten Mal beschleicht mich die Vermutung, hinter den tiefschwarzen Unebenheiten könnte sich ein Höllentor befinden. Wahrscheinlich reibt sich der Teufel darin bereits die Hände, während er darauf wartet, mich endlich für meine Vergehen schmoren zu lassen.
Ich kralle mich an das Bettlaken. «Nicht heute.» Meine leise Stimme wird vom Donnergrollen verschluckt.
Eine Weile bleibe ich auf der Bettkante sitzen und höre dem Prasseln des Regens auf dem Fensterblech zu. Ich will
gerade tief durchatmen, als ein dumpfer Knall sich wie ein Strick um meine Lunge zieht. Der Stoff knautscht zwischen meinen Fingern, während ich die Zimmertüre fixiere.
Callum schläft bei Brennan. Ich weiß nicht, wieso die beiden vor Tagesanbruch und bei Unwetter in das Apartment kommen sollten. Nichtsdestotrotz bin ich mir auf einmal sicher, nicht allein zu sein. Da draußen ist jemand.
Jede Faser meines Körpers ist angespannt, während ich über den Boden tappe und das Ohr an die Tür lege. Schritte lassen mich den Blick auf meine nackten Füße senken, in der Düsternis wirken sie wie zwei Schatten. Behutsam greife ich nach der Klinke und drücke sie Stück für Stück runter, dann spähe ich mit angehaltenem Atem in das Wohnzimmer.
Eine Gestalt schleicht über den Parkettboden.
Energie schießt durch meinen Körper. Ich fühle mich bereit – bereit für ein ungemütliches Aufeinandertreffen, für eine Prügelei, für die Verteidigung des Apartments. Wenn dieser verfluchte Drecksgauner meint, hier einbrechen zu können, hat er sich mit dem Falschen angelegt.
Auf leisen Sohlen gehe ich auf die Küche zu. Die Gestalt steht inzwischen vor dem Kühlschrank, dessen schwaches Licht einen schwarzen Kapuzenpulli erahnen lässt.
Bedienter sichetwa selbst?Was sollderScheiß? Ich balle die Hände zu Fäusten und mache mich so groß wie nur möglich. «Wenn du am Leben bleiben willst, rate ich dir, die Hände dort zu lassen, wo ich sie sehen kann.»
Für den Bruchteil einer Sekunde scheinen wir beide wie erstarrt, bevor ein dumpfes Scheppern zu hören ist.
«Was habe ich gesagt?», zische ich drohend.
Er streckt eine Coladose in die Höhe, dreht sich langsam auf der Stelle und lehnt sich gegen die Ablage. «Darf ich zuerst einen Schluck trinken, bevor wir uns prügeln?»
«O’ Donnell!», presse ich atemlos hervor. Mein Herz überschlägt sich vor Überraschung oder Erleichterung – keine Ahnung. Vermutlich ein Mix aus beidem.
Ein Blitz dringt durch das Wohnzimmerfenster und unterstreicht sein überhebliches Grinsen. Die Dose klickt unter seinen Fingern. Unterdessen versuche ich, die Anspannung in den Griff zu kriegen. «Sag mal, bist du bescheuert, dich mitten in der Nacht in das Apartment zu schleichen?Ich habe mich fast zu Tode erschreckt.»
«Esfreut mich auch, dich wiederzusehen», antwortet er – sichtlich amüsiert über meine Reaktion.
Er trinkt einen Schluck, inzwischen schalte ich das Licht an und entdecke Conors Koffer auf dem Sofa. Jetzt nehme ich auch sein herbes Parfüm wahr, das wie eine Schleierwolke im Wohnzimmer hängt. «Was tust du schon hier?Ich dachte, dein Flug landet erst um halb zehn», entgegne ich, die Hände in die Hüften gestemmt und das Kinn auf die Backofenuhr gerichtet.
Er streift die Kapuze vom Kopf und wischt sich die nassen Locken von der Stirn. «Deine unbändige Freude überwältigt mich, mein Freund. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich noch ein Jahr länger in London geblieben.»
Ich stoße einen unwillkürlichen Laut aus, eile um die Kücheninsel herum und schlinge die Arme um ihn. «Natürlich freue ich mich, dich wiederzusehen, du Vollidiot. Du hast ja keine Ahnung wie sehr. Wenn du länger geblieben wärst, hätte ich dich eigenhändig zurückgeholt.»
«Jetzt übertreib mal nicht», entgegnet er mit einem halben Lachen und schiebt mich ein Stück von sich, ohne meine Oberarme loszulassen. Skepsis breitet sich auf seinem Gesicht aus. «Was ist mit deinen Haaren passiert?»
«Nach dem letzten Jahr brauchte ich eine Veränderung.»
«Okay», betont er mit einer hochgezogenen Augenbraue.
«Indem Fall ist Rasieren für dich kein Thema mehr?»
«Nicht, solange ich nicht drüber stolpere.»
«Könnte nicht mehr lange dauern», zieht er mich auf. Er klopft mir auf die Schulter und geht an mir vorbei zu den Barhockern.
Ich folge ihm und lasse mich neben ihm auf das Polster sinken. «Weiß dein Bruder, dass du hier bist?Erschläft bei Brennan und wollte dich abholen.»
«Ich weiß. Ich habe ihm vorhin geschrieben», entgegnet er und dreht beiläufig die Dose auf der Granitplatte. «Geht es dir gut?Callum hat gesagt, du schwänzt die Sitzungen.»
Diese verfluchte Petze. Ich reibe mir mit gesenktem Kopf die Nase. «Esging mir nie besser. Dieses Psychozeugs hat mir nichts gebracht, ich komme gut ohne dieses unnötige Gequatsche zurecht.»
«Hältst du das für eine gute Idee?»
Ich sehe mürrisch hoch. «Dukennst mich. Ich kann mir gut selbst helfen, dafür brauche ich keine Therapie.»
«Wenn du meinst», murmelt er schulterzuckend. «Ich halte es für einen Fehler, aber das weißt du bestimmt.»
Und ob ich das weiß. Conor nervt mich seit Ewigkeiten mit der Therapie, weil er meine Ticks für abklärungsbedürftig hält. Als Callum und Brennan nach dem Durcheinander mit dem Sextagebuch dann auch noch damit anfingen, habe ich letzten Endes eingelenkt. Dass die fünf Sitzungen Zeitverschwendung sein würden, wusste ich von Anfang an. Auch wenn ich nicht mehr derselbe bin wie noch vor einem Jahr, werde ich wohl immer der Typ bleiben, der – wenn ihn jemand fragt, wie er sich fühlt – mit einem Lächeln antwortet, dass es ihm nicht besser gehen könnte. Ich bin davon überzeugt, der Psychologin und mir einen Gefallen zu tun, wenn ich den Versuch abbreche, bevor ich die Geduld verliere und
mir etwas Unüberlegtes über die Lippen kommt. Conor muss akzeptieren, dass meine Entscheidung steht und ich keinen Bock habe, mich vor ihm zu rechtfertigen. Das tue ich schließlich nicht einmal vor mir selbst. «Wie war deine Zeit in England?», frage ich, vom Thema ablenkend, bevor der Abgrund in mir aufreißt und ich schon wieder anfange, um eine Frau und ein Kind zu trauern, die ich, genau genommen, nie hatte. Das mag weder für Callum noch für Conor nachvollziehbar sein, aber für die Erkenntnis, alles verloren zu haben, brauche ich keine Therapie.
«Eswar ganz gut», antwortet Conor. Ein verräterisches Schmunzeln huscht über seine Lippen. «Aber ich bin froh, wieder zurück zu sein. Ich habe vieles hier vermisst.»
«Redest du von Ginny?»
«Unter anderem», gibt er zu.
«Was läuft da zwischen euch?», frage ich und verspüre zugleich ein Hauch von Ironie. Vornicht allzu langer Zeit wäre es mir nicht in den Sinn gekommen, Conor nach seinem Beziehungsstatus zu fragen und heute mache ich mir Gedanken über eine eigene Familie. Mit Kathie. Oh ja, der Wahnsinn ist nah. Ich muss aufhören, mir Luftschlösser zu bauen.
«Nichts», seufzt er, und auf einmal erkenne ich dieselbe Entschlossenheit, die er auch immer beim Verlassen der Umkleidekabine vor einem wichtigen Spiel hatte. «Aber das soll sich ändern. Ich hatte in London verdammt viel Zeit, um über alles nachzudenken, und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich sie zurückgewinnen will.»
Ich ziehe die Mundwinkel hoch. Sie sind schwer. Ob ihm bewusst ist, dass sich in einem Jahr vieles ändern kann?Ich hatte kaum Kontakt zu Ginny, aber für mich sah es nicht so aus, als würde sie Conor hinterhertrauern. Wobei ich in den letzten Monaten selten alle Sinne beisammen hatte und des-
halb nicht ausschließen kann, dass ich mich täusche. Vielleicht zeigt sich Sehnsucht bei ihr in Form von Flirts bei Collegepartys mit unserem neuen Mannschaftskapitän. Wie auch immer … Ich habe nicht vor, mich in ihre Angelegenheiten einzumischen.
Conor zerdrückt beim Aufstehen die Dose und schmeißt sie in den Müll. Keine Minute später stehen wir in seinem Zimmer, wo er anfängt, die Klamotten aus dem Koffer in den leeren Schrank zu räumen. Den Großteil meiner Sachen habe ich bereits in meine Wohnung gebracht, der Rest liegt in meiner Sporttasche im Eingangsbereich des Apartments.
«Ich werde heute noch ausziehen», sage ich und nehme dabei ein stärker werdendes Ziehen in meiner Brust wahr, weil ich es kaum ertrage, wie unordentlich er seine Shirts einräumt. Am liebsten würde ich sie ihm aus der Hand reißen und sie nach Farben sortiert exakt übereinanderlegen.
«Und was ist mit deinem Untermieter?», fragt Conor. Ich lasse mich auf die Bettkante nieder und kratze mir unnötig lange den Nacken. Es fiel mir deutlich leichter, ihm die Wahrheit zu verschweigen, als er Hunderte von Kilometern weit weg war. Vermutlich wäre es besser, die Karten auf den Tisch legen, aber auf Zoff am ersten Tag seiner Rückkehr können wir wohl beide verzichten. «Wir haben uns auf eine WG geeinigt.»
Er blickt verdutzt über die Schulter. «Ich hätte nicht gedacht, dass du jemanden bei dir wohnen lässt. Du musst den Kerl gut leiden können.»
Das Ziehen verwandelt sich in einen würgenden Kloß. Ich versuche ihn mühsam runterzuschlucken und wechsle abrupt das Thema – zum vergangenen Jahr, den Modulen und dem Training. Als ich erwähne, dass Coach O’ Brien Sean zum Mannschaftskapitän ernannt hat, sieht Conor mich ungläubig an. Verständlich. Wäre ich nicht so mit mir selbst be-
schäftigt gewesen, hätte ich die Position für mich beansprucht. Aber ehrlich gesagt kommt mir vieles, für das ich mal gebrannt habe, seit dem vergangenen Jahr unwichtig vor.
Als Callum und Brennan nach Hause kommen, sind Conor und ich bereits beim Frühstück. Inmitten einer hitzigen Diskussion über die Unterschiede zwischen Irland und England ziehe ich heimlich mein Smartphone aus der Hosentasche und tippe eine Nachricht:
EyKent,er istzurück.IchkommbaldnachHause.
Conor
Eine Vogelschar flattert über die Burgzinnen des Castletown Colleges. Während ich ihr nachsehe, drückt das Band meiner Sporttasche immer schwerer auf meine Schulter. Ein dumpfes Geräusch erklingt, als ich sie neben meinen Sneakers fallen lasse. Lockernd schüttle ich den Arm aus und mein Blick schweift zu den Sicherheitsnetzen des Sportgeländes, das in der Ferne hinter einer Umzäunung mit Büschen hervorblitzt.
Auf den ersten Blick scheint sich während meiner Abwesenheit nichts verändert zu haben – und dennoch fühlt es sich ungewohnt an, wieder hier zu sein. Ich bin mir auf einmal unsicher, ob ich jemals weg war, ob das letzte Jahr tatsächlich passiert ist und ob ich heute Morgen wirklich in meinem Bett aufgewacht bin. Ist es möglich, die Welt um sich herum vertraut und gleichzeitig fremd wahrzunehmen?
Ich nehme die Tasche mit einem Seufzer vom Boden. Meine Schritte hallen von den Wänden wider, während ich durch die Eingangshalle auf das Sekretariat zugehe. Noch vor meiner Rückreise habe ich einen Termin bei der Studienberatung vereinbart, um das kommende Semester mit meiner neuen Teilzeitanstellung bei Whiskey O’ Donnell zu planen. Nachdem ich zum gefühlt hundertsten Mal von meinem Auslandsjahr im Familienunternehmen erzählt habe und für einige verpasste Kurse angemeldet bin, mache ich mich auf
den Weg zum Training. Durch die Kabinentüre dringt Gejohle, im Inneren riecht es nach Sprühdeodorant und bevor ich es merke, trete ich auf eine klitschnasse Boxershorts. Mit gekräuselter Nase kicke ich sie zur nächsten Sitzbank.
«Conor!», ruft Daniel zur Begrüßung und zieht mich in eine halbherzige Umarmung. «Willkommen zurück.»
Bevor ich antworten kann, boxt mir Jason freundschaftlich gegen die Brust, und nun bemerken auch die anderen Jungs meine Anwesenheit. Aiden stimmt ein Lied an, das mit jeder dazukommenden Stimme grauenvoller klingt. Ich presse mir grinsend die Handflächen auf die Ohren und warte ab, bis die Idioten sich beruhigt haben. Danach gehe ich zu meinem Schließfach, das sich direkt neben Seans befindet.
Nachdem er im letzten Jahr während des Trainings auf Kent losgegangen war, hätte ich ihn nie als meinen Nachfolger erwartet. Ich weiß nicht, was sich Coach O’ Brien dabei gedacht hat.
«Dubist wieder da», stellt Sean trocken fest.
«Ja»,antworte ich knapp und ziehe nebenbei die Boots aus meiner Sporttasche. «Und du bist der neue Captain.»
«Das hat sich so ergeben.» Er schweigt kurz, bevor er sein Schließfach zuschlägt. «Kommst du damit klar?»
Ich sehe hoch. «Habe ich denn eine Wahl?»
Er grinst selbstgefällig.
Mit den raspelkurzen Haaren, dem Dreitagebart und den tiefsitzenden Augenbrauen hat Sean diesen Bad-Boy-KnastiLook, der Dominanz ausstrahlt. Das und seine Besessenheit, auf dem Spielfeld immer mitreden zu wollen, dürften ihm dabei geholfen haben, an die Position zu kommen.
Sean antwortet mir nicht. Stattdessen stellt er sich mit breiter Brust in die Kabinenmitte. «Leute, seid mal kurz still!», ordnet er laut an und klatscht so lange und kräftig in die Hände, bis auch der Hinterletzte begriffen hat, dass er die
Klappe halten soll. «Ihr wisst, was ich von euch allen erwarte. Wer nicht über seine Schmerzgrenze hinausgeht, kann sich in Zukunft die Spiele von der Ersatzbank aus anschauen. Ihr solltet besser zusehen, dass ihr mich mit Einsatz beeindruckt, sonst ist eure Saison schneller zu Ende, als ihr vielleicht denkt.» Er sieht zu mir, ein herausforderndes Grinsen huscht über sein Gesicht. «Ich bin gespannt, ob du es noch draufhast, O’ Donnell.»
«Darauf kannst du dich verlassen», antworte ich mit einem Lächeln, das ihm einen Arschtritt verpasst. Minuten später wünsche ich mir, den Mund nicht so voll genommen zu haben, denn nach der zweiten Joggingrunde um das Spielfeld brennen meine Lungen wie ein Feuersturm. Ich kann gerade so mit den Jungs mithalten und verfluche mich innerlich. WiesohastdunichtsfürdeineFitnessgetan?Vollidiot!Vollidiot…
Als Coach O’ Brien uns zu sich zitiert, würde ich mich am liebsten ins feuchte Gras legen und nie wieder aufstehen. Gerade so schaffe ich es, mich zusammenzureißen, während wir uns in einem Halbkreis aufstellen.
Der Coach begrüßt mich, bevor er leise brummend durch sein Spieltaktikbuch blättert und die gesuchten Seiten unnötig stark falzt, indem er mit dem Handballen drüber reibt. «Beim Testspiel gegen Galway bleibt die Aufstellung unverändert.» Sein Blick wandert streng durch die Runde. «McLaughlin, White, King und O’ Donnell werden als Ersatzspieler aufgeboten.»
«Bitte was?», keuche ich immer noch außer Atem. Ich glaube mich verhört zu haben. Ich!Ein Ersatzspieler? «Coach, mir ist klar, dass ich nicht in Höchstform bin, aber das können Sie nicht ernst meinen. Ich war der Captain dieses Teams.»
Seine Brauen werden einen Tick enger.
«Was erwartest du?», quatscht Sean dazwischen. Seinem aufgeblasenen Ausdruck nach zu urteilen, hat er nur darauf gewartet, mich in die Schranken zu weisen. «Dukannst nicht nach einem Jahr zurückkommen und meinen, wir hätten hier nur auf dich gewartet. Wenn du einen Stammplatz im Team willst, dann krieg deinen Arsch hoch und tu was dafür.»
Ich beiße die Zähne fest zusammen, denn ich habe keinen Bock, mich am ersten Tag auf eine Diskussion einzulassen. Brennan klopft mir kleinmütig auf die Schulter.
Für den Moment verkneife ich mir die Frage, warum ausgerechnet er und Aiden ebenfalls auf der Ersatzbank sitzen. Irgendwas muss während meiner Abwesenheit gewaltig schiefgelaufen sein.
Als Aiden mir erzählte, dass Sean der Mannschaftskapitän ist, wollte ich mich darauf einlassen. Ich wollte ihm eine Chance geben, aber sein überhebliches Getue geht mir massiv auf die Nerven. Wollen wir doch mal sehen, wie lange er seine Position verteidigen kann. Allein der Gedanke daran, sie ihm streitig zu machen, lässt meine Finger kribbeln.
Doch zuerst muss ich das Warm-up überstehen, und das ist gar nicht so einfach, denn es entwickelt sich bereits nach kurzer Zeit zu einem regelrechten Überlebenskampf. Während der Sprints zwingt mich ein Wadenkrampf in die Knie, und mein Atem pfeift aus meinem Rachen. Es folgen Liegestütze, bei denen ich das Reißen meiner Muskeln nur aushalten kann, weil mich Sean wie ein jagender Falke beobachtet. Seine arrogante Visage verleiht mir Aufwind, sie lässt mich den Schmerz verdrängen, und mein Stolz ist geweckt. Als wir uns für Passübungen aufstellen sollen, baumeln meine Arme wie Fremdkörper an mir herunter. Ich kriege sie kaum noch hoch und mir tun Körperstellen weh, von denen ich nicht wusste, dass ich sie überhaupt besitze. Ich versuche mir nichts
anmerken zu lassen, aber ich bin zum ersten Mal in meinem Leben froh, als das Training zu Ende ist. Rasenhalme und Erde kleben an meinen weißen Shorts, und die Stollen meiner Boots versinken bei jedem Schritt im matschigen Untergrund, während ich auf die Spielerunterführung zugehe.
«Warte!» Aidenschließtzumir auf. «Wer hättegedacht, dass dieWölfe irgendwann aufder Ersatzbank landen?»
«Das wird kein Dauerzustand», versichereich ihm undbemerke, wie er gleich darauf denKopfsenkt unddas Tempo drosselt. Ich halte dieHand vor seine Brust undbringe ihn zum Stehen. «Hey Aiden, mirbrauchst du nichts vorzumachen. Wenn du dich nichtgut fühlst, kannst du mitmir reden.»
Er sieht auf die Nummer zwei auf meinem schweißnassen Shirt und stützt die Hände in die Hüften. Ihm entweicht ein langer Luftzug, aus dem ich Verzweiflung heraushöre.
«Was ist mit dir los?»
«Fragst du dich manchmal auch, wie es so weit kommen konnte?» Er sieht mir in die Augen. «Früher gab es nur dich, Brennan, Kent und mich. Wir waren ein unschlagbares Team. Und jetzt schwänzt Kent das Training, nur weil er weiß, dass du zurück bist. Das ist doch scheiße.»
Es ist eine Weile her, seit ich diesen Namen das letzte Mal gehört habe. Ich räuspere mich, um den Groll loszuwerden, der sich wie eine üble Erkältung meinen Rachen entlang hochkämpft und jeglichen Geschmack in meinem Mund abtötet. «Dubist mein bester Freund, und daran wird sich nichts ändern – aber Kent kann mir gestohlen bleiben.»
«Esist über ein Jahr vergangen, O’ Donnell. Willst du ihm für den Rest unseres Lebens die kalte Schulter zeigen?»
«Genau das habe ich vor», betone ich. Aiden kann nicht im Ernst glauben, ich könnte Kent jemals verzeihen. Wäre es nur sein Verrat mit dem Sextagebuch gewesen, der mir nächtelang den Schlaf raubte, dann vielleicht – vermutlich wären
wir längst wieder befreundet. Aber das, was ich von Callum erfahren habe, hat mich der Fähigkeit beraubt, ihm zu vergeben. Denn allein der Gedanke daran, wie er Ginny festhält und sie in Aidens Badezimmer gegen den Heizkörper drückt, lässt das Blut in mir hochkochen.
«Wie du meinst», grummelt Aiden und zieht die Unterlippe so weit in den Mund, dass ein Teil seines aschblonden und eindeutig viel zu langen Bartes ebenfalls verschwindet. Es scheint so, als ob er vergessen hätte, wie stark er immer für seine Meinung einstand. Die frühere Version von Aiden hätte nicht lockergelassen und mich damit genervt, die Sache mit Kent nochmals zu überdenken. Ich erkenne ihn kaum wieder und weiß nicht, wie ich das finden soll. War es naiv zu glauben, wir beide könnten noch mal von vorne beginnen?
«Dusolltest dringend duschen gehen», sage ich und halte mir gespielt angewidert die Nase zu, in der Hoffnung, die angespannte Stimmung dadurch etwas aufzulockern. «Sonst schlägt dir dein WG-Buddy die Tür vor der Nase zu.»
Er nickt und senkt dabei den Blick.
Ich klopfe ihm aufmunternd auf den Oberarm, während ich meine Aufmerksamkeit über die Tribüne schweifen lasse und an der Person haften bleibe, die über der Brüstung lehnt. Feinste elektrische Schläge machen sich in meiner Brust bemerkbar, als ich Ginny erkenne.
Die Locken hat sie zu einem lockeren Dutt hochgebunden, einzelne Strähnen fallen ihr ins Gesicht. Sie hat die Unterarme auf dem Geländer abgestützt. Ich beobachte, wie sie den Ärmel ihres beigen Strickpullovers zurückstreift und ihr Handgelenk zum Vorschein kommt. Meine Fingerspitzen wissen sofort, wie zerbrechlich es sich anfühlt, auch wenn die Zeit meine Empfindung langsam verblassen lässt. Es ist lange her, dass ich sie berührt habe. Genauso wie gesehen. Ginny sieht so schön aus, wie ich sie in Erinnerung habe.
Mein Herzschlag hämmert so heftig, dass ich befürchte, alle am Castletown College könnten ihn hören.
«Alles klar?», dringt Aiden zu mir durch.
«Ja»,sage ich heiser. In die Faust räuspernd schaue ich zu Sean, der vor der Spielerunterführung steht und sich mit Ginny unterhält. Auf seinen Lippen klebt ein zweideutiges Grinsen, und als er ihr einen Luftkuss zuwirft, schießt der trainingsbedingte Magensaft in mir hoch. Ich schlucke ihn mit einem würgenden Geräusch hinunter.
«Soweit ich weiß, sind sie nicht zusammen. Es ist wohl nur ein Flirt oder so was in der Art. Du weißt schon … »
«Wenn du das jetzt laut aussprichst, kotze ich dir auf die Boots», warne ich Aiden. Vermutlich vergesse ich mich eher und falle über Sean her, aber das wäre mit Abstand das Letzte, was ich bei einem Wiedersehen mit Ginny möchte.
Ich habe mir in den letzten Monaten immer wieder vorgestellt, wie es sein würde, auf sie zu treffen. In meinen Gedanken haben wir uns beide nach der Nähe des anderen gesehnt und wollten da weitermachen, wo wir nach dem Hochzeitswochenende in Zürich stehen geblieben waren. Es hätte alles perfekt werden sollen – und jetzt ist da Sean. Dieser verfluchte Sean. Ich bin erst einen Tag zurück und er ist einfach überall.
«Reg dich nicht auf», meint Aiden und winkt mich hinter sich her. «Komm lieber duschen, du stinkst mehr als ich.»
Ginny nimmt keine Notiz von mir. Sie winkt Sean zum Abschied und vertieft sich dann in irgendein Heft, während sie zu der untersten Sitzreihe geht und sich dort niederlässt.
Kurz bevor ich aus ihrem Blickfeld verschwinde, gehe ich langsamer und schreie innerlich: HeyGinny, ich bin wieder da!Hast du etwa vergessen, dass ichgestern zurückkommen wollte?Wieso siehstdudennnichtzu mir?Liegt es an ihm?
Hast du dichwegen ihm in letzter Zeit kaum noch bei mir gemeldet? Elende Gedanken. Das hilft doch alles nichts. Sie sieht mich nicht, und ich bin ein Feigling. Weil ich befürchte, mir etwas vorgemacht zu haben, verlässt mich der Mut. Das macht mich wütend auf mich selbst. Ich reiße die Tür zur Umkleidekabine auf und hetze durch den Raum.
Anscheinend war es höchste Zeit, zurückzukommen, denn ich kann Ginny nicht einfach gehen lassen. Auf keinen Fall. Ich will sie zurück, und solange auch nur der Funken einer Hoffnung besteht, werde ich um sie kämpfen. Istdirdasklar?
DuspielstmitdemFeuer,schnauze ich Sean im Geiste an, als sich unsere Blicke kreuzen. Wütend ziehe ich mein Schließfach auf und greife nach meiner Sporttasche.
In der Umkleidekabine stinkt es nach Schweißsocken, das aus dem verkalkten Duschkopf kommende Wasser spritzt in alle Himmelsrichtungen und der Abfluss gurgelt gewohnt ungesund vor sich hin. Ich beeile mich mit dem Anziehen, denn ich will so schnell wie möglich hier raus. Weg von dem üblen Gefühl in meinem Bauch, und weg von Sean.
Allein eile ich durch den Gang zur Tribüne, wo sich der Ausgang befindet. Insgeheim wünsche ich mir, Ginny hätte mich doch wahrgenommen und würde auf mich warten. Ich klammere mich an diese Hoffnung, bis ich ihren verlassenen Sitzplatz sehe. Eine Weile betrachte ich ihn mit einem dicker werdenden Kloß in meinem Hals, ehe ich die Sportanlage verlasse.
Ginny
«Machst du mir noch einen Black Sirup?», fragt mich Chris und schiebt sein Glas über den Tresen.
Brie verzieht angewidert die Nase. «Dudenkst aber nicht, dass ich dich nach einer Wagenladung Lakritz noch küsse?»
Chris dreht sich auf dem Barhocker und legt den Handrücken hauchzart auf ihre Wange. «Das widerspräche jeder Vernunft.»
Seit Chris und Brie ihre Beziehung öffentlich gemacht haben, dauern unsere Redaktionssitzungen gefühlt doppelt so lange. Allerdings bin ich daran nicht unschuldig, denn wegen mir finden die Treffen fast nur in Barney’ sPub statt. Dort wechsle ich mal mehr und mal weniger erfolgreich zwischen dem Ausschenken von Getränken und der Arbeit am Collegemagazin.
«Immer diese Flitterwochenphasen», seufzt Callum, ohne den Blick von seinem Laptop zu nehmen. Seine Augenbrauen werden etwas enger, dann bewegen sich seine Lippen kaum merklich.
Ich nehme die Flasche mit der dunklen Flüssigkeit aus dem Regal und mische Chris’ Drink, den auch ich eklig finde.
Bevor ich vor drei Monaten als Barkeeperin zu jobben anfing, wusste ich nichts von den von Oscar Barney selbst kreierten Limonaden – was kein Wunder ist, denn neben den
von der Decke hängenden Antiquitäten sieht man als Gast bloß die Zapfhähne und das beleuchtete Gestell mit den Alkoholflaschen. Vermutlich würden die mit Etiketten und Schleifen verzierten Glasflaschen öfter bestellt, wenn sie nicht im Schrank unter dem Tresen verstauben würden.
«Conor ist zurück», sagt Callum unvermittelt.
Seine Worte treffen mich wie ein Schuss mit einer Armbrust mitten ins Herz. Ich bin froh, dass die verrosteten Laternen und der verstaubte goldene Kronleuchter nur schwach Licht spenden, sonst hätte er bestimmt die Röte auf meinen Wangen bemerkt. Wobei … was mache ich mir vor?Callum ist mein bester Freund und würde meine Gefühlsregungen auf einen Kilometer Entfernung oder in kompletter Dunkelheit erkennen. «Das ist schön», kommt mir nur leise über die Lippen. Entschlossen schiebe ich das Glas mit dem Black Sirup über den Tresen zu Chris, der immer noch mit Brie beschäftigt ist. Wer hätte gedacht, dass ich mich zuerst mit dem Anblick anfreunden muss?Die beiden sind zwar süß, aber zwischen Wir-sind-wie-eine-Familie und Wir-sind-einPaarliegt ein Universum.
«Hast du mich verstanden?» Callum klappt seinen Laptop zu und verkeilt die Unterarme auf der Abdeckung.
«Mein Bruder ist wieder da. Conor. Der Typ, der so aussieht wie ich.»
«Das ist schön!», sage ich etwas schärfer. Ichhab’sjakapiert. Natürlich habe ich das. Ich weiß nur nicht, wie ich damit umgehen soll. Conor ist wieder da. Callum weiß nicht, wie laut dieser Satz in meinem Kopf dröhnt, seit ich Conor beim Training auf dem Gaelic Footballfeld gesehen habe. Es war dieser eine Moment, in dem ich ihn im Augenwinkel sah und mir auf der Stelle klar wurde, dass ich mit keiner Faser meines Körpers auf unser Wiedersehen vorbereitet bin. Seinen Blick auf mir zu spüren, war wie ein Sprung in die irische
See, irgendwas zwischen einem Rausch und dem Drang nach Luft, zwischen dem, was war, und dem, was immer noch ist. Dabei dachte ich, dass ich das, was uns verbunden hatte, überwunden hätte. Ich habe mich geirrt. Ich habe mich so was von geirrt. Über einen Menschen hinwegzukommen, der plötzlich, von einem Tag auf den anderen, weg ist, ist definitiv nicht dasselbe, als wenn er immer da gewesen wäre und wir uns täglich über den Weg gelaufen wären. Aus den Augen, aus dem Sinn funktioniert nur so lange, bis man der Wahrheit ins Gesicht sehen muss. «Nach Schichtende beginne ich mit dem Porträt über Padraig. Vielleicht schaffe ich es bis morgen Nachmittag.»
Callum legt den Kopf schief, sein Hemd hebt sich wie ein Luftballon, der gemächlich aufgeblasen wird. «Ginny.»
«Kannst du übernehmen?», ruft Oscar genau im richtigen Augenblick. Er hält einen Getränkekasten fest und zeigt mit dem Kopf in Richtung eines Herrn mit Fischermütze.
«Noch ein Royal. Der aus dem Eichefass», lallt dieser und zeigt mit einem zerknitterten Zwanziger auf Callum. «Ich hoffe, der schmeckt besser als das letzte Gesöff.»
Callum macht eine abweisende Handbewegung, seine Aufmerksamkeit bleibt weiterhin bei mir.
Ich vermute, mir gleich wieder anhören zu dürfen, wie sehr er die Redaktionssitzungen in Barney’ sPub hasst, weil es allmählich zur Gewohnheit wird, dass er von Fremden auf Whiskey O’ Donnell angesprochen wird.
Noch während des Kassierens bereite ich mich auf eine weitere Diskussion vor, doch anstatt mich darum zu bitten, die Arbeitstage endlich zu tauschen, steht ihm immer noch dick und fett Conorins Gesicht geschrieben.
«Dukannst mich vielleicht ignorieren, aber bei deinen Gefühlen wird das auf Dauer nicht funktionieren. Und wenn du nicht vorhast, unsere Freundschaft demnächst zu beenden,
wirst du dich früher oder später sowieso mit der Rückkehr meines Bruders auseinandersetzen müssen. Offen gestanden, wäre es besser, wenn du sofort damit anfangen würdest, denn Conor wollte sich mit Aiden, Brennan und mir treffen.»
«Hier?», entfährt es mir. «Dumeinst im Barney’ s?»
Callum zieht ungläubig eine Augenbraue hoch. «Wundert dich das etwa?Bevor er gegangen ist, hing er doch ständig hier rum. Er hat mehr Zeit auf den Sesseln da hinten verbracht als auf unserem Sofa im Apartment.»
Ich zucke resigniert mit den Schultern.
Offenbar gehört so was wie ein Stammlokal auch zu den Dingen, die man zu verdrängen weiß, wenn jemand ein Jahr weg ist. Vermutlich habe ich mir darüber aber auch keine Gedanken gemacht, weil das Barney’ sinden letzten Monaten zum Lieblingstreffpunkt des gesamten Castletown Colleges geworden ist. Seit die Games Society neben den Quiz-Nights auch regelmäßig Partys zur Mitgliederakquise im Pub veranstaltet, ist ein Durchkommen an den Donnerstagen und Freitagen kaum mehr möglich. An Abenden wie dem heutigen gleicht das Pub nach acht einem Hindernisparcours. Entweder weiche ich Mitarbeitenden aus oder stolpere durch den Raum, um Tische abzuräumen und Scherben aufzukehren.
Die Arbeit im Pub weckt manchmal Erinnerungen an meinen Vater, als ich ihn das letzte Mal im Steakhouse sah. Dass er damals etwas tat, das dem ähnelt, was ich hier mache, wirkt wie ein Zufall. Doch vielleicht ist es mehr als das. Vielleicht habe ich aus dem Bauch heraus entschieden, ohne es zu merken. Ich habe mich sicherlich nicht meines Vaters wegen für diesen Job entschieden, aber ich kann auch nicht leugnen, dass etwas in mir glaubt, ihm dadurch ein wenig näher zu sein. Das ist verrückt. Ich will das nicht fühlen, aber ich kann es nicht verdrängen. Da ist eine Verbindung zwischen Daniel Doyle und mir, die wohl nie vollständig abreißen wird. Sie ist
wie ein unsichtbares Band, das mich immer wieder an die schmerzhafteste Zeit in meinem Leben erinnert. Das ist nicht okay. Es ist nicht fair, dass es mich immer wieder aufs Neue trifft, wenn ich daran denke, wie er sich vor Jahren stetig von mir distanzierte, wie er aus dem Nichts meine Nummer sperrte, heimlich nach Irland zog und mir bloß Gleichgültigkeit entgegenbrachte, als ich ihn im Steakhouse besucht habe.
Sein Handeln tut mir immer noch weh, und das macht mich wütend, denn im Grunde hat er meinen Schmerz genauso wenig verdient wie meine Gedanken.
Als ich nach Irland kam, trug ich viele Fragen mit mir, die er mir damals im Steakhouse beantwortete, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Da habe ich mich für mich entschieden – und daran will ich festhalten. Ganz egal, wie schmerzhaft es auch sein mag, ich werde ihm nie wieder die Möglichkeit geben, mich so zu verletzen, wie er es getan hat.
«Esdünkt mich, als kehrtest du nach einem Jahr ohne Minne zurück in jenes dunkle Tal, wo die gequälten Seelen hausen.» Chris reißt mich aus den Gedanken, während Brie gedankenverloren eine seiner nussbraunen Haarsträhnen um den Finger wickelt. Je näher sie seiner Kopfhaut kommt, desto wehleidiger verzieht sich sein Gesicht und auf einmal zischt er:«Grundgütiger, ich gebiete dir Einhalt!»
Sie zieht die Hand mit einem entschuldigenden Schmunzeln zurück, lehnt sich dann halb über den Bartresen zu mir rüber und sieht mich mit großen Augen an. «Chris hat recht. Dein Gesicht schreit förmlich: Hilfe,Conorist zurück undichweißnicht,was dasfüruns bedeutet.»
Ich sehe zu Callum, der nur mit den Schultern zuckt, als ob er sagen wollte: MeineRede.Diebeidenhabenrecht.
Na prima. Anscheinend hat das gesamte Collegemagazinteam bemerkt, wie verloren ich mich fühle. Ich kann Conor nicht aus dem Weg gehen, und vermutlich ist es das Beste,
wenn ich anfange, das baldige Aufeinandertreffen in einem positiven Licht zu betrachten. Immerhin gibt mir das die Chance, die Vergangenheit mit Conor endlich hinter mir zu lassen.
«So!»Brie springt vom Barhocker auf die Füße. «Wenn ihr Fitzgerald und mich entschuldigen würdet, wir müssen los, wenn wir den Anfang des Films nicht verpassen wollen.»
Wir verabschieden uns von den beiden, Callum verstaut seinen Laptop in der Tasche, und ich bediene eine Studentin. Ich fülle ihren Pitcher nach, während die ersten Klänge von Sanders Gitarre durch die Boxen dringen. Als er anfängt zu singen, ist der Lärmpegel augenblicklich so hoch, dass ich beim Kassieren über den Tresen schreien muss. Ich wende mich wieder Callum zu. Er hat sich über den Tresen gelehnt und greift nach einem Nussschälchen. Ich hebe scheinbar mahnend den Zeigefinger, woraufhin er mir mit einem breiten Lächeln zuzwinkert und ein Nüsschen isst.
«Wegen der Fotos für The Gloss … ich habe mein Bestes versucht, aber Dad blockt bei dem Thema komplett ab. Wir verstehen uns inzwischen zwar besser, aber er will trotzdem nichts davon hören.»
«Ist schongut», antworte ichund bemühe mich,mir die Enttäuschung über dieJobabsage nichtanmerkenzulassen. Callum soll sich deswegen nichtschlechtfühlen, aber insgeheim hatteich mirerhofft,dassseinVater fürunseren Vorschlag offenwäreund bei demnamhaften MagazinThe Gloss eingutes Wort fürmicheinlegenwürde.Andererseitsmusste ichdamit rechnen, dasseresfür eine riskante Idee halten würde,eineCollegestudentinals Fotografinfür dieReportage über dieWhiskey-O’ Donnell-Destillerie vorzuschlagen.
«Wir finden eine andere Möglichkeit.» Callums schüchterne Zuversicht entlockt mir ein schwaches Nicken. Ich sehe an ihm vorbei zur Holztüre, die mit Gig-Flyern behängt ist
und gerade in den Eingangsbereich gestoßen wird. Brennan tritt über die Schwelle und öffnet den Reißverschluss seiner dunkelbraunen Softshelljacke, in der er wie ein Grizzlybär wirkt. Hinter seiner muskulösen Silhouette blitzt Aidens beige Wollmütze hervor, und dann erkenne ich Conors zerzausten Rotschopf. Mein Herz schlägt schneller, während Conor suchend durch den Raum schaut und schlussendlich bei mir hängen bleibt. Die in seinem Lächeln mitschwingende Sehnsucht läuft in einem warmen Schauer über meinen Rücken und lässt meine Knie weich werden. Ich greife blindlings nach einem Lappen im Spülbecken und wische über den Tresen, als ob er schmutzig wäre. In Wahrheit kämpfe ich um die Kontrolle über die Nervosität, die Conors stolzer Anblick in mir auslöst. So wie er da im Eingangsbereich steht, könnte man meinen, er wäre der Besitzer des Pubs und wollte mal eben nach dem Rechten sehen. Als Aiden ihn anstupst, wendet er den Blick von mir ab. Ein Luftschwall entweicht meinen Lungen. Ich beobachte, wie er sich aus der Jacke schält, unter der ein dunkelgrünes Shirt zum Vorschein kommt. Unfähig, den Blick von ihm abzuwenden, lege ich den Lappen beiseite und zupfe kühlend an den Knöpfen meiner Bluse, während Callum seinen Freund winkend auf uns aufmerksam macht. Als die drei Jungs auf uns zukommen, möchte ich auf der Stelle ein Loch buddeln und reinspringen. Conor direkt gegenüberzutreten überfordert mich. Würde ich auch nur eine Sekunde darüber nachdenken, wie ich atmen soll, wäre ich wohl unfähig dazu. Ich würde es verlernen und kläglich ersticken.
«Der Zapfhahn vom Guinness ist trocken», grummelt Oscar nahe meinem Ohr. Die Halbmonde unter seinen Augen kündigen an, dass er mir die Redaktionssitzungen verbieten wird, wenn ich meiner Arbeit nicht nachkomme. Er streift glättend über seine graumelierten Haarsträhnen, die
seine Glatze nur halb verdecken, und zuckt dann auffordernd mit den buschigen Augenbrauen in Richtung Gewölbekeller, in dem sich die Bierfässer befinden, bevor er sich einem Gast zuwendet.
Caroline gibt mir ein Handzeichen, dass sie die Bar übernehmen wird. Brennan küsst Callum zur Begrüßung, und Conor setzt sich auf einen Barhocker. Sein Blick verfängt sich mit meinem, und auf einen Schlag wird mein Mund trocken. Staubtrocken. Wie konnte ich nur vergessen, wie einnehmend seine strahlend grünen Augen sein können?Ich denke an einen ungesicherten Sprung von den Klippen – an einen Tauchgang ohne Sauerstoffgerät – an irgendetwas richtig Dummes, das ich nur mit ihm machen würde.
Mitdir.
Dubistzurück.
Mein Herz droht zu zerspringen, als seine Lippen ein zartes Heyformen.
«Hey», hauche ich. Unmöglich für ihn zu hören.
«Ginny!», ruft Oscar mit drohendem Unterton.
Ich hebe die Hand, um ihm zu zeigen, dass ich ihn verstanden habe, kurz bevor ich durch den Barbereich eile, als ob mein Leben davon abhinge. Springend überwinde ich die Steintreppe in den Gewölbekeller.
Nachdem ich das leere Bierfass abgekoppelt und das neue angeschlossen habe, lehne ich mich an die feuchtkühlen Steine und lausche Sanders Stimme, die nur gedämpft zu mir durchdringt. Sanft schlage ich den Hinterkopf gegen das Gewölbe und stöhne leise in mich hinein. Wieso lasse ichmich von Conoraus derBahnwerfen?Ich ärgere mich über meine mangelnde Selbstkontrolle, auch weil ich mich Conor gegenüber entspannt verhalten wollte. Das hätte so was wie ein Neuanfang als Freunde werden sollen. Nachdem sich unser Kontakt im letzten Halbjahr auf wenige Nachrichten und
Die zielstrebige Schweizerin Ginny steht während ihres Auslandsstudiums vor einer Belastungsprobe: Ihre Gefühle für Conor sind widersprüchlich, und seine Rückkehr an das Castletown College sorgt für neue Spannungen. Während Conor mit Sean um die Position im Gaelic-Football-Team ringt, gerät Ginny zwischen die Fronten – denn Sean ist nicht nur der neue Captain, sondern auch ihr Date. Trotz hitziger Wortgefechte und altem Misstrauen weckt das Wiedersehen zwischen Ginny und Conor Erinnerungen, die sich nicht verdrängen lassen. Inmitten von Partys, sportlichem Ehrgeiz und unausgesprochenen Wahrheiten müssen sie sich eingestehen, dass sie immer noch viel füreinander empfinden. Doch wie sollen sie die Vergangenheit hinter sich lassen, wenn diese ihre Gegenwart bestimmt – und alles zu zerstören droht?
Ginnys und Conors Geschichte geht weiter – in diesem zweiten Band der Castletown-College-Reihe. ISBN 978-3-7296-5188- 3