Wien Museum Katalog „O.R. Schatz & Carry Hauser“

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IM ZEITALTER DER EXTREME

RESIDENZ VERLAG



O. R. SCHATZ � CARRY HAUSER IM ZEITALTER DER EXTREME



O. R. SCHATZ � CARRY HAUSER

WIEN MUSEUM

Ralph Gleis (Hg.)

IM ZEITALTER DER EXTREME

RESIDENZ VERLAG


O. R. Schatz & Carry Hauser. Im Zeitalter der Extreme

407. Sonderausstellung des Wien Museums 28. Jänner 2016 bis 15. Mai 2016

AUSSTELLUNG

KATALOG

Kurator Ralph Gleis

Herausgeber Ralph Gleis

Kuratorische Assistenz Elke Sodin

Texte Katalogteil Ralph Gleis

Gestaltung Robert Rüf

Historische Chronologie Gerhard Milchram [GM]

Ausstellungsgrafik Manuel Radde

Grafische Gestaltung Manuel Radde

Ausstellungsproduktion Isabelle Exinger-Lang

Lektorat Julia Teresa Friehs

Registrar Laura Tomicek

Bildredaktion Elke Sodin

Lektorat Julia Teresa Friehs

Fotografien Wien Museum Faksimile digital – Birgit und Peter Kainz

Übersetzung Nick Somers

Schrift Schatzhauser Breit (Type Design: Igor Labudovic), Bauer Grotesk Pro Papier Munken Polar Rough, Arctic Volume HighWhite Druck Finidr, Český Těšín Cover-Abbildung O. R. Schatz, Der Ballonverkäufer, 1929, Belvedere, Wien (Detail) / C. Hauser, Madonna vor der Stadt, 1921, Galerie bei der Albertina ·  Zetter, Wien © Bildrecht, Wien 2016 Klappen-Abbildung Carry Hauser Laster, 1923 (2.3) Otto Rudolf Schatz Arbeiter vor Fabrikschloten, 1928 (2.119)

Restaurierung Andreas Gruber, Nora Gasser, Karin Maierhofer Transporte Wien Museum Richard Weinek Aufbau Möbelbau Sulzer, Werkstätten und Studiensaal Wien Museum

HAUPTSPONSOR DES WIEN MUSEUMS

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Publikation darf in irgend­einer Form oder in irgendeinem Medium reproduziert oder verwendet werden, weder in technischen noch in elektronischen Medien, eingeschlossen Fotokopien und digitale Bearbeitung, Speicherung etc. © 2016 Wien Museum, Residenz Verlag und AutorInnen

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio­ grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7017-3384-2


Matti Bunzl VORWORT

6 AUFSÄTZE

AUSSTELLUNG Anfänge im Schatten des Weltkrieges

42 Im Bann der Großstadt

Ralph Gleis

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OTTO RUDOLF SCHATZ UND CARRY HAUSER VERSUCH EINER KONSTRUKTIVEN KONFRONTATION

Quo vadis?

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126 Exil und Verfolgung

135

Christoph Bertsch

Verzweifelter Optimismus nach 1945

OTTO RUDOLF SCHATZ ANMERKUNGEN ZU EINER POLITISCHEN IKONOGRAFIE DER ZWISCHENKRIEGSZEIT

144 Kunst im Wiederaufbau

156

18 Cornelia Cabuk ASPEKTE DES POLITISCHEN ENGAGIERTER REALISMUS BEI CARRY HAUSER

26

ANHANG Ausgestellte Werke

172 Künstlerbiografien

Wolfgang Kos

180

KÜNSTLER IM STAATSDIENST DIE POLITISCHEN BILDER IM WERK VON SCHATZ UND HAUSER NACH 1945

Biografien der Autorinnen und Autoren

34

183

182 Leihgeberinnen und Leihgeber Abbildungsnachweis

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VORWORT

VORWORT Matti Bunzl

Eric Hobsbawm überschrieb seine Analyse des kurzen 20. Jahrhunderts und insbesondere die Zeit der zwei Weltkriege treffend mit The Age of Extremes. In Anlehnung daran ist diese Ausstellung, die ein halbes Jahrhundert Wiener Geschichte aus der Perspektive zweier Künstler betrachtet, mit O. R. Schatz und Carry Hauser. Im Zeitalter der Extreme betitelt. Aber warum O. R. Schatz und Carry Hauser? Warum nicht eine Soloshow des einen oder des anderen? Warum kein Abriss über die künstlerischen Positionen in Wien in der Zwischen- oder Nachkriegszeit? Die Antwort hat auch mit der speziellen Natur des Wien Museums zu tun. Einerseits gibt es eine exzellente Kunstsammlung, aus der O. R. Schatz und Carry Hauser. Im Zeitalter der Extreme zu einem Gutteil gespeist wird. Andererseits sind wir nach Auftrag und Selbstverständnis zugleich ein kulturhistorisches Museum. Und da bietet der Vergleich zweier Positionen ungeahnte Möglichkeiten, im Allgemeinen und im besonderen Fall von Schatz und Hauser. Im Gegensatz zum reinen Kunstmuseum hat das Wien Museum in seiner Universalität mit kunst- und kulturhistorischen Sammlungen das Potenzial, Kunst im gesellschaftlichen Gefüge darzustellen. Kunstbetrachtungen im historischen Kontext sind das Atout des Hauses. Konkret erlaubt uns diese Herangehensweise, die Frage nach der Beziehung zwischen Kunst und Politik neu zu stellen. Nur die systematische Gegenüberstellung der beiden Künstlerlaufbahnen ermöglicht es, die ästhetischen Auswirkungen bisweilen auch konträrer politischer Überzeugungen auszuleuchten. Es geht also darum, zu ergründen, wie die beiden auf die extremen Wandlungen ihrer Zeit reagiert haben. Dies führt wiederum zu einer wichtigen Einsicht. Im konzentrierten Vergleich zwischen Schatz und Hauser zeigt sich der respektive Einfluss ihrer politischen Positionen durchaus. Er ist aber nicht alles entscheidend, weder im Bereich der gewählten Sujets noch in Bezug auf bevorzugte Medien. Die Ästhetik von Schatz und Hauser – so die Conclusio, die durchaus generalisierenden Charakter hat – ist in verschiedenen konkreten Bereichen eine Funktion von Politik, kontrolliert wird sie durch sie aber nicht. 6


Wir verdanken diese weitreichende Intervention unserem Kurator Ralph Gleis. Er hatte die Idee, eine ursprünglich als Einzeldarstellung zu Schatz geplante Ausstellung durch den Vergleich mit Hauser zu einer Reflexion von Kunst und Politik im Wiener Zeitalter der Extreme zu machen. Wir sind über diese ambitionierte Wendung äußerst glücklich. Sie führte nicht nur zu einer neuen wissenschaftlichen Bearbeitung zentraler Bestände des Wien Museums, sondern auch zu dem spannenden Versuch, der Wiener Kunstgeschichte allgemein einen wichtigen Impuls zu geben. Der Ausstellung gelingt es durch diesen Ansatz, der bislang unbekannte Kunstwerke und Quellen erstmals erschließt, einen Beitrag zur Forschung zu leisten, was eines der grundsätzlichen Ziele des Museums als wissenschaftlicher Einrichtung öffentlichen Rechts ist. Die Initiative zu einer Ausstellung über Otto Rudolf Schatz ging von meinem Vor­ gänger Wolfgang Kos aus. Anregung dazu hatte schon seit Langem Dietrich Kraft gegeben, der ein unermüdlicher Erforscher und Promoter für die Rezeption des Werks von Otto Rudolf Schatz ist und gemeinsam mit Matthias Boeckl die erste umfassende Monografie vorgelegt hat. Ihm gilt ein besonderer Dank, da er viel Detailwissen und sein über Jahre hinweg auf­gebautes Netzwerk an Sammlerinnen und Sammlern sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eingebracht hat. Seine wie alle Studien zu Schatz basieren auf der Sammlertätigkeit von Wilfried Daim, dem wir es verdanken, dass das weit verstreute Œuvre von Schatz zusammengetragen und aufgearbeitet wurde. Ihm und seiner Familie gebührt als größtem Leihgeber Dank. An dieser Stelle sei auch Michael Jursa als Nachkomme von Schatz für die Bereitschaft gedankt, Einblick in den Nachlass zu gewähren. Für die Aufarbeitung von Leben und Werk Carry Hausers ist in erster Linie Cornelia Cabuk zu danken, die als Kennerin und Autorin des Werkverzeichnisses wertvolle Informa­ tionen bereitgestellt und das Projekt mit ihrer Expertise unterstützt hat. Ein wesentlicher Leihgeber zum Werk seines Vaters war Heinz Hauser, unterstützt durch den Nachlassverwalter Mario Valdez, der in großzügiger Weise Einblick in den Künstlernachlass ermöglicht hat. Darüber hinaus ist vielen privaten Leihgeberinnen und Leihgebern von Deutschland über Griechenland bis in die USA, aber insbesondere in Österreich zu danken – ohne sie wäre es nicht möglich gewesen, dieses Projekt zu realisieren. Eine Tatsache, die auch belegt, dass das Werk dieser beiden Künstler in Wiener Wohnungen weiterlebt. So weitverbreitet sind Arbeiten von Hauser und Schatz jenseits der ebenfalls wichtigen institutionellen und privaten Kunstsammlungen, dass ohne die Unterstützung durch zahlreiche österreichische Kunsthändler und Auktionshäuser die Kontakte zu den heutigen Besitzerinnen und Besitzern oftmals nicht herzustellen gewesen wären. Schließlich gilt mein Dank dem gesamten Team der Ausstellung: Ralph Gleis als Kurator für die akribische Erarbeitung des Themas für Ausstellung und Katalog, Robert Rüf für die feine Ausstellungsarchitektur, Manuel Radde für die ausdrucksstarke Grafik, Elke Sodin für die wissenschaftliche Assistenz, Isabelle Exinger-Lang für die Produktion, Laura Tomicek für die Organisation des Leihverkehrs, unseren Restaurierungswerkstätten sowie den gesamten internen Services für Aufbau und Umsetzung. 7


Ralph Gleis

Zwei Künstler, die auf den ersten Blick so gegensätzlich erscheinen wie Otto Rudolf Schatz (1900–1961) und Carry Hauser (1895–1985), in einem Atemzug zu nennen und gar in einer Ausstellung gegenüberzustellen, verlangt nach einer Erklärung. Der eine, hervor­ getreten durch seine ausdrucksstarken Holzschnitte aus der Welt der Arbeit, scheint doch grundverschieden vom anderen, der durch seine Madonnenbilder und traumbildhaften Aquarelle bekannt wurde. Demnach liegt der gedankliche Ausgangspunkt dieser Ausstellung auch weniger in den Gemeinsamkeiten der beiden Künstler als vielmehr in der methodischen Möglichkeit, durch einen komparativen Ansatz sowohl den Zug der Zeit zu erfassen als auch die individuellen Eigenheiten des jeweiligen Künstlers hervortreten zu lassen. Hauser und Schatz gehören nicht zu den wenigen richtungsweisenden österreichischen Jahrhundertkünstlern wie Schiele oder Kokoschka, sondern reagieren mit ihrem jeweiligen Werk sehr deutlich „auf die dominierenden Zeit- und Kunstströmungen“, wodurch sie wiederum in besonderer Weise als typisch für diese Zeit gelten können.1 Das Nachzeichnen zweier Künstlerviten in ihrem parallelen Schaffen zwischen 1918 und 1960 zeigt deutlich die Gemeinsamkeit und typische Proble-

matik dieser Generation im Spannungsfeld von Kunst und Politik auf. Ihr von Kriegen, Exil und politischen Systemwechseln geprägter Lebensweg verhindert die kontinuierliche künstlerische Entwicklung dieser „verlorenen Generation“. Da sie auch als sensible Chronisten ihrer Zeit und Umwelt tätig waren, beleuchtet der spannende Dialog dieser Positionen ebenso ein halbes Jahrhundert Wiener Geschichte in der künstlerischen Auseinandersetzung. Bei genauerem Hinsehen haben die Künstler aber durchaus mehr Gemeinsamkeit als den permanenten künstlerischen Neuanfang und stilistischen Wandel. Schatz und Hauser kannten einander als Protagonisten der Wiener Kunstszene und standen im künstlerischen Austausch. Einerseits durchlaufen beide das weite Spektrum künstlerischer Ausdrucksformen vom Expressionismus und Kubismus über die Neue Sachlichkeit bis hin zum Realismus der Nachkriegsjahre in je subjektiv gefärbten Varianten. Andererseits sind es Persönlichkeiten und Institutionen der Kulturszene, die wie ein Scharnier zwischen den beiden Werken stehen: Gemeinsame Förderer wie Arthur Roessler und Viktor Matejka verbinden die beiden, aber auch Verlage und künstlerische Zusammenschlüsse wie der Hagenbund und die Notgemeinschaft für Kunst und Schrifttum. 8

KONSTRUKTIVE  KONFRONTATION

OTTO RUDOLF SCHATZ UND CARRY HAUSER VERSUCH EINER KONSTRUKTIVEN KONFRONTATION


Abb. 1 Otto Rudolf Schatz, Fantastische Komposition, 1930 (2.53)

und Bücher von Wilfried Daim zu nennen.2 Die beste Kennerin des Malers Carry Hauser ist Cornelia Cabuk, die nach ihrer Dissertation über den Künstler auch das umfangreiche Werkverzeichnis mit Monografie vorgelegt hat.3 Das jeweilige Œuvre ist allerdings so umfang- und facettenreich und zugleich so weit in Privatbesitz verstreut, dass immer wieder bislang Unbeachtetes auftaucht. Schatz und Hauser sind also keine gänzlich Unbekannten, und doch gilt es sie genauer zu entdecken. Der Vergleich richtet den Blick zudem auf scheinbar Nebensächliches und eher Untypisches im jeweiligen Werk, wie Schatz’ Ausflüge ins Fantastische oder Hausers künstlerische Beschäftigung mit der Fabrikarbeit (Abb. 2). Somit wird gängigen Klischees – Hauser der „Madonnenmaler“ und Schatz der „Arbeitermaler“ – entgegengewirkt. Die Ausstellung wagt also einen neuen Blick auf die Künstler, allerdings nicht im Sinne einer doppelten Monografie mit einer kompletten Darstellung des jeweiligen Werks. Die Themenstellung bewirkt einen selektiven Zugriff, der beispielsweise die Reisen der Künstler bis auf die Momente der politisch erzwungenen Emigration unberücksichtigt lässt. Auch das Spätwerk von Hauser mit seinen auf Afrika-Reisen gewonnenen Inspirationen wird nicht aufgegriffen, da Schatz 1961 früh verstirbt und somit der angestrebte Vergleich an dieser Stelle enden muss.

Schließlich unterhielten sie Kontakte zu von beiden geschätzten Künstlerfreunden wie Georg Philipp Wörlen, Kunsthändlern wie Otto Kallir-Nirenstein oder Kunsthistorikern wie Hans Tietze. Es zeichnet sich also in der Betrachtung ein eng verknüpftes, professionelles Netzwerk in der Wiener Kulturszene und darüber hinaus ab. Die Spurensuche der künstlerischen und biografischen Überlappungen umfasst stilistische und motivische Vergleiche ebenso wie Dokumente des direkten Austauschs. Allen voran ist eine bislang unbekannte Zeichnung von Schatz zu nennen, die sich mit einer Widmung seiner Frau an Trude und Carry Hauser in dessen Nachlass fand (Abb. 1). In der Hinterlassenschaft begegnen wir zudem Büchern von Josef Luitpold Stern mit Holzschnitten von Schatz, die der Autor Carry Hauser gewidmet hat, und erkennen auch darin einen Beleg des gegenseitigen Interesses. Von Schatz hingegen haben sich kriegsbedingt neben seinen Bildern nur wenige biografische Spuren erhalten, die diese Auseinandersetzung bezeugen könnten. Zu beiden Künstlern liegen bereits grundlegende Arbeiten vor. Zu Schatz sind insbesondere die Monografie von Dietrich Kraft und Matthias Boeckl sowie die Aufsätze

IMMER IST ANFANG Immer ist Anfang4 ist eine Gedichtsammlung von Franz Theodor Csokor – einem engen Freund Hausers – überschrieben. Dieser den Aufbruch zum Prinzip erhebende Titel könnte gleichsam als Lebensmotto sowohl von Carry Hauser als auch von Otto Rudolf Schatz gelten. Tatsächlich war der künstlerische Neuanfang eine der wenigen Konstanten in ihrem jeweiligen Œuvre. Durch dieses Oszillieren zwischen zeitgeistiger Anpassung und der Suche nach einem eigenständigen Stil ist es nicht einfach, die künstlerischen Charakteristika herauszufiltern und zu benennen. Ausgangspunkt der künstlerischen Karriere von Hauser ebenso wie von Schatz, die beide aus bürgerlichen Verhältnissen stammen, ist die damals progressive K. K. Kunstgewerbeschule. Während die Ausbildung des um fünf Jahre älteren Hauser vor dem Ersten Weltkrieg liegt, studierte Schatz dort von 1915 bis 1918, unterbrochen durch einen freiwilligen Militärdienst. Gemeinsame Lehrer sind Oskar Strnad in der 9


KÜNSTLERDEBÜT IM KRIEG UND IN REVOLUTIONÄREN ZEITEN Das traumatische Erlebnis des Ersten Weltkriegs, zu dem sich Schatz und Hauser als Freiwillige melden, lässt sie zu Pazifisten werden. Die künstlerischen Anfänge im Schatten des Weltkrieges sind von einer

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KONSTRUKTIVE  KONFRONTATION

Abb. 2 Carry Hauser, Fabrik, 1925 (2.93)

Allgemeinen Formenlehre, Anton von Kenner im Aktstudium sowie Franz Cizek in der Ornamentalen Formenlehre. Universell in den künstlerischen Techniken ausgebildet, wechseln sie mühelos zwischen Gemälden, grafischen Künsten und Buchkunst bis hin zur dekorativen Ausstattungs- und Wandmalerei. Häufig verfolgen sie Themen über längere Zeiträume und transponieren sie durch verschiedene Techniken, sodass von einem Motiv Zeichnungen, Druckgrafiken, Aquarelle und Ölgemälde entstehen. Diese große Varianz in den Techniken und künstlerischen Aufgaben ist ein Spezifikum der an der Kunstgewerbeschule ausgebildeten Künstlerinnen und Künstler, aber es ist auch zeittypisch, über das traditionelle Tafelbild hinauszudenken.5 In Wien erlangt die Grafik in der Kunst insbesondere in Zusammenhang mit Secession und Hagenbund eine enorme Bedeutung und im Expressionismus wohl „nicht nur qualitativ, sondern auch, dank den Aktivitäten zahlreicher Buch- und Graphikverlage, hinsichtlich der kommerziellen Verwendungsmöglichkeiten [ihre] beste Zeit“.6 Diesem Umstand entsprechend sind Hauser und Schatz seit Beginn ihrer Karriere vielfältig auf dem Gebiet der Illustration tätig.

expressionistischen Formensprache geprägt. Schatz orientiert sich zwar anfangs an verschiedenen Künstlern – wie etwa Oskar Kokoschka und Anton Faistauer –, gilt aber in den ersten Nachkriegsjahren „neben Schieles Schwager Anton Peschka zweifellos [als] der authentischste Jünger unter den Nachfolgern des jung verstorbenen Genies [i. e. Schiele]“.7 Als Schatz erstmals 1920 in Max Hevesis Galerie auf der Mariahilfer Straße Grafikmappen im Eigenverlag präsentiert,8 lenkt dies wohl die Aufmerksamkeit von Schieles Förderer, dem Kunstjournalisten Arthur Roessler, auf den jungen Künstler. Während Carry Hauser in dem von Roessler geleiteten Haus der jungen Künstlerschaft bereits 1919 seine erste Einzelausstellung erhält, beginnt Schatz seine Karriere als Holzschnittkünstler. In enger Zusammenarbeit mit Roessler entstehen Illustrationen zu dessen Stimmung der Gotik, dem von Roessler aktualisierten Text vom Ackermann und dem Tod sowie zu einem Altdeutschen Weihnachtsspiel als beeindruckend kraftvolles Frühwerk im Avalun-Verlag. In diesem von Roessler geführten Verlag erscheint auch Hausers erstes Mappenwerk Die Insel, zeitgleich entsteht ein Porträt des Gönners (Abb. 3). Nach dem Ersten Weltkrieg lebt Hauser bis zu seiner Heirat 1922 abwechselnd in Wien und in Hals bei Passau am Land. Dort trifft er mit Georg Philipp Wörlen einen Malerkollegen, der ihm in der Zusammenarbeit einen entscheidenden Entwicklungsimpuls liefert. In der Folge gründen sie gemeinsam die Künstlergruppe Der Fels, aus der eine Reihe gemeinsamer Grafikmappen hervorgeht, die vielfach in Deutschland ausgestellt werden. Wörlen tritt über Vermittlung von Arthur Roessler auch mit Schatz in Kontakt, als dieser Holzschnitte des Deutschen in der Sammlung seines Gönners entdeckt. Schatz ist so begeistert, dass er einen Austausch von Arbeiten vorschlägt, den Roessler vermittelt.9 Ebenso wie bei Schatz hält die enge Bindung Hausers an den Freund und Förderer Roessler ein Leben lang und geht vom elitären Avalun-Verlag über die Arbeiter-Zeitung bis zur künstlerischen Druckerwerkstatt Officina Vindobonensis, die Hauser ab 1925 mit Robert Haas betreibt. Von der Qualität beider Künstler überzeugt, greift Roessler auch als Redaktionsleiter der Monatsschrift Bau- und Werkkunst der Zentral­ vereinigung der Architekten ab 1926 für die Gestaltung von Titelblättern auf Schatz und Hauser zu. Ein von 1920 bis 1949 geführtes Gästebuch, das mit Roesslers


Abb.3 Carry Hauser, Porträt Arthur Roessler, 1919

Nachlass in die Sammlung des Wien Museums eingegangen ist, ist der zentrale Beleg einer langjährigen Kooperation (Abb. S. 50). Die erste Seite ist vom jungen Otto Rudolf Schatz gestaltet, es folgen noch zwei weitere Werke von seiner Hand in größerem zeitlichen Abstand. Neben vielen illustren Gästen sticht Carry Hauser als zweiter Künstler hervor, der sich zweimal dort mit einem kleinen Kunstwerk verewigt und dessen Frau ein Gedicht beigetragen hat. Der Roessler-Nachlass bildet zum Schaffen beider Künstler die jeweils umfangreichste institutionelle Sammlung und den Grundstock für die Ausstellung. Während Schatz, insbesondere in seinen freien Landschaftsbildern, stark an Schiele angelehnt ist, neigen Hausers Arbeiten nach Kriegsende immer mehr dem deutschen Expressionismus eines George Grosz und Otto Dix zu. Er malt 1920 das heute verschollene Ölgemälde Ermordung der Rosa Luxemburg, das ebenso wie eine diesem Thema zuzuordnende Zeichnung für eine linke politische Orientierung spricht. In dieser Richtung ist auch sein Engagement für Frauenschicksale zu deuten, das mit den Illustrationen für Else Feldmanns sozialkritischen Fortsetzungsroman Der Leib der Mutter deutlich wird. Diese erscheinen 1924 ebenso wie ein von Hauser in Holz geschnittenes Porträt von Karl Marx in der Arbeiter-Zeitung, bei der Roessler Kunstkritiker ist.

sich die Weiterentwicklung vom Expressionismus über den Kubismus und futuristische Anklänge bei Hauser stärker ausgeprägt findet, bevor am Ende des Jahrzehnts beide ihre Hauptwerke in den geklärten Formen der Neuen Sachlichkeit präsentieren. Zunächst vom Verismus beeinflusst, setzt Hauser die facettenreiche Realität in detailreichen Gesellschaftsszenen um. Mensch und Umwelt sind in ein rhythmisches Liniennetz spitzwinkliger Kontraste eingepasst. Das Themenspektrum von Gewalt- und EINE VIELSCHICHTIGE ZEIT, Drogenexzessen, Prostitution und Kriminalität verEINE VIELSCHICHTIGE KUNST mengt sich mit urbanen Vergnügungen wie dem Tanz, Theater und Varieté, wie sie im Wiener Prater zu finden sind. Das Paradebeispiel für ein solches Panoptikum Im Zentrum der Ausstellung stehen die 1920er- und der Gesellschaft in den Goldenen Zwanzigern liefert 1930er-Jahre, die den künstlerischen Höhepunkt im Schaffen von Schatz und Hauser markieren. Die Roa- Otto Dix mit seinem Triptychon Die Großstadt (Abb. 4), ring Twenties zwischen dem Ersten Weltkrieg und der das Huren und Kriegskrüppel mit einer zentralen TanzWeltwirtschaftskrise von 1929 sind geprägt von einer szene zur Musik einer Jazzband verbindet. Ebenso hat Schatz „in figurenreichen Gemälden und in verschiestarken Dynamik auf dem sozialen, kulturellen und denen düsteren Holzschnittzyklen Großstadtmisere, künstlerischen Gebiet. Nach der im Feuer des Ersten Einsamkeit und Verbrechen anklagend kommenWeltkrieges untergegangenen alten Werteordnung stand die nun ausgerufene Demokratie auf wackeligen tiert“.10 Vergleichbar ist etwa Schatz’ Holzschnittserie mit Kriegsgewinnlern und Schiebern, Dieben und Beinen. Tauziehen um eine politische Neuordnung Mördern mit Hausers Zyklus Irrende Menschen in gleiund Straßenkämpfe bestimmten das Geschehen in den Städten. In der komprimierten Form der Kunst ent- cher Technik (Abb. S. 72–73). Neben den gesellschafts­ steht der Eindruck, dass die Gesellschaft sich tatsäch- kritischen Ansätzen zeugen die Motive von psychischen Extremzuständen. Insbesondere die Traumdeutung lich umgestülpt habe: Das, was zuvor am Rande der Gesellschaft existierte, bestimmt nunmehr die Bildwelt. von Sigmund Freud steht Pate, um sich künstlerisch auf eine Entdeckungsreise ins Unbewusste, Fantastische Schatz und Hauser verarbeiten diese Zeitumstände und Surreale zu begeben. Gibt es bei Schatz eine bisin zahlreichen Werken. Beide suchen nach ihrem lang wenig beachtete Auseinandersetzung mit dieser Debüt nach der eigenen künstlerischen Form, wobei 11


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und Dichter ist.12 Sein Schriftstellertum entwickelt er parallel zur bildenden Kunst im Austausch mit befreundeten Literaten wie Csokor oder Alfred Kubin, der ebenfalls grafisch arbeitet. Hausers Künstlerbücher sind in ihrer Zeit durchaus viel beachtete, einem Leinwandbild in nichts nachstehende Kunstwerke. Das Buch von der Stadt regte Csokor zu seiner Ballade von der Stadt an, 1931 war es im Pariser Salon International du Livre d’Art Contemporain ausgestellt. Erika Giovanna Kliens themenverwandter Gang durch die Großstadt (1923, Abb. 5)13 belegt aber auch, dass die Integration von Buchstaben in Bildkompositionen gerade im Umkreis der Lehren Cizeks fruchtbare Aufnahme fand. Hausers künstlerisches Selbst ist oft als urbaner Wanderer und Beobachter Teil des Bildgeschehens. So auch im Buch von der Stadt, wo es auf einer der ersten Seiten heißt: „Im Schlunde der Strassen / umengt von himmelaufwärtsstrebenden Wänden / wandert DIE METROPOLE ALS METAPHER mein saugendes Auge“ (Abb. S. 93). Jede Einzelseite DER MODERNEN MENSCHHEIT des aquarellierten Künstlerbuches ist einem anderen Thema gewidmet, der städtischen Anonymität, der Ähnliche Gestaltungskriterien bestimmen auch das im Gewalt auf der Straße, der Armut des Proletariats, dem gleichen Jahr fertiggestellte Buch von der Stadt. Die rasenden Verkehr, dem Lärm der Industrie, der WeltKombination von Schrift und Bildmotiven erinnert an flucht in Bordell und Drogenrausch. Die Großstadt zeitgenössische Dada-Kunst, wenngleich Hauser kein wird als beängstigender Moloch wahrgenommen, der den Menschen dem urbanen Chaos ausliefert und in collageartiges Einfügen vorgefundener Typografie vornimmt, sondern die eigene Poesie mit geometrischen die Isolation treibt. Hausers Stadtvision ist gekennzeichnet von einer scharfen Beobachtungsgabe und Bildelementen und Figurendarstellungen verknüpft. In den buntfarbigen Aquarellen mit ihren vielschich­ sozialkritischen Schilderung der Verhältnisse, wie sie sich auch bei Grosz finden. Im Unterschied zum Deuttigen Bedeutungsebenen findet er zu einer ganz eigenen künstlerischen Sprache, die der wohl authen- schen läuft die Handlung bei Hauser auf eine Wendung zum Guten und auf christliche Erlösung hinaus. Dass tischste Ausdruck seiner Doppelbegabung als Maler

Abb. 4 Otto Dix, Großstadt, 1927/28

Thematik in einzelnen Werken, so können diese traumoder auch albtraumhaften Bilder als zentral für Hausers frühes Werk angesehen werden (Abb. S. 88–91). Bereits 1920 entsteht eine hundert Zeichnungen umfassende Serie von Traumskizzen im sogenannten Nächtebuch, dessen ebenso umfangreiche Fortsetzung er 1962 aufnimmt. Wenig später setzt bereits eine Vereinfachung der Formensprache ein, die mit einer reduzierten Farb­palette zum Magischen Realismus11 tendiert. Künstlerische Anklänge etwa an Chagall finden sich nun in den häufig von Blautönen dominierten Aquarellen Hausers. Neben dem Unterbewussten, das beispielsweise im Buch der Träume aufgegriffen wird, behandelt er auch das Erotische und Triebhafte. In diesem Kontext ist das in einer Verschränkung von Bild und Wort gestaltete Künstlerbuch Die große Nacht des Bruders Dominicus von 1921 hervorzuheben.


Abb. 5 Erika Giovanna Klien, Gang durch die Großstadt (Detail), 1923

er diesen Unterschied bewusst reflektiert, geht aus einem Brief von 1921 aus Hals an Roessler über das Leben in der Stadt hervor. Darin erkennt er das Ziel des Menschen wie der Kunst im Versuch, „der grossen Harmonie der Natur näher zu kommen!“, und führt weiter aus: „Wie wir uns aber nicht unserer Vernunft entledigen können, so können wir auch nicht gegen die Stadt ankämpfen, sondern müssen trachten uns mit ihr auseinanderzusetzen […] So setzt sich z. B. Georg Gross [sic] mit der Stadt und ihrem Leben auseinander, leider aber nur im negativen Sinn, indem er die Gemeinheit der Zeit zeigt, ähnlich auch K. Kraus, wenn auch in höheren und der Harmonie näherem Sinne.“14 Er sucht in seinem Buch „eine natürliche Harmonie der Stadt“, die sich allerdings durchaus sozialkritisch erst nach dem Klassenkampf und dem daraus resultierenden Zusammenbruch in der Revolution im anschließenden Jüngsten Gericht herstellt. Die Thematik der industrialisierten Großstadt greift auch Schatz in einem seiner Hauptwerke, Die Neue Stadt (Abb. S. 97–101), auf, allerdings nicht als Schreckensszenario, sondern als soziale Utopie. Der zu illustrierende Text kommt vom Arbeiterdichter Josef Luitpold Stern. Diesen lernt Schatz wahrscheinlich schon um 1924 als Rektor der Arbeiterhochschule in Döbling kennen, als er ein Fresko für das Gebäude malt, dessen Motiv er auf dem Plakat zur Eröffnung der Institution wiederholt.15 Wenig später trifft Schatz auf weitere politisch linksstehende Denker, wie die Architekten Erich Leischner und Franz Schacherl, den Journalisten Ernst Fischer und den Arzt Walter Fischer. Seit diesen Begegnungen widmet sich Schatz neuen sozialkritischen Themen wie der Arbeitslosigkeit, Armut und Ausbeutung des Proletariats. Er tritt aus der katholischen Kirche aus und liefert zahlreiche Illustrationsgrafiken für die Arbeiter-Zeitung, den Sozial-

demokraten, den Jugendlichen Arbeiter sowie für den Arbeiterkalender. 1926 schreibt Luitpold den Psalm Die Neue Stadt, der die Verbesserung der Lebensumstände für die Arbeiterschaft durch die Schaffung von Sozialbauten in pathetischer Sprache feiert. Erst durch die wuchtigen Illustrationen und die lebendig-expressive Typografie von Schatz wird aus dem Text ein Prachtband, gleichsam eine Bibel des Roten Wien – um im Duktus von Stern zu bleiben. Dass hier die Wiener Gemeindebauten und speziell die zwischen 1924 und 1928 erbaute Wohnhausanlage Sandleiten gemeint sind, leitet sich ohne explizite Nennung aus dem Entstehungskontext ab.16 IM KÜNSTLERISCHEN NETZWERK WIENS Hauser verfolgte seit Beginn seiner Karriere die Strategie der Einbindung in künstlerische Netzwerke und der Lobbyarbeit. Nach der Gründung der Gruppe Der Fels wird er 1923 ebenfalls Gründungsmitglied der Gesellschaft zur Förderung moderner Kunst in Wien. Deren er­ klärte Absicht war die Präsentation von internationaler Kunst in Wien und deren Gegenüberstellung mit österreichischen Positionen wie Anton Hanak und Kokoschka. Die begleitenden wissenschaftlichen Vorträge hielt als zentrale Persönlichkeit der Gesellschaft nicht selten der Kunsthistoriker Hans Tietze. Dessen Frau, Erika Tietze-­ Conrat, schrieb den einleitenden Text zu einer Grafikmappe von Schatz, die 1923 im Thyros-­Verlag erschien. Als eine der lebendigsten und einfluss­ reichsten Wiener Kunstvereinigungen der Zwischenkriegszeit etablierte sich der 1900 neben der Secession gegründete Künstlerbund Hagen. 1924 tritt Hauser dem Hagenbund bei, er übernimmt sehr bald Funktionen im Vorstand und wird 1925 Vizepräsident, 1927

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sich geordnete Gemeinschaft, wie sie durch den ständischen Aufbau erreicht werden soll, wird auch dem Schaffen der Künstler wieder jenen Raum geben, der notwendig ist, damit der Künstler seiner Pflicht dem Volke gegenüber nachkommen kann. […] Dann werden es zutiefst die gleichen natürlichen Gesetze sein, welche das Volk gestalten und seine Kunst!“19 Andererseits führt Hauser gerade jene Künstlerinnen und Künstler als repräsentativ für Österreich an, die unter den Nazis als „entartet“ verfolgt werden, wie etwa Schiele und Kokoschka. Auch Schatz wird von Hauser als Freskomaler mit „große[r ]malerische[r] Begabung“ sowie als „einer der bedeutendsten österreichischen Holzschneider“, dessen zentrales Anliegen es sei, mit größter „Ursprünglichkeit und Wucht die Probleme der Stadt künstlerisch zu gestalten“,20 lobend erwähnt. Zunächst in der Neuen Galerie ausgestellt, zeigt Schatz 1937 seine Serie von New-York-Bildern (Abb. S. 127–131) auf der letzten Ausstellung des Hagenbundes vor dessen Auflösung durch die NationalsoziaDIE ZEIT DER ZWEI DIKTATUREN listen. Hauser protestiert als Treuhänder des Referates Bildende Kunst in einem Brief an den Generalsekretär Mit der Ausschaltung des Parlaments im März 1933 der Volksfront vergeblich gegen die Gründung der etabliert sich unter der Führung von Engelbert Dollfuß nationalsozialistischen Vereinigung Bund Deutscher ein autoritäres Regime in Österreich. Im katholisch-­ Maler Österreichs. konservativ geprägten „Ständestaat“ werden die Wegen ihrer politischen Einstellung belegen kommunistische, die sozialdemokratische und die natio- die Nationalsozialisten sowohl Schatz als auch Hauser nalsozialistische Partei mit Verbot belegt. Dieser Zeit- mit Berufs- und Ausstellungsverbot. Zudem werden punkt markiert auch eine Zäsur im Verhältnis von sie aus „rassischen“ Gründen verfolgt, da beide mit Schatz und Hauser. Viele von Schatz’ Freunden und Frauen aus jüdischen Familien verheiratet sind. Schatz Auftraggebern aus dem linken Milieu werden ins Exil flieht über Brünn nach Prag, wo er sich durch Miniatugetrieben. Der Verfolgung von Sozialdemokratinnen ren in altmeisterlicher Manier sowie Bilderserien und und -demokraten entgeht Schatz in einem ,vorgezoge- Künstlerbücher mit teils erotischen Inhalten finanziert. nen Exil‘ auf Weltreisen und durch einen Wandel seiner Hauser wählt die Schweiz als Aufenthalt und verlegt Motivwelt hin zu politisch harmlosen Stadtansichten. seine künstlerische Betätigung vor allem ins SchriftDenn im Unterschied zum gleichgeschalteten NS-­ stellerische, um dem auferlegten Berufsverbot gerecht Regime wurden Malerinnen und Maler „in der Regel zu werden. Im November 1944 werden Schatz und nicht wegen ihrer künstlerischen Ausdrucksformen seine Frau von der Gestapo verhaftet und ins Arbeitsverfolgt, sondern meist auf Grund ihrer politischen lager Klettendorf überstellt. Anschließend werden sie Tätigkeit“.18 in die Lager Gräditz sowie Dworschowitz und schließ Hauser hingegen arrangiert sich unter dem lich ins Konzentrationslager Bistritz verschleppt, wo sie Eindruck einer drohenden Machtübernahme durch im Mai 1945 durch die russische Armee befreit werden. die Nazis mit dem „Ständestaat“ und ist als Treuhänder VOR DEM BEGINN DER ZUKUNFT des Referates Bildende Kunst im Vaterländischen-­ Front-­Werk Neues Leben tätig. 1938 erscheint Hausers Buch Von Kunst und Künstlern in Österreich. Einer­ Nach dem kriegsbedingten Exil kehren die Künstler seits propagiert die Schrift die Einordnung des Künst- als veränderte Menschen in die veränderte Stadt lers in den „Ständestaat“ mit den Worten: „Eine in Wien zurück, wo eine neuerliche Selbsterfindung 14

KONSTRUKTIVE  KONFRONTATION

Präsident. In diesem Amt arbeitet Carry Hauser eng mit Otto Nirenstein als Geschäftsführer zusammen, der wiederum „Otto Rudolf Schatz vehement fördert“.17 Nirenstein nahm Schatz 1924 in seiner Neuen Galerie unter Vertrag und ermöglichte durch seine Unterstützung die weitere Entwicklung des Künstlers. Schatz trat dem Hagenbund – obschon er dort zuvor bereits ausstellte – erst 1928 bei, engagierte sich bei Festen und war durchaus ein geselliger Mensch. Die Vereins­ meierei war aber seine Sache nie, er blieb im Grunde immer ein Einzelkämpfer. Erst durch die sich infolge der Weltwirtschaftskrise von 1929 dramatisch zuspitzende Situation auch in der Kunstszene kamen Schatz und Hauser wieder bei einer gemeinsamen Aktion zusammen: 1932 gründet sich die Notgemeinschaft für Kunst und Schrifttum. Einer der Initiatoren war Hauser, Mitglieder neben Schatz waren unter anderen Arthur Brusenbauch, Richard Harlfinger, Felix Albrecht Harta, Clemens Holzmeister sowie Franz von Zülow.


Abb. 6 Carry Hauser, Porträt Viktor Matejka, 1948 (5.3)

beginnt. Die ersten Nachkriegsjahre sind vom Willen zum Wiederaufbau geprägt, aber auch von der gleich­zeitigen Enttäuschung bei der Repatriierung. Letzteres trifft insbesondere auf Hauser zu, der im Schweizer Exil versucht, seine Familie wiederzuver­ einigen, und bis 1947 nach Wegen zurück in seine Heimat sucht. Durch seine Korrespondenz mit Arthur Roessler erfährt er Anfang 1946 vom Schicksal, das Schatz im Konzentrationslager widerfahren ist, und schreibt zurück: „Was Du mir von unserem Freund Schatz erzählst hat mich tief erschüttert.“21 Dieser ist bereits seit November 1945 dauerhaft in Wien und wird bei der Wiederaufnahme seiner künstlerischen Tätigkeit vom Kulturstadtrat Viktor Matejka entscheidend gefördert. Schatz erhält durch den städtischen Mäzen die ersten Aufträge und wird zu einer Serie von Gemälden über das kriegszerstörte Wien angeregt. Allein im Wien Museum befinden sich sieben großformatige Ölgemälde sowie Blätter der druckgrafischen Serie Floridsdorf in Trümmern. Aus Dankbarkeit schenkt er seinem Förderer im Frühjahr 1946 die Grafikserie Zlata Praha mit der Widmung „Herrn Stadtrat Dr. Viktor Matejka, dem unentwegten Bekämpfer der Schlafkrankheit in und außer dem Rathaus, herzlichst gewidmet“.22 Bereits ab 1949 ist Schatz als Illustrator vieler

politischer Publikationen tätig, etwa für die sozialistische Monatsschrift Der Strom und ab 1950 für den Bildungsfunktionär.23 Seit 1947 wieder in Wien, greift Hauser auf eine für ihn bewährte Strategie zurück, indem er seine Stellung als Künstler durch die Einbindung in professionelle Netzwerke wiederherzustellen versucht. Sogleich arbeitet er in verschiedenen Funktionen für den PENClub Österreich und wird unter der Präsidentschaft Csokors Generalsekretär. Hauser beteiligt sich als Präsident am vergeblichen Versuch einer Wiedergründung des Hagenbundes und wird Vizepräsident des Berufsverbandes Bildender Künstler Österreichs und seit 1951 der Föderation moderner bildender Künstler. Und auch ohne parteipolitische Einbindung wird er durch Stadtrat Matejka (Abb. 6) unterstützt, für den der Grundsatz galt: „Künstler, die Mitglied seiner Partei waren, wurden nicht anders behandelt als die anderen.“24 WIEDERAUFBAUKUNST In den kommenden Jahren sind Schatz und Hauser Vielbeschäftigte beim größten Kulturförderungsprojekt der Stadt Wien in der Nachkriegszeit, der Kunst am Bau. Sie schaffen Hauptwerke in dieser Gattung, Schatz mit dem Wandmosaik 100.000 neue Wiener Gemeindewohnungen (1955–1957) und Hauser mit dem Monumentalwerk Befreiung Österreichs (1956, Abb. 7).25 Sie arbeiten mit neuartigen, in Zusammenarbeit mit der Firma Wienerberger entwickelten keramischen Mosaiken. Ebenso wie mit der Buchkunst verschreiben sie sich mit der Kunst am Bau den im öffentlichen Raum populärsten Kunstformen. Das Paradox dieser künstlerischen Massenmedien scheint aber zu sein, dass sie am meisten in die gesellschaftliche Alltagspraxis integriert sind und doch am wenigsten rezipiert werden. Da die Kunst wie die Architektur, an der sie sich befindet, im täglichen ,Gebrauch‘ ihre Aura verliert, scheint es im heutigen Stadtbild nichts Unauffälligeres zu geben als diesen Wandschmuck, der gesehen, aber nicht wahrgenommen wird. Nicht nur diese Feststellung lässt es heute verwunderlich erscheinen, wenn die Auftraggeber damals von einer „Ausstellung unter freiem Himmel bei freiem Eintritt“26 träumten. Denn die breite Förderung führte nur zu wenigen künstlerischen Spitzenwerken und vielfach zu stark konventionellen Lösungen. Da eine politische Wirk­ absicht nicht bestritten werden kann, obsiegte meist der Primat des Inhaltlichen.

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Die hier erfolgte Gegenüberstellung von Carry Hauser und Otto Rudolf Schatz belegt, dass das Œuvre beider Künstler immer wieder auch die Sphäre des Politischen berührt. Offenkundig ist diese Stellungnahme für die soziale Gerechtigkeit bei Schatz, dessen Engagement für die Sozialdemokratie in einer affirmativen bis hin zu einer agitatorischen Propagandakunst mündet. Als 1930 im Künstlerhaus die Gruppenausstellung Die Kunst in unserer Zeit stattfindet, ist Schatz in der Abteilung Der soziale Gedanke gemeinsam mit etablierten Größen wie Otto Dix, Frans Masereel, Käthe Kollwitz, George Grosz und Conrad Felixmüller vertreten. Hans Tietze stellt angesichts einer dominierenden linken politischen Haltung bei den in dieser Sektion präsentierten Künstlerinnen und Künstlern die rhetorische Frage, ob diese so radikal sind, oder „ist speziell moderne Kunst, wie gelegentlich behauptet wird, gleichbedeutend mit Bolschewismus? Oder ist die Auswahl einseitig? Sie ist es nicht, denn die Künstler, für die das soziale Problem nicht existiert, befassen sich eben nicht damit und können daher hier nicht vertreten sein“.27 Sicherlich kann Kunst allein durch ihre Sujetwahl politisch aufgeladen sein. Auch bei Hauser finden wir in den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg durchaus engagierte Kunst. Eine kontinuierliche Parteinahme für die Leidenden, Unterdrückten und Schwachen ist sogar durch sein gesamtes Schaffen hindurch zu beobachten. Insbesondere das Schicksal von Kindern hat Hauser immer wieder aufgegriffen, be-

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KONSTRUKTIVE  KONFRONTATION

Abb. 7 Carry Hauser, Befreiung Österreichs (Detail), 1956

FACETTEN DER KUNST, DIMENSIONEN DES POLITISCHEN

ginnend mit dem Kinderkreuzzug über die Warschauer Madonna (Abb. S. 138) bis hin zum Triptychon Die armen Kinder von Vietnam. Gleiches ließe sich über eine durchgängige pazifistische Grundhaltung sagen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg insbesondere gegen den Einsatz von Atomwaffen richtet. Pazifismus und Antimilitarismus sind auch bei Schatz bis zum Lebensende explizit ablesbar, etwa im Aufruf Schenkt kein Kriegsspielzeug (Abb. S. 167). Doch auch die großen neusachlichen Gemälde, die für die heutige Popularität von Hauser und Schatz ausschlaggebend sind, sind nicht unpolitisch: Beim Ballonverkäufer (Abb. S. 107) von Schatz ist es einerseits die Thematisierung der Armut des Verkäufers, die schon in der von ihm illustrierten Novelle Schnitzlers, Phantastische Nacht, beschrieben wird. Zudem erscheint der Arm mit der emporgestreckten Faust fast emblematisch für die politische Ikonografie der Arbeiterbewegung. In der Analyse der politischen Konnotation ihrer Hauptwerke, der Schaustellung (Abb. S. 106) von Schatz und der Jazzband (Abb. S. 105)28 von Hauser, wird evident, dass auch diese hochverdichtete Zeitkommentare sind. Die Kunst dieser Generation ist ohne eigene politische Standortbestimmung kaum denkbar, da die Erfahrungen von Krieg und mehr­ fachem Systemwechsel zu existenziell waren, als dass ein Künstler oder eine Künstlerin sie hätte ausblenden können. Somit sind insbesondere Werke in Zeiten des Krieges und des Exils stark politisch aufgeladen und konnotiert. Jenseits ästhetischer Fragen sah Hauser auch darin eine Notwendigkeit: „Man musste ja mit der Arbeit Stellung nehmen in dieser Zeit, sowohl mit der Zeichenfeder als auch mit dem Wort.“29 In der Regel stehen die künstlerischen Kommentare im Gegensatz zur offiziellen Deutung und haben eher mahnenden Charakter als sie Ausdruck von Protest und Kritik sind. Die Arbeiten von Schatz und Hauser nach dem Zweiten Weltkrieg sind als Auftragsarbeiten insbesondere für die Kunst-am-BauProjekte jedoch durchaus von zeitgeistiger Anpassung und konformistischem Mitschwingen geprägt. Nicht nur hier stellt sich die Frage nach der künstlerischen Qualität. Nur selten wird politisches Engagement mit der höchsten ästhetischen Form in Einklang gebracht, wie es beispielsweise Picasso mit Guernica gelang. Es scheint auf der Hand zu liegen, dass sich die freie, das heißt ästhetischen Gesichtspunkten folgende Kunst bis­weilen gegen ein System richten kann, sie aus dem System heraus beauftragt jedoch grundsätzlich nicht


frei sein kann. Dieses Dilemma spräche aber grundsätzlich gegen die angewandte als per Definition zweckbestimmte Kunst, wie sie Schatz und Hauser hundertfach in der Buchillustration und in Wand­ bildern geleistet haben. Mit der Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Politik ist stets auch die nach der Rolle der Künstlerinnen und Künstler in wechselnden gesellschaftlichen Verhältnissen und nach deren persön­ lichem Engagement verknüpft. Sind Biografie und Werk eines Künstlers oder einer Künstlerin von­­­­­­­ei­­­­­­­­­­ nander zu trennen? Es geht letztlich sowohl um künst­ lerische wie auch persönliche Wahlmöglichkeiten. Für Hauser bedeutet seine künstlerische Arbeit in

1 Matthias Boeckl: Expressionismus, engagierte Kunst, humaner Realismus. Das Œuvre von Otto Rudolf Schatz im Kontext der Moderne, in: ders., Dietrich Kraft: Otto Rudolf Schatz, 1900– 1961, Weitra 2010, S. 27–42, S. 27. Die von Boeckl auf Schatz bezogene Analyse kann für beide Künstler gelten. 2 Boeckl, Kraft, Otto Rudolf Schatz; Brigitte Mayr: Otto Rudolf Schatz. Das graphische Werk der Zwischenkriegszeit 1918–1938, Dipl.-Arb. Leopold-Franzens-Univ. Innsbruck 1999. Grundlegende Arbeiten zu Otto Rudolf Schatz hat Wilfried Daim geleistet. Vgl. den Beitrag von Christoph Bertsch in diesem Katalog. 3 Cornelia Cabuk: Carry Hauser. Monografie und Werkverzeichnis, hg. von Agnes Husslein-­ Arco (Belvedere-Werkverzeichnisse, Bd. 2), Weitra 2012; dies.: Carry Hauser. Das malerische und graphische Werk bis zum Jahr 1927; seine Entwicklung im Umfeld der deutschen und österreichischen Kunst dieser Zeit, Diss. Univ. Wien 1990. 4 Franz Theodor Csokor: Immer ist Anfang. Gedichte von 1912 bis 1952, Innsbruck 1952. 5 Vgl. Uwe M. Schneede: Die Kunst der klassischen Moderne, München 2009, S. 52. 6 Erich Fitzbauer: Carry Hauser. Ein Großer der verlorenen Generation, in: Illustration, Zeitschrift für die Buchillustration 63 (1987) 2. 7 Boeckl, Expressionismus, S. 31. 8 Vgl. ebd., S. 29. 9 Vgl. Ursula Storch: Otto Rudolf Schatz, in:

viel­facher Hinsicht eine Selbstbespiegelung, auch jenseits seiner zahlreichen Selbstporträts. In vielen seiner Kompositionen trägt der Protagonist das Antlitz des Malers, somit ist er Teil einer Erzählung. Diese Möglichkeit der Kunst bleibt bei Schatz völlig ungenutzt. Zwar reagiert er sensibel auf die äußeren gesellschaftlich-politischen Umstände und bezieht dazu klar Stellung, jedoch ohne seine Person ins Bild zu rücken. Die Menschen Carry Hauser und Otto Rudolf Schatz sind durch ein halbes Jahrhundert Lebens­ geschichte in Wien eng verbunden – ihre Kunst belegt, welch unterschiedlichen Ausdruck sie zwischen zeitgeistiger Anpassung und Individualstil für ihr Erleben gefunden haben.

Tobias G. Natter, Ursula Storch (Hg.): Schiele & Roessler. Der Künstler und sein Förderer. Kunst und Networking im frühen 20. Jahrhundert (Ausstellungskatalog Wien Museum), Ostfildern-­ Ruit 2004, S. 157. 10 Patrick Werkner: Verwandlung des Sicht­ baren – Expression, in: Kristian Sotriffer (Hg.): Der Kunst ihre Freiheit. Wege der österreichischen Moderne von 1880 bis zur Gegenwart, Wien 1984, S. 65–100, hier S. 80. 11 Die Begriffsfindung Magischer Realismus ist fast zeitgleich mit jener der Neuen Sachlichkeit er­ folgt und geht auf Franz Rohs Buch Nach-­Expres­si­ onismus – Magischer Realismus. Probleme der neuesten europäischen Malerei von 1925 zurück. 12 Kurt Rathe: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 16, hg. von Hans Vollmer, Leipzig 1923, S. 140. 13 Wien Museum. 14 Carry Hauser: Brief an Arthur Roessler, Hals, 10.11.1921, Wienbibliothek, Sig. 147.795. 15 Vgl. Dietrich Kraft: Warum Otto Rudolf Schatz, in: Boeckl, Kraft, Otto Rudolf Schatz, S. 11–25, hier S. 12. 16 Für die Bibliothek in Sandleiten malte Schatz zwei Fresken, die der Künstler 1956 renovierte. 17 Cabuk, Hauser, Monografie, S. 155. 18 Wolfgang Neugebauer: Repressionsapparat und -maßnahmen 1933–1938 , in: Emmerich Tálos, Wolfgang Neugebauer (Hg.): Austrofaschismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933–1938

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(Politik und Zeitgeschichte, Bd. 1), Wien, 5. Aufl. 2005, S. 298–319, hier S. 311. 19 Carl Maria Hauser: Von Kunst und Künstlern in Österreich (Österreichische Bücherei, Bd. 7), Brixlegg 1938, S. 60f. 20 Ebd., S. 42f. 21 Carry Hauser: Postkarte an Arthur Roessler, Arbon, 25.6.1946, Wienbibliothek, Sig. 163.749. 22 Dank an Dietrich Kraft für diesen Hinweis. 23 Z. B. ÖGB Bildungsfunktionär (Juli/Aug. 1951) 30, S. 31–33. 24 Georg Eisler: Ich vergaß das Bild für lange Zeit, in: Jan Tabor (Hg.): Kunst und Diktatur. Architektur, Bildhauerei und Malerei in Österreich, Deutschland, Italien und der Sowjetunion 1922– 1956 (Ausstellungskatalog Künstlerhaus Wien), Bd. 1, Baden 1994, S. 416–420, hier S. 417. 25 Vgl. den Beitrag von Wolfgang Kos in diesem Katalog. 26 Kulturarbeit der Stadt Wien 1945–1955, S. 46. 27 Hans Tietze: Die Kunst in unserer Zeit (Ausstellungskatalog Gesellschaft zur Förderung Moderner Kunst in Wien), Wien 1930, S. 64f. 28 Vgl. die Beiträge von Christoph Bertsch und Cornelia Cabuk in diesem Katalog. 29 Carry Hauser. Aus meinem Leben. Auszüge eines Gesprächs zwischen Carry Hauser und Gerwald Sonnberger am 3. Mai 1985, in: Carry Hauser, Georg Philipp Wörlen (Landstrich, Bd. 6), Passau, 2. Aufl. 1988, S. 6–9, hier S. 8.


Christoph Bertsch

Die kunsthistorische Aufarbeitung der Jahre zwischen den Kriegen in Österreich war lange Zeit auf wenige Künstler konzentriert und war meist dem Expressionismus und den Spielarten des expressiven Realismus ver­pflichtet, infolge auch der Neuen Sachlichkeit. Eine Auseinandersetzung mit der Avantgarde oder inhalt­ liche Untersuchungen fanden erst sehr spät statt und führten zu einer Neubewertung der künstlerischen Situation dieser Jahre. Nicht zuletzt die Revisionen und Wandlungen in der Kunstgeschichte selbst er­gaben neue Fragestellungen, neue methodische An­sätze und inhaltliche wie stilistische Differenzierungen. Die Sichtweise wurde dadurch notgedrungen heterogen und vielstimmig, konnte aber auch wichtigen Werken, bislang ignoriert, ihren gebührenden Stellenwert zuordnen. Neue Künstlernamen treten in den Vordergrund, oft politisch aktiv und mit ihren Werken einer Moderne verpflichtet, die sich gegen Krieg und Faschismus wendet, einer politisch oppositionellen Moderne zugehörig, die allzu lange von der österreichischen Kunstgeschichtsschreibung unter den Tisch gekehrt wurde. Nun sehen wir Bilder der Industriearbeiter, der Straßenkämpfe in Wien in den 1920er-Jahren, Bilder,

die sich mit dem Bürgerkrieg 1934 und der ausweg­losen Situation der Arbeiterinnen und Arbeiter aus­einander­ setzen, oder beeindruckende Werke von Künstlerinnen und Künstlern, die Österreich aus politischen Gründen verlassen mussten oder in den Konzentrationslagern ermordet wurden.1 In den 1980er- und 1990er-Jahren finden wir immer noch Beurteilungen der künstlerischen Situation in Österreich, die Bilder zur politischen Situation vermissen, ebenso wie jene zur Arbeitswelt, die von einer politischen Enthaltsamkeit der Künstlerinnen und Künstler sprechen, von einer unauffälligen und unspektakulären Kunst.2 Bis heute können wir lesen, dass „Kämpferisches kaum zu erkennen“3 und die Kunst dieser Jahre formal wie inhaltlich weich und verschwommen sei. Dass die Bildauswahl in den Ab­ handlungen bis in die 1990er-Jahre und die sich da­raus ergebenden Bewertungen beinahe deckungsgleich mit Katalogen und Texten aus der Zeit des „Stände­ staates“ sind und ganz wesentlich auf der äußerst einseitigen Ankaufspolitik dieser Jahre beruhen, sei vermerkt. Wichtige private Sammlungen werden über Jahrzehnte ignoriert. Diese Ankaufspolitik wird in den

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POLITISCHE  IKONOGRAFIE

OTTO RUDOLF SCHATZ ANMERKUNGEN ZU EINER POLITISCHEN IKONOGRAFIE DER ZWISCHENKRIEGSZEIT


an der Gotikrezeption der Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, wobei der geistesgeschichtliche Einfluss von Wilhelm Worringers Formprobleme der Gotik (1911) beherrschend ist.8 In seinen frühen Arbeiten tritt Schatz immer wieder in eine stilistische Ausei­­­­­ nandersetzung mit großen Vorbildern, vor allem die Beschäftigung mit den Zeichnungen von Egon Schiele ist unverkennbar. Schatz lernt den Galeristen Otto Kallir-Nirenstein kennen, in dessen Neuer Galerie er erste Ausstellungsmöglichkeiten findet. Neben Kallir-­ Nirenstein, ein zentraler Kunsthändler in den Jahren zwischen den Kriegen, kommt dem Schriftsteller und Sammler Max Roden eine besondere Stellung zu. Nicht zuletzt aus dessen New Yorker Sammlung stammen viele Werke, die sich heute im Besitz von Wilfried Daim befinden beziehungsweise bis vor einigen Jahren befunden haben. 1924 wird Schatz Mitglied des Künstlerbundes Hagen, dessen Rolle in der österreichischen Kunst nach 1900 erst jüngst wieder erarbeitet wurde.9 1924 finden erste Treffen mit einer Gruppe von Sozialisten statt, darunter Ernst Fischer und der Volksbildner Josef Luitpold Stern, die das Leben und Schaffen von O. R. Schatz stark verändern. Viele

DIE HOLZSCHNITTSERIEN Otto Rudolf Schatz ist in den frühen Schaffensjahren eng mit Arthur Roessler verbunden. Es entstehen die Buchprojekte Der Ackermann und der Tod (1922; Abb. S. 59), Die Stimmung der Gotik (1922; Abb. S. 56–58) und das nicht erschienene Buch Altdeutsches Weihnachtsspiel (1922; Abb. 1). Diese frühen Werke basieren auf Federzeichnungen, die der Künstler in Holzschnitte umsetzt, wobei die feine, beinahe malerisch anmutende Strichführung zugunsten einer stark expressiven Betonung von schwarzen Flächen und Linien verloren geht. Es ist eine formale Reduktion auf das Notwendigste unter Betonung des Schwarz-Weiß-­ Kontrasts, die für das weitere Schaffen von Schatz charakteristisch wird. Inhaltlich orientiert sich Roessler 19

Abb. 1 Otto Rudolf Schatz, Titelblatt zu Arthur Roesslers Altdeutschem Weihnachtsspiel, 1922 (1.46)

ersten Jahren nach 1945 fortgesetzt, wie so manches im Kunstbetrieb und vor allem in der Kunstgeschichte der Zweiten Republik mehr auf Kontinuität denn auf Bruchlinien verweist, wie die frühen Ausstellungen und Berufungen auf kunsthistorische Lehr­kanzeln im Nachkriegsösterreich belegen.4 Einer jener Künstler, die sich schon sehr früh mit den Themen Industrie und Großstadt, der Rolle der Gewerkschaften, den politischen Unruhen und der Rolle der Arbeiterinnen und Arbeiter künstlerisch auseinandersetzten, ist Otto Rudolf Schatz.5 Vor allem seine Buchillustrationen und Holzschnitte sind zentraler Bestandteil einer politisch orientierten Kunst, die in den 1920er-Jahren eng mit der Geschichte des Roten Wien verbunden ist, jedoch schon in den frühen 1930er-Jahren mit dem Aufkommen des Faschismus und den ständestaatlichen Vorstellungen den Boden unter den Füßen verliert. Auch bei Schatz zeigt sich, dass eine intensivere Beschäftigung mit seiner Kunst zuerst außerhalb von musealen und universitären Institutionen stattfindet. Es ist der Wiener Tiefen­ psychologe Wilfried Daim, der sich über Jahrzehnte mit Schatz auseinandersetzte und durch seine Sammeltätigkeit die Grundlage für jede weitere wissenschaftliche Beschäftigung legte.6 Dass Daim, der sich mit der Applikation der Tiefenpsychologie auf Politik und Gesellschaft beschäftigte und, wie er selbst meinte, ganz Wien nach 1945 zu seinen Patienten zählte, auch in der Auseinandersetzung mit ,seinen‘ Künstlern, vor allem mit Otto Rudolf Schatz, seinem Metier nicht entrinnen konnte, scheint notgedrungen und, wie er selbst schreibt, nicht ganz zu umgehen.7


Die Darstellung der sozialen Spannungen der Ersten Republik, der Verschärfung der politischen Situation und der neuen Rolle der Arbeiterschaft wird bei Otto Rudolf Schatz in zahlreichen Holzschnitten der 1920er-Jahre zu einem historischen Kommentar eines politisch engagierten Künstlers. Schatz arbeitet mit unterschiedlichen ikonografischen Traditionen, den leidenden, geschundenen Arbeiter finden wir ebenso wie den selbstbewussten, der sich seiner Rolle beim Aufbau einer neuen, sozialistischen Gesellschaft seiner Arbeiten der kommenden Jahre stellt er in den bewusst ist. Eine unscheinbare Pinselzeichnung des Dienst der sozialistischen Idee. Ebenfalls 1924 erfolgt Jahres 1924 kann als Übergang von seinen meist die Gründung der Büchergilde Gutenberg, mit der religi­ösen Themen der Frühzeit zum Aufbau einer sowohl Schatz als auch Luitpold eng verbunden sind neuen Gesellschaft unter sozialistischen Vorzeichen und bei der die großen Publikationen mit Holzschnitten gedeutet werden. Dieses Blatt wird von Daim mit von Schatz erscheinen. Er intensiviert die Technik Christus? betitelt.10 Es zeigt eine starke emotionale des Holzschnitts, arbeitet mit einem starken Schwarz- Erregung. Geprägt wird es von der bestimmenden Weiß-­­Kontrast – ein Vorgehen, das kaum Konturen Figur eines alten Mannes, der beschwörend auf eine erlaubt. Dieses Verfahren ist für die Reproduktion Personengruppe einredet. Diese Gestalt kommt in bestens geeignet, geht doch beim Druck nur wenig dieser oder ähnlicher Form bei Schatz immer wieder an künstlerischer Qualität verloren. In diesem Medium vor, als Moses (Moses, 1925) oder auch als Prometheus findet Schatz – neben sozialkritischen Ölbildern im (Die Rückkehr des Prometheus, 1928). Hier fordert Sinne der Neuen Sachlichkeit – zu seinen besten er offensichtlich eine Gruppe von Menschen auf zu Arbeiten, die seinen besonderen Stellenwert in der handeln, sich in Bewegung zu setzen, die Richtung österreichischen Kunst begründen. ist durch die Armhaltungen vorgegeben, das Gesicht Schatz verliert nach diesen beeindruckenden der Frau im Hintergrund ist verzerrt, voll Aufruhr und Arbeiten, die seine großen künstlerischen Fähigkeiten Angst. Diesen Aufruhr, diese Erregung, das Aufforbelegen, an Qualität und seine Themenstellungen dern zur Agitation finden wir in Bildern, die sich mit an Relevanz. Je stärker die konservativen Strömungen Straßenkämpfen und politischen Unruhen beschäftiin Österreich zunehmen, die wirtschaftliche Lage sich gen, immer wieder (Herbert Reyl-Hanisch, Straßenverschlechtert, „Ständestaat“ und Austrofaschismus schlacht, um 1920, Franz Probst, Straßenschlacht ihre Schatten vorauswerfen, desto mehr nimmt die nach Schattendorf I, 1927 (Abb. 3), Erika Giovanna künstlerische Qualität seiner Arbeiten ab. Das hängt Klien, Straßenschlacht I und II, 1930). nicht zuletzt mit seinem ureigensten Medium des Buchs Wenige Monate später, gleichzeitig mit zusammen. Wichtige Verlage wie die Büchergilde dem Moseszyklus (1925), erscheint die erste PublikaGutenberg werden eingestellt oder gleichgeschaltet, tion mit Holzschnitten von Schatz in der Büchergilde 20

POLITISCHE  IKONOGRAFIE

Abb. 2 Friedl Dicker-Brandeis, Das Verhör I, 1934–1938

für sozialistische Inhalte ist kein Platz mehr in einer immer autoritärer werdenden Gesellschaft. So werden 1933 die kommunistische Partei und 1934 die sozial­ demo­kratische Partei verboten. Während wir von anderen Künstlern wie Maximilian Florian, Rudolf Wacker, Friedl Dicker-Brandeis (Abb. 2), Otto Richard Götz, Oskar Kokoschka und Rudolf Charles von Ripper gerade in den 1930er-Jahren entscheidende Werke gegen Krieg und Faschismus kennen, erlischt die Stimme von Schatz. SOZIALISTISCHE THEMEN IN DEN 1920ER-JAHREN


Abb. 3 Franz Probst, Straßenschlacht I, 1927

Gutenberg. Es sind Illustrationen zum Märchenband Im Satansbruch (Abb. S. 121) von Ernst Preczang.11 Dieses Märchen für Erwachsene berichtet von Menschen, die in einem völlig kahlen Tal, dem Satansbruch, leben. Ein alter Schulmeister erzählt den Kindern von der Natur und von der Sage, dass der Satansbruch erlöst wird, sobald ein Baum emporsprießt im Tal der Steine. Ein singender Wanderer schenkt den hart arbeitenden Menschen einen kleinen Tannenbaum, setzt ihn in einen Rest von Erde, er wächst, und schluss­ endlich ist der Satansbruch erlöst. Der inhaltliche Bezug zum arbeitenden Menschen ist offensichtlich, die Hoffnung in ihrer trostlosen Lage lebt. Aus Menschen, die durch eine unruhige Linienführung gekennzeichnet sind, werden in Folge starke Menschen, die in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen. Erstmals finden wir bei Schatz diese markanten Arbeiterköpfe, die für ihn bestimmend werden. Ebenso verändert er seine Schnitttechnik, der mystische Eindruck verschwindet, die Modellierung der Körper kommt durch die Erarbeitung einer klaren Licht-Schatten-Wirkung sowie durch feine, lange Schnitte zustande. Die Expressivität des Ausdrucks wird zugunsten einer beginnenden neusachlichen Ästhetik zurückgedrängt.12

Der entwurzelte Baum (Abb. S. 121) erscheint 1926 mit Texten von Josef Luitpold und 31 Text- und Bildseiten von Schatz. Der Künstler schneidet auch den Text in Holz, das gesamte Buch ist aus seiner Hand, Bild und Sprache sollen sich wechselseitig unterstützen. Die ersten sieben nummerierten Bücher werden als Vorzugsexemplare mit der Hand, die restliche Auflage vom Stock gedruckt. Schatz greift auf die Technik des Blockbuches zurück, Bild und Text sind aus der gleichen Holztafel geschnitzt und werden Seite für Seite abgezogen. Schatz variiert auf den Textseiten Satzspiegel, Schriftbild und Schriftgrad nach eigenem künstlerischem Ermessen. Kein Buchstabe gleicht dem anderen, er erreicht einen helleren oder dunkleren Gesamt­ eindruck, der wiederum mit der jeweiligen Illustration harmoniert.13 Luitpolds Text handelt vom Schicksal des entwurzelten Baumes, der trotz aller Anstrengungen den Naturgewalten nicht standhalten kann und zu Boden fällt. Er bietet anderen Lebewesen Nahrung und wird so in den Kreislauf der Natur wiederauf­genommen. Somit hat der Sturm ihn nicht besiegen können, er ist, wie Luitpold schreibt, Rebell des Lebens geblieben. In diese Rahmenerzählung hat der Dichter zwei Episoden eingebaut, die im Sinne eines vom Sozialismus geprägten Geistes den Menschen trotz aller Anfeindungen und Rückschläge zum Sieg ver­helfen sollen. Anzumerken ist wohl die künstlerische Diskrepanz von Luitpolds Text zu den Holzschnitten und Buchgestaltungen von Schatz. Es ist Daim recht zu geben, wenn er auf die, zumindest für heutige Leser­innen und Leser, schwer lesbaren Texte von Luitpold verweist, die sich einer Sprache bedienen, die pathetisch eine neue Zukunft erwarten lässt, einem himmlischen Jerusalem gleich.14 1926/27 schneidet Schatz die Texte und Bilder für das Buch Die neue Stadt (Abb. S. 97–101), das als Prachtband in der Büchergilde Gutenberg erscheint und das zentrale Werk von Schatz darstellt, ja wohl der sozialistischen Buchkunst der Zwischenkriegszeit in Österreich generell. Auch hier ist der Text von Luitpold problematisch, umso überzeugender sind die Holzschnitte von Schatz, „eine Leistung gegen den Text“, wie Daim pointiert formuliert.15 „Dieser Psalm wurde von Josef Luitpold geschrieben, von O. R. Schatz in den Jahren 1926–1927 in Holz geschnitten. Von der Buchdruckwerkstätte G.m.b.H. in Berlin vom Stock gedruckt“, steht im Impressum. Es erscheint in einer Vorzugsausgabe von fünf Exemplaren mit dem Aquarell einer Stadtlandschaft des Künstlers auf dem Buch­ deckel. Schatz tendiert in seinen Darstellungen formal

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POLITISCHE  IKONOGRAFIE

Schatz an dem Buchprojekt Stimme der Arbeit mit Texten von Ernst Preczang (Text von 1916). Das Buch ist seinerzeit nicht erschienen, Wilfried Daim konnte die 41 Blätter erwerben und hat 1999 das Buch in Originalgröße publiziert.17 Zehn Seiten beinhalten ganz­seitige Holzschnitte, die restlichen Blätter bestehen aus dem in Holz geschnittenen Text von Preczang mit teils kleinformatigen Illustrationen. Die seiten­ füllenden Illustrationen zeigen Industrieanlagen der 1920er-­Jahre, Schornsteine, Rauch und ernst blickende Arbeiter. Schatz thematisiert den Konflikt zwischen Arbeit und Kapital, zeigt Werktätige, die sich gegen den Unternehmer zur Wehr setzen. Im Zentrum steht die Arbeiter­bewegung mit schwingenden Fahnen und Massenveran­stal­ tungen. Die Errungenschaften der Bewegung wie Arbeiterbibliotheken werden gezeigt. Aber auch Polizeikontrollen, Verhaftungen und Gefangennahme von Gewerkschaftsführern sind Teil der Darstellungen. 1928/29 finden wir viele Blätter, in denen Schatz den Typus des heroischen Arbeiters verlässt und den verfolgten und zu Tode gekommenen zeigt. Er greift die Bajonette des Militärs und der Polizei wieder auf, reagiert auf die sich anbahnende politische Situation, die schlussendlich in den Bürgerkrieg 1934 und das Verbot der kommunistischen wie sozial­demokratischen Arbeiterbewegung mündet. Hinrichtung von 1928 zeigt Menschen im Kerker, bedroht durch ebendiese Bajonette, den Schwarz-Weiß-­Kontrast ins Extrem getrieben, die Waffen durch schwarze Strahlen verlängert und verstärkt. 1928 finden wir das kleinformatige Blatt Der gekreuzigte Arbeiter (Abb. 4).18 Dieser wird bild­bestimmend gezeigt, bedrängt wiederum von den Bajonetten des Militärs und den rauchenden

Abb. 4 O. R. Schatz, Der gekreuzigte Arbeiter, 1928

immer mehr zur neusachlichen Kunst, während die Textseiten durch ihre Expressivität überzeugen. Die neue Stadt steht in einem direkten Bezug zum Wohnbauprogramm des Roten Wien. Luitpold preist die­jenigen, die neue Häuser schaffen und ihre ganze Kraft für die Heimstätten der Menschen einsetzen. „Selig die Massen, wenn sie beginnen, die Erde in ein Heim für jeden zu wandeln“, so Luitpold. Schatz zeigt in seinen Darstellungen die Errichtung dieser Häuser, kräftige Arbeiter bauen das neue Wien. Dieses dient auch sozialdemo­ kratischen Veranstaltungen, beflaggte Innenhöfe sind das Szenarium für enthusiastische Redner. Dann der Rückblick: hoch aufragende Häuserschluchten, die nur einen kleinen Lichtstrahl frei­ geben, Innenhöfe ohne Sonne, eine armselige Pflanze auf einer Fensterbrüstung. „Pforten der Schönheit“ und „Augen der Klugheit“ erleben lesende Arbeiter, das vor ihnen liegende Buch ist Die neue Stadt. Diese bedarf des neuen Menschen, der für seine Rechte kämpft, von Schatz groß ins Bild gesetzt. Heroisch anmutende Arbeiter marschieren mit Fahnen der Zukunft entgegen. Das helle Licht, durch Zacken nach vorne weisend, lässt die muskulösen Körper der im Gleichschritt Marschierenden aus der Dunkelheit hervor­treten. Die neue Stadt ist Teil einer sozialdemokratischen Arbeiterkultur, die auch im Film dieser Zeit Ausdruck findet. Die vom 17er Haus (1932) in der Regie von Artur Berger zeigt die Leistungen des Roten Wien in ähnlich euphorischer Form und setzt die Darstellungen von Schatz in bewegte Bilder um. Die Holzschnittserie Industrie (1927; Abb. S. 115) mit menschenleeren Industrieanlagen im Sinne der Neuen Sachlichkeit16 wird von zahlreichen Aquarellen von Industrieanlagen begleitet. 1928 arbeitet


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Abb. 6 Franz Modlik, Gefesselter Arbeiter, 1927

Abb. 5 Frantisek Kupka, Civilisation, um 1906

Schornsteinen der Industrie. Die Darstellung steht in der ikonografischen Tradition von Frantisek Kupkas Civilisation (Abb. 5) oder in dessen Folge von Rudolf Charles von Rippers Radierung Zeitalter der Maschine (1937) aus dem Zyklus Zerstört die Infamie.19 Der gekreuzigte Arbeiter befindet sich in einem inhalt­lichen Zusammenhang zu Gefesselter Arbeiter (1927, Abb. 6) von Franz Modlik, einer beeindruckenden Darstellung des Arbeiters mit zurückgeworfenem Kopf, dessen Ge­sicht Leid und Tod suggeriert. Diese einfache Kohlezeichnung zählt in ihrer Ausschließlichkeit zu den besten Arbeiten Modliks. Ein ähnliches Motiv zeigt Aloys Wach in seinem Bild Österreich weint über seine Söhne (1931).20 Wenige von Schatz’ Werken beziehen sich ganz konkret auf bestimmte historische Ereignisse. Das Blatt Särge (1928, Abb. 7) steht aber ohne Zweifel mit den Unruhen beim Brand des Justizpalastes in Wien in Zusammenhang. Die katafalkartige Auftürmung der Särge, von wenigen Strahlen einer verdunkelten Sonne beleuchtet, berichtet von der Aufbahrung der Opfer dieser Auseinandersetzungen, meist kommunistische und sozialdemokratische Arbeiterinnen und Arbeiter. Die Särge unterscheiden sich nicht, werden vom Band des Sozialismus zusammengehalten. Der einzige Schmuck sind einige Pflanzenranken. Diese Trostlosigkeit dominiert auch die Blätter Straßenbau (1928), Schneeschaufler (1929) und Arbeitslose (1929). Diese Stimmungslage verkehrt sich im selben Jahr in einen Optimismus, der auf der technischen Entwick-

lung beruht. Dieser Fortschrittsglaube beherrscht die beiden Varianten für das Arbeiterjahrbuch 1930. Das Jahr 1930 (Abb. S. 120) zeigt eine amerikanisch anmutende, fiktive Stadt- und Industrielandschaft, Hoch­häuser, Industrieanlagen, Autobahnen und Eisenbahnstrecken. Es zeigt den Stolz auf die technischen Errungenschaften, ein collageartig zusammengefügtes Ensemble ohne Menschen. Ebenfalls 1929 tritt Schatz mit drei groß­­­­­ for­matigen Ölbildern an die Öffentlichkeit, die schon in den 1930er-Jahren als Triptychon gesehen wurden, wenngleich ihr inhaltlicher Zusammenhang kaum nachvollziehbar ist. Den Mittelteil bildet die Schaustellung (Abb. S. 106), ein zentrales Werk der Kunst der Zwischenkriegszeit in Österreich. Sind die Ballonverkäufer (Abb. S. 107) ein beliebtes Thema der Praterdarstellungen dieser Zeit, so fallen die Mondfrauen gänzlich aus einer entsprechenden ikono­ grafischen Tradition heraus und lassen Quer­verweise auf die erotischen Frauendarstellungen des Künstlers zu. Die Schaustellung konfrontiert uns mit der Präsentation des Fremden. Im Zentrum des Bildes steht ein


POLITISCHE  IKONOGRAFIE

Abb. 7 Otto Rudolf Schatz, Särge (Aufbahrung der Gefallenen), 1928 (2.118)

von Ernst Kreneks Oper Jonny spielt auf verbunden. Daneben müssen Bilder von Hans Böhler genannt werden: Negerjunge (1925) und Selma (1936). EMIGRATION UND SCHAFFEN NACH 1938

Paar mit schwarzer Hautfarbe, der Mann schützt seinen Körper mit einem Hemdkleid, die Frau ist lediglich mit einem Lendentuch bekleidet. Links im Bild wartet ein weiterer Schwarzer auf seine Vor­führung. Alle sind barfüßig dargestellt. Das Paar im Zentrum wird von einem klein gewachsenen Weißen der Menge präsentiert. Dieser kleine Wiener Ganove, wie Daim ihn bezeichnet,21 legt kumpelhaft seinen linken Arm um den Schwarzen. Der Ort der Handlung ist ein Prater-Varieté, die Menschen mit schwarzer Hautfarbe werden wie Kuriositäten der Menge vorgeführt. Der Blick der Hauptfigur richtet sich direkt auf die Betrachtenden. Rassismus verbindet sich hier mit Sexismus, Schatz lässt die Frau mit nacktem Ober­ körper auftreten, die Brustwarze wird durch die Handhaltung ihres Partners betont. So thematisiert der Künstler in diesem Bild ungleiche Machtverhältnisse, sowohl zwischen Kulturen wie zwischen den Geschlechtern. Der Aspekt der Fremdheit erhält bei Schatz einen wesentlichen Stellenwert, der gerne, besonders in Verbindung mit der Frau, mit Wildheit gleichgesetzt wird.22 Praterszenen finden wir bei Schatz immer wieder, so kann etwa der Gaukler (1930) diesem Themenkreis zugeordnet werden. In Österreich kommt der Auseinandersetzung mit Personen schwarzer Hautfarbe, insbesondere auch in Zusammenhang mit Jazz, eine besondere Rolle zu. So sind Carry Hausers Jazzband (1927; Abb. S. 105), Herbert Plobergers Musiker (1926) und Bettina Bauer-­Ehrlichs Jonny spielt auf (1928) eng mit der Uraufführung 24

Abb. 8 Illustration aus Upton Sinclair, Co-op, 1936

Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges arbeitet Schatz nochmals an einem großen Buchprojekt. Er illustriert für die Büchergilde Gutenberg Upton Sinclairs Co-op (1937, Abb. 8). Seine Reise in die USA kann als eine „vorgezogene Emigration“ bezeichnet werden, wie es Ralph Gleis in seinem Katalogbeitrag formuliert.23 Wie so viele Künstlerinnen und Künstler aus Österreich hat auch Schatz seine Heimat ver­lassen müssen, 1938 emigrierte er mit seiner jüdischen Frau nach Brünn. Das Buch Co-op erscheint 1938 in Prag. Es schildert die Entstehung einer Selbsthilfe­organi­sation


amerikanischer Arbeitsloser und deren Geschichte bis 1936. Mehrere Blätter zeigen die Auswirkungen der von Franklin D. Roosevelt eingeführten Works Progress Administration, so den Selbstmord eines der Kooperative entzogenen Arbeiters, der sich sterbend auf den Schreibtisch des Beamten wirft. Den Zweiten Weltkrieg verbringt Otto Rudolf Schatz in Prag und Brünn, 1944 erfolgt, zu­

1 Vgl. Hans Bisanz (Hg.): Die uns verließen. Österreichische Maler und Bildhauer der Emigration und Verfolgung (Ausstellungskatalog Österreichische Galerie Belvedere), Wien 1980; Christoph Bertsch, Markus Neuwirth: Krieg Aufruhr Revolution. Bilder zur Ersten Republik in Österreich, Wien 1995; John Czaplicka, David Mickenberg: Emigranten und Verbannte. Eine verlorene Generation österreichischer Künstler in Amerika 1920–1940 (Ausstellungskatalog Mary and Leigh Block Gallery Northwestern University), Evanston/Wien 1996; Christoph Bertsch (Hg.): Das ist Österreich! Bildstrategien und Raumkonzepte 1914–1938 (Ausstellungs­ katalog Vorarlberg Museum), Berlin 2015. 2 So zu lesen in den Standardwerken zur österreichischen Kunst dieser Zeit. Vgl. Klaus Albrecht Schröder: Malerei in Österreich zwischen den Kriegen, in: Kunst aus Österreich 1896–1996 (Ausstellungskatalog Bundeskunsthalle Bonn), München/New York 1996, S. 34–60; Wieland Schmid (Hg.): 20. Jahrhundert. Geschichte der bildenden Kunst in Österreich, Bd. 6, München u. a. 2002. 3 Wolfgang Drechsler, Antonia Hoerschelmann: Als es modern war, unmodern zu sein, in: Sándor Békési, Wolfgang Kos (Hg.): Kampf um die Stadt. Politik, Kunst und Alltag um 1930 (Ausstellungskatalog Wien Museum), Wien 2010, S. 227. 4 Vgl. Edmund Lachnit: Kunstgeschichte zwischen Methodologie und Ideologie, in: Patrick Werkner (Hg.): Kunst in Österreich 1945–1995, Wien 1996, S. 155–163. 5 Vgl. Fritz Rosenfeld: Zu den Werken von O. R. Schatz, in: Zeitschrift der Büchergilde Gutenberg (Juni 1928); Arthur Roessler: Einiges

sammen mit seiner jüdischen Frau, die Einlieferung in ein Arbeitslager.24 Er kehrt 1945 nach Wien zurück, kann aber in künstlerischer Hinsicht nur mit wenigen Arbeiten an die Relevanz seiner Werke aus der Zwischenkriegszeit anschließen. Vor allem Viktor Matejka unterstützt ihn, verschafft ihm Aufträge im Bereich von Kunst am Bau mit teilweise bemerkenswerten Leistungen.25

von und über Otto Schatz, in: Österreichische Monatshefte 16 (Februar 1930); Dietrich Kraft, Matthias Boeckl: Otto Rudolf Schatz 1900–1961, Weitra o. J. 6 Vgl. Wilfried Daim: Die Kunst der Konflikte/ Maler zwischen zwei Kriegen. Die Entdeckung von O. R. Schatz und Franz Probst, in: morgen, Kulturzeitschrift aus Niederösterreich 2 (1977); ders.: Einsamkeit. Zu zwei Holzschnitten des O. R. Schatz, in: Illustrierte Welt (Dez./Jän. 1977/78); ders.: Industrie. Zu drei Holzschnitten von O. R. Schatz, in: Academia, Zeitschrift für Politik und Kunst 29 (1978); ders.: Zu Österreichs bildender Kunst in der Zwischenkriegszeit, in: Norbert Leser (Hg.): Das geistige Leben Wiens in der Zwischenkriegszeit, Wien 1981, S. 260–275; ders.: Otto Rudolf Schatz, Eisenstadt 1978; ders.: Otto Rudolf Schatz, Kriegsbriefe, Eisenstadt 1982. 7 Ders.: Meine Kunstabenteuer. Geschichte einer Sammlung, Wien 1997, S. VIIf. 8 Vgl. Magdalena Bushart: Der Geist der Gotik und die expressionistische Kunst, München 1990. 9 Vgl. Matthias Boeckl, Agnes Husslein-Arco, Harald Krejci (Hg.): Hagenbund. Ein europä­ isches Netzwerk der Moderne (Ausstellungs­ katalog Belvedere Wien), München/Wien 2014; Tobias Natter (Hg.): Die verlorene Moderne. Der Künstlerbund Hagen 1900–1938, Wien 1993. 10 Daim, Kriegsbriefe, o. S. (Abb. 10). 11 Zu den Buchillustrationen vgl. Brigitte Mayr: Otto Rudolf Schatz. Das graphische Werk der Zwischenkriegszeit, Dipl.-Arb. Univ. Innsbruck 1999. 12 Vgl. ebd., S. 52f. 13 Vgl. ebd., S. 57f. 14 Vgl. Daim, Schatz, o. S. 15 Ebd., o. S.

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16 Vgl. Klaus A. Schroeder (Hg.): Neue Sachlichkeit. Österreich 1918–1938 (Ausstellungs­ katalog Kunstforum Bank Austria), Wien 1995. 17 Vgl. Wilfried Daim (Hg.): Otto Rudolf Schatz – Ernst Preczang: Stimme der Arbeit, St. Pölten 1999. 18 Vgl. Christoph Bertsch: Der gekreuzigte Arbeiter. Anmerkungen zu einem vernach­ läßigten Bildtypus der Zwischenkriegszeit, in: Klaus Türk (Hg.): Arbeit und Industrie in der bildenden Kunst. Beiträge eines interdisziplinären Symposiums, Stuttgart 1997, S. 40–49. 19 Vgl. Xenia Ressos: Écrasez l’infâme! – Zerstört die Ruchlosigkeit! Das grafische Hauptwerk des Rudolf Charles von Ripper, in: Bertsch, Das ist Österreich!, S. 106–119; Markus Neuwirth: Rudolf Charles von Ripper, Écrasez l’infâme, in: Jeanne Benay u. a. (Hg.): Österreichische Satire 1933–2000: Exil – Remigration – Assimilation, Bern 2003, S. 183–215. 20 Vgl. Christoph Bertsch: Österreich weint über seine Söhne. Die Erste Republik im Spiegel der Kunst, in: Götz Pochat, Renate Wagner (Hg.): Kunst – Geschichte. Zwischen historischer Reflexion und ästhetischer Distanz (Kunsthistorisches Jahrbuch Graz, Bd. 27), Graz 2000, S. 132–153. 21 Vgl. Daim, Meine Kunstabenteuer, S. 112. 22 Vgl. Gabriele Werner: Fremdheit und Weiblichkeit, in: Annegret Friedrich u. a. (Hg.): Projektionen. Rassismus und Sexismus in der visuellen Kultur, Marburg 1997. 23 Vgl. den Beitrag von Ralph Gleis in diesem Katalog. 24 Vgl. Daim, Kriegsbriefe, o. S. 25 Vgl. den Beitrag von Wolfgang Kos in diesem Katalog.


ASPEKTE  DES  POLITISCHEN

ASPEKTE DES POLITISCHEN ENGAGIERTER REALISMUS BEI CARRY HAUSER

Cornelia Cabuk

der österreichischen Künstlerschaft.5 Um die „braune Gefahr“ abzuwenden, übernimmt er Funktionen als Bundes­treuhänder für bildende Kunst in der von Engelbert Dollfuß im „Ständestaat“ des Austrofaschismus begründeten Vaterländischen Front.6 Rückblickend beschreibt er seine Motivation: „Ich vertrag Nationa­ lismus und Chauvinismus bei keinem Volk. So hatte ich von vornherein, als dann später die Gefahr kam der Vernichtung Österreichs in dem Einbezogenwerden in ein nationalsozialistisches Deutschland, auf Kosten der Kunst meine Zeit und Kraft eingesetzt, dass das verhindert wird.“7 Seine damalige Zusammenarbeit mit

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Abb. 1 Käthe Kollwitz, Gedenkblatt für Karl Liebknecht, 3. endgültige Fassung, 1920

Liest man Briefe und Interviews von Carry Hauser, erhält man den Eindruck eines politisch wachsamen und engagierten Zeitgenossen. Die Erfahrung, als Kind von der elterlichen Wohnung gegenüber der Universität aus die Studentenradaus nach 1900 mit Straßenkämpfen der deutschnationalen Burschenschaft gegen Juden und Katholiken beobachtet zu haben, bewirkt bei Carry Hauser eine lebenslange Ablehnung von Antisemitismus und Rassismus.1 Das Kriegs­trauma aus seinem Militäreinsatz an der Ostfront im Ersten Weltkrieg motiviert Hausers Antimilitarismus und Pazifismus. In Briefen warnt er bereits 1923 vor dem Nationalsozialismus: „Die Arbeitslosig­ keit ist im Wachsen. Die Hakenkreuzler machen sich sehr unlieb bemerkbar. Es wird noch zu manchen Dingen kommen …“2 In den 1920er-Jahren engagiert sich Carry Hauser in verschiedenen Funktionen im Hagenbund, der kosmopolitischen Künstlervereinigung der Mo­derne der Zwischenkriegszeit – als Präsident 1927/28, als Vizepräsident 1935 und 1937 und als Vorstandsmitglied bis zur Auflösung des Vereins durch die National­sozialisten 1938.3 In der wirtschaftlichen Krisenzeit arbeitet er 1932 in der Notgemeinschaft für Kunst und Schrifttum, unter anderem gemeinsam mit Otto Rudolf Schatz und Franz Zülow.4 1936 warnt er vor der nationalsozialistischen Unterwanderung


Abb. 2 Conrad Felixmüller, Menschen über der Welt, Kupferstichkabinett / Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, 1919

schaffen prägen und inwieweit er das Zeitgeschehen in seinen Werken reflektiert. Letzteres spielt als inhaltliches Konzept in einem seiner Hauptwerke, dem Gemälde Das Opfer / Ecce Homo (1922/23; Abb. S. 82)9 eine grundlegende Rolle. Die Rezeption dieses Bildes durch die beiden befreundeten Kritiker und Kunstwissenschaftler Kurt Rathe (1886–1952)10 und Arthur Roessler (1877–1955) zeigt nicht nur die Ablehnung politisch engagierter Kunst durch zwei Repräsentanten der Wiener Kunstwelt in den 1920er-Jahren auf. Hauser, der im Café Museum damals zu Rathes Freundeskreis zählte und mit Roessler im Rahmen des Avalun-Verlags zusammenarbeitete, beschrieb in einem Brief enttäuscht die negative Reaktion auf sein Bild: „Beide zogen gegen mein ,Opfer‘ los, das habe mit Kunst nichts zu tun“, als Argument wurde „die Unmöglichkeit eines politischen Bildes“ erwähnt.11 Das negative Urteil dieser beiden Kritiker wurde womöglich auch motiviert durch die in Hausers Malerei dieser Zeit entscheidende sukzessive Wende in der Bildsprache, wie die Entstehungsgeschichte des David Bach (1874–1974), Musikkritiker der Arbeiter-­ Bildes verdeutlicht. Der Stilwandel geht in seinem Werk Zeitung und Gründer der Arbeiter-Symphoniekonzerte mit einem Paradigmenwechsel einher: Im Rahmen sowie 1919 bis 1933 Leiter der sozial­demokratischen seines politischen Engagements rekapituliert Hauser Kunststelle, zeigt, dass er sich nicht von ideologischen konkrete historische Ereignisse als exemplarischen Feindbildern leiten ließ. Carry Hauser erzählte: „[I]ch „Bildinhalt in seiner Ewigkeitswiederkehr“12 im Sinn hab in der Politik nie einer Partei angehört, außer der einer künstlerischen Reflexion der Conditio humana. Vaterländischen Front dann, die also keine Partei war, Die Bildidee formuliert Hauser erstmals sondern – es war damals eine Anti-Nazi-Sache mit 1921 in einer Federzeichnung mit der Darstellung einigen Nazis drinnen, und einer viel zu starken Anti-­ einer Hinrichtung. Im Bildgeschehen, das in Hausers Sozialistischen Strömung, die ich damals dadurch nervösem Duktus einer kubofuturistischen Form­ überbrückt habe, dass zu mir der David Bach und so zerlegung albtraumhafte Züge annimmt, verweist die Integration veristischer Figuren symbolisch auf weiter kamen …“ 1938 verfasst er vor seiner Emigration das maßgebliche Buch Von Kunst und Künstlern eine historische Realität. Die personifizierten Rollenin Österreich,8 in dem er als „entartet“ diffamierte bilder bestätigen die Vermutung, dass hier die Exe­ Künstler wie Kokoschka und Schiele hervorhebt und kution eines politischen Häftlings dargestellt wird. Prota­gonisten der österreichischen Moderne wie Man erkennt den Prototyp eines korrupten Politikers Herbert Boeckl, Georg Merkel, Franz Wiegele, Wilhelm mit Revolver, den Militaristen in Uniform und Helm Thöny, Fritz Schwarz-Waldegg und Otto Rudolf Schatz sowie den Geistlichen als Protagonisten einer un­ beschreibt und damit dem offiziellen Bild der Kunst heiligen Allianz. Vor den rauchenden Schloten der im Nationalsozialismus diametral entgegentritt. kapitalistischen Metropole schlürft ein Großindustrieller im Schatten dieser Gräuelszene unbeeindruckt ECCE HOMO - RELIGIÖSE SYMBOLIK Champagner vor dem Porträt Kaiser Wilhelms in UND REFLEXION Uniform und Pickelhaube, während weitere politische DES ZEITGESCHEHENS Opfer darniederliegen. Die Identifikation des Künstlers zeigt sich in der Figur des Delinquenten, den er offenVor dem Hintergrund eines Zeitalters der Extreme sichtlich als Selbstbildnis interpretiert, indem Hauser stellt sich die hier zu erörternde Frage, inwiefern seine die expressionistische Tradition der Selbststilisierung Weltanschauung und politische Meinung das Kunstals Märtyrer im zeithistorischen Kontext reaktiviert. 27


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ASPEKTE  DES  POLITISCHEN

Abb. 3 George Grosz, Deutschland ein Wintermärchen, 1917/18

Darüber hinaus erkennt man die geschändete Leiche einer Frau, mit verrenkten Gliedern vor dem Richtblock liegend.13 Nach einer Mitteilung des Künstlers14 stellt das Bild die Ermordung der beiden Kommu­ nistenführer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg in Berlin dar. Die Protagonisten des Spartakusbundes, die Pazifistin und promovierte Volkswirtin Rosa Luxemburg (1871–1919) und Karl Liebknecht (1871– 1919), ebenfalls Marxist und Antimilitarist, engagierten sich in der kommunistischen Partei Deutschlands. Die beiden waren am 15. Januar 1919 von Freikorps­ soldaten der Garde-Kavallerie-Schützen-Division verschleppt, Liebknecht aus nächster Nähe erschossen, Rosa Luxemburg ebenfalls ermordet worden;15 die Leiche der Frau warf man in den Landwehr­kanal, wobei sich der Leichenzug am 13. Juni 1919 zu einer Massendemonstration entwickelte. Der politische Meuchelmord erschütterte auch gleichgesinnte Künst­ lerinnen und Künstler, wobei beispielsweise Käthe Kollwitz (1867–1945) und Conrad Felixmüller (1897– 1977) damals weitverbreitete grafische Gedenk­­ blätter schufen, Kollwitz das Gedenkblatt für Karl Liebknecht / Die Lebenden den Toten, Erinnerung an den 15. Januar 1919 (Abb. 1), Felixmüller Menschen über der Welt16 (Abb. 2).

Carry Hauser war überzeugter Pazifist. Zunächst als Kriegsfreiwilliger eingerückt, war er traumatisiert durch die Erfahrungen der Kriegsgräuel im Ersten Weltkrieg an der Ostfront, die ihn bis nach Czernowitz führte, heimgekehrt.17 Das Kriegserlebnis verarbeitet er in Zeichnungen wie Soldaten (Abb. S. 45) von 1916,18 in der die Todesangst in der Hitze des Gefechts durch die Blässe eines beteiligten Kämpfers zum zentralen Bildinhalt wird. Nach dem Krieg in Hals bei Passau lebend, sind ihm das politische Geschehen in Österreich und Deutschland und der lebensreformerische Ansatz, den er in der Insel-Mappe (Abb. S. 54) thematisiert,19 ein Anliegen. Die Kunstszenen in Wien, München und Berlin wirken dabei prägend. Die Freundschaft mit dem politisch engagierten expressionistischen Schriftsteller und Dramatiker Franz Theodor Csokor (1885–1969), für dessen Drama Die rote Straße20 (Abb. S. 68) er das Bühnenbild entwarf, half Hauser, das Kriegstrauma künstlerisch zu ver­ arbeiten; allerdings blieb die Traumatisierung noch in seinen späteren Frauenmord-Darstellungen präsent. In Anbetracht eines neuen Realismus nach dem Ersten Weltkrieg erkannte Walter Benjamin (1892–1940) 1921 den Reflex eines „negativen Expressionismus“21, welcher als Reaktion auf die traumatisierende Kriegserfahrung betrachtet werden kann. In einer Ausführung über „Mimesis“ schreibt Benjamin: „Vielleicht zeichnet der Mensch der Steinzeit das Elentier nur darum so unvergleichlich, weil die Hand, die den Stift führte, sich noch des Bogens erinnerte, mit dem sie das Tier erlegt hat.“22 Bezogen auf Benjamins Beobachtung könnte man von der Treffsicherheit der mimetischen Wiedergabe sprechen, mit der Hauser den politischen Missstand beschreibt. Neu im Vergleich mit der Federzeichnung ist im Gemälde Das Opfer / Ecce Homo Hausers Referenz auf christliche Märtyrerdarstellungen. Eine Quelle für diese Synthese von Zeitpolitik und Religion liegt vermutlich in der damaligen dramatischen Literatur. Im Jahr 1921 erschien Carl Einsteins (1885–1940) anarchistisches Drama Die schlimme Botschaft bei Rowohlt. Der Autor und sein Verleger Rowohlt wurden 1922 aufgrund dieses Werkes in einem spektakulären Ge­ richtsprozess wegen Blasphemie verurteilt. In diesem satirischen Stück schildert Einstein in 20 Passionsszenen, wie Christus nach dem Ersten Weltkrieg erneut auf der Erde erscheint und unter zynischen Demütigungen einer selbstzufriedenen Bürgerschaft nochmals gekreuzigt wird. Dabei kommt es zum


Abb. 4 Egon Schiele, Selbstakt, 1910

Disput zwischen einem Kunsthändler und einem Sammler vor einer Kreuzigungsszene. In vergleich­ barer Weise ist im Gemälde Hausers ein Zeuge der Folterszene als Karikatur des Kunsthändlers Alfred Flechtheim (1878–1937) zu identifizieren. Einstein arbeitete eng mit George Grosz (1893–1959) zusammen, dessen Bildwelt Hauser seit der ersten Einzel­ aus­stellung des Deutschen in München bei Goltz 1920 etwa im Gemälde Deutschland ein Wintermärchen (Abb. 3) maß­geblich beeindruckte und inspirierte.23 Eine weitere Quelle für die Selbstdarstellung als Märtyrer bei Hauser liegt im österreichischen Expressionismus vor dem Krieg. Durch den Bezug zu Schieles lädiertem und fragmentiertem Figurenbild in der Zeichnung Selbstakt (Abb. 4) aus dem Jahr 191024 inszeniert Hauser zugleich das Reframing des psychologischen Expressionismus Egon Schieles (1890–1918). Hauser, der durch seine Freundschaft mit dem Schiele-­Promotor und -Sammler Roessler25 mit dessen Werk bestens vertraut ist, versucht durch die Zusammenarbeit im Avalun-Verlag und im Haus der jungen Künstlerschaft, der Nachfolgeinstitution der renommierten Galerie Miethke, Schiele als zentrale Persönlichkeit der Kunst vor dem Zusammenbruch der Monarchie zu ersetzen. Bemerkenswert in Hausers Gemälde ist da­ rüber hinaus, dass er nicht den zentralperspektivischen Illusionsraum der Renaissance, sondern die verkehrte

Perspektive der Moderne einsetzt. Er lässt Figuren und Gegenstände wie im Kubismus aus der Bildfläche in den realen Raum hervortreten. Dieses Gestaltungs­ mittel wurde von El Lissitzky (1890–1941) in seiner Abhandlung K. und Pangeometrie 1925 in Anlehnung an den russischen Theologen Pawel Florenski (1882– 1937) als Methode der Kubisten und Futuristen be­ schrieben.26 An der Wende zum Realismus erscheint dabei die Beobachtung entscheidend, dass der oder die Betrachtende dadurch, dass die dargestellte Bildwelt sein oder ihr unmittelbares Areal okkupiert, die Stabilität des Raumes und seine oder ihre eigene Position darin zu verlieren meint: „instead of being the origin of vision, the spectator is now caught in its field.“27 Die verkehrte Perspektive vermittelt eine Ästhetik der Empathie oder Einfühlung. Das mediatisierte Gefühl beruht auf dem psychischen Mechanismus, bei dem das Subjekt sein Bewusstsein auf externe Körper projiziert und die Welt über diese Objekte wahrnimmt. In diesem übertragenen Sinn hat Hauser hier engagierte Kunst in Szene gesetzt, wobei diese Haltung auch in der zeichenhaften Semantik und Typologie der unterschiedlichen Charaktere, wie Kunsthändler, Richter, Geschäftemacher oder dem unheimlichen Henker im Bildgrund, augenscheinlich wird. Indem Hauser die Szene scheinbar im realen Raum des oder der Betrachtenden lokalisiert, erhält sie besondere Brisanz als humanes, künstlerisches Statement gegen politische Gewalt. Der Holzschnitt Der Verurteilte (1922; Abb. S. 80)28 stellt eine weitere Anklage Hausers gegen politische Verfolgung und Gewalt in einer vergleichbaren Konstellation dar, wobei wie in der Feder­ zeichnung rauchende Fabrikschlote das bedrohliche Szenario untermalen. Das Bild Panoptikum (1949; Abb. S. 152)29 zeigt eine Revision der Figurensymbolik aus verändertem Blickwinkel nach seiner Rückkehr aus der Emigration, während Hauser den religiösen Inhalt 1948 im Gemälde Religion / Ecce Homo erneut interpretiert. INTENSIVE AUSEINANDER­SETZUNG MIT FRAUENSCHICKSALEN Während Hausers Gemälde Das Opfer / Ecce Homo seine Verankerung im Netzwerk der politisch engagierten Kunstavantgarde und das konstruktive Weiter­ denken ihrer Raum-Zeit-Konzepte verdeutlicht, zeigen andere Werke ein bemerkenswertes, für einen Künstler damals außergewöhnliches Interesse für Frauenthemen.

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ASPEKTE  DES  POLITISCHEN Abb. 6 Carry Hauser, Das Konzertcafé, Illustration zu Else Feldmanns Fortsetzungsroman Der Leib der Mutter, 1923/24

Abb. 5 Carry Hauser, Die Giftmischerin, 1922

Als aufmerksamer Beobachter des Tagesgeschehens thematisiert er beispielsweise das Schicksal von Frauen sowohl proletarischer als auch bürgerlicher Herkunft in Zeichnungen wie Die Kindsmörderin / Die Verurteilte (1921; Abb. S. 87)30 oder im Aquarell Die Giftmischerin (1922; Abb. 5)31. Seine Schilderung der „Kindsmörderin“ ist drastisch, makaber, geprägt von dramatischer Simultaneität. Die psychologische Identifikation mit der tragischen Frauenfigur im Zentrum der Handlung erstreckt sich in den Bereich des Stilistischen, denn ihre körperliche und psychische Extremsituation, die, wie Hauser vermuten lässt, durch männliche Gewalt herbeigeführt wurde, reflektiert er im nervösen Duktus, der die Gegenstandswelt kubistisch facettiert. Das ungünstige Eherecht und der „Abtreibungsparagraf“, der Schwangerschaftsabbruch mit Zuchthaus bestrafte, waren für Frauen am Land und Arbeiterinnen damals besonders katastrophal, wobei illegale Abtreibungen eine erhebliche Zahl von Todesfällen und bleibende Gesundheitsschäden verursachten. Abgesehen von Carry Hauser schuf auch die Künstlerin Friedl Dicker-Brandeis (1898–1944) Werke, welche die Notlage dieser Frauen in Form von Fotocollagen 1932/33 thematisierten.32 1923 zeichnet Carry Hauser Illustrationen zu Else Feldmanns Roman Der Leib der Mutter33 (Abb. 6), der im darauffolgenden Jahr in Fortsetzungen in der Arbeiter-Zeitung erscheint und damit auch für die im Roman thematisierten Arbeiterinnen zugänglich ist. Die sensible Zeit- und Milieustudie aus den Elends­ quartieren der mittellosen Arbeiterschaft schildert das

Leben und vor allem die ausweglose Situation von Proletarierfrauen aus dem Blickwinkel eines fiktiven Journalisten namens Absalon Laich. Von Arthur Schnitzler geschätzt, arbeitete die gebürtige Wienerin Else Feldmann (1884–1942) ähnlich wie Egon Erwin Kisch (1885–1948) auf dem Gebiet der Sozialreportage und befasste sich etwa mit dem Leben des jüdischen Proletariats. 1933 war sie Gründungsmitglied der Ver­ einigung Sozialistischer Schriftsteller. Ab 1934 wurde ihre Berufstätigkeit durch das austrofaschistische Regime verhindert, 1942 wurde sie von der Gestapo verschleppt und im Vernichtungslager Sobibor ermordet. Mit der Präzision seiner Menschenkenntnis begleiten Hausers Illustrationen im Jargon des Verismus den prosaischen Erzählstil Feldmanns. Hauser verleiht den Charakterstudien aus den Arbeiterbezirken Wiens visuell unverwechselbare Identitäten, welche das Gesamtbild gestisch beleben und authentisch erschei­ nen lassen. Die reduzierte Semantik seines Zeichenstils dieser reportageartigen Momentaufnahmen transportiert mit der Stringenz eines Comics optimal, zu­ gleich humorvoll-ironisch und spannend die Geschichte. Selbst schriftstellerisch tätig und mit der Altphilologin Gertrud Herzog-Hauser (1894–1953) verheiratet, standen ihm schreibende Frauen und Intellektuelle seiner Zeit, darunter viele mit jüdischen Wurzeln, besonders nahe.


In seinen Porträts bedient sich Carry Hauser in den späten 1920er-Jahren bewusst einer signifi­ kanten Reduktion auf eine zeichenhafte Symbolik, um, inspiriert durch neue Medien, seinen Menschenbildern eine zeitgemäße Sensibilität zu verleihen. Insofern erscheint es überaus stimmig, dass sein Bildnis der Lisl Goldarbeiter – Miss Universe (1929; Abb. S. 108)34 damals als Blickfang für das Cover der Zeitschrift Jugend diente und ein breites Publikum ansprach.35 In diesem Porträt ist das Mimetische im fotogenen Antlitz getilgt. Die Dargestellte verkörpert wie in ihrer Rolle als Miss Universe im realen Leben das wandelbare, zeitentrückte und makellose Image einer universalen Kunstfigur vor der Kamera. Die be­liebige fotografische Reproduzierbarkeit des ge­ normten Schönheitsideals – eigentlich auch programmatischer Inhalt der alljährlichen Schönheitswett­ bewerbe – ist als Subtext der Darstellung bemerkbar. Anstelle von individueller Singularität ist das Bild flächig wie ein symbolisches Icon, geprägt durch den polarisierenden Dualismus der beiden Farben Rot und Blau im Gewand und in der modernen Architektur des Raums. Auf dem für die Kunst der Neuen Sachlichkeit typischen und fruchtbaren Spannungsfeld zwischen Malerei und Fotografie beruht außerdem folgende Beobachtung zu Identität und Differenz eines Motivs, welches Carry Hausers Bilderzählung im Porträt illustriert. In seiner Abhandlung zur Fotografie, Camera lucida, definiert Roland Barthes die inhaltliche Polari­ sierung von studium und punctum im fotografischen Abbild.36 Studium meint die kulturelle, linguistische und politische Interpretation, während punctum ein persönlich berührendes Detail beschreibt, welches eine unmittelbare Beziehung zu einer Person oder einem Objekt herstellt. Es bezeichnet zugleich das indexi­ kalische Element des Zufälligen eines Lichtbilds und ist erst über den Subtext der zugrunde liegenden Historie verständlich. Im Bewusstsein der Imagina­ tions­kraft des Mediums Malerei markiert Carry Hauser in Lisl Goldarbeiter – Miss Universe die Dis­ krepanz von fotografischer Reproduzierbarkeit und maleri­schem Realismus durch das punctum der geröteten Hände. Diese verweisen auf eine – durch manuelle Tätigkeit charakterisierte – proletarische Abstammung. Durch den ,Kunstgriff‘ dieses aus dem Medium Fotografie in den imaginären Bereich der Malerei transferierten Merkmals holt Hauser das fiktive Bildnis zurück in die soziale Realität, die

ihm selbst ein großes Anliegen ist. Die markante Gestik und das Faktum der geröteten Hände ent­ sprechen auch der in Brechts Dramen vollzogenen Ent­wicklung von der empathischen Mimesis des naturalistischen Dramas zum gestischen Prinzip der mechanischen Reproduzierbarkeit im Zeitalter des Industriekapita­lismus.37 Im Gegensatz zum historischen Modell Lisl Goldarbeiter (1909–1997), Tochter aus gutbürger­lichem Haus, Fotomodell und Filmstar, die diese ,proletarische‘ Konnotation ihres Bildnisses begreiflicherweise ablehnte, stand Hauser zu seiner politischen Aussage und stellte das Porträt, welches ein Bewusstsein für Frauenschicksale des Proletariats hervorrufen sollte, in der 58. Ausstellung des Hagenbunds im Jahr 1929 in Wien aus. JAZZ ALS AUSDRUCK DES MODERNEN GROSSSTADTLEBENS Interessiert an neuen Medien wie Radio und Film sowie als Anhänger moderner Musik, war der mit den Komponisten Max Brand (1896–1980) und Josef Matthias Hauer (1883–1959) befreundete Carry Hauser bestrebt, die Bedeutung dieser Musik als Ausdrucksweise des modernen urbanen Lebens in seine Kunst einfließen zu lassen. Sein Gemälde Jazzband (Abb. S. 105)38 aus dem Jahr 1927 wirkt in vielerlei Hinsicht heute als Ikone der Moderne in Österreich. In den 1920er-Jahren wurde der Jazz europaweit als Subkultur allmählich überaus populär und erfasste Mode und Alltag in der Großstadt. Auch moderne Komponisten wie Ernst Krenek (1900–1991) und Max Brand reagierten auf den Jazz als neue Musikform. Jazz sollte in Brands Musiksprache als Lebens- und Emotionssphäre die Welt des Lasziven und Sinnlichen widerspiegeln.39 Ernst Kreneks Oper Jonny spielt auf, in der Silvesternacht 1927/28 an der Wiener Staats­ oper uraufgeführt, galt als Jazzoper schlechthin, obwohl Krenek darin den Jazz eher klischeehaft und über deutsche synkopierte Tanzmusik rezipierte.40 Ebenso wie die skandalträchtigen Auftritte der Tänzerin Josephine Baker 1928 und 1932 in Wien wurden der Jazz und Kreneks Oper bereits in den 1920erJahren Zielscheibe rassistischer Krawalle.41 Ein farbiger Saxofonist wurde schließlich 1938 im diffamie­ renden Plakat Entartete Musik fokussiert. In diesem Kontext ist Carry Hausers Bild eine unvoreingenommene Hommage an den Jazz. Während Otto Dix (1891–1969) im Selbstbildnis An die Schönheit (1922;

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ASPEKTE  DES  POLITISCHEN

Abb. 7 Otto Dix, An die Schönheit, 1922

Abb. 7) und später in seinem Großstadt-Triptychon (1927/28) in einer durchaus ambivalenten Sichtweise den Jazz als Attribut einer dekadenten Gesellschaft klassifizierte, zeigen Hausers emblematische Jazzplayer das multiethnische Zusammenspiel in einem positiven Licht. Wie in einem Film erscheint die Musik selbst als Quelle der geometrisch abstrakten Raumkomposition.

Betrachtet man weitere relevante Arbeiten im Werk von Carry Hauser im Hinblick auf politische Brisanz, erhält man ein breites Spektrum von Eindrücken sozialer Missstände im Umfeld der kapitalistischen Metropole. So findet man beispielsweise im Nächtebuch (1920; Abb. S. 89),42 dem Buch von der Stadt (1921; Abb. S. 92–96),43 dem Buch der Träume (1922; Abb. S. 89)44 oder dem Blockbuch Irrende Menschen 32


(1923; Abb. S. 72)45 das Phänomen der „Kriegs­ gewinnler“ in Gestalt eines Diamantenschiebers46, Hinweise auf Einsamkeit und Anonymität des Lebens in der Großstadt,47 Geschichten vom sozialen Abstieg bis zum Elend der Arbeiterfrauen und Prostitution.48 Emigration, Exil und Heimkehr als unwillkommener „Remigrant“49 prägen als individuelle Erfahrungs­ werte das Spätwerk bis hin zur Gegenwelt der Afrika-­ Bilder. Während Hauser mit seinen Werken Bewusst-

1 Vgl. Geschichten und Geschichte – Autobiografische Aussagen von Carry Hauser, ORF Radio 16.2.1978, Österreichische Mediathek, Audiovisuelles Archiv Technisches Museum Wien; vgl. auch: Die Universität. Eine Kampfzone. Ausstellung Jüdisches Museum Wien, 3.11.2015 bis 28.3.2016; u. a. fand 1908 eine ,Straßenschlacht‘ auf der Universitätsrampe mit zahlreichen Verletzten unter den jüdischen Studierenden statt. 2 Carry Hauser: Brief an Georg Philipp Wörlen am 8.3.1923, Museum Moderner Kunst – Stiftung Wörlen Passau; vgl. Cornelia Cabuk: Carry Hauser. Monografie und Werkverzeichnis, hg. von Agnes Husslein-Arco (Belvedere-Werkverzeichnisse, Bd. 2), Weitra 2012, S. 133. 3 Vgl. Matthias Boeckl, Agnes Husslein-Arco, Harald Krejci (Hg.): Hagenbund. Ein europä­ isches Netzwerk der Moderne. 1900 bis 1938 (Ausstellungskatalog Belvedere Wien), München/Wien 2014. 4 Vgl. Sándor Békési, Wolfgang Kos (Hg.): Kampf um die Stadt. Politik, Kunst und Alltag um 1930 (Ausstellungskatalog Wien Museum), Wien 2012, S. 506, Kat.Nr. 12.79; Cabuk, Hauser, S. 170. 5 Vgl. Cabuk, Hauser, S. 175f.; Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Vaterländische Front, Karton 37; vgl. Elisabeth Klamper: Die böse Geistlosigkeit. Die Kulturpolitik des Ständestaates, in: Jan Tabor (Hg.): Kunst und Diktatur. Architektur, Bildhauerei und Malerei in Österreich, Deutschland, Italien und der Sowjetunion 1922–1956, Bd. 1 (Ausstellungskatalog Österreichisches Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, Künstlerhaus), Baden 1994, S. 129. 6 Ausführliche Biografie und Werkverzeichnis in: Cabuk, Hauser. 7 Carry Hauser im Gespräch mit Viktor Suchy, 8.3.1968. 8 Carl Maria Hauser: Von Kunst und Künstlern in Österreich (Österreichische Bücherei, Bd. 7), Brixlegg 1938.

sein für soziale Themen schaffen wollte, hat er seine Kunst nie unmittelbar in den Dienst parteipolitischen Tagesgeschehens gestellt. Seine Sichtweise bleibt vielmehr eingebettet in die Vision eines eschatologischen Weltbilds. Mit der Hellsichtigkeit eines Künst­ lers erkannte er jedoch frühzeitig in jener krisenhaften Zeit das Heraufdämmern der Diktaturen und warnte vor dem Verlust von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

9 WV 1923 M 1, in: Cabuk, Hauser, S. 326. (Im Kommenden Verweise auf das Werkverzeichnis als WV ausgewiesen.) 10 Im Denkmal zur Ehrung „Vertriebener KunsthistorikerInnen“ gedachte man 2008/09 an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien des Geisteswissenschaftlers Kurt Rathe. 11 Carry Hauser: Brief an Georg Philipp Wörlen am 9.8.1922, Museum Moderner Kunst – Stiftung Wörlen Passau. 12 Carry Hauser: Brief an Georg Philipp Wörlen am 12.8.1922, Museum Moderner Kunst – Stiftung Wörlen Passau. 13 WV 1921 Z. 14 Ich danke dem Besitzer der Zeichnung für diese Information. 15 Lemo – Lebendiges Museum online, https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarerrepublik/revolution-191819/ermordung-vonluxemburg­liebknecht.html (25.10.2015). 16 Vgl. Cabuk, Hauser, S. 25. 17 Ebd., S. 25. 18 WV 1916 Z 1. 19 WV 1919 D 1. 20 WV 1920 Z 1. 21 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Bd. 6: Fragmente, autobiografische Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1991, S. 132 [fr 107]. 22 Ebd., S. 127 [fr 98]; vgl. Devin Fore: Realism after Modernism. The rehumanization of art and literature, Cambridge, Mass. 2012, S. 5. 23 Vgl. Cabuk, Hauser, S. 73–77. 24 Vgl. ebd., S. 111, S. 20. 25 Vgl. Tobias G. Natter, Ursula Storch (Hg.): Schiele & Roessler. Der Künstler und sein Förderer. Kunst und Networking im frühen 20. Jahrhundert (Ausstellungskatalog Wien Museum), Ostfildern-Ruit 2004. 26 Vgl. El Lissitzky: K. und Pangeometrie, in: Carl Einstein, Paul Westheim (Hg.): Europa Alma-

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nach 1925, Potsdam 1925, S. 103–113, hier S. 106. 27 Fore, The Myth Reversed, in: ders., Realism, S. 52, S. 346, Anm. 54. 28 WV 1922 D 3. 29 WV 1949 M 1. 30 WV 1921 Z 22. 31 WV 1922 Z 6, S. 310, siehe auch Beschreibung des historischen Hintergrunds. 32 Friedl Dicker, Fürchtet den Tod nicht (1932/33), Abb. in Agnes Husslein-Arco u. a. (Hg.): Wien – Berlin. Kunst zweier Metropolen (Ausstellungskatalog Berlinische Galerie / Belvedere Wien), München u. a. 2013, S. 325, Abb. 275. 33 WV 1923 Z 24. 34 WV 1929 M 1. 35 Jugend 34 (1929) 24. 36 Vgl. Roland Barthes: Camera lucida, reflections on photography, New York 1987, S. 96. 37 Vgl. Fore, Realism, S. 160. 38 WV 1927 M 2. 39 Vgl. Brands Oper Maschinist Hopkins, Universal Edition, http://www.universaledition.com/ Maschinist-Hopkins-Max-Brand/ komponisten-und-werke/komponist/92/werk/­ 3571 (26.10.2014); Hauser illustrierte Szenenbilder dieses Singspiels: Der Maschinist, WV 1924 Z 15. 40 Universal Edition, http://www.universaledition.com/Ernst-Krenek/komponisten-und-werke/ komponist/395 (26.10.2014). 41 Békési, Kos, Kampf um die Stadt, S. 582. 42 WV 1920 Z 25. 43 WV 1921 Z 11. 44 WV 1922 D 16. 45 WV 1923 D 1. 46 WV 1922 D 16/2. 47 WV 1921 Z 11/7. 48 WV 1921 Z 11/14. 49 WV 1948 Z 17.


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