Wien Museum – Die Virgilkapelle in Wien

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Die Die Virgilkapelle in Wien

Die Virgilkapelle ist einer der besterhaltenen gotischen Innenräume in Wien. Ihre Anfänge reichen bis ins 13. Jahrhundert zurück, als man einen Kapellenbau im frühgotischen Stil errichten wollte. In unmittelbarer Nähe zum Stephansdom gelegen, wurde sie 1972 im Zuge des U-Bahn-Baues wieder entdeckt. Die vorliegende Publikation gibt auf Basis neuester wissenschaftlicher Forschungen Einblicke in die Baugeschichte und die historische Bedeutung des faszinierenden Sakralraums.

Virgil kapelle in Wien Michaela Kronberger (Hg.)

UMSCHLAG_RZ1.indd 1

Wien Museum

Baugeschichte und Nutzung

26.10.16 23:21







Inhalt

Vorwort

Matti Bunzl

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Einleitung

Michaela Kronberger

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Zu Bauforschung und Rekonstruktion der Baugeschichte

Marina Kaltenegger, Patrick Schicht

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Die Bestattungen aus der Maria-MagdalenaKapelle

Michaela Binder, Marina Kaltenegger, Renate Kohn

146

Versuch einer Nutzungs- und Ausstattungsgeschichte des Kapellenkomplexes aus historischer Sicht

Renate Kohn

166

Die Gottsleichnamsbruderschaft bei St. Stephan in Wien und das „Spiel der Ausführung Christi“

Reinhard H. Gruber

172

Bedeutende Persönlichkeiten als Mitglieder der Gottsleichnamsbruderschaft

Renate Kohn

182

Der Ablassbrief für die Erasmus- und Helenenkapelle von 1513

Markus Gneiß

192

Fest, Ritus und urbaner Klangraum über und unter dem Karner: Notizen zur Virgilkapelle

Susana Zapke

196

Literaturverzeichnis

202

Danksagung/Crowdfundingaktion

206

Abbildungsnachweis, Abkürzungen, Impressum

207

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Vorwort

Die Virgilkapelle wurde 1972 im Zuge des U-Bahn-Baues wieder entdeckt und als Standort des Wien Museums in die U-BahnStation Stephansplatz integriert. Aus restauratorischen Gründen musste sie 2008 jedoch geschlossen werden. Diese Auszeit war für das Museum wie für das Publikum zwar bedauerlich, eröffnete allerdings auch Möglichkeiten: Nämlich einerseits ein umfassendes konservatorisches Maßnahmenpaket für ihre Erhaltung zu entwickeln, andererseits das Bauwerk in all seiner historischen und baugeschichtlichen Komplexität durch ein interdisziplinäres Team erforschen zu lassen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen sind seit der Wiedereröffnung der Virgilkapelle im Rahmen einer neu gestalteten Präsentation zu sehen und liegen nun in allen Details in Buchform vor.

Matti Bunzl Direktor Wien Museum

umfassenden Publikation ausgebaut werden. Darüber hinaus gab es weiterführende Forschungen – zu den unterschiedlichsten Fragestellungen – von Michaela Binder, Markus Gneiß, Reinhard H. Gruber, Renate Kohn und Susana Zapke, die ebenso hier vorgelegt werden. Die großzügige Bebilderung der Publikation wäre nicht zustande gekommen, wenn nicht zahlreiche KollegInnen und Institutionen, allen voran des Bundesdenkmalamt, uns die Erlaubnis zur kostenlosen Nutzung ihrer Abbildungen gewährt hätten.

Das Gesamtprojekt Virgilkapelle ist untrennbar mit einem Namen verbunden: Michaela Kronberger, Kuratorin für Archäologie und Geschichte bis 1500 im Wien Museum, verantwortete nicht nur die Neupräsentation Wir verdanken diese Publikation einer erfolg- der Virgilkapelle, sondern auch die vorliegenreichen Crowdfunding-Kampagne, die wir im de Publikation. Die grafische Gestaltung dieses Buches übernahm Larissa Cerny, die Herbst 2015 durchgeführt haben. Die ProUmsetzung Roman Jacobek (Phoibos Verlag), jektleitung dafür hatte Teresa Mitterlehnerfür das umsichtige Lektorat sorgte Kristina Marchesani, tatkräftig unterstützt von Christian Kircher, Teresa Luger und Iris Lurf. Adler-Wölfl. Ohne die genannten Personen wäre diese Publikation nicht möglich geDie aufsehenerregende Grafik und das Konzept für den Film zum Projekt kamen von wesen, ihnen allen gilt mein großer Dank! Stefanie Hilgarth und Wolfgang Haas. Mit der Crowdfunding-Plattform wemakeit haben wir einen idealen Partner gefunden, die Bank Austria unterstützte das Projekt im Rahmen ihres Kunstpreises. Durch die Finanzierung konnte der Bericht zur Bauforschung in der Virgilkapelle von Marina Kaltenegger und Patrick Schicht zu einer

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Einleitung

Der Stephansplatz war von jeher ein urbaner Knotenpunkt. Seit der Zeit der letzten Babenberger, als die noch aus der Antike stammenden Befestigungsmauern geschliffen wurden, findet sich der Stephansdom – der wichtigste Sakralbau Wiens – im Herzen der Stadt. Als beim Bau der ersten Wiener U-Bahn-Linie die Trasse genau dieses Areal queren sollte, waren sich Bauträger und Denkmalsschützer dieser Tatsache bewusst. So traf man entsprechende Vorkehrungen für die im Boden verborgenen Kulturschichten. Historiker und Archäologen erstellten Gutachten, alte Ansichten und Quellen wurden herangezogen. Dabei stand besonders ein Bau des Mittelalters im Fokus: die Maria-Magdalena-Kapelle. Während der Großteil des unterirdischen Verbindungsnetzes im Tunnelvortrieb entstand, tiefte man die Stationsbereiche im Tagbau ab. Dies hatte besonders am Stephansplatz erhebliche Auswirkungen auf das öffentliche Leben. Davon zeugt die großartige Fotodokumentation der bald einsetzenden archäologischen Ausgrabungen. Sie führt uns nicht nur die immense Baugrube vor Augen, sondern ermöglicht es auch, die Entdeckung eines der spannendsten Gebäude Wiens nachzuvollziehen. Wer hätte gedacht, dass im 20. Jahrhundert noch derartige Überraschungen wie die Virgilkapelle im Boden verborgen sind? Seit ihrer Entdeckung im Jahr 1972 ist sie Objekt wissenschaftlicher Forschungen. Ihre Wiedereröffnung im Jahr 2015 bot die Möglichkeit, diesen eindrucksvollen unterirdischen Raum nochmals bauhistorisch zu untersuchen. Dafür sei den damaligen Entscheidungsträgern im Wien Museum – Wolfgang Kos, Christian 9

Michaela Kronberger

Kircher und Matti Bunzl – gedankt. Marina Kaltenegger und Patrick Schicht haben nicht nur die von Bernhard Hebert und Christoph Blesl (BDA – Abteilung für Archäologie) dankenswerterweise zur Verfügung gestellten Unterlagen und Fotografien in kriminalistischer Kleinarbeit sortiert und bewertet, sondern auch das Bauwerk selbst beforscht. Als glücklicher Umstand erwies sich die Wiederauffindung der im Zuge der Grabungen geborgenen menschlichen Reste im Depot des Naturhistorischen Museums. Die von Michaela Binder durchgeführten anthropologischen Untersuchungen wurden von Karin WiltschkeSchrotta (NHM) und Sabine Ladstätter (ÖAI) unterstützt. Da sich der im Zwischengeschoß über der Virgilkapelle bestattete Personenkreis eingrenzen ließ, war es ein verlockender Versuch, die Gebeine mit historisch belegbaren Persönlichkeiten zu verknüpfen. Dies ist zwar nur ansatzweise geglückt, dennoch war es das Anliegen von Renate Kohn, Reinhard H. Gruber und Susana Zapke, einen lebensnahen Blick auf die Nutzung der Virgilkapelle und die mit ihr verbundenen Personen zu werfen. Unsere Publikation stellt eine wichtige Ergänzung zur kleinen Ausstellung in der Virgilkapelle dar. Hier gilt mein Dank neben den AutorInnen auch dem weiteren wissenschaftlichen Team, besonders: Ingeborg Gaisbauer, Elisabeth Graff, Heike Krause, Gerhard Milchram, Paul Mitchell, Barbara Schedl, Christoph Sonnlechner und Manuel Swatek. Die Erkenntnisse aus dem intensiven wissenschaftlichen Austausch sind in den hier vorliegenden Band eingeflossen, manche Fragen sind allerdings noch offen geblieben. Hier besteht für die Zukunft noch Potenzial für weitere Forschungen.


1 Blick von der Virgilkapelle auf das Kreuzgewölbe und den „Steffl“.

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Zu Bauforschung und Rekonstruktion der Baugeschichte

Marina Kaltenegger, Patrick Schicht

1. Einleitung Im Vorfeld der Wiedereröffnung der Virgilkapelle wurde das Autorenteam beauftragt die heute sichtbare Bausubstanz (die sogenannte Virgilkapelle) nach modernem Standard zu untersuchen, um eine solide wissenschaftliche Basis für die angrenzende Ausstellung zum Wiener Mittelalter zu erarbeiten. Neue Erkenntnisse waren vor allem durch die kürzlich erfolgte Wiederauffindung der Ausgrabungsdokumentation von 1972/ 73 sowie durch moderne Vermessungen zu erwarten. Grundlage der bauhistorischen Untersuchung der Virgilkapelle war eine komplette geodätische Neuvermessung durch die Stadtarchäologie Wien samt GIS-basierter Verortung am Stephansplatz unter Einbeziehung der Stadtkarten der MA41-Stadtvermessung,1 eine Plandokumentation der Virgilkapelle mit Orthofotos durch die Abteilung Hydrologie und Geoinformation des Amtes der NÖ Landesregierung2 sowie eine umfassende Bauaufnahme mit terrestrischem Laserscanner (Riegl VZ400) und eine fotogrammetrische Dokumentation (structure from motion, agisoft fotoscan) durch das Institut für Kulturgeschichte der Antike, Akademie der Wissenschaften.3 Außerdem waren die Fotodokumentationen des Wien Museums aus den Jahren 2010 und 2015 von großem Wert, ebenso die Aufnahmen aus dem Bestand des Fotoarchivs des Bundesdenkmalamtes. Gemäß der Aufgabenstellung wurde vor allem der heute vorhandene Baubestand vor Ort auf Bauphasen, Bauetappen, materialtechnische und handwerkliche Charakteristika hin untersucht und in Form einer Befundsammlung wissenschaftlich dokumentiert. Daraus entstand ein Bericht in Katalogform, in dem die baulichen Details der Virgilkapelle gut verortet identifizierbar sind. Dies wiederum ermöglicht es, die Schlüsse, die zur Interpretation der Baubefunde führten, nachzuvollziehen. Parallel dazu erfolgte eine sachbezogene Auswertung von edierten Quellen, zugänglichen Ausgrabungsberichten und relevanter Sekundärliteratur. In einem zweiten Abschnitt wurden 11

1 An den Vermessungen waren Martin Mosser, Nikos Piperakis, Sandro Fasching, Christian Reisinger und Roman Skomorowski beteiligt. 2 Die Arbeiten wurden von Michael Pregesbauer und Boris Stummer durchgeführt.

3 Hier sei Christian Gugl und Viktor Jansa herzlich gedankt. Die Arbeiten wurden im Zuge einer Kooperation durchgeführt.


Argumente zur Baugenese dargelegt. Die durch die Bauforschung erfassten Hauptbauphasen konnten sodann im Kontext von Bautechnik, Typologie, Kunstgeschichte und Quellen historisch beleuchtet sowie gemäß ihrer Stellung in der überregionalen Architekturgeschichte verortet werden. Dieser Beitrag ist als Überarbeitung des Berichtes zur Bauuntersuchung mit zusätzlichen, ergänzenden Forschungen zu verstehen4. Zu Beginn werden sowohl die Bild- als auch die Textquellen vorgestellt, soweit sie für die Bauforschung von Bedeutung waren. Danach wird auf die Ausgrabungen von 1972/73 eingegangen. Einige der Befundblätter der Bauforschungsdokumentation mit wesentlichen Details aus der Grabungsdokumentation von 1972/73 sind in modifizierter Form Kapitel 2.4.4 nachgestellt, um im Text erwähnte Informationen am Bauwerk zu verorten. Danach, in Kapitel 3, ist jeder Bauphase ein eigener Abschnitt gewidmet. Hier werden jeweils der erhaltene Bestand, die (hypothetische) Rekonstruktion, die Zeitstellung der Bautechnik, die Architektur, und historische Argumente thematisiert. Abgeschlossen werden die Abschnitte mit einer Zusammenführung von Datierung und Funktion.5 Obwohl viel Zeit und Mühe sowohl in die Bauforschung als auch in den vorliegenden Beitrag geflossen sind, muss dennoch betont werden, dass es sich bei dieser Untersuchung der Virgilkapelle (und ihrer Obergeschoße) um kein umfassendes Forschungsprojekt handelte – wie es für dieses herausragende Objekt durchaus angemessen wäre – sondern um eine ausschließlich vom Wien Museum finanzierte und durch Kooperationen unterstützte Studie im Vorfeld einer neuen musealen Gestaltung.6 So konnte hier weder eine erschöpfende kunsthistorische Aufarbeitung der künstlerischen Ausstattung noch eine lückenlose Aufarbeitung der Baugeschichte der einstigen oberirdischen Maria-Magdalena-Kapelle erfolgen. Zudem sind zahlreiche Einschränkungen zu akzeptieren, die das Untersuchungsergebnis beeinflussen: Die oberirdischen Teile der Virgilkapelle sind seit dem 18. Jahrhundert restlos abgetragen, diesbezügliche Aussagen können sich somit ausschließlich auf Quellenauswertungen stützen. Gleich mehrere fassbare Bauphasen wurden bereits im Mittelalter offenbar nie planmäßig fertiggestellt, entsprechende Rekonstruktionsversuche der damals beabsichtigten Planungen müssen somit höchst hypothetisch bleiben. Für die Frühzeit gibt es offenbar keine Quellen bzw. Archivalien, durch die sich Bauzeit, Bauherrn oder Funktion klären ließen. Von Anfang an haben eingreifende Um- und Ausbauten stattgefunden, die den Originalbau zusätzlich verfremdet haben. Im Rahmen des U-Bahn-Baus sind wesentliche

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Zu Bauforschung und Rekonstruktion der Baugeschichte / 1. Einleitung

4 Ein erster Vorbericht der Bauforschung erschien bereits 2015: Kaltenegger/Schicht 2015.

Abb. 2

5 Die in den Befundblättern aufgenommenen Baudetails der Virgilkapelle sind hier weitgehend eingearbeitet.

6 Die Abteilung für Archäologie und das Fotoarchiv des Bundesdenkmalamtes förderten die Arbeiten durch den einfachen Zugang zur Grabungsdokumentation und zu allen fotografischen Aufnahmen. Das zuletzt im Depot in Mauerbach aufbewahrte Fundmaterial wurde in die Sammlungen des Wien Museums aufgenommen.


2 Vier Blätter aus dem Befundkatalog in Teil 2 der bauhistorischen Untersuchung zur Virgilkapelle.

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Teile abgetragen worden, durch Feuchtigkeitsschäden entstanden seither zusätzliche Substanzverluste. Die archäologischen Untersuchungen 1972/73 sind unter großem Zeitdruck durchgeführt worden, somit konnte nicht immer alles erforscht und dokumentiert werden, was heute für die Interpretation wichtig wäre. Es muss aber dennoch wertgeschätzt werden, dass derart umfangreiche archäologische Voruntersuchungen zu einem Zeitpunkt, als Mittelalterarchäologie und Stadtkernforschung hierzulande noch kaum etabliert waren, durchgeführt worden sind.7 Positiv hervorzuheben ist zudem die auch für heutige Standards noch immer vorbildhafte Dokumentation des Ausgräbers Gustav Melzer mit zahlreichen Handzeichnungen. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Grabungsdokumentation ist bis zum heutigen Tage jedoch ausständig. Das heißt, dass die wichtigsten Informationen zwar für diese Arbeit genutzt werden konnten, aber durch eine umfassende Bearbeitung der Unterlagen und vor allem des Fundmaterials noch weitere Erkenntnisse zu erwarten sind. Zwar wurde Letzteres im Rahmen der Ausstellungsgestaltung gesichtet und manches Stück restauriert, jedoch konnten vor allem die zahlreichen Wandmalereifragmente, Bodenfliesen und Spolien aus Zeitgründen nur marginal in diese Arbeit miteinbezogen werden. Alles in allem kann konstatiert werden: es besteht hier noch ein ausreichendes Potential für künftige Forschungen. Danksagung Wir bedanken uns bei Michaela Kronberger, Wien Museum, für vielfältige Hilfestellungen; Bernhard Hebert und Christoph Blesl, BDA Abt. f. Archäologie, für die Erlaubnis zur Einsicht in die Grabungsdokumentation und Anfertigung von Scans der Grabungspläne sowie für die Gewährung der Abbildungsrechte. Gabriele Rhoitner, Fotoarchiv des Bundesdenkmalamtes für die Übermittlung der Fotoscans; Barbara Schedl, Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien, für Mitteilungen aus ihrem laufenden Stephansplatz-Projekt; Martin Mosser, Stadtarchäologie Wien, für die Plangrundlage der VirgilkapellenNeuvermessung und die Einbindung des Grundrisses in historische Pläne; Bernhard Münzenmayer-Stipanits für die Anfertigung der Rekonstruktionszeichnung; Sabine Grupe, Wiener Gewässer Management GmbH für Informationen zur Geologie des Stephansplatzes; Martin Aigner für Vergleichsfotos aus seinem umfangreichen Archiv, sowie bei allen Kollegen, die uns durch Diskussionsbeiträge unterstützt haben.

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Zu Bauforschung und Rekonstruktion der Baugeschichte / 1. Einleitung

7 Erst 1985 wurde die Gesellschaft für Mittelalterarchäologie in Österreich mit einem eigenen Publikationsorgan gegründet, die Stadtarchäologie Wien im Jahre 1988.


2. Zu Geschichte und Archäologie Der U-Bahn-Bau zählte sicher zu den bedeutendsten infrastrukturellen Maßnahmen der Stadt Wien in der Nachkriegszeit.8 Während die Tunnel meist bergmännisch vorangetrieben wurden, stellten die flächigen Baugruben der U-Bahn-Stationen besonders in der Innenstadt eine große Herausforderung für die Planung und den Denkmalschutz dar. Die Vorarbeiten für den Aushub der viergeschoßigen U-BahnStation Stephansplatz Anfang der 1970er Jahre brachten den 1732 aufgelassenen Stephansfreithof und die ehemalige Bebauung des Platzes vor dem Stephansdom wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Waren doch im Laufe von mehr als zwei Jahrhunderten auch einst so prominente Gebäude wie der 1700 abgetragene Heiltumstuhl und die 1781 durch Brand zerstörte und in der Folge abgebrochene Maria-MagdalenaKapelle mit der anschließenden Domkantorei und der verbindenden Häuserzeile fast gänzlich in Vergessenheit geraten. Im Vorfeld der U-Bahn-Planungen ging man nun daran in diesem historisch höchst sensiblen Areal breit aufgestellte Untersuchungen durchzuführen. So wurden geologische Probebohrungen zur Feststellung des Untergrundes vorgenommen, Historiker wie Richard Perger und Walther Brauneis beschäftigten sich mit den Schrift- und Bildquellen zur Topographie des Stephansplatzes9. Von Seiten des Bundesdenkmalamtes erfolgten Recherchen zur möglichst genauen Lokalisierung der abgetragenen Bauwerke. Besonderes Augenmerk legte man auf den Heiltumstuhl und die Maria-Magdalena-Kapelle, die auch mit archäologischen Methoden dokumentiert werden sollten.10 Bereits von Beginn an wurde erwogen, die Fundamente der Kapelle in das U-Bahn-Projekt mit einzubeziehen.11 Daher war die genaue Lagebestimmung besonders wichtig, um möglichst keine Bausubstanz zu zerstören. Im Folgenden werden die wichtigsten Quellen vorgestellt, die für die Voruntersuchung genutzt wurden. Darunter befanden sich auch Dokumentationen, die im Rahmen von Kanalgrabungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erstellt wurden. Diese Ergebnisse bezüglich der Lage der Maria-Magdalena-Kapelle lieferten wichtige Details und erste konkrete Anhaltspunkte für die Planung der Rettungsgrabungen. Für die Bauforschung von 2015 wurden noch zusätzliche Bildund Schriftquellen berücksichtigt und einer entsprechenden Quellenkritik unterzogen. Um den Rahmen dieser Publikation nicht zu sprengen, aber doch einen informativen Überblick zu bieten, finden hier nur jene Beachtung, die für das Verständnis des Baukomplexes maßgeblich sind.

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8 Der Bau des Wiener U-BahnNetzes wurde am 26. Jänner 1968 vom Gemeinderat beschlossen. Der Spatenstich für die den Stephansplatz querende Linie U1 erfolgte am 3. November 1969 am Karlsplatz.

9 Brauneis 1971, S. 161–168; Perger 1973.

10 Moßler 1973, S. 145. Zur Ausgrabung Heiltumstuhl siehe Melzer 1973A, S. 120–122; Mosser 2002, S. 104–107. 11 Melzer 1973B, S. 162.


Im Anschluss wird die archäologische Ausgrabung im Bereich der Maria-Magdalena-Kapelle, die 1972/73 zur Aufdeckung der sogenannten „Virgilkapelle“ führte, anhand der Grabungsdokumentation und -publikation nachvollzogen und zuletzt die Nachwirkung in der Fachliteratur dargelegt. 2.1. Die Maria-Magdalena-Kapelle in historischen Plänen und Ansichten Erstaunlicherweise sind von der Maria-Magdalena-Kapelle nur wenige historische Ansichten aus dem 17. und 18. Jahrhundert vorhanden. Die älteste und bekannteste findet sich auf der 1609 entstandenen Vogelschauansicht von Jakob Hoefnagel, die in drei Exemplaren erhalten geblieben ist. Sie diente auch als Vorlage für zahlreiche Reproduktionen, wie etwa das Braun-Hogenbergsche Städtebuch von 1617 oder die Kupferstiche von Matthäus Merian, die er etwa in der „Topographia Provinciarum Austriacarum“ von 1649 publizierte. In einer kolorierten Variante erschien sie 1662/78 im Atlas Blaeu-Van der Hem. Die auch heute noch äußerst populäre Stadtansicht wurde bis weit ins 18. Jahrhundert hinein rezipiert und transportierte damit ein längst nicht mehr zeitgemäßes Bild der Stadt.12 Diese Ansicht aus Nordnordost – von einem fiktiven, stark überhöhten Standort über der heutigen Leopoldstadt aus gezeichnet – gibt einen „idealen“ Blick auf den Stephansplatz wieder. Mittels eines häufig angewandten Kunstgriffs von Illustratoren wurde die Maria-Magdalena-Kapelle dabei etwas nach Westen „verschoben“, da sie ihrer korrekten Lage nach teilweise von der Stephanskirche abgedeckt gewesen wäre. Dies wird bei einem Vergleich mit zwei Stadtplänen deutlich, die 1547 unabhängig voneinander entstandenen sind: die Grundrissaufnahmen der Stadt Wien von Augustin Hirschvogel13 und seines Mitarbeiters, des Steinmetzen und Baumeisters Bonifaz Wolmuet.14 Während Hirschvogel die verschiedenen Baublöcke eher undifferenziert als Baumasse darstellt, zeichnet sich der Wolmuet-Plan durch größeren Detailreichtum aus und bildet die Gebäude der Innenstadt mit ihren Innenhöfen ab. Bei Kirchen und Kapellen findet sich sogar die Eintragung von Gewölben. Die Maria-Magdalena-Kapelle ist als einjochiger Saalbau mit Apsis ausgewiesen, denn hier ist ihr Untergeschoß, das auch als eingetieftes Erdgeschoß angesehen werden kann, dargestellt. Es ist dies der Bauteil, der in den Quellen oft als „Neuer Karner“ betitelt wird. Das Obergeschoß, die eigentliche Maria-Magdalena-Kapelle, bestand aus dem Chorjoch und zwei Langhausjochen. Im Westen schließen Räume der Domkantorei an, die

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Abb. 3

12 Zu Jakob Hoefnagel und den Originalen der Vogelschauansicht vgl. Fischer 2015, S. 13f.

Abb. 4

Abb. 5

13 Der 1547 entstandene Grundrissplan Hirschvogels gilt als verloren. Zwei Jahre später bildete ihn Hirschvogel farbig auf einer hölzernen Tischplatte ab (Wien Museum, HMW 31.022). Dieser Plan liegt in einer zwei Jahre später entstandenen, gedruckten S/W-Version vor. Opll/Stürzlinger 2013, 60 Nr. 35; Krause 2016, S. 226. 14 Zu beachten ist, dass beide Pläne – und auch die Vogelschau Hoefnagels – nach Süden ausgerichtet sind, wie dies zur damaligen Zeit üblich war.

Zu Bauforschung und Rekonstruktion der Baugeschichte / 2. Zu Geschichte und Archäologie


3 Der Stephansplatz mit Maria-Magdalena-Kapelle und Heiltumstuhl in der Vogelschauansicht von Jakob Hoefnagel von 1609.

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4 Der Stephansplatz im Grundrissplan der Stadt Wien von Augustin Hirschvogel von 1547, gedruckte Version, 1552.

5 Der Stephansplatz im Plan der Stadt Wien von Bonifaz Wolmuet aus dem Jahr 1547, Lithographie von Albert Camesina, 1857/58.


bei Hirschvogel als Einheit mit der Kapelle gezeichnet sind. Interessanterweise differieren die beiden, auf das gleiche Jahr datierten, Pläne noch in weiteren Details beträchtlich. Am Hirschvogel-Plan ist im Süden die abgeschrägte Ecke eines südlichen Anbaus zu erkennen, der auch im Zuge der Ausgrabung freigelegt worden ist. Damals wurde auch ein spätgotischer Anbau an der Nordseite dokumentiert, der als repräsentatives Portal für den Zugang in die Untergeschoße der Kapelle diente und dessen Aussehen durch einen etwas nach 1450 datierten gotischen Planriss überliefert ist.15 Bei beiden Plänen von 1547 wurde der Anbau jedoch nicht berücksichtigt, obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits vorhanden war. Die Vogelschauansicht von Jakob Hoefnagel von 1609 zeigt die Kapelle in ihrer spätgotischen Ausformung. Der Eingang in das Kapellengeschoß erfolgte an der Nordseite durch einen im Westteil gelegenen eingeschoßigen Anbau. Mehrere Stufen führten in das etwas erhöht liegende Erdgeschoß der Kapelle. Darüber ist ein kleiner Aufbau zu erkennen, der zu einem Stiegenhaus gehörte. Östlich davon ist das oben erwähnte Portal des Zugangs zum Untergeschoß der Kapelle zu sehen. Im Gegensatz dazu bietet die 1766 gedruckte Darstellung bei Matthias Fuhrmann16 ein stark vereinfachtes Bild, das den Bau den Proportionen nach gedrückt wirken lässt. Es entsteht der Anschein als wären die beiden Portale auf gleichem Niveau errichtet worden. Auch die oberen Abschlüsse der beiden Bauteile sind auf einer Ebene gezeichnet. Das könnte einen Hinweis auf eine spätere Aufstockung des westlichen Teiles geben, der sich dadurch verstärkt, dass über dem Portal deutlich eine weitere Fensterreihe zu erkennen ist. Die Position des Turmes ist dort, wo sich bei Hoefnagel der Anbau für das Stiegenhaus befindet. Weitere Unterschiede sind im Bereich der Apsis zu erkennen. In der späteren Darstellung bei Fuhrmann sind die Apsisfenster sehr niedrig dargestellt, was auf eine Vermauerung des unteren Teils hinweisen könnte, eventuell nach Aufstellung eines neuen (barocken) Altares. Unter diesen sind allein in dieser Abbildung jene Fensteröffnungen erkennbar, die für Licht im Untergeschoß sorgten.17 In der Ansicht von Hoefnagel von 1609 ist an der Nordseite der Kapelle zur Apsis hin eine hochrechteckige Türe (?) zu sehen, die in der Zeichnung von Fuhrmann eher wie ein Untergeschoßfenster ausgeführt ist. Zusammenfassend erscheint die Darstellung von Fuhrmann weniger vertrauenswürdig als jene von Hoefnagel zu sein. Interessant ist sie jedoch, da sie einen späteren Bauzustand wiedergibt.

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Abb. 219, S. 134

Abb. 6 15 Aufriss- und Grundrisszeichnung der Vorhalle der Maria-MagdalenaKapelle von Baumeister Laurenz Spenning, nach 1450. Verwahrort: Kupferstichkabinett der Akademie der bildenden Künste, Inv.Nr. HZ 16.890r. Böker 2005, S. 199–203.

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Fuhrmann 1766, S. 269. Abb. 7

17 Die Sohlbänke dieser Fenster sind bei den archäologischen Ausgrabungen freigelegt worden. Auf der Ansicht von Hoefnagel sind die Fenster aus perspektivischen Gründen nicht zu sehen.

Zu Bauforschung und Rekonstruktion der Baugeschichte / 2. Zu Geschichte und Archäologie


6 Die Maria-Magdalena-Kapelle von Norden mit dem Glockenturm im Westen. Vogelschauansicht von Jakob Hoefnagel, 1609. A: Glockenturm, B: Chor der Maria-Magdalena-Kapelle, C: Eingang zum ZwischengeschoĂ&#x;, D: Eingang in die Maria-Magdalena-Kapelle,

A

B

C

D E

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E: Eingang in das ZwischengeschoĂ&#x; und den unterirdischen Raum. Ansicht der Maria-Magdalena-Kapelle bei Mat7 thias Fuhrmann, 1766.

8 Ausschnitt aus dem Plan von Wien aus der Bibliothek des Job Hartmann von Enenkel, um 1622/1624. St. Stephan auf dem Vogelschauplan der Stadt 9 Wien von Joseph Daniel Huber, 1769/73.


Ein 1970 im Stift Schlierbach entdeckter und kürzlich edierter Plan von Wien aus dem Jahr 1622 zeigt die Kapelle im Gegensatz zum im Detail ausgeführten Stephansdom nur sehr vereinfacht, aber immerhin weitgehend am richtigen Ort.18 Leider sind außer Fenstern und Turm keine Details eingezeichnet, es sollte wohl nur der Standort einer Kapelle vermerkt werden. Bemerkenswert ist die zur Entstehungszeit noch sehr ungewöhnliche Nordung des Planes, wodurch die Kapelle nicht von St. Stephan verdeckt wird. Die Vogelschau des Joseph Daniel Huber von 1769/73 ist hingegen aus so großer Höhe erstellt, dass die Kapelle zwar hinter St. Stephan sichtbar ist, doch verdecken die Spitze des Nordturmes und die Giebel der Südfassade einen Teil der Wandansicht der Maria-Magdalena-Kapelle.19 Als 1763 Wohnungen für Benefiziaten, also jene Kleriker, die ihren Unterhalt aus dem Ertrag von Kirchenpfründen erhielten, an die Kapelle angebaut werden sollten, beauftragte man Matthias Franziskus Gerl Pläne für dieses – nicht ausgeführte – Projekt zu zeichnen. Diese stellen für den Grundriss des Ostbereichs der Kapelle mit ihren Anbauten eine wichtige Quelle dar, da der vorgefundene Bestand in Schwarz dargestellt wurde, die geplanten Veränderungen in Rot.20 Es ist dies der einzige zeitgenössische Vermessungsplan, der zudem beide Geschosse der Kapelle und auch die Stellung der Altäre zeigt. Für spätere stadthistorische Forschungen war der Stadtplan von Werner Arnold von Steinhausen von unschätzbarem Wert.21 Dieser legte 1710 erstmals eine detaillierte Darstellung der Innenstadt Wiens samt Glacis und den angrenzenden Teilen seiner Vorstädte vor. Die vermessungstechnische Genauigkeit dieses Kartenwerks ist so hoch, dass sie auch heute noch Informationen über nicht mehr vorhandene Bauwerke etwa im Dezimeterbereich liefert. Besonders für stadtarchäologische Forschungen kann dies nicht hoch genug geschätzt werden. Es verwundert daher nicht, dass er auch bevorzugt für die topografischen Forschungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts herangezogen wurde. So fußt auch die am häufigsten rezipierte Grundrissansicht des Stephansplatzes von Albert von Camesina auf dem Steinhausen-Plan. Camesina erstellte 1870 unter Verwendung weiterer Quellen eine Planrekonstruktion, die die bauliche Situation des Areals um die wichtigste Pfarrkirche Wiens um 1522 darstellen sollte.22 Diese wiederum war auch maßgeblich für die Lokalisierung der Kapelle im Vorfeld der archäologischen Grabungen im Zuge des U-Bahn-Baus der frühen 1970er Jahre. Der Plan zeigt die Kapelle innerhalb des Stephansfreithofs, mit den Anbauten der Domkantorei im Westen.

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Abb. 8, S. 19 18 Stiftsbibliothek Schlierbach, Cod. A XXIV/Bd. 2, 24; Oppl/Scheutz 2014, S. 40–145; Krause 2016, S. 248f.

Abb. 9, S. 19 19 Ausschnitt aus Joseph Daniel von Huber, Perspektivdarstellung von Wien und den Vorstädten bis zum Linienwall, Kupferstich, 1769–1773 (1778).

Abb. 12

20 Plan im Wiener Stadt- und Landesarchiv, P1_953.

Abb. 10

21 Dieser Plan erschien nie im Druck, hat sich aber in zwei (von wahrscheinlich drei) Reinzeichnungen erhalten. Meist findet der Plan in seiner kopierten Ausgabe von Gustav Adolph Schimmer aus dem Jahr 1847 Verwendung.

Abb. 11 Siehe dazu auch den Nagel-Plan von 1770/73, Abb. 125, S. 78.

22 Camesina 1870, Planbeilage Taf. 1, Ausschnitt.

Zu Bauforschung und Rekonstruktion der Baugeschichte / 2. Zu Geschichte und Archäologie


10 Die Umgebung von St. Stephan mit dem Stephansfreithof. Links unten ist die Maria-MagdalenaKapelle zu sehen. Ausschnitt aus dem Stadtplan von Werner Arnold von Steinhausen, 1710.

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11 Der Stephansplatz um 1552, Ausschnitt aus der Planbeilage zu Camesina 1870, Tafel 1, konstruiert auf Basis des Steinhausen-Plans (1710) unter Verwendung der Pläne von Wolmuet (1547), Suttinger (1684) und Nagel (1780).

Projekt zur Errichtung einer BeneďŹ ziaten12 wohnung von Matthias Gerl, um 1763.


2.2. Die räumliche Nutzung des Kapellenkomplexes im Spiegel historischer Schriftquellen Die schriftlichen Quellen zur Maria-Magdalena-Kapelle wurden ebenfalls 1870 von Albert von Camesina zusammengestellt und bilden seither die Grundlage für alle historischen Forschungen.23 Mit großer Spannung können jedoch die Ergebnisse von derzeit laufenden Forschungsvorhaben zur Aufarbeitung der Quellengeschichte des Stephansplatzes erwartet werden, bei denen eine Vielfalt von Archivalien neu herangezogen bzw. bereits bekannte Quellen teils grundlegend neu bewertet werden. Für die nähere Zukunft sind somit weitreichende neue Erkenntnisse zur Virgil- und Maria-Magdalena-Kapelle zu erwarten.24 Zur Frühzeit der Virgilkapelle im 13. Jahrhundert scheinen aber auch weiterhin keine zeitgenössischen Quellen zur Verfügung zu stehen.25 Für den vorliegenden Beitrag werden in der Folge daher nur die bisher bekannten bzw. publizierten Archivalien herangezogen. Eine detaillierte Besprechung erfolgt in den entsprechenden Kapiteln zur Rekonstruktion der Baugeschichte. In diesem Kapitel werden lediglich ausgewählte Quellen vorgestellt, soweit sie Aufschluss über die Aufteilung des Baukomplexes der MariaMagdalena-Kapelle mit ihren Untergeschoßen geben. So soll die Nutzung der einzelnen Ebenen nachvollziehbar werden. Als bildliche Unterstützung dient die hier wiedergegebene, für den Ausstellungsraum neben der Virgilkapelle angefertigte Illustrationsmalerei.26 Denn so überschaubar der kleine Sakralbau südwestlich der Stephanskirche auch sein mag, so diffizil erscheint die Deutung der ihn betreffenden Quellen zu sein. Einerseits finden sich in den Quellen zahlreiche unterschiedliche Bezeichnungen, die wohl ein und denselben Bauteil betreffen. Außerdem erschwert die im Laufe der Zeit immer kleinteiligere Nutzung der verschiedenen Ebenen des Baukomplexes zusätzlich deren begriffliche Unterscheidung. Andererseits stellt das bauliche Verständnis – oder eher Unverständnis – des Kapellenkomplexes ein eigenes Problemfeld dar. Da bis zu den Ausgrabungen der 1970er Jahre unbekannt war, dass es nicht ein sondern zwei Untergeschoße unter der Maria-Magdalena-Kapelle gab, wurde versucht, die verschiedenen Angaben zu den Räumlichkeiten auf zwei vermeintliche Ebenen der Kapelle – nämlich den Kapellenraum selbst und ein Untergeschoß – aufzuteilen, was natürlich nicht aufgehen konnte. Mit einem Wort: es fehlte immer ein Stockwerk für die Interpretation. Auch als die neue Situation durch die Ausgrabungen bereits bekannt war, schwingen die althergebrachten Forschungsergebnisse immer weiter mit.

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Camesina 1870, S. 216–243.

24 FWF-Projekte P 28541 und P 24501 zu St. Stephan in Wien, Projektleitung: Barbara Schedl.

25 Mündlicher Hinweis von Barbara Schedl.

Abb. 13 26 Sie wurde von Bernhard Münzenmayer-Stipanits geschaffen. Die Grundlagen entstanden in einem konstruktiven Diskussionsprozess des Illustrators mit den Verfassern und Barbara Schedl im Rahmen der Einrichtung eines Museums des Mittelalters neben der Virgilkapelle.

Zu Bauforschung und Rekonstruktion der Baugeschichte / 2. Zu Geschichte und Archäologie


13 Rekonstruktionszeichnung von Bernhard MĂźnzenmayer-Stipanits. Das Schaubild wurde 2015 fĂźr den Ausstellungsraum neben der Virgilkapelle gefertigt. Der

23

Ăœbersichtlichkeit halber wurden die beiden Bauteile voneinander getrennt. Die kleine Person links blickt in das gleiche Fenster.


Die ersten urkundlichen Belege einer Kapelle am Stephansfreithof stehen in Verbindung mit der Nennung eines „Neuen Karners“.27 Dieser ersetzte den noch 1309 genannten „alten Karner“ nahe dem Keller des Deutschen Ordens, also in der Südost-Ecke des heutigen Stephansplatzes, der dem Neubau des Chores von St. Stephan weichen musste.28 Die Räumlichkeiten dieses „Neuen Karners“ können mit dem Untergeschoß der Maria-Magdalena-Kapelle identifiziert werden. Ab 1486 wurden stattdessen die Gewölbe im Keller des Deutschordenshauses als Karner („Gruft der Totenpain“) genutzt.29 Nach der Auflassung des „Neuen Karners“ im Untergeschoß der Maria-Magdalena-Kapelle ergriff die Gottsleichnamsbruderschaft die Gelegenheit und richtete in diesen nun frei gewordenen Räumlichkeiten ihren Sitz ein, wie eine Messstiftung des Matthäus Heuperger (Mathias Heyperger) von 1504 vermuten lässt.30 Ein Gottsleichnamsaltar wird aber erst 1589 explizit genannt. Die erste Nennung einer Kapelle des hl. Virgilius auf dem Stephansfreithof stammt aus einem Ablassbrief des Erzbischofs Konrad von Salzburg aus dem Jahr 1307. Nach Aussage der Quelle war sie zusätzlich noch den Heiligen Ruprecht und Ulrich sowie den vier Marienfesten geweiht.31 Der wichtigste Hinweis auf die tatsächliche Lage dieser, dem Virgil geweihten, Kapelle findet sich in einer Urkunde von 1340, in welcher Andre, der Sohn des Münzmeisters Wernhard Chrannest (1295–1313 in Quellen genannt) von der Kapelle seines Vaters spricht, die unter dem „Neuen Karner“ auf dem Stephansfreithof liegt: Ich Andre der Channest ze den zeiten Pfarrer ze Ruprechezhofen und Chapplan in meins Vater Chappellen die da leit in sant Stephans Vreythof vnder dem Newn Charner. … zu sant Vergilij altar in der selben Chappellen …32 Verständlich wurde dieser Quellenbeleg erst durch die Ausgrabungen von 1972/73, denn erst jetzt gelang der Nachweis, dass der „Neue Karner“ mit seiner Lage unterhalb des Chores und des ersten Joches der Maria-Magdalena-Kapelle selbst noch ein Untergeschoß (Tiefgeschoß) aufwies. Durch diese Entdeckung der Dreigeschoßigkeit der Anlage konnten die Nachrichten eines „unter dem Karner“ gelegenen Raumes erst richtig interpretiert werden. Eine Nutzung dieses Tiefgeschoßes, das mit der heutigen Virgilkapelle gleichgesetzt werden kann, ist erst im 14. Jahrhundert fassbar (oder bekannt), als die seit 1288 in Wien nachweisbare Familie Chrannest den Raum zu ihrem Familiengedächtnis nutzte. Von der großzügigen Dotierung konnte ein eigener Kaplan für das Abhalten Ewiger Messen bezahlt werden.

24

27

QGStW I/9, Nr. 17259.

Abb. 14, S. 27 28

Perger 1973, S. 154.

Siehe Beitrag Kohn, S. 170.

Siehe Beitrag Gruber, S. 174–177 und Zapke, S. 200. 29 Perger 1973, S. 154. 1486 schlossen der Bürgermeister und Rat der Stadt Wien mit dem Deutschen Orden einen Vertrag, der die Nutzung eines Kellers des Deutschordenshauses als Karner erlaubte. Zur Lokalisierung dieses Raumes siehe Buchinger 2004, S. 25–29. 30 Camesina 1870, S. 233, Nr. 112: … einem gesungen Seelambt, auf dem Neuen Khärner …

31 Camesina 1870, S. 217, Nr. 2: … qui Capellam Sancti Virgilj in Cimiterio Sancti Stephani Wienne Pataviensis Dioec. …

Siehe Beitrag Zapke, S. 198f.

32

Zu Bauforschung und Rekonstruktion der Baugeschichte / 2. Zu Geschichte und Archäologie

Camesina 1870, S. 217, Nr. 4.


Aufgrund der Wahl der beiden Patrone Rupert und Virgil, die besonders in Salzburg verehrt wurden, entstand die Vermutung, die Familie Chrannest sei von dort nach Wien zugewandert.33 In den Messstiftungen der Familie Chrannest finden sich ab 1331 sehr unterschiedliche Angaben bezüglich der Heiligen, für deren Altar sie bestimmt waren. Es waren dies einerseits Virgil (1340, 1433), ab 1435 aber vorwiegend Helena. Im 15. und 16. Jahrhundert beziehen sich die Messstiftungen großteils auf einen Helena-, aber auch auf einen Erasmusaltar. Es existieren vielfältige Kombinationen, auch mit der Benennung der „Gruft“ oder Kapelle.34 Als Beispiel sei hier nur auf zwei Urkunden verwiesen: Die erste entstand 1416 und bezieht sich auf die einzige Messstiftung, die nicht von den Chrannest stammt, sondern vom Wiener Ratsbürger Konrad Rock, der sie 1384 einrichtete: Erhart Ottwein, Kaplan und Verweser der von dem verstorbenen Wiener Bürger Chuenrat dem Rok in sand Erasm cappelln in der gruft, gelegen auf sant Stephans freithof under dem Neuncharner, auf sand Erasms altar gestifteten Messe …35 Die zweite Urkunde stammt von 1435 und nennt einen Altar der Heiligen Helena: … dem Priester hern Micheln dem Harrasser, Kaplan der von den Krannest auf sand Helenen altar, gelegen in der Gruft under dem Neunkorner auf sand Steffans freithof zu Wienn, …36 Richard Perger vermutete wohl zu Recht, dass in der Gruft nur ein einziger Altar aufgestellt war, der den Heiligen Virgil, Helena und Erasmus gemeinsam geweiht war.37 Bei den Ausgrabungen konnte kein Altar archäologisch dokumentiert werden. Dies bedeutet allerdings nicht, dass es hier keinen Altar oder Altäre gegeben hätte, sondern nur, dass sich davon keine Spuren, wie etwa Fundamentreste, erhalten haben. Die Zuordnung der Altarnennungen zu den beiden Untergeschoßen – nachdem Gruft oft auch als Synonym für Karner verwendet wurde – ist sicher eine Herausforderung für die Quelleninterpretation. So verwundert es nicht, dass es in der Fachliteratur immer wieder zu Verwechslungen der verschiedenen Nutzungsebenen kam.38 Die Maria-Magdalena-Kapelle selbst – die Oberkapelle – lag erhöht über dem Stephansplatz, da ihr Untergeschoß – der „Neue Karner“ – etwa 1,5 m über das Gehniveau des Platzes hinausragte. Sie konnte, wie schon erwähnt, über einige Treppenstufen durch einen eigenen Eingang an der Nordseite betreten werden. Bereits ab dem frühen 14. Jahrhundert wird der Kapellenraum als Sitz der Wiener Schreiberzeche genannt. Eine Messstiftung der Bruderschaft wurde schon 1304 durch einen Ablass des Passauer Bischofs gefördert.39 Diese sehr angesehene Vereinigung der Notare und Schreiber ließ die

25

33

Perger 1973, S. 155.

34 Belege bei Perger 1973, S. 154– 156.

35

QGStW II/2, S. 26, Nr. 2037.

36

QGStW II/2, S. 132f. Nr. 2530.

37

Perger 1973, S. 156.

38 Auch Perger 1973 schreibt mehrmals von der Gruft, wenn eigentlich das Geschoß des Karners gemeint ist. Dies ist besonders verwirrend, weil ja zuerst von der Gruft der Chrannest im (zweiten) Untergeschoß gesprochen wird.

39

Camesina 1870, S. 217, Nr. 1.


Kapelle ab dieser Zeit wohl großzügig ausbauen, worauf besonders die Häufung der Ablässe zwischen 1306 und 1308 schließen lässt. Die Nennung eines Altares der Maria Magdalena – Patronin der Schreiber – erfolgte jedoch erst 1380.40

Siehe Beitrag Kohn, S. 167f. 40

Camesina 1870, S. 219, Nr. 11.

41

Kronberger 2004, S. 86–92.

2.3. Die Wiederentdeckung der Baureste im 19. und 20. Jahrhundert Am Ende des 19. Jahrhunderts glich die Wiener Innenstadt einer riesigen Baugrube. Allerorts wurde den neuen Errungenschaften der Technik Rechnung getragen. Die zahlreichen Neubauten wurden mit Gas- und Stromleitungen versorgt, der Bau der beiden Hochquellwasserleitungen ermöglichte die Einleitung von Frischwasser. Gleichzeitig stellte dies mit den Beginn archäologischer Forschungen dar. Wurden bedeutende Reste der Vergangenheit der Stadt gefunden, hat man diese dokumentiert und die Information damit der Nachwelt überliefert.41 So schnitt man im August 1884 beim Verlegen neuer Wasserleitungsrohre an der Südseite des Stephansplatzes fast unmittelbar unter dem Straßenpflaster Mauerreste der MariaMagdalena-Kapelle an. Die Beobachtungen vor Ort wurden 1884 von Eduard Hütter publiziert. Sie konzentrierten sich auf den Bereich des südöstlichen Apsisfensters, das von einem 1 m breiten und 1,5 m tiefen Röhren-Canal durchbrochen war, bei dessen Anlage seinerzeit auch Teile des Strebepfeilers beseitigt worden waren. Er beschreibt das Mauerwerk als aus rohen, unbehauenen Steinen, mit schlechtem Mörtel gebunden. An der glatten Putzfläche der 20 cm breiten Blende des Kirchenfensters hatten sich sogar noch Spuren von gelber und brauner Wandmalerei, allerdings nur einige vertikale Linien, erhalten. Aus dem Mauerschutt selbst konnten kleine Bruchstücke glasierter Dachziegel älterer Fabrication geborgen werden. Aufgrund der Tiefenlage des Fensters wurde angenommen, dass der Fußboden der Maria-Magdalena-Kapelle bedeutend tiefer als das jetzige Niveau des Stephansplatzes gelegen haben muss.42 Es war also noch nicht erkannt worden, dass ein Untergeschoß der Maria-Magdalena-Kapelle freigelegt worden war. Der in den Grundriss der Kapelle (aus dem Camesina-Plan) eingetragene Verlauf des Leitungsgrabens entspricht dem ziegelgemauerten (barocken) Kanal, der auch bei der Ausgrabung 1972/73 aufgedeckt worden ist.

Abb. 15

42

Etwa 20 Jahre später wurden wieder Bauarbeiten am Stephansplatz durchgeführt. Diesmal wurde eine Regulierung des Verkehrs mit einer Umgestaltung des Straßenprofils in

26

Zu Bauforschung und Rekonstruktion der Baugeschichte / 2. Zu Geschichte und Archäologie

Hütter 1884, S. CCXVI.

Abb. 16


14 Der Stephansplatz im 13. Jahrhundert mit Einzeichnung des „alten Karners“.

27

15 Der Leitungsgraben des Jahres 1884 durch die Maria-Magdalena-Kapelle.

16 Aufnahme der Ausgrabung 1972/73. Im Vordergrund ist der Ziegelkanal (und die Wasserleitung ?) zu sehen.


Angriff genommen.43 Zusätzlich legte man neue Straßenentwässerungsschächte an sowie Gas- und Wasserleitungsrohrstränge um. Im Frühjahr 1907 wurden so erneut Mauerreste der alten Magdalenenkirche aufgedeckt. Nach Meldung der Auffindung eines steinernen Pfeilers ließ der von der Direktion des Stadtbauamtes mit der Beaufsichtigung der Bauarbeiten betraute Ing. Fritz Willfort den frühgotischen Pfeiler aus der „Gruft unter der Magdalenenkapelle“ vollständig freilegen. Aus dem Bericht Willforts44 erfahren wir folgendes: Der Pfeiler hatte, vom Boden der Gruft gemessen, eine Höhe von 1.80 m und war bis 1.00 m Höhe rot bemalt, während der obere durch einen schwarzen Strich vom roten getrennte Teil ockerfarben getüncht war. Somit wird klar, dass bereits Willfort diesen Bauteil nach Freilegung des nach Westen gerichteten Kämpfers als den (nördlichen) Triumphbogenpfeiler der Unterkirche erkannte. Er erwirkte sodann die Erlaubnis zur Fortsetzung der Ausgrabungsarbeiten, soweit dies ohne Verzögerung oder Behinderung der Regulierungsarbeiten am Stephansplatze möglich war. Sein Bestreben war, den Grundriß des Chores und die halbe Apsis bis über die Axe der Gruft hinaus freizulegen, so daß auch die Lage der ehemaligen Magdalenenkapelle in Bezug auf die Stefanskirche festgelegt werden konnte. Willfort lokalisierte die Fensteröffnungen im Chorabschluss und rekonstruierte anhand der Dienste der massiven Gewölberippen die Art des Sternengewölbes. Westlich des Pfeilers nahm er die aus dem Friedhof herabführende Treppe in die Gruft an. Der mit Ziegeln belegte Boden der Krypta lag im Chorjoch 30 cm höher als der Fußboden des Langhauses. Dies führte zu seiner Annahme, dass zwei Stufen vom Langhaus ins Chorjoch geführt haben müssten. Bei der Grabung wurden anscheinend nur spärliche Funde gemacht. Sie bestanden im Wesentlichen aus Teilen von gotischem Maßwerk und einigen kleinen Scherben verbrannter Glasmalerei, die wohl von Fenstern der Oberkirche der Maria-MagdalenaKapelle stammten. Von großem Wert ist die Dokumentation, die Willfort seinem Bericht45 beigefügt hat. So finden sich dort eine Fotografie des nördlichen Triumphbogenpfeilers46 und zwei Planbeilagen, auf denen die wichtigsten Informationen zusammengestellt sind. In seiner ersten Planskizze zeigt er zuerst den Grundriss der ergrabenen Nordhälfte des Chorbereiches mit der Rekonstruktion des Gewölbes. Des Weiteren fertigte er einen schematischen Schnitt durch den Stephansfreithof an. Dieser beginnt links mit der Südmauer der Stephanskirche und gibt ein etwas ansteigendes Terrain im Friedhofsbereich an, das bis zu den Mauern der Maria-Magdalena-Kapelle führt. Deren zwei Geschoße sind

28

Abb. 17 und 18

43 Die Gemeinde Wien ließ nämlich im genannten Jahr das alte auf dem Stefansplatz befindliche Granitpflaster, welches wiederholt zu sehr berechtigten Klagen Anlaß gegeben hatte, durch geräuschverminderndes Holzstöckelpflaster ersetzen und die gesamten Trottoire um den Stefansdom sowie am Stefansplatz asphaltieren, was auf dem ganzen Platze eine umfassende Niveauregulierung bedingte. Willfort 1910B. 44 Willfort verfasste einen ausführlichen maschinschriftlichen Bericht mit Foto und Plandokumentation (Willfort 1910B) und veröffentlichte eine Zusammenfassung der Ergebnisse in den Mitteilungen der K. K. Zentralkommission (Willfort 1910A).

Abb. 17 45 Willfort 1910B. 46 Fotografie abgedruckt auch bei Brauneis 1971, Abb. 4 ohne weitere Angaben.

Zu Bauforschung und Rekonstruktion der Baugeschichte / 2. Zu Geschichte und Archäologie

Abb. 21


17 Der nördliche Triumphbogenpfeiler nach Freilegung durch Fritz Willfort, 1910. Der nördliche Triumphbogenpfeiler mit Ansatz 18 des rekonstruierten Sternengewölbes.

29

19 Die Position der Maria-Magdalena-Kapelle am Camesina-Plan mit Richtigstellung der Achse (Pfeil). Richtigstellung der Lage der Maria-Magdalena20 Kapelle, färbig die ausgegrabenen Teile.

21 Schematischer Schnitt durch den Stephansfreithof nach Willfort.


als Oberkirche und Gruft bezeichnet. Auf seiner zweiten Planbeilage versucht er eine Präzisierung der Position der Kapelle. Als Grundlage stand ihm der im Jahr 1870 entstandene Plan von Camesina zur Verfügung. Durch seine Grabungen und Neuvermessungen konnte er aber hier neue Ergebnisse einarbeiten. So gelang auch die Richtigstellung des Verlaufs der Achse. Die unterschiedlichen Achsen sind nochmals im Detail auf einem Plan der ausgegrabenen Bereiche wiedergegeben. Komplettiert wird die Visualisierung seiner Ergebnisse durch eine Umzeichnung des Stephansplatzes am Hirschvogelplan von 1547 und die Umzeichnungen der Kapellenansichten bei Hoefnagel von 1609 und Fuhrmann von 1766. Wie aus den Ausführungen und dem schematischen Schnitt durch den Stephansfreithof deutlich wird, hatte Willfort erkannt, dass er einen Raum unterhalb der Maria-Magdalena-Kapelle freigelegt hatte. Er sah die beiden Geschoße als Einheit an, eben die Oberkirche der Maria-Magdalena-Kapelle und deren Untergeschoß, das er als Gruft oder Krypta bezeichnete. Da er jedoch den Grundrissplänen der Kapelle wie bei Camesina nur die Bezeichnung S. Maria Magdalena beifügte, ohne zu präzisieren, dass es sich um das aus Chor und einem Gewölbejoch bestehende Untergeschoß handelte, kam es in der Folge zu Fehlinterpretationen. Das zweite Joch der Oberkapelle, das auf den Abbildungen von Hoefnagel und Fuhrmann deutlich sichtbar ist, von dem es aber keinen historischen Grundrissplan gab, blieb unberücksichtigt.47 Das Tiefgeschoß (zweites Untergeschoß) unter dem bereits von Willfort 1907 entdeckten ersten Untergeschoß der MariaMagdalena-Kapelle ist bereits 1939 durch Zufall entdeckt worden. Es wurde aber ohne weitere Untersuchung bald wieder zugeschüttet und geriet kurz darauf in Vergessenheit. In einem Zeitungsartikel vom 5. März 1939 im Welt-Blatt wird über eine Neuaufgefundene Katakombe unter dem Stephansplatz berichtet, als bei Grabungsarbeiten nach einem Wasserrohrbruch die Oberfläche des Stephansplatzes einstürzte und den Einstieg in ein gemauertes Gewölbe in etwa vier Meter Tiefe freigab.48 Um einer neuerlichen Straßensenkung oder einem Einsturz vorzubeugen, wurde diese Gruft unverzüglich wieder zugeschüttet. Ein Foto zeigt zwei Arbeiter vor der Nordostnische mit dem Radkreuz im Hintergrund. Drei Tage später erfolgte eine weitere Meldung, dass es sich bei dem aufgefundenen Gewölbe um die Reste der ersten oder zweiten Anlage der Magdalenenkirche handelte.

30

Abb. 19, S. 29

Abb. 20, S. 29

Abb. 6 und 7, S. 19

47 Dem Anschein nach ist nie ein Gesamtplan der Oberkapelle gezeichnet worden, auch Gerl zeigt 1763 nur die Osthälfte.

Abb. 22

48 Neuigkeits-Welt-Blatt vom 5. März 1939, S. 7, und vom 8. März 1939, S. 5. Wir danken Annemarie Fenzl, Diözesanarchiv Wien, für die Übermittlung der Zeitungsausschnitte.

Zu Bauforschung und Rekonstruktion der Baugeschichte / 2. Zu Geschichte und Archäologie


22 Neuigkeits-Welt-Blatt vom 5. März 1939, S. 7, Ausschnitt.

31

23 Funde aus der 1939 eingebrachten VerfĂźllung der Maria-Magdalena-Kapelle.


Die auch später von Perger49 ohne weitere Hinweise übermittelte Information dürfte zum Zeitpunkt der archäologischen Grabung 1972/73 tatsächlich nicht mehr im Bewusstsein gewesen sein, da die Auffindung des Gewölbes und in weiterer Folge des zweiten Untergeschosses – also der Virgilkapelle mit den Wandmalereien – damals durchaus überraschend war. Bestätigt wird die Zuschüttung aus den späten 1930er Jahren durch archäologische Funde aus der obersten, ca. 150 cm starken Füllschichte unterhalb des Ziegelgewölbes. Der Ausgräber Gustav Melzer berichtet im Grabungstagebuch am 3.4.1973 von einem Heraklith-Stück und Teilen elektrischer Anlagen in dieser Verfüllung. Glühbirnen und Sicherungen ließen sich auf Nachfrage bei der Fa. Osram relativ genau datieren: Die Glühbirne wurde 1920–1930 erzeugt mit einer zweijährigen Lebensdauer. Die Sicherung wurde von 1920 bis Ende des Krieges (1945) hergestellt.50 Diese Objekte konnten im Depot des Bundesdenkmalamtes in Mauerbach wieder aufgefunden werden, einige davon sind im Museum neben der Virgilkapelle ausgestellt.

49

Perger 1977, S. 69.

50 Grabungstagebuch Melzer S. 51 zum 25.4.1973. Abb. 23, S. 31

2.4. Die archäologische Ausgrabung 1972/73 Die geplanten Aushubarbeiten für die viergeschoßige U-BahnStation Stephansplatz, die in offener Bauweise bis 27 m unter Straßenniveau errichtet werden sollte, machte eine archäologische Untersuchung im Bereich der ehemaligen Maria-Magdalena-Kapelle zwischen dem Haus Stephansplatz Nr. 2 und dem Stephansdom notwendig.51 Die Ausgrabung wurde durch das Bundesdenkmalamt durchgeführt, Grabungsleiter war Gustav Melzer. Ziel war die Klärung der Baugeschichte der Kapelle, in weiterer Folge sollte die Möglichkeit geprüft werden, die Fundamente der Kapelle in das U-Bahn-Projekt einzubeziehen. Die Grabung wurde laut Grabungstagebuch am 2.11.1972 begonnen und am 27.7.1973 beendet. Insgesamt wurde in den etwa neun Monaten an 172 Werktagen gearbeitet, im Durchschnitt waren acht Arbeiter beschäftigt. Errechnet nach den Aufzeichnungen im Grabungstagebuch waren das somit (mit Grabungsleiter) 1575 Arbeitstage auf alle Mitarbeiter gerechnet, darin sind allerdings auch die von 19.1. bis 23.3.1973 parallel laufenden Grabungsarbeiten beim Heiltumstuhl52 mit enthalten.

51

Melzer 1973B, S. 162.

52 Melzer 1973A. Zuletzt zur dieser Ausgrabung: Mosser 2002, S. 102– 108.

2.4.1. Archäologische Arbeiten im Spiegel der Grabungsdokumentation Durch die seit kurzem wieder zugänglichen Unterlagen lässt sich der Verlauf der Ausgrabung anhand von Fotos, zeichnerischer

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Zu Bauforschung und Rekonstruktion der Baugeschichte / 2.4. Die archäologische Ausgrabung 1972/73


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