BLÜHEN Erinnern Sie sich an Holunderblüten – an diese fein ziselierte weisse Dolde, gebildet aus unzähligen kleinsten Sternchen? Wie sie sich leicht schalenförmig dem Himmel entgegenstreckt, einem Bilde gleich für Hingabe und Empfängnis bereitschaft. Oder erscheint in Ihrer Vorstellung beim Stichwort Blühen eine leicht geöffnete samtblättrige Rose, in dunklen geheimnisvollen Rottönen gehalten? Welche Blüten, welche Blumen auch immer uns nahe stehen, sie können uns faszinieren in ihrer grenzenlosen Vielfalt an Formen, Farben und Düften. So entzückt uns der Frühling mit seinem Blühen auf eine eigene Art, in einer Leichtigkeit und Schwerelosigkeit, a nders als der Herbst mit der Fülle und Schwere seiner Früchte. Seit alters her wird die Blüte als Sinnbild für das Wesentliche gesehen, die Blume als krönender Abschluss verstanden. Es wird gesagt, dass im Evolutionsplan die Blüte die eigentliche Essenz und die höchste Konzentration an Lebenskraft in den Pflanzen darstellt. So wird nicht die Frucht, sondern die Blüte gebraucht in verschiedenen alten Traditionen des Heilens (z. B. mit Blütenessenzen). Wir Menschen sind verwandter mit den Blumen und Pflanzen überhaupt, als es oberflächlich gesehen den Anschein hat. Etwa 30 Prozent der Gene der Pflanzen kommen in ähnlicher Form auch beim Menschen vor. Ein Pflanzenbiologe des 19. Jahrhunderts vertrat sogar die These, dass Menschen Abkömmlinge der Pflanzen seien. Sollte der germanische Mythos von der Erschaffung der Menschen aus zwei Bäumen – der Mann aus der Esche, die Frau aus der Erle – auf einem wahren Kern beruhen? Wie auch immer, es scheint eine innere Verwandtschaft mit Pflanzen und Blumen auf, sodass wir unsere Seelenzustände auf sie übertragen. In Gedichten und heiligen Büchern, in Gemälden, auf Münzen und in Gärten, in Märchen und Träumen begegnen sie uns. Sie drücken unsere Gefühle und geheimen Regungen aus, sie bieten uns Sinn, Halt und Orientierung. 8