3 minute read

Blühen

Next Article
Intuition

Intuition

Erinnern Sie sich an Holunderblüten – an diese fein ziselierte weisse Dolde, gebildet aus unzähligen kleinsten Sternchen? Wie sie sich leicht schalenförmig dem Himmel entgegenstreckt, einem Bilde gleich für Hingabe und Empfängnisbereitschaft. Oder erscheint in Ihrer Vorstellung beim Stichwort Blühen eine leicht geöffnete samtblättrige Rose, in dunklen geheimnisvollen Rottönen gehalten? Welche Blüten, welche Blumen auch immer uns nahe stehen, sie können uns faszinieren in ihrer grenzenlosen Vielfalt an Formen, Farben und Düften. So entzückt uns der Frühling mit seinem Blühen auf eine eigene Art, in einer Leichtigkeit und Schwerelosigkeit, anders als der Herbst mit der Fülle und Schwere seiner Früchte. Seit alters her wird die Blüte als Sinnbild für das Wesentliche gesehen, die Blume als krönender Abschluss verstanden. Es wird gesagt, dass im Evolutionsplan die Blüte die eigentliche Essenz und die höchste Konzentration an Lebenskraft in den Pflanzen darstellt. So wird nicht die Frucht, sondern die Blüte gebraucht in verschiedenen alten Traditionen des Heilens (z. B. mit Blütenessenzen).

Wir Menschen sind verwandter mit den Blumen und Pflanzen überhaupt, als es oberflächlich gesehen den Anschein hat. Etwa 30 Prozent der Gene der Pflanzen kommen in ähnlicher Form auch beim Menschen vor. Ein Pflanzenbiologe des 19. Jahrhunderts vertrat sogar die These, dass Menschen Abkömmlinge der Pflanzen seien. Sollte der germanische Mythos von der Erschaffung der Menschen aus zwei Bäumen – der Mann aus der Esche, die Frau aus der Erle – auf einem wahren Kern beruhen? Wie auch immer, es scheint eine innere Verwandtschaft mit Pflanzen und Blumen auf, sodass wir unsere Seelenzustände auf sie übertragen. In Gedichten und heiligen Büchern, in Gemälden, auf Münzen und in Gärten, in Märchen und Träumen begegnen sie uns. Sie drücken unsere Gefühle und geheimen Regungen aus, sie bieten uns Sinn, Halt und Orientierung.

Blühen – auch wir Menschen besitzen die Fähigkeit zum Blühen, zum Verwirklichen des Wesentlichen. Wir sind eingeladen zu entdecken, welche Blume in uns angelegt und gerufen ist, in diesem Leben aufzublühen. Damit meine ich die ganz spezifischen, persönlichen Fähigkeiten und Begabungen, alles, was uns als Individuum ausmacht, was wir mitbringen auf diese Welt und was wir in unserem Leben erfahren und gelernt haben. Alle sind wir einzigartig, niemand anderes auf der Welt kann genauso diese Blume zum Blühen bringen. Wir sind eingeladen, dies zum Wohle von allen Wesen zu tun, diesen unseren Beitrag für die Welt zu leben. Tun wir es nicht, fehlt etwas im grossen Ganzen. Denn alle die persönlichen Begabungen stehen in einem Zusammenhang mit allem, was existiert. Leben wir bewusst und präsent, können Synergien entstehen, die sich von selbst ergeben.

In der Geistesgeschichte gibt es die Vorstellung, dass Gott die geheimnisvolle Blume ist, die im gläubigen Menschen erblüht. Da kann sich die Frage stellen, was nötig ist, damit diese Blume sich in uns entfalten kann. Sodass wir im Eins-Sein mit dem göttlichen Geheimnis und mit allem, was ist, leben. Was braucht dieser Lichtsamen in uns, damit er sein Potenzial entfalten kann? Ebenso wie die unterschiedlichen Pflanzensamen unterschiedliche Bedingungen brauchen zum Blühen, so sind wir Menschen unterschiedlich in unseren Veranlagungen. Die Gespräche in diesem Büchlein mit so verschiedenen Menschen und ihre Erfahrungen mit anderen Bewusstseinszuständen zeigen, was hilfreich sein kann. Wir können voneinander lernen und uns gegenseitig inspirieren beim Blühen und unsere Seele entfalten lassen. In der Wüste gibt es Samen, welche jahrelang im Sand ruhen. Fällt dann einmal Regen, erblühen sie und es entsteht ein Garten voller Pflanzen. Das zeigt, dass wir mit allem guten Willen und Engagement, mit unserer spirituellen Praxis und mit geistlichen Übungen den Eintritt in andere Bewusstseinsdimensionen nicht einfach machen können. Es sind dazu auch die entsprechenden Be-

Einfach Sein und Wachsen – Bewegung

dingungen nötig, und diese können wir nicht selber erschaffen. Darum ist es immer auch Geschenk, Gnade. Und zugleich – paradoxerweise – ist es das Natürlichste der Welt, weil es unsere Heimat ist. Angelus Silesius drückt das zutreffend aus: «Die Ros’ ist ohne Warum, sie blühet weil sie blühet. Sie acht’ nicht ihrer selbst, fragt nicht, ob man sie siehet.» In dieser Lebensweise verlieren Schwierigkeiten und Schmerzen an Gewicht, erhalten eine andere Bedeutung. Reshad Feild drückt es so aus: «Wenn du in den Garten hinausgehst und auf einen Dorn trittst, dann vergiss nie, dankzusagen. Der Dorn mag wehtun, aber er ist dir auf dieselbe Weise gegeben, wie dir das Attar (die Essenz) der Rosen gegeben wird.» Und weiter: «Die Essenz der Rose wird nur frei, wenn der Rosenbusch wieder und wieder beschnitten worden ist und die Knospe sich zur Blüte geöffnet hat. Du musst wissen, dass den unmessbaren Augenblick, in dem die Knospe die Rose wird, nur jene kennen, die Rosen werden.»1

Der Same wächst heran in der Dunkelheit und in der Stille.

This article is from: