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eIN Neuer Weg ZuM aNfaNg Zur WelterZIehertaguNg IN dorNaCh
voN urSula dotZler
Vom 15. - 19. April 2019 fand in Dornach die Welterziehertagung statt – als erste der großen Waldorf-100-Tagungen, die in Bangkok, Nairobi, Buenos Aires, Stuttgart und Dornach noch folgen werden. Waldorf feiert weltweit – so auch die Kindergärten, die genau genommen die 100-jährige Gründung des ersten Waldorfkindergartens 1926 erst in sieben Jahren zu feiern haben.
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400.000 Kinder kommen täglich auf die Welt, wie sie bis jetzt geworden ist, und mit jedem Kind kommt ein Stück reine Zukunft mit. PädagogInnen stehen so vermittelnd im Spannungsfeld von menschheitlich Gewordenem und individuell Zukünftigem. Menschlichkeit, Herzensbildung und ein gewissenhafter Umgang mit den Kindeskräften sollen Kindern helfen, ihre mitgebrachten Impulse sozial kompetent zu verwirklichen. Was brauchen wir, um ihnen hierbei Vorbild zu sein, der Verantwortung gerecht zu werden und Einrichtungen in allen Teilen der Welt führen und verwalten zu können?
Innere freiheit – soziale verantwortung: Wege finden in eine menschliche Zukunft dialogfähigkeit als soziale grundlage
Das Thema – vorbereitet von der Pädagogischen Sektion am Goetheanum und der IASWECE (International Association for Steiner/Waldorf Early Childhood Education) – hat offenbar weltweit gestellte aktuelle Fragen auf den Punkt gebracht: Die Tagung war bereits Mitte November ausgebucht, und letztendlich kamen 1.100 TeilnehmerInnen aus 59 Ländern, viele hätten noch kommen wollen. Wie geht es heute den vielen Menschen, die in ALLEN Teilen der Welt auf unterschiedlichen Wegen die Menschenkunde Rudolf Steiners aufgegriffen haben und in rund 2.000 Kindergärten darin immer neue Inspiration für die tägliche Erziehungspraxis finden?
Wie arbeiten wir an der Organisation sozialer Zusammenhänge, die nicht auf Hierarchie, sondern auf Motivation des Einzelnen und auf gegenseitigem Interesse und Wertschätzung beruht – an einer Organisation, die dem Einzelnen Freiraum für die eigene Entwicklung und die Möglichkeit bietet, mit dem Blick auf das Ganze selbstverantwortlich daran mitzuwirken?
Die in Dialogform gestalteten Vorträge gaben Beispiele des Zusammenwirkens im Sozialen: Jeweils eine Frau und ein Mann – eine Kindergartenpädagogin bzw. eine Ärztin und ein anderer Experte (Lehrer, Sozialwissenschaftler, Therapeut) – bewegten gemeinsam das Thema Beziehung und soziale Kunst rund um die Pädagogik in der frühen Kindheit: Stephanie Allon (Waldorfpädagogin, Israel) und Claus-Peter Röh (Pädagogische Sektion), Clara Aerts (IASWECE) und Christof Wiechert (Internationale Konferenz), Gerald Häfner (Sozialwissenschaftliche Sektion) und Sabine Häfner (Waldorfpädagogin), Silvia Jensen (IASWECE, Brasilien) und Florian Oswald (Pädagogische Sektion), Lakshmi Prasanna (Anthroposophische Ärztin, Indien) und Michael Kokinos (Physiotherapeut, Australien). Sie alle kamen in ihren Aussagen zu einer Reihe von Schwerpunkten. Im Folgenden sei dazu ein Überblick gegeben: Jeder Mensch ist auf Beziehungen angewiesen, und wo Menschen zusammenkommen, muss im Kreis gedacht werden. Jede Erneuerung führt auch wieder an den Anfang zurück (Stephanie Allon) Wir erkennen das Gefühl des anderen Menschen, wenn wir in unserer Haltung musikalisch, d. h. immer in Bewegung bleiben (Claus-Peter Röh).
Um das Soziale zur Kunst erheben zu können, muss die Kunst der eigenen Lebensführung und Lebenshaltung in Selbsterziehung und -reflexion erübt werden (Christof Wiechert). Die daraus wachsende Fähigkeit, ungeteilt präsent zu sein, ermöglicht die besondere Stimmung der Zeitlosigkeit und Geschlossenheit, die Kinder in den ersten Jahren brauchen (Clara Aerts).
Die Erziehung setzt fort, was in der geistigen Welt begonnen wurde; das Kindergartenalter ist eine Zeit der Samen- und Wurzelpflege, nicht der Blüte (Silvia Jensen) . Der Bogen der Erziehung ist dann bis zur Oberstufe gespannt, wo erst alles bis dahin Gelernte noch einmal umgebaut wird, um dann in die Fähigkeit zum eigenen Tun zu münden (Florian Oswald).
Ein Kindergarten „gehört“ niemandem; alle Beteiligten sind mitgestaltend in der Selbstverwaltung einbezogen (Gerald Häfner). Der Atem mit der Außenwelt und der stetige Wechsel der Perspektiven – auch auf anderen Erfahrungsfeldern – machen das soziale Gefüge erst zur Kunst. Jeder begleitet den anderen in seinem Werden (Sabine Häfner).
Wer sind wir in diesem Leben, und was haben wir miteinander zu tun? Wir werden wach für das Urbild des anderen und die Begegnung mit seinem inneren Wesen. Dazu müssen wir vom Lernen zum „Verlernen“ und Umdenken übergehen (Lakshmi Prasanna). Sensible Kinder mit ihren besonderen Veranlagungen bis hin zu Autismus fordern uns unumgänglich heraus, mit allen unseren Sinnen Wege der Kommunikation mit ihnen zu finden, ihre Gestimmtheit zu erfühlen und sie in ihrem Wesen zu erkennen. Den Schlüssel zueinander zu finden, wird letztendlich zur Aufgabe in JEDER Beziehung (Michael Kokinos).
Im Spiel verbindet sich die lebensintention des kindes mit seinem irdischen Wesen kind sein und Mensch sein haben einen ursächlichen Zusammenhang den anderen Menschen zur erscheinung bringen Wir schaffen kein gemeinsames Werk – die soziale Kunst versteht sich als gemeinsames, bewegliches Werken und Gestalten: als SPIEL (von althochdeutsch spil für „Tanzbewegung“) in seiner musikalischen Qualität. Sind die Kinder dabei füreinander Spielgefährten, werden wir als Erwachsene füreinander zum Mittler – um dasjenige zur Erscheinung zu bringen, was der andere selbst nicht zur Erscheinung bringen kann. Um der eigenen Persönlichkeit auf die Spur zu kommen, braucht man die Begegnung von ICH zu ICH. Wir gestalten diese Begegnung bereits in der Art, wie wir übereinander sprechen und denken. (Gerald Häfner).
Es wurde deutlich, dass soziale Kunst im Sinne des freien Spiels immer in Bewegung ist und diese Bewegung in ihrer Wandelbarkeit eine musikalische Qualität hat. Vertrauen, dass etwas neu werden kann, wenn man etwas zurücklässt, ist dabei unerlässlich. (Claus-Peter Röh).
Die Kindergartenzeit fließt noch „zeitlos“, das freie Spiel ist absichtslos, abenteuerlich, kreativ, nichts muss sein. Sich spielend am Leben erziehen – nicht durch Einwirkung von außen – legt Grund für innerseelisches Miteinander, die Fähigkeit, die Perspektive zu wechseln, für freie Initiative und soziale Kompetenz. Jede Erwartung, äußeren Erwartungen zu entsprechen, lähmt diese Entwicklung.
Kleinkindpädagogik und soziale Zukunft weben ineinander. Der Mensch als Werdender wird auf neuen Wegen Kind im Sinne der Offenheit im Hier und Jetzt.
Zunehmende staatliche Vorgaben wirken einschränkend auf die Grundlagen des Kindseins. Spielprogramme, enge Hygienevorschriften, Ansprüche aus gesteigertem Bedürfnis an Absicherung unter dem Blickpunkt der künftigen „Employability“ im wirtschaftlichen Kontext erfordern, dass das „Nichtlernen“ im Vorschulalter zunehmend häufig und nachdrücklich gerechtfertigt werden muss.
Wie lernen Kinder jedoch, sich als soziales Wesen zu empfinden, wenn diese Art der „Optimierung“ immer im Vordergrund steht?
Waldorfkindergärten schaffen einen selbstlosen pädagogischen Raum für Kinder; sie pflegen eine Kultur der Würde, die erlangt wird, wenn man aus eigenen Impulsen lernen darf.
Nach 100 Jahren: er wachen für die Innenseite des lebens
Die Stimmung der Tagung hatte etwas vom Zauber der Kindheit. Freude am Spiel hatte überall Platz: In den Vorträgen, den 35 Gesprächsgruppen und über 70 Arbeitsgruppen wurden die Aufgaben der Zeit und die Möglichkeiten in den eigenen Lebensgegebenheiten bewegt, ausgetauscht und in Beziehung gebracht. Wege der Verständigung durch das zunehmend vielfältige Sprachengemisch wurden gefunden und führten zusätzlich zur Empfindung: Die Begegnung entwickelt sich anders als erwartet, braucht mehr Zeit, aber es fühlt sich neu und frisch an! Das konkrete Erlebnis, Teil eines weltweiten Zusammenhangs zu sein, wirkte stärkend und impulsgebend.
Ein derart offenes aufeinander Zugehen und Wahrnehmen und Arbeiten auf allen Wegen und über den ganzen Tag – solche sozialen Gesten können Kinder nachahmen; sie können sich ihnen in ihrer inneren und äußeren Bewegung anschließen.
Ist nach 100 Jahren Waldorfpädagogik etwas erwacht? Wege zum aneinander Erwachen und Wachsen und zum Finden in die Gemeinschaft führen nach innen – und sie entstehen im Gehen!
So wird das Weltenziel erreicht, Wenn jeder in sich selber ruht, Und jeder jedem gibt, Was keiner fordern will.
rudolf
Steiner
Zur weiteren Information siehe: https://www.iaswece.org
Anlässlich 100 Jahre Waldorferziehung wurde auf Initiative der IASWECE der Film BECOMING über die frühe Kindheit im Spiegel verschiedener Kulturen produziert. S. d.
Die IASWECE initiiert und betreut weltweit Projekte zur Entwicklung und Förderung der Waldorferziehung – jede Spende zur Unterstützung ist willkommen! S. d.