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brauCht: reIfe PädagogISChe raNdNotIZ
Zur referatSWoChe der 12. klaSSe
voN MoNtag, 6. bIS freItag, 10. MaI 2019
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dezentrale reifeprüfung. der Mount kailash in tibet gilt sowohl für hindus als auch für buddhisten und die bön-religion als heiliger berg und wird von ihnen als Zentrum der Welt angesehen. als Werner her zog für seine dokumentation „rad der Zeit“ über die buddhistische kalachakra-Initiation den dalai l ama interviewte, fragte er ihn, ob er den kailash auch für das Zentrum der Welt halte. Nach kurzem Nachdenken antwortete dieser: “ the center of the world is, where you are and where I am.” Damit bewies der Dalai Lama ein hohes Maß an Zeitgenossenschaft. Denn heute, in einer Zeit hoch entwickelter Individualität ist das Zentrum in jeder und jedem einzelnen von uns. Nicht eine übergeordnete Autorität entscheidet über Gut und Böse, über den Wert unserer Gedanken und Handlungen – es ist vielmehr unsere moralische Intuition, unser ethischer Individualismus gefordert.
Die Intention einer Erziehung zur Freiheit ist es, Menschen bei der Entwicklung einer Individualität zu fördern, die in der Lage ist, sich gestaltend in die Welt zu stellen. Nicht die angepasste Person, die unhinterfragt gesellschaftliche Bedingungen hinnimmt, ist das Ziel, sondern Menschen, die in der Lage sind, ihre starke Individualität aus eben diesem ethischen Individualismus heraus zum Wohle des Gan- zen einzubringen.
In diesem Sinne ist der Abschluss einer zwölfjährigen Waldorflaufbahn als individuelle, dezentrale Reifeprüfung zu sehen.
Daneben steht das, wohin sich die allgemeine, gesellschaftlich und staatlich anerkannte Bildungspraxis immer deutlicher bewegt: eine überprüfbare, vergleichbare Allgemeinbildung, die zwangsläufig zu standardisierten Fragestellungen, zu einer Zentralmatura führen muss.
Unsere WaldorfschülerInnen, die sich zum Großteil auch dieser Überprüfung stellen und die Matura machen werden, sind – wie die Erfahrung zeigt – auch in der Lage, diese Ansprüche zu erfüllen – darüber hinaus haben sie aber auch eine Erziehung genossen, die sie im besten Fall in ihren ganz individuellen Fähigkeiten gefördert hat und damit zu aktiv Gestaltenden macht.

In dieser Woche wird die 12. Klasse die Ergebnisse ihrer Jahresarbeiten präsentieren – ein Fest der Individualität, und das seit fast 100 Jahren!
Eine Randnotiz von Alfred Kohlhofer, Kunstlehrer und Tutor der 12. Klasse an der Rudolf Steiner-Schule Wien-Mauer