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Die „päDAgogiSchE provinz“: ein or t „DrEifAchEr Ehrfurcht“…
tobias richter & Leonhard Weiss
1949 gab der Rudolf Steiner-Schulverein Wien zur Wiederkehr des zweihundertsten Geburtstags Goethes einen Nachdruck aus dessen Wilhelm Meisters Wanderjahre (2. Buch) heraus: Die pädagogische Provinz. Es war das zweite Heft einer „Baustein Schriftenreihe“. Elf Jahre zuvor hatten die Nazis die Schließung der Wiener Rudolf Steiner-Schule verfügt, und vier Jahre nach Kriegsende sollte doch eine Neueröffnung vorbereitet werden. Die Herausgeber hatten mit Bedacht gewählt. Geht es doch in diesem Kapitel u. a. um eine Frage, die für Goethe – wie auch für Rudolf Steiner bei der Konzeption seiner Pädagogik – von eminenter Bedeutung war:
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„Wohlgeborene gesunde Kinder bringen viel mit; die Natur hat jedem alles gegeben, was er für Zeit und Dauer nötig hätte; dieses zu entwickeln ist unsere Pflicht. Öfters entwickelt sich’s besser von selbst. Aber eines bringt niemand mit auf die Welt, und doch ist es das, worauf alles ankommt, damit der Mensch nach allen Seiten zu ein Mensch sei. 1)
Was das sei, weiß der Protagonist nicht zu sagen. Schließlich rufen ihm die Umstehenden die Antwort zu: Die Ehrfurcht sei es, die allen fehle!
Darauf lässt Goethe den Pädagogen schildern, welche Schritte die Kinder bei der Erziehung zur Ehrfurcht zu vollziehen haben: Zuerst lernen sie die Ehrfurcht gegenüber dem Höheren kennen. Das ist das, was man wohl allgemein mit „Ehrfurcht“ verbindet und was die Grimms in ihrem Wörterbuch als Scheu gegenüber etwas zu Ehrendem beschreiben: „Die Vorstellung der Scheu wohnte ehmals schon dem einfachen êra bei, als sie schwand, wurde sie durch den Zutritt von Furcht hergestellt.“ 2) Ehrfurcht vor dem Schöpfer und Erhalter der Welt – auch vor den Eltern und sogar vor den Lehrern, meint Goethe…
Haben die Kinder sich im Empfinden und Praktizieren dieser Ehrfurcht bemüht, gilt es, die Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist, zu erüben. Ungleich schwieriger, da es um all das geht, was die Erde an Freuden, aber auch an Schmerzen und Leiden bereithält. Hier wird deutlich, dass damit nur ein Anfang gemacht werden kann und die Übung darin ein Leben lang anhalten wird. Dann schließlich erwartet die jungen Menschen als große Herausforderung, Ehrfurcht gegenüber dem, was uns gleich ist, zu entwickeln.
Heute ist vieles uns gleich geworden – Grenzen, Ränge, Verhaltensformen, Hierarchien (um Gottes willen!) gelten nichts oder immer weniger: Barrierefreiheit – und wahrlich nicht nur für Rollstuhlfahrende – wird überall eingefordert. Auf diesem Feld der allgemeinen und niederschwelligen Zugänglichkeit Ehrfurcht zu üben, ist schwer. Wir erleben es täglich – und schreiben dann ganze Hefte über Achtsamkeit, Wertschätzung und Ehrfurcht. Goethe hat einen methodischen Vorschlag gemacht, wie diese drei Ehrfurchten – aus deren Zusammentreffen übrigens „die oberste Ehrfurcht entspringt, die Ehrfurcht vor sich selbst“ 3) – gebildet werden können. Das Curriculum der Waldorfschulen versucht, diesen Vorschlag aufzugreifen und Raum zu geben für das, was Goethe „dreifache Ehrfurcht“ nennt –und was wir heute vielleicht eher als Formen der „Achtsamkeit“ bezeichnen würden: Achtsamkeit gegenüber Geistigem, Spirituellem (u.a. durch Heiligenlegenden, Jahresfeste, Weihnachtsspiel,…) , gegenüber der Natur (Ackerbauepoche, Gartenbau, Landwirtschaftspraktikum,…) und gegenüber anderen Menschen (Klassengemeinschaft, Theaterspiele, Orchester und Chor, Schulfeiern, Sozialpraktikum,…).
Getragen ist dieser Versuch von der Überzeugung, dass „die Gefühle, die der Lehrer hat, die allerwichtigsten Erziehungsmittel“ sind“ 4). Es ist die innere Haltung, mit der wir als Erwachsene – ob PädagogInnen oder Eltern – Kindern und Jugendlichen begegnen, welche in ganz besonderer Weise „erzieht“. Steiner hat daher das Bildungskonzept der Waldorfpädagogik u.a. unter drei Maximen gestellt: „Das Kind in Ehrfurcht aufnehmen. In Liebe erziehen. In Freiheit entlassen.“ 5)
Obwohl nur in der ersten Maxime explizit von „Ehrfurcht“ die Rede ist, verweisen doch alle drei auf Haltungen der Achtsamkeit: gegenüber dem, was das Kind als seinen individuellen biographischen Impuls ins Leben mitbringt, gegenüber dem, was es im Moment des geteilten pädagogischen Prozesses zeigt und gegenüber dem, was der Heranwachsende als Potential seiner zukünftigen Entwicklung besitzt. Was bei Goethe räumlich beschrieben ist, wird damit zeitlich gefasst. Dimensionen einer pädagogischen Haltung der Ehrfurcht bzw. einer Haltung pädagogischer Ehrfurcht.
1 J. W. Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, 2. Buch, Bd 8, S. 154 Hamburger Ausgabe, DTV 1998
2 Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, 16 Bde. Leipzig 1854-1961. Online-Version vom 18.09.2018.
3 J. W. Goethe: a.a.O. S. 157.
4 R. Steiner: Meditativ erarbeitete Menschenkunde.
Dornach: Rudolf Steiner Verlag, 1994, S. 28.
5 R. Steiner: Notizbuch, Archiv-Nr. NB 242.