del fin
RALF BRUGGMANN
orte Verlag
«Das Meer ist keine Landschaft, es ist das Erlebnis der Ewigkeit.»
Thomas Mann
Inhaltsverzeichnis
Prolog / Wellen 9
Die Würfel sind gefallen 10
Wie früher, aber anders 15
Zeitverschwendung 18
Der Toaster ist kaputt 24
Delfin 28
Sie müsste 35
Eidechsen 42
Er fällt in Zeitlupe 49
Sand 56
Weisse Hemden 59
Kauende Männer 63
Spaghetti 66
Ihre Hand auf Noahs Kopf 71
Gemüseeintopf mit Erbsen 76
Höhenangst 92
Die Beständigkeit der Dinge 100
Nur 107
Unkraut 115
Beerdigung 119
Der Ast im Wohnzimmer 125
Monster 130
Sollen und müssen 137
Orenji Ōgon 141
El Principio 150
Perspektiven 159
Eine Spaziergängerin 161
Einfache Fragen 167
Das Gästezimmer 175
Albtraum 187
Abwesende 194
Tom und Jerry 199
Der Hubschrauber 207
Ein potenzieller Vater 216
Tauchen 219
Ausser Kontrolle 223
Angehörige 227
Besucherin 231
Am Telefon 235
Auflösung 238
Bröckeln 244
The Goldheart Mountaintop Queen Directory 252
Als wäre die Zeit zu einem Ende gekommen 257
Epilog / Del Fin 261
Prolog / Wellen
Weit draussen auf dem Meer streicht der Wind über das Wasser. Luftwirbel eilen über die Oberfläche, bringen Wasserteilchen in Bewegung. Kleine Hügel und Furchen entstehen, eine fluide Landschaft, stetig wandernd. Der Wind schiebt die Hügel vor sich her, lässt sie zu Bergen heranwachsen, die sich über Täler erheben und sich beharrlich vorwärtsbewegen. Im Innern der Berge rotieren die Wassermoleküle, pflanzen sich fort. Wellenkämme bauen sich auf, nur um von der Schwerkraft wieder hinabgezogen zu werden. Unter dem stummen Himmel rollen die Wellenberge durch Raum und Zeit, ungehindert, nähern sich dem Land. Wie der Meeresboden ansteigt, bremst er die Wasserteilchen auf ihren Kreisbahnen, stösst die Moleküle immer höher hinauf. Die Oberfläche des Wassers kann der Spannung nicht mehr standhalten. Die Wellen brechen und stürzen tosend und schäumend in den Sand.
Beinahe zärtlich hüllt das Wasser den langgezogenen Körper am Strand ein und lässt ihn wieder los, zieht sich zurück und nähert sich erneut. Die glatte Haut glitzert in der Sonne, während sie vom Wasser gestreichelt wird. Weit oben fliegt eine Möwe vorüber. Ihr Schatten gleitet lautlos über den Sand wie eine farblose Kopie, streift den Körper und wandert weiter. Im Sand bilden sich kleine Löcher, Luftblasen platzen auf.
Als das Meer sich beruhigt und die Wellen nur noch zaghaft das Ufer erreichen, bleibt der Körper schliesslich vom Wasser unberührt. Still und elegant und schön liegt er da, im schwindenden Licht, einem Denkmal gleich. Eine Irritation in der Szenerie, eine Anomalie am Ende eines normalen Tages.
Die Würfel sind gefallen
Der Würfel rollt über das Spielbrett. Kurz vor der Kante bleibt er liegen, direkt neben dem Bild eines Mannes mit einem grossen Kopf, der in einem kleinen Feuerwehrwagen sitzt.
«Eine Sechs!», ruft Noah, seine Stimme wie immer viel zu tief für einen Achtjährigen. «Eine Sechs!», wiederholt er, für den Fall, dass Nina ihn beim ersten Mal nicht gehört hat.
«Toll, ganz toll, Noah.» Nina lächelt ihren Sohn an. Sie ist in den unwahrscheinlichsten Momenten stolz auf ihn.
Er zählt bei jedem Feld mit. «Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Sechs. Ha!»
Der gewinnende Ausdruck passt nicht richtig in sein Gesicht, es scheint, als müsse Noah seine Muskeln erst noch dressieren, damit sie seinen Befehlen gehorchen. Nina beobachtet ihn fasziniert und hebt dann die Hand, um sie an seine Wange zu legen. Doch Noah dreht sich weg.
«Du bist dran, Mama.»
Sie formt die Hand zu einem Hohlkörper und lässt den Würfel darin tanzen. Dann wirft sie ihn auf das Spielbrett.
«Eine Zwei.»
«Haha, dann musst du fünf Felder zurück!»
«Warum denn?»
«Sieh doch, Mama.» Noah lässt sein Gesicht professorenhafte Züge annehmen. «Wenn du zwei Felder nach vorn gehst, kommst du auf dieses Feld hier, und von dort musst du fünf Felder zurück.»
«Das ist blöd.»
«So sind die Regeln, Mama.»
«Dann sind die Regeln eben blöd.»
«Die Regeln sind nicht blöd. Es braucht Regeln. Ohne Regeln ist alles durcheinander.»
Sie mag den Ernst, die Förmlichkeit in seiner Stimme, die Art und Weise, wie sich seine Lippen zusammenziehen, wenn er er
klärt. Mag sein, dass er weniger Kind sein kann als andere Kinder. Doch das macht ihn nicht weniger wundervoll.
Nina bewegt ihre Spielfigur zwei Felder nach vorn und fünf zurück. Noah lacht glucksend. Dann atmet er ein, bis seine Brust sich hebt.
Einige Züge später liegt Nina plötzlich vor Noah, und ihr Abstand wächst mit jedem rollenden Würfel weiter an. Sie beobachtet, wie seine Augen sich verfinstern und kleiner werden. Er sieht sich um, als würde er darauf hoffen, dass jemand kommt und ihn rettet. Stumm beisst er auf seine Unterlippe. Sie weiss, woran er knabbert.
Als Kind war Nina äusserst ehrgeizig, wollte stets gewinnen und vor allem das Verlieren verhindern. Einmal belegte sie in einem Mehrkampf in der Schule den zweiten Platz und verpasste den Sieg nur knapp, doch sie konnte sich nicht damit abfinden, also schrieb sie ihrem Sportlehrer einen Brief und forderte darin die Wiederholung des Wettbewerbs. Freilich kam es zu keiner Wiederholung. Stattdessen wollte der Sportlehrer mit ihren Eltern reden. Zudem erfuhren die anderen Kinder in ihrer Klasse von dem Brief und liessen in der Folge keine Gelegenheit aus, um Nina ihren übertriebenen Eifer vorzuhalten. Sie erinnert sich nicht, was ihre Eltern ihr in diesem Moment rieten. Und ob sie überhaupt mit ihr darüber redeten.
Während Noah unvermindert an seiner Lippe nagt, fragt sie ihn, ob er etwas trinken wolle. Er nickt stumm, und Nina sagt, er solle sich selbst ein Glas Wasser aus der Küche holen. Widerwillig steht er auf und schleicht aus dem Wohnzimmer, den Kopf gesenkt. Nina lässt den Würfel fallen, stöhnt dann auf und zischt ein Fluchwort, laut genug, damit er sie hört.
«Was ist los, Mama?», will Noah wissen, als er zurückkommt.
«Ach, ich musste etwa zwanzig Felder zurück.»
«Zwanzig Felder?» Seine Augen werden gross.
«Vielleicht auch mehr. Jedenfalls bin ich jetzt hier.» Sie zeigt auf ihre Spielfigur, und Noah prüft ihre Position, schaut dann
auf das Feld, auf dem seine Figur steht, und lässt schliesslich wieder sein glucksendes Lachen ertönen.
«Du bist wieder hinter mir, Mama!»
«Ich weiss, Noah. Ich weiss.» Sie versucht, möglichst viel Ernüchterung in ihre Stimme zu mischen. Noah würfelt und grinst, und bei jedem Würfeln grinst er breiter, und sie schaut ihm zu, wie er wieder aufblüht.
Als er das Ziel erreicht, reisst er seine Arme in die Höhe und jubelt. Genau so hätte sie jubeln wollen, damals beim Mehrkampf in der Schule. Aber sie bezweifelt, dass ihr Jubel so wahrhaftig und echt geklungen hätte wie jener von Noah. Jetzt ballt er seine Hand zu einer Faust. Er sieht aus wie ein Sportler, stark, männlich. Sie fragt sich, woher sie stammt, diese Faust. Ihr selbst ist sie fremd.
Sie hat Noah nicht zum ersten Mal gewinnen lassen. Sie tut es oft, so oft wie möglich, und jedes Mal befürchtet sie, dass er es bemerkt. Zwar möchte sie ihrem Sohn nichts vorspielen, möchte ihn nicht belügen oder mit gefälschten Gefühlen konfrontieren. Gleichzeitig ist sie überzeugt, dass diese kleinen Triumphe wichtig sind, dass sie Reservoire in seinem Innern aufzufüllen vermögen. Die Triumphe machen ihn stärker, festigen sein Selbstvertrauen, also können sie nicht schlecht sein, selbst wenn sie die Folge einer Inszenierung sind.
Nachdem er ein weiteres Spiel gewonnen hat, mag Noah nicht mehr und liest lieber in seinem Buch. Nina stellt sich ans Fenster und blickt hinaus, richtet den Fokus auf das kleine Stück Wasser, das zwischen den Häuserwänden sichtbar ist. Sie erinnert sich an keinen Moment, in dem sie das Meer nicht geliebt hat. Das Kühle und Frische des Wassers, die Wucht der Wellen, der salzige Geschmack, der Dunst über dem Strand, das Rauschen an ansonsten stillen Abenden, die unzähligen Fische, die toten und lebendigen Krebse, die kreischenden Möwen – in allen Dingen des Meeres wohnt eine Schönheit, die sie nirgendwo sonst zu erkennen vermag. Nun soll ausgerechnet diese Schön
heit sich zur übermächtigen Gefahr gewandelt haben, zu einer Bedrohung, der sich nicht beikommen lässt.
Als Esther, eine flüchtige und mittlerweile geflüchtete Bekannte, einst meinte, es sei verantwortungslos, ein Kind in der unteren Stadt aufwachsen zu lassen, widersprach Nina energisch. Esther argumentierte, dass es angesichts der andauernden Ausschreitungen und der drohenden Katastrophe nur logisch sei, mit seinem Kind an einen sichereren Ort zu ziehen, einen Ort mit Zukunft. Nina hielt dagegen und nannte die untere Stadt ein Zuhause, das einzige Zuhause, das Noah und sie kannten. Sie hält unvermindert an dieser Einstellung fest. Aber wenn sie an die Wut der Menschen und den Zorn der Natur denkt, wird sie nervös. Dass sie das, was kommt, kaum mehr einzuschätzen vermag, bringt sie ins Taumeln.
Nina hat die Warnungen nie infrage gestellt. Während viele dem Anstieg des Meeresspiegels und den prognostizierten Entwicklungen mit einem Achselzucken begegneten und weder die kommunalen noch die staatlichen Behörden der Situation die gebotene Brisanz zubilligen wollten, war ihr klar, wie ernst die Lage sich darstellte. Das Szenario, dass die untere Stadt aufgrund des steigenden Wasserpegels in naher Zukunft unbewohnbar werden würde, erfüllte sie mit einer zähflüssigen Angst, in die sich immer dickere Schlieren von Ohnmacht mischten. Trotzdem brachte sie diese Angst nie direkt mit ihr und Noah in Verbindung, schuf eine Wand zwischen der Bedrohung und ihrem Leben.
Als die Demonstrationen anfingen, teilte sie die Überzeugung der Aufständischen, erkannte ihre Argumente als Tatsache an. Dennoch nahm sie nicht an den Kundgebungen teil, vor allem wegen Noah. Sie wollte die wenige Zeit, die neben der Arbeit im Restaurant und den Notwendigkeiten ihres Alltags übrigblieb, mit ihm verbringen. Doch sie wäre auch in den Jahren vor Noahs Geburt nicht mitmarschiert. Vielleicht war Angst der Grund. Vielleicht Trägheit.
Heute zweifelt Nina manchmal an den Motiven der Protestierenden, die sich noch immer regelmässig versammeln und durch die Strassen der unteren Stadt ziehen. Viele von ihnen sind nicht mehr nur von Unzufriedenheit und Aktivismus angetrieben, sondern auch von einer unverblümten Lust am Krawall. An die Stelle von Meinungen und Mahnungen tritt immer häufiger unverhohlene Wut, die sich gewaltsam entlädt. Die Aufmerksamkeit, die sie zu Beginn auf die bedrohlichen Auswirkungen des Klimawandels lenken wollten, richtet sich nun vornehmlich auf sie und ihre Aktionen. Jene, die sich mit Mut und Entschiedenheit gegen ein Problem zur Wehr setzen wollten, sind selbst zum Problem geworden.