GAST ARBEIT ER
VIĆA MITROVIĆ
Übersetzt aus dem Serbischen und bearbeitet von Cyrill Stieger
Dieses Buch wurde unterstützt vom Staatssekretariat für Migration (SEM) und der Gewerkschaft Unia.
Bei Teilen des vorliegenden Textes handelt es sich um Übersetzungen aus dem folgenden Buch: Vića Mitrović: Gastarbajter. Između sna pre odlaska i snoviđenja o povratku… (Gastarbeiter. Zwischen dem Traum vor der Abreise und der Vision über die Rückkehr …) Drugo izdanje (Zweite Auflage). Beograd, Albatros Plus 2023.
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ISBN 978-3-03895-071-4 www.formatost.ch
7 Einleitung
13 Der Zauber der Heimat
17 Hoffen auf ein besseres Leben
21 Harte Arbeit auf der Baustelle und in Fabriken
33 Die neue Welt der Gewerkschaft
45 Ein ewiger Kandidat wird Parlamentsabgeordneter
55 Vermittler zwischen zwei Welten
63 Überbringer schlechter Botschaften
69 Orientierungslos und gespalten
77 Zunehmende Entfremdung
81 Schwieriges Zusammenleben
85 Identität im Plural
97 Ethnisch getrennte Folklorevereine
103 Krönung der politischen Laufbahn
109 Trost für die Seele
Einleitung
Im Frühjahr 1986 habe ich im Alter von 25 Jahren mein Heimatland Serbien verlassen. Ich fuhr in die Schweiz, war einige Jahre lang Hilfsarbeiter, später Gewerkschafter, trat in die Sozialdemokratische Partei ein, rückte 2010 ins Parlament der Stadt St. Gallen nach und wurde für das Jahr 2024 zu dessen Präsidenten gewählt. Das war der krönende Abschluss meiner politischen Laufbahn.
Geboren und aufgewachsen bin ich 1961 im Dorf Ranovac in der Gemeinde Petrovac na Mlavi, einer abgelegenen, landwirtschaftlich geprägten, hügeligen Gegend in Ostserbien unweit der Grenze zu Rumänien. Sie nennt sich Homolje. In meiner Heimat sieht die Landschaft ungefähr so aus wie im Appenzellerland. Doch hier leben Vlachen, eine ethnische Minderheit, der auch ich angehöre. Sie sind die Nachfahren von Balkanromanen, die im Zuge der slawischen Landnahme im 6. und 7. Jahrhundert nicht slawisiert wurden. In Serbien umfasst diese Minorität laut den Ergebnissen der letzten Volkszählung von 2022 noch 21 000 Personen. Das sind über 14 000 weniger als beim Zensus von 2011. Vlachen, die auch Aromunen genannt werden, leben aber nicht nur im Osten Serbiens, sondern auch verstreut in vielen anderen Ländern des Balkans, ja sogar weiter westlich in einigen abgelegenen Dörfern und Weilern im kroatischen Teil Istriens. Die Vlachen sind also balkanromanischer und nicht slawischer Her-
kunft. Sie sprechen denn auch, anders als die serbische oder kroatische Bevölkerung, keine slawische Sprache, sondern Vlachisch, ein romanisches Idiom, ähnlich dem Rumänischen. Die in Ostserbien lebenden Vlachen und Vlachinnen sind serbisch-orthodox, pflegen aber zugleich archaische Rituale aus vorchristlicher Zeit, die für viele, auch für mich, noch heute identitätsstiftend sind. Beides hat mich beeinflusst und geprägt, die vlachische Mystik und das orthodoxe Christentum. Das ist kein Widerspruch. Doch ich fühle mich nicht nur als Vlache, sondern auch als Serbe sowie, und das mag überraschen, als «Jugo», als Jugoslawe also, obschon es den von Josip Broz Tito geschaffenen jugoslawischen Vielvölkerstaat nicht mehr gibt; er zerfiel zu Beginn der Neunzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts in blutigen Kriegen. Für mich ist «Jugo» kein abwertender Begriff; ich bin vielmehr stolz auf diese Bezeichnung. Seit meiner Einbürgerung 1998 bin ich zudem Schweizer. Ich habe also vier verschiedene ethno-nationale Identitäten, die mir alle viel bedeuten. In diesem Buch schreibe ich, ein Gastarbeiter der ersten Generation, über meine Herkunft, den Entschluss, mein Heimatdorf zu verlassen, über die harten Jobs als Hilfsarbeiter auf einer Baustelle und in Ostschweizer Fabriken, über meine Tätigkeit in der Gewerkschaft, mein politisches Engagement im Parlament der Stadt St. Gallen und meine einjährige Amtszeit als Präsident der städtischen Legislative. Wie für viele andere Gastarbeiter waren auch für mich
die ersten Jahre in der Fremde schwierig. Ich sprach kein Deutsch, musste körperlich anstrengende Arbeit verrichten, fühlte mich oft orientierungslos, verloren, einsam. Ich hatte in Belgrad mein Studium der politischen Wissenschaften mit hervorragenden Noten abgeschlossen und musste nun ganz unten beginnen. Doch ich spürte, dass ich zu mehr fähig war, und wollte weiterkommen. Ich besuchte Sprachkurse, auch wenn ich von meiner Arbeit in der Fabrik erschöpft war. Mir war von Anfang an klar, dass möglichst gute Sprachkenntnisse die Voraussetzung dafür sind, eine bessere Arbeitsstelle zu finden und mich in die neue Umgebung zu integrieren. Ich war geduldig und habe an mir gearbeitet. Nur so war es möglich, dorthin zu gelangen, wo ich mich heute befinde. Allen Menschen, die mich auf diesem Weg unterstützt haben, bin ich dankbar.
In der Schweiz waren wir, die jugoslawischen Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen der ersten Generation, die vor allem in den Siebziger- und Achtzigerjahren hierher kamen, billige Arbeitskräfte. Viele betrachteten uns als Fremde aus dem Balkan, die anders waren, sich nicht anpassen und integrieren wollten, die sich weigerten, die hiesigen Verhaltensweisen und Regeln zu respektieren. Wir fühlten uns nicht willkommen, galten als laut, gewalttätig, intolerant, unangepasst. Man nannte uns offiziell «Gastarbeiter». Doch wir waren keine Gäste, wie das Wort nahelegt, sondern Arbeitskräfte, die hart und lange schuften mussten, ohne Stuhl am Gästetisch. Wie der Begriff entstanden
ist, weiss ich nicht. Vielleicht ging es nur darum, mit diesem Neologismus die Realität zu beschönigen. Jedes Mal, wenn ich das Wort «Gastarbeiter» aussprach, hinterliess es in meinem Mund einen bitteren Geschmack.
Für uns Gastarbeiter aus Jugoslawien war alles neu. Entsprechend gross waren die Herausforderungen, die Belastungen und das Misstrauen. Auch für die Einheimischen war der Umgang mit uns nicht einfach. Wir verstanden einander nicht, waren uns gegenseitig fremd. Zwei Welten prallten aufeinander, zwei Mentalitäten und Wertvorstellungen, die sich kaum vereinbaren liessen. In Serbien wurden wir «Arbeiter für eine befristete Zeit» (radnici na privremenom radu) genannt, wir waren «vorübergehend Abwesende». Wir lebten im Ausland, waren aber mit dem Herzen und den Gedanken oft in unserer Heimat. Wir waren Fremde hier, überfordert und verwirrt von all dem Neuen und Ungewohnten, das auf uns einprasselte, und wurden mit den Jahren auch Fremde dort, wo wir herkamen. Viele von uns wollten schon nach einigen Jahren in ihre Heimat zurückkehren, schoben den Entscheid aber immer wieder hinaus. Was als Provisorium gedacht war, wurde zum Dauerzustand. Anfänglich träumte auch ich von der Rückkehr in meine Heimat. Doch ich blieb und lebe nun schon fast vierzig Jahre in der Ostschweiz. In der Stadt St. Gallen, in der ich seit 2003 wohne, fühle ich mich zu Hause. Die Schweiz ist neben Serbien meine zweite Heimat geworden.
In meiner Zeit als Gewerkschafter und Politiker setzte ich mich für die Rechte der Migrantinnen und Migranten ein, vor allem für jene aus dem ehemaligen Jugoslawien. Ich eröffnete eine kleine Firma, in der ich Übersetzungen anbot und meine Landsleute beriet, in persönlichen Fragen, bei Schwierigkeiten am Arbeitsplatz oder mit Behörden, bei Problemen ihrer Kinder mit der Schulleitung oder dem Lehrpersonal. Ich übersetzte bei Gerichtsverfahren, auf öffentlichen Ämtern und in Spitälern. Ich sah meine Aufgabe darin, in Konflikten und Streitfragen zu vermitteln und bei den Einheimischen Verständnis für die Nöte und Sorgen der Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter zu wecken. Doch beide Seiten waren – und sind – gefordert. Den Migranten und Migrantinnen versuchte ich aufzuzeigen, dass sie die Gesetze zu respektieren hatten und bereit sein mussten, Kompromisse einzugehen, sich an die hiesigen Wertvorstellungen und Arbeitsgewohnheiten anzupassen, sich zu integrieren, ohne ihre eigenen Wurzeln und ihre Herkunft zu vergessen. Ich sah meine Rolle als Brückenbauer zwischen der Welt der ausländischen Arbeiter und Arbeiterinnen und jener der Einheimischen.
In diesem Buch ziehe ich nicht nur Bilanz über mein eigenes Leben. Viele Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter machten ähnliche Erfahrungen, wie ich sie vor allem in der schwierigen Anfangszeit vor meinem beruflichen Aufstieg und dem Beginn meiner politischen Karriere machte. Ich musste wie viele meiner Landsleute aus dem ehemaligen
Jugoslawien Schwerarbeit verrichten. Auch wenn ich später ein anderes Leben führte, war ich doch einer von ihnen. Ich wusste, was es bedeutete, die Heimat zu verlassen und in einem fremden Land Fuss zu fassen. Ich kannte die Probleme der Migrantinnen und Migranten, ihre Sorgen und Ängste. Mit diesem Buch will ich auch ihnen eine Stimme geben.
Der Zauber der Heimat
In der Nacht vor meiner Abreise in die Schweiz im Frühjahr 1986 träumte ich von «Krupajsko vrelo», einer Quelle mit Wasserfällen und Höhlen. Das Wasser kommt aus einer porösen Felswand, bildet dann einen Teich, stürzt über einen kleinen Wasserfall und fliesst als Bach weiter. Es ist die schönste Quelle in Homolje, meiner Heimatregion im Osten Serbiens, in der Nähe der Grenze zu Rumänien. In der Vertikale ist sie 98 Meter tief; von dort erstreckt sich ein 126 Meter langer horizontaler Korridor. Dieser besteht aus einer Vielzahl von überfluteten Räumen, die unterschiedliche Bezeichnungen haben: der kleine Raum, der grosse Raum, Schlund, Magen, Hammelkopf. Der bekannteste von ihnen nennt sich der goldene Raum, in ihm verbergen sich der Legende nach viele Schätze, die ein Wassergeist hütet. Er heisst «Tartor» oder «al batrn». Er verwandelt sich von Zeit zu Zeit in ein kleines menschliches Wesen und lockt Besucherinnen und Besucher mit Gesang und Tanz in die Höhle, wo er sie ertränkt. Tartor hat 99 Helfer, die «aj miš» genannt werden. An der Quelle versammeln sich nach Mitternacht bei Vollmond Feen, um dort zu baden.
Ich träumte auch von einer Wiese, wunderschön und endlos, übersät mit roten Pfingstrosen. Sie erstreckte sich bis hin zur Trška-Kirche, wo sich eine von Hügeln umrahmte Senke befand, in der sich die Wege kreuzten. Dort

Die Quelle «Krupajsko vrelo», von der Vića Mitrović am Tage vor der Abreise in die Schweiz träumte. Das Wasser quillt aus einem Felsen.