Im Kreuzgang Grossmünster

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orte Verlag Leseprobe

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© orte Verlag www.orteverlag.ch

Gegründet von Werner Bucher und Rosemarie Egger im Jahr 1974

Nr. 222, Juli 2023

ISBN 978-3-85830-312-7; ISSN 1016-7803

Erscheint fünf Mal jährlich. Die nächsten Ausgaben mit folgenden Themen: 223 «Übersetzungen»; 224 «Regina Ullmann (1884–1961)».

Fühlen Sie sich von einem der Themen angesprochen, haben Sie Informationen dazu oder sogar Interesse, in der Redaktion mitzuarbeiten, dann freuen wir uns über Ihre Zuschrift an unsere Redaktionsadresse.

Leitung Redaktion: Annekatrin Ranft-Rehfeldt Redaktion orte

Bärenmoosweg 2, CH-5610 Wohlen

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Redaktionsteam: Annekatrin Ranft-Rehfeldt (Leitung)

Gabriel Anwander, Viviane Egli, Regina Füchslin, Susanne Mathies, Erwin Messmer, Monique Obertin, Cyrill Stieger, Peter K. Wehrli

Verlag: orte Verlag

Im Rank 83, CH-9103 Schwellbrunn

Tel. +41 71 353 77 55, Fax +41 71 353 77 56 verlag@orteverlag.ch, www.orteverlag.ch

Einzelnummer: Fr./Euro 18.–

Abonnemente: Gönnerabonnement orte Fr./Euro 140.–(5 Ausgaben pro Jahr + Poesie-Agenda)

Jahresabonnement orte Fr./Euro 86.–(5 Ausgaben pro Jahr + Poesie-Agenda)

Abonnemente im Ausland: Fr./Euro 12.– Zuschlag

Inseratepreise: 1 / 1 Seite (121 x 180 mm) Fr. 400.–

1 / 2 Seite (121 x 88 mm) Fr. 200.–

1 / 4 Seite (121 x 42 mm) Fr. 120.–

Inserateverkauf: Annina Dörig, inserate@orteverlag.ch, Tel. +41 71 353 77 40

Umschlag: Gestaltung: Daniela Saravo, Verlagshaus Schwellbrunn, unter Verwendung des Bildes des Violonisten Markus Reinhardt im Kreuzgang Grossmünster, Zürich, © Alberto Venzago, 2022.

Das Copyright der Texte liegt bei den Autorinnen und Autoren.

Trotz umfangreicher Bemühungen ist es uns in wenigen Fällen nicht gelungen, die Rechteinhaber für Texte und Bilder einiger Beiträge ausfindig zu machen. Der Verlag ist hier für entsprechende Hinweise dankbar. Berechtigte Ansprüche werden selbstverständlich im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.

orteinhalt

3 Editorial

Im Kreuzgang Grossmünster: Poesie, Spannung, Kraft & 78 Rosen

5 Einleitung Viviane Egli

8 «Der Kreuzgang ist für mich mehr Gespräch zwischen ein Energiekraftort als ein andächtig Christoph Sigrist und stiller Raum» Cyrill Stieger

12 «Zu dir ich schrei», Pestlied Huldrych Zwingli

16 Die vier Jahreszeiten im Kreuzgang Fotograf Alberto Venzago

25 Das literarische Gästebuch des Kreuzgangs

Grossmünster mit Urs Faes, Khaled Khalifa, Simon Froehling (und ChatGPT), Regula Portillo, Hildegard E. Keller, Franz Hohler

43 Der einzigartige Kreuzgang abseits Rundgang mit Kunsthistoriker Daniel Gutscher

46 77, 78 … Rosen

Viviane Egli

47 Das Programmheft der Gedenkkonzerte 78 Rosen – 78 Jahre nach Auschwitz

Impressionen und Informationen zu den Konzerten in vier Kreuzgängen am 7., 8., 9. und 10. September 2023

55 Ein kleines Zahlenspiel rund um 222

Viviane Egli

56 wander-orte: Auf den Spuren des jüdischen Erbes in Endingen und Lengnau Cyrill Stieger

61 hör-orte: Natascha Wodins Nastjas Tränen Serena Schranz

63 ortolan: Max Huwyler Erwin Messmer

67 orte-bücherregal Annekatrin Ranft-Rehfeldt

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74 orte-longseller 76 orte-agenda 79 orte-marktplatz

Sonderband

2023, 117 Seiten

€ 28,–

ISBN 978-3-96707-817-6

Außer der Reihe

Wir tanzen aus der Reihe mit Beiträgen zum Thema Zeit –zurückblickend, die Gegenwart betreffend oder Ausblicke wagend; persönlich, literarisch, politisch; die Welt, den Literaturbetrieb.

Mit Texten von: Ulrike Draesner, Kurt Drawert, Durs Grünbein, Alban Nikolai Herbst, Ulrich Holbein, Felicitas Hoppe, Thomas

Hürlimann, Navid Kermani, Michael Kleeberg, Peter Kurzeck, Angela Krauß, Thomas Meinecke, Emine Sevgi Özdamar, Ulrich

Peltzer, Christoph Ransmayr, Sven Regener, Ingo Schulze, Jan Wagner.

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Außer der Reihe Literatur zur Zeit Sonderband 6o JAHRE
Zeitschrift für Literatur Begründet von Heinz Ludwig Arnold IV/23

Der Sommer ist da. Mit ihm unsere orteNummer 222. Thematisch an einem ganz besonderen Ort der Inspiration, einer einzigartigen Oase mitten in der Stadt Zürich: dem Kreuzgang des Grossmünsters. «Ein Ort gegen die Gewöhnlichkeit der Welt», schreibt Autor Urs Faes in seinem Text. Diese orte-Ausgabe ist ein eigenwillig kuratiertes Gästebuch sowie ein vehementes heutiges Stundenbuch dieses Ortes der Stille. Autoren und Autorinnen der Gegenwart und aus vergangenen Jahrhunderten, Lyrik und Prosa von Zwingli bis heute kreuzen sich im Kreuzgang, der aus jeder Jahreszeit seinen poetischen Atem schöpft, wie die für diese Ausgabe von Fotograf Alberto Venzago gemachten Bilder zeigen. Viviane Egli, Monique Obertin und Cyrill Stieger haben recherchiert und gesammelt. Beiträge für das vorliegende Heft. Entstanden ist ein Thementeil, der vom leidenschaftlichen Geist und der Intensität des Ortes Kreuzgang Grossmünster Zürich zeugt.

In der Mitte des Heftes finden Sie das Programmheft für die Veranstaltungsreihe 78 Rosen – 78 Jahre nach Auschwitz im September 2023, mit Impressionen und Informationen zu den fünf Gedenkkonzerten in vier Kreuzgängen der Schweiz. Für den Sommer haben wir weitere Veranstaltungstipps zusammengestellt. Wie

wäre es mit Kulinarik im Meck-Garten (Geschichten und Gedichte im Dialekt), der Ausstellung Anekdoten des Schicksals im Kunstmuseum Bern oder einer Lesung mit Lukas Bärfuss im Zentrum Paul Klee? Spuren des jüdischen Erbes in Endingen und Lengnau gibt es in der Rubrik wanderorte zu entdecken. In hörorte spricht Serena Schranz über Natascha Wodins autobiografisch angelegten Roman Nastjas

Tränen und geht der Frage einer vorurteilsfreien Interpretation des Hörbuchsprechens nach. Erwin Messmer lässt im ortolan den im Januar verstorbenen Zuger Lyriker Max Huwyler noch einmal mit seiner spekulativen Meditation titan rund um «die letzten Dinge» zu Wort kommen. Das bücherregal enthält Vorschläge für entspannte Sommerabende, lange Zugfahrten, Pausen an Strand- oder Waldtagen – für die Orte Ihres Sommers. Welche Spuren unsere Nummer 222 bei Ihnen hinterlässt, wenn Sie das Heft wieder weglegen, bleibt das stille Geheimnis jedes Einzelnen – vielleicht so berührend, wie es der syrische Autor Khaled Khalifa beschreibt: «Ich habe eines der unsichtbaren Gesichter von Zürich gesehen.»

Wir wünschen Ihnen einen schönen Sommer.

Beste Grüsse

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orteeditorial

Im Kreuzgang Grossmünster

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Foto: Alberto Venzago

Einleitung

Ein kleiner grosser Ort: der Kreuzgang des Grossmünsters in Zürich. Es gibt berühmtere, frequentiertere Kreuzgänge. Aber er ist etwas ganz Besonderes, dieser Ort, diese Oase mitten in der Zürcher Altstadt. Man kann Zürich mögen oder nicht, man kann Zürich als heile kleine Grossstadt loben oder als wohlständig überflutetes und kriselndes Finanzzentrum schmähen – etwas aber ist unbestritten: Die Stadt weist über Jahrhunderte bis in die jüngste Vergangenheit – denken wir etwa an die Bedeutung Zürichs nach dem Zweiten Weltkrieg als europäische «Hauptstadt» der gleichgeschlechtlichen Liebe – einen bemerkenswerten Zug einer wegweisenden und oft auch mutigen Modernität auf. Historisch am bedeutungsvollsten: Vor 500 Jahren war Zürich eines der Zentren der Reformation, mit der aussergewöhnlichen Persönlichkeit Huldrych Zwingli und seiner Entourage. Gelangt man bei der Grossmünster-Kirche über einen unscheinbaren Aufgang in den Grossmünster-Kreuzgang, dann spürt man das Eigenwillige, Charismatische dieses Orts, in dessen einst angrenzenden Schulräumen von Zwingli sogar ein Lehrstuhl für Islamwissenschaften eingerichtet wurde. Im nationalen und internationalen Vergleich ist es ein unbekannter Kreuzgang, «ein Mauerblümchen, aber eigentlich eine Perle», so der Kunsthistoriker Daniel Gutscher. Eine Stätte, die in den Bann zieht. Über dem steinernen Quadrat der freie Himmel von Zürich, zu jeder

Jahreszeit, an jedem Tag, zu jeder Tageszeit anders. Schreitet man durch die vier Gänge, spürt man Poesie, Spannung, Kraft.

Die Literaturzeitschrift orte, 1974 in Zürich gegründet, ging und geht literarisch stets einen eigenwilligen Weg, unbeirrt seit bald fünfzig Jahren und in einer durchaus auch aufmüpfigen Tradition. Der Kreuzgang Grossmünster passt. Er hat den Spiritus loci für orte. Wir haben für diese orte-Ausgabe den Pfarrer des Grossmünsters und Buchautor Christoph Sigrist im Kreuzgang getroffen und mit ihm über diesen Ort und über seinen Roman und das Mysterienspiel Anna Reinhart & Ulrich Zwingli gesprochen – und ausgeformte, kraftvolle Gedanken über den eigenwilligen Ort und eigenwillige historische Protagonisten erhalten.

Zudem haben wir ein literarisches Gästebuch angelegt. Der charismatische Atem dieses Kreuzgangs inspirierte zu neuen poetischen, berührenden, spannungs- und kraftvollen und auch mutigen, experimentellen Texten: Die Autoren und Autorinnen Urs Faes, Khaled Khalifa, Simon Froehling, Regula Portillo, Hildegard E. Keller und Franz Hohler haben an den Kreuzgang des Grossmünsters Zürich ihre Hommagen geschrieben und ihren persönlichen Bezug zu dieser Stätte erläutert.

Der Künstler und Fotograf Alberto Venzago hat seinerseits den Part der visuellen Poesie übernommen, für orte den Kreuzgang Grossmünster mit seiner Kamera in allen vier Jahreszeiten festgehalten. Somit ist die Ausgabe auch optisch unverwechselbar. Das Motiv der vier Jahreszeiten passt zu den vier Gängen eines Kreuzgangs, zu den vier Gartenbeeten dieses Kreuzgangs – im Kontext zum Beitrag von Kunsthistoriker Daniel Gutscher, der mit seinem Wissen die Stätte mitten in Zürich für orte kulturhistorisch aufgeschlüsselt hat.

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Diese orte-Ausgabe bietet Wort und Bild, wie immer, ist aber zugleich dem Klang verpflichtet: Denn sie ist auch Programmheft für die Gedenkkonzerte 78 Rosen – 78 Jahre nach Auschwitz in vier Kreuzgängen im September 2023. Die Bilder dieses Konzertprogramms stammen ebenfalls von Alberto Venzago. Sie gehören zu seiner Dokumentation der Gedenkkonzerte 77 Rosen im September 2022 im Kreuzgang des Grossmünsters. Das Programmheft 78 Rosen als Heft im Heft auf den Seiten 47 bis 54 informiert über die im September 2023 beteiligten Roma- und Sintimusiker und -musikerinnen sowie die Protagonisten aus der jüdischen Kultur und die Rapperin mit Beeinträchtigung.

So formte sich die Ausgabe rund um und im Kreuzgang Grossmünster zu einem Ganzen. Es ist ein Ort für literarische und visuelle Poesie sowie für befreiendes Querdenken unter freiem Himmel – und zum Gedenken an die Befreiung von Auschwitz.

78 Rosen – fünf Gedenkkonzerte in vier Kreuzgängen

Siehe Seiten 47 bis 54 in dieser orte-Ausgabe

Vorverkauf:

Tel. 0900 325 325 (CHF 1.19/min) www.seetickets.com

(Suchbegriff: 78 Rosen)

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Gespräch mit Christoph Sigrist

Das Gespräch mit Christoph Sigrist, Pfarrer am Grossmünster in Zürich und ausgewiesenem Kenner der Zürcher Reformation, fand in der Sakristei statt. Getroffen hatten wir uns zuvor aber im Kreuzgang. Und so wollte ich zunächst erfahren, was dieser stille, vom Lärm der Stadt abgeschirmte Ort für ihn bedeutet. Dann sprachen wir über sein jüngstes Buch, die Romanbiografie über Anna Reinhart. Sie war die Frau des Reformators Huldrych Zwingli. Dafür wählte der Autor die literarische Form eines fiktiven Tagebuchs, eines Zwiegesprächs mit ihrem Mann, der in der zweiten Schlacht von Kappel 1531 im Kampf gegen die katholischen Innerschweizer gefallen war. Anna Reinharts Tagebuch beginnt mit dem Tod Zwinglis. Er wurde gevierteilt, seine Leiche verbrannt. Christoph Sigrist zeichnet Anna Reinhart, von der wenig bekannt ist, als eine gläubige und fürsorgliche, aber auch moderne Frau und Mutter, als eine Partnerin ihres Mannes, die kritische Fragen stellt und gegen das Töten im Namen Gottes protestiert: Warum predigte ihr Mann Frieden, zog aber zugleich mit Inbrunst in den Krieg? Warum verfolgte er religiöse Abweichler wie die Täufer und liess zu, dass an einigen von

ihnen die Todesstrafe vollstreckt wurde?

Ihr Vorwurf wiegt schwer: «Du, der du die Freiheit im Glauben gepredigt hast, bist zusammen mit uns allen ein Teil im Räderwerk des Todes geworden». Auf ihrem Totenbett wird Anna von Zweifeln geplagt. Sie kann nicht mehr an Gott glauben, und sie bittet ihre Tochter Regula, für sie zu glauben.

Christoph Sigrist: Anna Reinhart & Ulrich Zwingli. Von der Tochter eines Gastwirts zur Frau des Reformators. Romanbiografie. Herder, Freiburg, 2017.

Was bedeutet für dich der Kreuzgang? Ist er für dich ein Ort der Stille, in dem du dich gerne aufhältst, um nachzudenken, um Ruhe zu finden?

Christoph Sigrist: Ich bin sehr oft im Kreuzgang. Aber für mich bedeutet er etwas anderes als für Touristen und Besucherinnen und Besucher. Für mich hat der Kreuzgang eine andere Aufladung energetischer Art, und das in dreifacher Hinsicht. Der Kreuzgang ist für mich zum ersten der Kraftraum der theologischen Reflexion, denn als Studierender hatte ich in den Achtzigerjahren den Kreuzgang als meinen persönlichen Studiergang erlebt.

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«Der Kreuzgang ist für mich mehr ein Energiekraftort als ein andächtig stiller Raum»

Das heisst, ich habe den Kreuzgang als Studierort okkupiert, und das ist bis heute so. Ich erlebe den Kreuzgang zudem als Bildungsort, wo Konfirmanden unterrichtet werden, wie auch als sozial liturgischen Ort, an dem ich zum Beispiel Kinder von sozial zerrütteten Familien am zentralen Brunnen taufe. Er ist für mich dann ein liturgischer Schutzraum. Zum dritten ist der Kreuzgang ein Ort zwischen Mystik, Stille, Konzentration und Öffentlichkeit – auch mit einer politischen Wirkung. Vor Jahren wollte hier an der Münstergasse eine Consulting-Firma ihr Jubiläum im Grossmünster feiern, eingeladen waren wichtige Sängerinnen und Sänger des Opernhauses und der Tonhalle. Ich habe ihnen gesagt, das sei so nicht möglich. Ihr seid so reich, das Konzert muss öffentlich sein, und ihr müsst dem Grossmünster etwas dafür geben. Dann haben sie die vier Blumenbeete im Kreuzgang entsprechend den vier Elementen Wasser, Luft, Feuer und Erde von einer Firma neugestalten und begrünen lassen. Und noch etwas: Vor Jahren hatte eine psychisch kranke Frau Bücher, die sie von der theologischen Fakultät mitgenommen hatte, im Kreuzgang verbrannt. Dieses Bücherverbrennungsritual hat

mich daran erinnert, dass die Institution Kirche vor 500 Jahren einen Bannbull über Martin Luther verhängte und auch Bücher verbrannt wurden. Und plötzlich floss die Bücherverbrennung der Frau ineinander mit dem Geschehen vor 500 Jahren und der geschichtlichen Tradition. Ich finde es bis heute sehr spannend, dass der Kreuzgang für mich mehr ein Energiekraftort ist als ein andächtig stiller Raum. Einen stillen Ort finde ich oben auf dem Turm des Grossmünsters, wo ich nachts bisweilen bin.

Bist du oft im Kreuzgang?

Ja, im Kreuzgang, im Grossmünster und auf dem Turm, der praktisch meine Loftwohnung geworden ist. Während zwei Jahren wohnte ich hier. Bei der Renovation der «Helferei» gegenüber dem Grossmünster hatte man mich vergessen, und so musste man einen Ort für mich finden. Da habe ich in der Sakristei des Grossmünsters mein Büro eingerichtet, oben auf der Empore habe ich geschlafen. Der Kreuzgang war mein Garten. Und damit habe ich diesem sozusagen seine ursprüngliche Bestimmung wiedergegeben, denn ich wandelte oft durch den Kreuzgang und führte dort viele Gespräche.

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In deiner Romanbiografie ist Anna Reinhart oft im Grossmünster oder in der Sakristei, wo sie über ihren getöteten Mann nachdenkt. Doch nur einmal wird der Kreuzgang erwähnt, im Zusammenhang mit den Chorherren. Warum spielt der Kreuzgang im Buch keine Rolle? Zum einen hatte ich damals beim Schreiben den Kreuzgang nicht so präsent wie andere Räume des Grossmünsters. Das hat auch mit der Quellenlage zu tun. Von Anna Reinhart ist nur überliefert, dass sie gelebt und Kinder geboren hat. Das wissen wir aus der Zwingli-Bibel. Auch hatten Frauen damals nicht zu allen Räumen Zutritt. Ich kann mir gut vorstellen, dass der Kreuzgang dazu gehört hat, denn das Kloster war ja damals noch ein Chorherrenstift. Es war eine ausgeprägt patriarchalische Zeit.

uns an, zu kämpfen für die Wahrheit? Und was ist Wahrheit? Was ist wahr und was ist falsch, wenn ich einfach nur versuche, mein Leben zu leben, meinen Glauben zu nähren und meine Liebe weiterzugeben? Mein Gott! Hilfe!

Christoph Sigrist: Anna Reinhart & Ulrich Zwingli. Von der Tochter eines Gastwirts zur Frau des Reformators. Romanbiografie. Herder, Freiburg, 2017, Seite 87.

Anna Reinhard ist in deiner Darstellung eine moderne Frau, sie denkt wie eine moderne Frau, sie kritisiert, stellt beunruhigende Fragen, nimmt nicht einfach alles hin, sie zweifelt an Gott. Hast du deine eigenen Gedanken und Sichtweisen über Ulrich Zwingli auf Anna Reinhart übertragen?

Freitag, 2. Januar 1534, über Mittag Hilfe!

Nur ganz kurz, lieber Ueli. Gottvertrauen ist ja schon gut, doch wo war Gott, als du auf dem hohen Ross in den Krieg zogst? Ist das nicht alles Hohn und Spott. Hirtete damals mich Gott, als er dich von mir wegzog? Ich protestiere gegen Gott im Namen Gottes! Ich sitze da und kann nicht anders: ich zweifle, ich verzweifle, an allem und jedem. Wo ist Gott? Wer ist Gott? Was ist Gott? Will Gott den Tod? Will Gott die Verfolgung wegen des Glaubens? Das wollen wir doch, ihr Männer, auch wir Frauen! Ach, welcher Geist weht denn, wo er will? Bin ich denn sicher, dass es Gottes Geist ist? Ist es nicht der Geist der Zeit? Was treibt

Ja, das ist so. Das habe ich im Nachwort auch offengelegt. Bei der Beschäftigung mit der Forschung habe ich gesehen, dass Anna immer wieder anders dargestellt wurde. Es sind unterschiedliche Geschichten. Ich bin auf drei Werke gestossen, in denen Pfarrer Anna Reinhart beschrieben haben; 1819 wurde sie als klassische Pfarrfrau dargestellt, 1919 als Speerspitze gegen die Katholiken. In dem 1984 erschienenen Buch über Ulrich Zwingli beschreibt der Verfasser, der Theologe Walter Hollenweger, Anna Reinhart als eine Mutter Courage der pazifistischen Bewegungen. Mein Bild, das ich in der Romanbiografie von Anna Reinhart gezeichnet habe, hat viel mit der Beziehung zu meiner Frau zu tun. Bevor ich nämlich zu schreiben begann, wusste ich angesichts der dürren Faktenlage nicht, wie ich Anna beschreiben sollte. Da

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sagte mir meine Frau, ich solle doch sie anschauen. Da habe ich gewusst, ich muss auf Augenhöhe eine selbstständig denkende Frau zeichnen, welche die hundert Fragen, die in der Zeit des Reformationsjubiläums an mich herangetragen wurden, stellvertretend Ulrich Zwingli stellt. Anna Reinhard ist in diesem Sinn eine moderne Frau mit modernen Gedanken.

Teilst du persönlich die Gedanken Annas über Krieg und Frieden sowie die Kritik, Ulrich Zwingli habe zu wenig getan, um die Vollstreckung des vom Zürcher Rat gefällten Todesurteils gegen einige Täufer zu verhindern?

Man kann heute nicht ein kirchliches 500-Jahr-Jubiläum feiern, ohne den Graben zwischen der Moderne und der damaligen Zeit aufzuzeigen. In der heutigen Zeit ist es nicht verständlich, dass Religion mit Waffen durchgesetzt wird. Das kritisiert Anna Reinhart. Die Statue von Zwingli vor der Wasserkirche etwa zeigt diesen noch immer mit einem Schwert. Die Schatten der Reformation, gerade was bei Zwingli den Bereich Religion und Gewalt sowie Religion und Ausgrenzung von Andersglaubenden betrifft, muss man heute aufarbeiten. Die Figur von Anna erschien mir ideal, um diese Problematik sichtbar zu machen. Dem Schluss des Buches, als Anna auf dem Totenbett ihrer Tochter Regula sagt, sie könne nicht mehr an Gott glauben, und ihre Tochter bat, sie solle an ihre Stelle treten und für sie glauben, liegt übrigens eine persönliche Erfahrung zugrunde. Mein Vater starb, als ich 17 Jahre alt war. Er war Diakon und ein

frommer Mann. Bei einem meiner Besuche lag er zitternd im Bett und sagte mir, er könne nicht mehr glauben, er habe Angst vor dem Tod. Und er fügte hinzu, ich solle stellvertretend für ihn glauben.

Ist es historisch plausibel, dass Anna Reinhart auf dem Totenbett an Gott zweifelte und nicht mehr wusste, was dieser will und was nach dem Tode geschieht.

Ist es möglich, dass eine fromme Frau im 16. Jahrhundert solche Zweifel gehabt hat? Ich halte das sehr wohl für möglich. Man hatte damals die gleichen Zweifel und noch viel mehr Angst als heute vor dem Fegefeuer und der Hölle. Die Institution Kirche war damals ja nicht nur, jedoch für das Volk vor allem eine Angstmaschinerie. Diese Ängste waren sicher da. Ob man sie auch äussern durfte, das ist eine andere Frage.

Das Gespräch mit Christoph Sigrist führte Cyrill Stieger

Christoph Sigrist, geboren 1963 in Zürich, ist verheiratet und hat zwei Söhne. Er absolvierte sein Theologiestudium in Zürich, Tübingen und Berlin. Seit 2003 ist er Pfarrer am Grossmünster in Zürich. 2014 habilitierte Christoph Sigrist mit der Studie Kirche Diakonie Raum – Untersuchungen zur diakonischen Nutzung von Kirchenräumen. Seit 2018 ist er Titularprofessor für Diakoniewissenschaft an der theologischen Fakultät der Universität Bern. Christoph Sigrist ist unter anderem Präsident des Zürcher Forums der Religionen und der Gesellschaft Minderheiten der Schweiz. 2017 erschien im Verlag Herder seine Romanbiografie Anna Reinhart & Ulrich Zwingli. Von der Tochter eines Gastwirts zur Frau des Reformators

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Zwinglis Pestlied

Huldrych Zwingli und Anna Reinhart kannten sich erst wenige Wochen, da erkrankte Zwingli Ende September 1519 an der Beulenpest, die damals in Zürich wütete. Anna Reinhart pflegte den Schwerkranken und kam ihm so, wie Christoph Sigrist in seiner Romanbiografie über Anna Reinhart schreibt, immer näher. Zwingli überwand die Krankheit und verfasste das Pestlied, «das alle so lieb bekamen und das du an manchem Krankenbett später auch gesungen hast» (Seite 92). Kurz darauf schrieb

Zwingli die Musik zum Lied. In der Nacht auf den ersten Januar 1520, so erinnert sich Anna Reinhart in der Romanbiografie, gab ihr Zwingli den ersten Kuss, «auf dem Grossmünsterturm, ganz allein, nur wir zwei»(Seite 92).

Hilf, Herr Gott, hilf in dieser Not!

Ich mein’, der Tod sei an der Tür; Christ’, bleib bei mir, da du ihn überwunden hast!

Zu dir ich schrei.

Ist es dein Will’, zieh aus den Pfeil, der mich verwund’t, es lässt kein Stund’

mich haben weder Ruh noch Rast!

Willst du den gleich tot haben mich, inmitten der Tage mein, so soll es willig sein.

Tu, wie du willst; mir nicht befiehlst.

Dein Krug bin ich; mach ganz; – zerbrich, denn, nimmst du hin mein Geistes Sinn von dieser Erd, tust du’s, dass er nicht böser werd’, so andern nicht

befleck ihr Leben, so fromm und licht.

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Christoph Sigrist: Anna Reinhart & Ulrich Zwingli. Von der Tochter eines Gastwirts zur Frau des Reformators. Romanbiografie. Herder, Freiburg, 2017
«Zu dir ich schrei»

Tröst, Herr Gott, tröst! Die Krankheit wächst. Weh und Angst fasst mein Seel und Leib. Darum so bleib’ bei mir, einziger Trost, mit Gnad, die gewiss erlöst ein jeden, der sein herzlich’ Begehr’ und Hoffnung setzt in dich, und schätzt gering die Zeit mit Nutz und Schad. Nun ist es um. Mein Mund ist stumm, mag sprechen nicht ein Wort. Mein’ Sinn’ sind all verdorrt. Drum ist es Zeit, dass du mein’ Streit führest forthin, da ich nicht bin so stark, dass ich mög tapferlich leisten Widerstand der Teufels Macht und Frevlerhand. Doch wird mein G’müt stets bleiben dir, wie er auch wüt’.

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G’sund, Herr Gott, gs’sund! Ich mein, ich kehr’ schon wied’rum her. Ja, wenn es dich dünkt, der Sünden Funk wird’ nicht mehr beherrschen mich auf Erd’, so muss mein Mund dein Lob und Lehr’ aussprechen mehr als eh und je, wie es auch geh, einfaltiglich, mit laut’rem Herz. Wiewohl ich muss des Todes Buβ erleiden doch einmal vielleicht mit gröβrer Qual, als es jetzt wär’ geschehen, Herr, so wahr ich bin gefahren hin; so will ich doch den Trutz und Joch in dieser Welt tragen fröhlich um’s Gott Vergelt mit Hilfe dein, ohn’ den nichts mag vollkommen sein.

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Ebd., Seite 93–95. Das Pestlied wurde von Hans-Jürgen Hufeisen ins Hochdeutsche übersetzt.

Die erste Strophe des Pestlieds in der deutschen Sprache des frühen 16. Jahrhunderts

Hilff, herr gott, hilff in diser not!

Ich mein, der tod sey an der thür. Stand, Christe, für; dann du in überwunden hast!

Zu dir ich gilff: Ist es dein will, züch uss den pfyl, der mich verwundt! Nit lasst ein stund mich haben weder ruw noch rast! Wilt du dann glych

tod haben mich in mitz der tagen min, so sol es willig sin. Thu, wie du wilt: mich nüt befilt. Din haf bin ich. Mach gantz ald brich; dann, nimpst du hin den geiste min von diser erd, thust du’s, dass er nit böser werd, ald andem nit befleck ir läben fromm und sit.

Aus: Die Akte Zwingli. Ein Mysterienspiel in sechs Aufzügen. Libretto von Christoph Sigrist, Musik von Hans-Jürgen Hufeisen. In: Christoph Sigrist: Anna Reinhart & Ulrich Zwingli. Von der Tochter eines Gastwirts zur Frau des Reformators. Romanbiografie. Herder, Freiburg, 2017, Seiten 166–167.

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Die vier Jahreszeiten im Kreuzgang von Alberto Venzago

Sommer

Der seit Jahrzehnten auf allen Kontinenten tätige Fotograf und Filmemacher Alberto Venzago hat für orte den Kreuzgang Grossmünster in Zürich vom Sommer 2022 bis Frühling 2023 während allen vier Jahreszeiten mit seiner Fotokunst festgehalten.

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