Ein Buch ohne Namen

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orte Leseprobe James Cowan

ein buch ohne namen

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James Cowan

ein buch ohne namen Aphorismen Ăźber Leben und Tod inspiriert durch Tuotilo von St. Gallen

Herausgegeben von Cornel Dora

orte Verlag


Umschlag Prunkeinband des Evangelium Longum, Elfenbeinschnitzerei und Goldschmiedearbeit von Tuotilo, Schrift von Sintram, Kloster St. Gallen, um 895. St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. Sang. 53, Vorder- und Hinterdeckel.

© 2019 by orte Verlag, ch-9103 Schwellbrunn Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten. Vom Englischen ins Deutsche übertragen von Cornel Dora Gesetzt in Minion Pro Regular Herstellung: Verlagshaus Schwellbrunn isbn: 978-3-85830-254-0 www.orteverlag.ch


inhalt

Vorwort 7 Einleitung 9 Ein Buch ohne Namen 15 Nachwort 43



vorwort

Der Besuch des australischen Schriftstellers James Cowan und seines Schweizer Freundes Wolfgang Somary im Oktober 2017 ist mir noch in guter Erinnerung. Sie hatten den Wunsch, das Evangelium Longum (Cod. Sang. 53) zu sehen, eine der berühmtesten Handschriften der Stiftsbibliothek St. Gallen. Beide waren bewegt vom Werk des Schreibers Sintram und des Künstlers Tuotilo, und sie wollten mehr darüber erfahren. Als Folge des Besuchs entstand diese Aphorismensammlung, die James Cowan, schwer krebskrank, am 15. September 2018 vollendete. Er starb am 6. Oktober. Sein schriftstellerisches Werk umfasst mehr als dreissig Titel, darunter Belletristik, Sachbücher, Gedichte, Kunstmonographien und Philosophisches. Besonders interessierte er sich für das Leben und die Spiritualität der australischen Aborigines, unter denen er zeitweise lebte. Das Büchlein ist eine berührende Hommage an Tuotilo und sein Evangelium Longum, das als Inspiration wirkte. Und es ist gleichzeitig eine Auseinan7


dersetzung mit dem schÜpferischen Prozess des Schreibens. In feiner Sprache zeigt es die Kraft von Kunst und Spiritualität im Angesicht der letzten Dinge. Der Herausgeber

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einleitung

Wir kennen den Mann kaum, von dem mit dem Namen Tuotilo berichtet wird, nur, dass er am Ende des 9. und zu Beginn es 10. Jahrhunderts als Mönch im Kloster St. Gallen lebte und dort am 27. April 913 starb. Was wir ausserdem über ihn wissen ist freilich, dass er als Goldschmied ein Meister war, der heilige Figuren für Kirchen und prominente Stifter in Metz, Mainz und St. Gallen schuf. Er verfügte über weitere Talente, die ihn uns näher bringen, denn es wird berichtet, dass er auch ein Dichter und Komponist von Kirchenmusik war. Breitschultrig und stark soll er gewesen sein, ein guter Redner. Er verband den Feinsinn eines Künstlers mit der Freude, seine Gedanken auf Pergament zu bringen. Das Werk, für das er heute noch berühmt ist, ist ein sorgfältig geschaffenes Buch, bekannt als Evangelium Longum, ein edelsteinverzierter Einband aus Gold, Silber und Elfenbein, darin lateinisch geschrieben 376 Abschnitte der vier Evangelien. Die Klosterchronik erzählt, dass die zwei Elfenbeintafeln, die Tuotilo beschnitzte, einst Karl dem Grossen gehörten. 9


Das Evangelium Longum wird in der Stiftsbibliothek St. Gallen am Bodensee sicher aufbewahrt. Ich sah das Buch zum ersten Mal anlässlich eines Besuchs dort im Jahr 2017. Sogleich war ich berührt von seiner Schönheit und den bemerkenswerten Illuminationen. Der Band leuchtete mich an. Er erinnerte mich ans Buch von Kells, an die geduldige Arbeit irischer Mönche in ihren Skriptorien, und an deren historischen Bezug zum Kloster St. Gallen. Kunstvolle Schnörkel im Überfluss bei jedem Textanfang durch die ganze Handschrift, so wie Schmetterlinge, die über ein Feld flattern. Ich begann darüber nachzudenken, ob solche Windungen und Krümmungen es darauf anlegten, mich in ein unirdisches Konstrukt zu entführen. Mir erschien die innere Welt eines mittelalterlichen Geistlichen so prachtvoll wie die mischfarbigen Federn eines Pfaus. Als nächstes überlegte ich mir, warum solch seltene Artefakte überhaupt geschaffen wurden. Die Idee, Gold, Silber und Edelsteine für einen Bucheinband zu verwenden, berührte mich als ungewöhnlich, ein Brauch, dessen Ursache schwer zu ergründen ist. ­Weder griechische noch römische Schreiber formten aus ihren Schriftrollen solche Objekte der Schönheit. Für sie war ein Buch auf den praktischen Nutzen ausgerichtet. Die Schaffung derartiger aussergewöhnli10


cher Bände war, wie es scheint, in erster Linie eine mittelalterliche und christliche Übung. Ich schloss daraus, dass ein unterschwelliger Zusammenhang zwischen seltenen Edelsteinen, Elfenbein und Edelmetall bestehen müsse, der die Würde der Wörter bekräftigte. Auf Geheiss von Feder und Tinte mussten sie als Werke der Schönheit gestaltet werden, um unser Verlangen nach dem ganz Anderen zu stillen. Tuotilo verstand ohne Frage die Beziehung zwischen Metall, Edelsteinen und Wörtern. Er arbeitete zusammen mit einem anderen Mönch, dem Schreiber Sintram, dessen Feder das gemeinsame Kunstwerk mit besonderer mittelalterlicher Finesse bereicherte. Zusammen mit diesem Fachmann in Illu­ minierung, Minuskel-, Majuskel- und Unzialschrift sowie deren dramatischer Wirkung auf dem Pergamentblatt, führte Tuotilo all das in seinem mittelalter­ lichen Meisterwerk zusammen. Dank diesen zwei Mönchen transzendiert das Evangelium Longum seine Gestalt als Buch und wird ein Objekt von besonderer Mehrwertigkeit und Schönheit. Diese guten Mönche schufen ein Buch, das vollkommen vergleichbar mit seinem Inhalt war. Die Evangelisten Johannes, Lukas, Markus und Matthäus fanden sich mit Tuotilo und Sintram auf gleicher Ebene: Inspiration, Feder, Metallblech und Hammer machten es ih11


nen möglich, das Evangelium Longum zu einem makellosen Ausdruck des Heiligen zu formen. Ich verliess die Bibliothek an jenem Tag völlig verändert. Das Buch, das ich so sorgsam behandelt, zögerlich mit Handschuhen berührt und tief bewundert hatte, war fest in meiner Erinnerung eingeschlossen. Vor tausend Jahren hatten es die Mönche den Gläubigen vorausgetragen und seine Seiten geöffnet, um voll Ehrerbietung gegenüber dem Heiligen daraus zu lesen. Ich aber war jetzt in den Besitz eines anderen Texts gekommen. Mein Evangelium, um es so zu nennen, hatte sich jenseits seiner Einschliessung in Gold und Elfenbein als Objekt meiner Vorstellung realisiert. Auf seine eigene Weise hatte es sich ebenfalls verändert. Jetzt überlegte ich, ob es möglich wäre, aus den Anhaltspunkten meiner Gedanken ein ganz imaginäres neues Evangelium zu schaffen, so wie es Tuotilo und Sintram vor mir getan hatten. Natürlich: diese Mönche waren ein Goldschmied und ein Schreiber, die sich auf ihr Handwerk stützen konnten, um ihre Absicht zu unterstreichen. Demgegenüber würde ich mich auf eine andere Konstruktionsmethode verlassen müssen. Wenn ich es versuchen wollte, wäre es meine Aufgabe, das zu schaffen, was die alten Griechen ein «Wunderwerk» (telesmi) nannten. Ziel wäre 12


es, mein Buch zur Darstellung eines seltenen und raffinierten Inhalts zu machen. Es müsste ein Buch sein, das nur durch die Fantasie überhaupt wirklich werden würde. Die nächste Frage, die ich mir stellte, war: Wie sollte ich es nennen? Doch so sehr ich es auch wünschte, der Name liess sich nicht fassen. Dieses mein Buch der Fantasie erwartet deshalb noch seine endgültige Bezeichnung. Vielleicht wird sie sich zeigen, während ich schreibe. Wer weiss? Sei’s drum: Hier folgt der Inhalt eines Buchs ohne Namen.

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ein buch ohne namen

Werde ein Fremder deiner selbst, hörte ich eine Stimme flüstern. Deine Einsamkeit ist so mit dem Leben verbunden wie die Luft, die du atmest. Wenn ein Mensch in der Gemeinschaft Trost sucht, befindet er sich schon auf dem Weg zum Ruin. Wenn Wörter sich mit Sinn zusammentun, dann erkennt ein Einsamer sein Schicksal. Er wird zur Stimme der wirklichen Natur der Wahrheit, extrahiert aus dem, was in ihm selber wesentlich ist. Ich habe sagen gehört, dass Männer wie der Philosoph Parmenides und der heilige Franziskus von Assisi Fremde ihrer selbst waren. Sie zogen es vor, in den felsigen Klüften der Gewissheit zu klettern, anstatt im Flachland der Zweifel zu wandern. Die Einsamkeit war für sie ein kühler Wind, der ihre Wangen furchte: ein Atem, ein Geist, der sie weiterführte, weg von der Gewöhnlichkeit des Redens. Die Wörter cerebrum und cherubim tönen fast gleich. Das eine deutet auf das Denken, das andere auf die 15


Gegenwart eines Engels. Können wir diese Wörter nicht zusammenfügen? Das ergibt Engelsgedanken, die göttliche Eigenschaft des Erinnerns, das auf die Ewigkeit weist. Wie einfach wäre es dann, Enttäuschungen mit diesen hätschelnden Flügeln zu vertuschen, welche die Stigmata der Fünf Wunden verbergen, die nichts anderes als die Offenbarung des Engels sind. So ist auch das cerebrum: ein Heben der Flügel, die Freude reiner Gedanken, die das Unfassbare darstellen. Man sagt, der Mond bestehe aus lebloser Materie, er sei eine tote Sache, die im Weltraum zurückgelassen wurde. Und doch: Klammert er sich nicht an die Erde wie ein Kind an die Brust seiner Mutter? An gewissen Abenden besucht er uns als ein goldener Ring, ein tiefsinniges Ornament am Nachthimmel. Seine nährende Pracht ist ein Reflex der Sonnenstrahlen. Kein blauer Himmel hier, kein Krempel als «Atmosphäre» verkleidet, bloss das unbändige Glühen eines Monds, dessen Mutter die Sonne ist. Seine Existenz als solche verwandelt die Materie in die Wärme des Lebens. Schau auf alles, was du siehst, und empfinde so, wie wenn es das letzte Mal wäre: Dies drängt mich der Tod zu tun. Einen solchen Auftrag ertrage ich eher, als 16


dass ich ihn annehme. Ich bin ein Akolyth, ein Neuling in diesen Dingen und höre auf meinen Mentor, einen Fremden wie ich selber. Wir strengen uns zusammen an: Wir sehnen uns danach aufzugeben, statt zu kämpfen. Wohlan, der Körper hat letztlich seine eigenen Gründe dafür, dass er jenen einsamen Weg nimmt. Niemand weiss, was kommt. Eine Bergkette oder ein Abgrund. Das eine ist nur das Umgekehrte des andern. Beten ist eine seltsame Tätigkeit, die Wiederholung benötigt. Wer es beherrscht, begibt sich auf eine Reise jenseits der Wörter. Keine Karte verzeichnet bisher diesen letzten Ankunftshafen. Portolan und Kompass, Windrose and Seekarte, sie sind nur geistige Instrumente für die Navigation. Das Gebet jedoch ist ein riesiger Ozean. Es ist keineswegs immun gegen die Störungen des Wetters. Wenn ein Sturm naht, kommt die Tröstung in Form einer Stille in der Seele. Die Alten nannten das Apatheia, den letzten Verzicht auf das Ich. Das Herz ist ein zerbrechliches Schiff. Es wartet auf den Gezeitenwechsel, bevor es hinaussegelt. Wer ist der Kapitän eines solchen Schiffs?, frage ich. Nicht die Muskulatur eines Ventrikels oder Aurikels, dieser le17


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