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orte Leseprobe

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Gegründet von Werner Bucher im Jahr 1974 Nr. 189, Dezember 2016 ISBN 978-3-85830-183-3; ISSN 1016-7803 Erscheint 5 Mal jährlich

Redaktion: Redaktion orte Annekatrin Ranft-Rehfeldt Urdorferstrasse 59, CH-8953 Dietikon Tel. +41 44 742 31 58, redaktion@orteverlag.ch Redaktionsteam: Annekatrin Ranft-Rehfeldt (Co-Leitung), Regina Füchslin (Co-Leitung), Viviane Egli, Susanne Mathies, Erwin Messmer, Monique Obertin, Cyrill Stieger, Peter K. Wehrli Verlag:

orte Verlag Im Rank 83, CH-9103 Schwellbrunn Tel. +41 71 353 77 55, Fax +41 71 353 77 56 verlag@orteverlag.ch, www.orteverlag.ch

Einzelnummer: Fr./Euro 18.– Abonnemente: Gönnerabonnement orte Fr./Euro 140.–   (5 Ausgaben pro Jahr + Poesie-Agenda) Jahresabonnement orte Fr./Euro 80.–   (5 Ausgaben pro Jahr + Poesie-Agenda) Abonnemente im Ausland: Fr./Euro 12.– Zuschlag Inseratepreise: Inserateverkauf:

1 / 1 Seite (121 x 180 mm) Fr. 400.– 1 / 2 Seite (121 x   88 mm) Fr. 200.– 1 / 4 Seite (121 x   42 mm) Fr. 120.– Rosmarie Gamboni, rosmarie.gamboni@orteverlag.ch, Tel. +41 71 353 77 42, Fax +41 71 353 77 56

Umschlaggestaltung: Janine Durot, orte Verlag, Schwellbrunn (unter Verwendung eines Fotos der orte Redaktion) Copyright der T   exte bei den Autorinnen und Autoren. Trotz umfangreicher Bemühungen ist es uns in wenigen Fällen nicht gelungen, die Rechteinhaber für Texte und Bilder einiger Beiträge ausfindig zu machen. Der Verlag ist hier für entsprechende Hinweise dankbar. Berechtigte Ansprüche werden selbstverständlich im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.

Für die wertvolle finanzielle Unterstützung unserer Zeitschrift danken wir herzlich:


orteinhalt  3 Editorial orte inhaltsverzeichnis

Lyrik aus Albanien   4 Einführung

10 Visar Zhiti

15 Rudian Zekthi

20 Die Zeitung E për-7-shme – ein Kunstwerk

22 Ledia Dushi

26 Gazmend Krasniqi 32 Vom Suchen des Gedichts bis ins Unendliche

Cyrill Stieger, Viviane Egli, Regina Füchslin

Rudian Zekthi

Regina Füchslin

36 Luljeta Lleshanaku 42 Arian Leka 48 Manjola Brahaj 55 Die übersetzerischen Ärmel hochkrempeln

Cyrill Stieger, Hans-Joachim Lanksch

59 orte-festival: Internationales Lyrikfestival Basel Annekatrin Ranft-Rehfeldt 82 orte-Bestenliste

Köbi Gantenbein

85 hör-orte

Peter K. Wehrli

87 zünd-orte

Cyrill Stieger

91 orte-Bücherregal 93 orte-Galerie 101 orte-Agenda 104 orte-Marktplatz

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orteeditorial

Liebe Leserinnen und Leser Ein Jahr geht zu Ende, die Tage sind gezählt. Stunden werden eingeteilt, was sollte noch erledigt werden? Wer wird an den Feiertagen bei Ihnen zu Gast sein oder was nehmen Sie sich für das neue Jahr vor? Unser Heft ist allerdings gar nicht weihnachtlich, ohne Glanz und traditionelle Elemente. Kein Adventszauber, keine leuchtenden Kinderaugen, keine besten Geschenkideen. Mindestens ein kleiner Weihnachtsvierzeiler könnte aber doch drin liegen? Wie wäre es mit: Kërshnella të Bardha për ty që beson te Poezia si në nji Mit apo në nji përrallë antike. – Weisse Weihnachten für dich, der du an die Dichtung glaubst wie an einen Mythos oder ein sehr altes Märchen. Wir wollen in unseren Heften Themen aufgreifen, die nicht gerade im Fokus aller stehen. Diese Ausgabe ist eine Reise in eine andere Welt, nach Albanien. Seit über vierzig Jahren ist unser Redaktionsmitglied Cyrill Stieger, seit Anfang 2015 in der orte-Redaktion tätig, mit dieser Welt vertraut. Wir freuen uns sehr über seine Entscheidung für orte zu schreiben, haben wir mit ihm doch einen erfahrenen ehemaligen NZZ-Korrespondenten in unserer Mitte. Sieben Autoren und Autorinnen aus Albanien stellen sich mit teils unveröffentlichten Gedichten, die eigens

für orte übersetzt wurden, vor und geben so einen Einblick in die albanische Lyrik der Gegenwart. Lassen Sie sich in eine andere Welt, fern ab von Luxus und Konsum, entführen. Im zweiten Teil des Hefts haben wir einen weiteren Raum der Lyrik in der neuen Rubrik orte-festival geöffnet. In Zusammenarbeit mit dem Internationalen Lyrikfestival Basel 2017 können Sie den Preisträger Walle Sayer näher kennenlernen. Autoren und Autorinnen des Festivals geben in orte eine kleine Kostprobe ihrer Leseauftritte. Die orte-Galerie mit Einsendungen unserer Leser und Leserinnen bildet den Abschluss des Hefts. Wir wünschen Ihnen ein frohes Weihnachtsfest und ein glückliches neues Jahr! Ihre Annekatrin Ranft-Rehfeldt und Regina Füchslin

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Eine faszinierende Welt der Poesie Albanien ist für viele Schweizer ein fernes und fremdes Land, eine Terra incognita. Das gilt wohl in besonderem Masse auch für die Lyrik. Man kennt vielleicht noch den Schriftsteller Ismail Kadare, der hervorragende Romane geschrieben hat. Sie wurden in viele Sprachen übersetzt. Er ist zweifellos die bedeutendste literarische Stimme seines Landes. Doch wer hat schon Gedichte aus Albanien gelesen? Wer ist in der Lage, auch nur einen einzigen Namen eines zeitgenössischen albanischen Lyrikers zu nennen? In dieser Ausgabe der orte-Literaturzeitschrift wollen wir das ändern und sieben Dichterinnen und Dichter aus Albanien vorstellen. Vier von ihnen haben wir Anfang Juli in Tirana persönlich getroffen: Gazmend Krasniqi, Ledia Dushi, Luljeta Lleshanaku und Manjola Brahaj. orte-Redaktorin Regina Füchslin beschreibt in ihrem Beitrag «Vom Suchen des Gedichts bis ins Unendliche» ihre Eindrücke von den Begegnungen und den Gesprächen mit den vier Autoren. Im Heft finden sich zudem Gedichte und Texte von Arian Leka, Rudian Zekthi und Visar Zhiti. Die sieben ausgewählten Lyriker gehören unterschiedlichen Generationen an und zählen zu den bedeutendsten zeitgenössischen Poeten Albaniens. Einige der im Heft abgedruckten Gedichte waren bisher noch nie veröffentlicht worden.

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Zu grossem Dank verpflichtet sind wir vor allem Hans-Joachim Lanksch, der in München lebt und seit Jahrzehnten albanische Lyrik ins Deutsche übersetzt. Er erwies sich als kundiger Führer durch die auch für uns zuvor unbekannte, aber – wie sich bald herausstellte – überaus lebendige, spannende, bereichernde und vielschichtige Welt der Lyrik Albaniens. Er hat viele der hier abgedruckten Gedichte ins Deutsche übertragen. In einem Interview, das wir mit ihm geführt haben, gibt er unter anderem auch eine Antwort auf die Frage, was ihn an der albanischen Literatur besonders fasziniert. Für viele Albaner ist die Schweiz – anders als für die Schweizer Albanien – kein unbekanntes Land, denn 200 000 bis 250 000 Albaner leben hier. Allerdings stammen nur wenige aus Albanien. Die Mehrheit, es sind rund 70 Prozent, kommen aus Kosovo, das seit 2008 ein unabhängiger Staat ist. Weitere 25 Prozent haben ihre Wurzeln in der Republik Mazedonien, in der jeder vierte Einwohner albanischer Herkunft ist. Albanische Minderheiten gibt es zudem in Griechenland, in Montenegro und in Serbien. Von den rund sechs Millionen Albanern auf dem Balkan lebt nur knapp die Hälfte in der Republik Albanien. Das hat historische Gründe. Die traditionellen Siedlungsgebiete der Albaner gehörten vom 15. Jahrhundert bis zu den Balkankriegen von 1912/1913 zum Osmanischen Reich. Viele Albaner waren im 16. und vor allem im 17. Jahrhundert


zum Islam übergetreten, meist freiwillig. Ausschlaggebend dafür waren weniger religiöse, als vielmehr politische, wirtschaftliche und soziale Gründe. Muslime mussten keine Kopfsteuer bezahlen, sie konnten in der Armee und in der Verwaltung des mächtigen Osmanischen Reiches Karriere machen. Sie waren gegenüber der christlichen Bevölkerung privilegiert. Ein Übertritt zum Islam war also attraktiv. Andere konvertierten, weil die Abgabenlast im Laufe der Zeit unerträglich wurde. Noch heute bilden in Albanien die Muslime die Bevölkerungsmehrheit. An den Friedenskonferenzen nach dem Ersten Weltkrieg, als die Siegermächte die Grenzen der auf den Trümmern des Osmanischen Reichs entstandenen neuen Nationalstaaten auf dem Balkan definitiv festlegten, gehörte der am 28. November 1912 in der südalbanischen Stadt Vlora proklamierte unabhängige Staat Albanien zu den Verlierern. Weite Teile des albanischen Siedlungsgebiets verblieben ausserhalb des Nationalstaates. Wir haben uns dafür entschieden, nur Lyrik aus Albanien zu berücksichtigen, und zwar von Autoren, die auch dort leben. Es ist also kein Heft über albanische Lyrik, denn es fehlen Autoren aus Kosovo, Mazedonien, Serbien oder Montenegro. Unberücksichtigt bleibt zudem auch Ismail Kadare, obschon er seine literarische Karriere als Lyriker begonnen hat. Er ist der bekannteste Schriftsteller Albaniens. Seinen internationalen Erfolg verdankt er seinen hervorragenden Romanen. Die zwiespältige Rolle, die er in der Zeit der stalinistischen Diktatur unter Enver Hoxha (1946 bis 1985) in Albanien spielte, vor allem aber seine nachträglichen, wenig überzeugenden Versuche, sich als Dissident in Szene zu setzen und seine vor der Wende entstandenen Romane als Abrechnung mit dem totalitären politischen System hinzustellen, sind in dieser Ausgabe Gegenstand der Rubrik zündorte. Der junge Kadare schrieb in jener Zeit im Stil des sozialistischen Realismus schwülstige, blutleere Gedichte. In einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung vom 31. März 2009 meinte Ismail Kadare auf die Frage, ob er froh wäre, wenn seine Gedichte nie veröffentlicht worden wären: «Absolut. Vielleicht waren sie politisch, vor allem aber künstlerisch schwach. Sie waren gehalten in der Rhetorik der damaligen Zeit.» Der Grenzhund, von Hans-Joachim Lanksch übersetzt, ist ein gutes Beispiel dafür.

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Der Grenzhund Er atmet schnell, Es schauen nervös Seine Augen ringsum; Ein grünes Band Umspannt seinen Hals, kräftig und muskulös, Wenn er im Walde geht mit leichtem Schritt. Voller Achtung sehen in ihren Bäumen die Nachtigallen ihn hier, Die Rehe senken das schöne Geweih auf grünen Wegen Und die Wölfe selbst, trät ihnen er entgegen, gäben den Weg ihm frei, dem soldatischen Tier. Im Gegensatz zu Ismail Kadare, der sich mit dem Hoxha-Regime arrangierte und diesem auch als Aushängeschild diente, wurde Visar Zhiti, einer der bedeutendsten Vertreter der sogenannten Gefängnisliteratur, im Jahr 1980 wegen «politischer Abweichung» zu zehn Jahren Haft verurteilt. Nach sieben Jahren wurde er vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen. Er hatte Gedichte geschrieben, die den stalinistischen Zensoren missfielen. Zwei von ihnen, Die zweite Sonne und Die Sphinx, sind in dieser orte-Ausgabe abgedruckt. Nach der jahrzehntelangen Herrschaft Enver Hoxhas und der selbstauferlegten Isolation begann sich das Land 1990 in kleinen Schritten nach aussen zu öffnen. Der Parteichef Ramiz Alia, der nach dem Tod Hoxhas 1985 die Macht übernommen hatte, geriet zunehmend unter Druck. Der Ruf nach politischen und wirtschaftlichen Reformen wurde immer lauter. Die Proteste weiteten sich aus. Die Kommunistische Partei sah sich zu Konzessionen gezwungen. Oppositionsparteien wurden zugelassen. Am 20. Februar 1991 schleiften Tausende von Demonstranten das zehn Meter hohe Denkmal Enver Hoxhas auf dem Skanderbeg-Platz im Zentrum Tiranas, das Symbol der verhassten stalinistischen Herrschaft. Angesichts der katastrophalen wirtschaftlichen Lage im Land flohen im März des gleichen Jahres Tausende auf Fischkuttern, kleinen Booten und auch auf grossen Frachtschiffen in der Hoffnung auf ein besseres Leben über das Meer nach Italien. Von diesem Massenexodus handeln einige der in dieser Ausgabe veröf-

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fentlichten Gedichte von Arian Leka. Bei den ersten freien Parlamentswahlen seit 1923 siegte im März 1991 die Kommunistische Partei. Die demokratische Opposition setzte sich allerdings in einigen grösseren Städten im Norden und im Zentrum des Landes durch. Ein Jahr später errang sie bei den vorgezogenen Parlamentswahlen die absolute Mehrheit. Der Machtwechsel war vollzogen. Die Sozialisten, die einstigen Kommunisten, mussten mit der Oppositionsrolle vorlieb nehmen, zumindest für einige Jahre. Die politischen Wirren der Übergangszeit fanden ihren Niederschlag auch in der Literatur. Ausdruck des Bruchs mit dem sozialistischen Realismus aus der Zeit der kommunistischen Diktatur, in der die Dichtung lediglich als Vehikel der Parteiideologie diente, war die avantgardistische Zeitung E për-7-shme («Geeignetes»). Sie erschien anfang der 90er-Jahre in wenigen Nummern, dann wurde sie eingestellt. Je ein Exemplar von vier Ausgaben wird in der albanischen Nationalbibliothek in Tirana aufbewahrt. Wir haben eine der Frontseiten in den Räumen der Bibliothek fotokopieren dürfen. Sie ist in der vorliegenden Ausgabe in Form einer Fotokopie abgedruckt. Die Zahl 7 zwischen den beiden Wörtern për und shme bezieht sich auf die sieben Dichter, die damals bei der Literaturzeitung mitgearbeitet haben. Einer von ihnen war Rudian Zekthi, der in diesem Heft vorgestellt wird. Er hat zudem für uns einen Beitrag über die Bedeutung von E për-7-shme in der turbulenten Zeit des Übergangs von der Diktatur zum Mehrparteiensystem geschrieben. Ganz offensichtlich hat die Zeitung, deren Autoren mit allen Konventionen brachen, neue Ausdrucksformen suchten und mit der Sprache experimentierten, tiefe Spuren hinterlassen und viele Dichter beeinflusst. Das gilt auch für die Lyriker der jungen Generation, die wir in Tirana trafen. So ist es nicht erstaunlich, dass ein Buchladen mit einem angeschlossenen Restaurant in der Hauptstadt den Namen E për-7-shme trägt. Er wurde 2004 von Ervin Hatibi eröffnet, einem der sieben Mitarbeiter der Zeitschrift. Hier wird, seit einigen Jahren unter neuer Leitung, über Literatur und Politik diskutiert. Es finden Lesungen und andere kulturelle Veranstaltungen statt. Am Gebäude ist eine Tafel angebracht. Unter den Worten E për-7-shme steht «qoshk për libra» – auf Deutsch: Bücherecke. Wir haben die Tafel fotografiert und als Titelbild für die vorliegende Ausgabe der orte-Literaturzeitschrift gewählt.

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Von den sieben hier vorgestellten Autoren schreiben zwei, Ledia Dushi und Manjola Brahaj, in der nicht kodifizierten literatursprachlichen Version des Gegischen. Das Albanische, eine eigenständige indogermanische Sprache, die mit keiner andern verwandt ist, zerfällt in zwei Hauptdialekte: in das Gegische, das im Norden Albaniens und auch in Kosovo gesprochen wird, und in das Toskische, das im Süden Albaniens verbreitet ist. Die Grenze zwischen den beiden Sprachen und Kulturräumen bildet der Fluss Shkumbin, der das Land südlich der Hauptstadt Tirana von Osten nach Westen durchfliesst. Die in der Zeit der Hoxha-Diktatur zu Beginn der Siebzigerjahre dekretierte und noch heute gültige Standardsprache basiert auf dem Toskischen und nicht auf dem Gegischen, das von der Mehrheit der Albaner gesprochen wird. Das hat vor allem damit zu tun, dass die Kommunisten ihre Hochburgen im Süden hatten. Die Verwendung des Gegischen in schriftlicher Form war fortan in den Augen der Anhänger der vereinheitlichten Schriftsprache eine politische Provokation. Das ist der Grund dafür, dass Ledia Dushi nach der Veröffentlichung eines Gedichtbands in gegischer Sprache in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre vorgeworfen wurde, sie wolle die albanische Nation spalten. Doch auch in der ideologisierten und politisierten Sprachenfrage haben sich die Gemüter beruhigt. Heute regt sich, wie die junge Manjola Brahaj betont, kaum mehr jemand auf, wenn Gedichte in Gegisch veröffentlicht werden. Ob die lyrischen Werke in Gegisch oder in Toskisch geschrieben sind – sie alle ziehen den Leser mit ihrer Frische und Unmittelbarkeit in ihren Bann. Sie bringen uns das weitherum unbekannte Albanien und seine faszinierende Poesie ein Stück näher. Cyrill Stieger

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Visar Zhiti

Visar Zhiti, 1952 geboren, ist einer der bekanntesten Schriftsteller Albaniens. Er schreibt Lyrik, Erzählungen, Essays, Romane. Zugleich ist er einer der bekanntesten Verfolgten der albanischen kommunistischen Diktatur. Nach dem Studium der albanischen Sprache und Literatur arbeitete Zhiti als Lehrer. Das Gutachten zweier Schriftsteller über seine beim Staatsverlag eingereichten Gedichte zog 1979 seine Verhaftung nach sich. Die beiden Gutachter hatten Zhiti bescheinigt, seine Gedichte seien «voller falscher politischer Ideen, dekadenter oder ‹linker› Konzepte und offen beeinflusst durch die reaktionäre modernistische Lyrik». 1980 wurde Visar Zhiti deswegen zu zehn Jahren Haft, Berufsund Publikationsverbot sowie Entzug des Wahlrechts verurteilt. Bis 1987 war er in zwei berüchtigten Gefängnissen inhaftiert, in denen unter unmenschlichen Bedingungen schwerste Arbeit in Bergwerken geleistet werden musste. In dieser Zeit «schrieb» Zhiti über hundert Gedichte im Kopf, die er auswendig lernte und später zu Papier brachte und veröffentlichte. 1987 wurde er entlassen. Da er sich weigerte, mit dem albanischen Staatssicher-

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heitsdienst Sigurimi zusammenzuarbeiten, blieb ihm nichts weiter übrig, als in einer Ziegelfabrik arbeiten zu «dürfen». Nach dem offiziellen Sturz der Diktatur war Zhiti in vielerlei wechselnden Bereichen tätig – Arbeit in Italien, Journalist, Abgeordneter, Aufenthalte in Deutschland und den USA, Verlagsdirektor, Bibliotheksdirektor des Parlaments (wo sein Vorgesetzter einer der beiden Schriftsteller war, deren Gutachten ihn vor ­Gericht und ins Gefängnis gebracht hatte), Kulturattaché an der albanischen Botschaft in Rom, freier Schriftsteller, Arbeit im Aus­senministerium, 2013 sechs Monate Kulturminister bis zur Abwahl der Regierung, seit 2015 vertritt er Albanien beim Vatikan als Geschäftsträger. Visar Zhiti wurde mit zahlreichen renommierten in- und ausländischen Literaturpreisen ausgezeichnet, darunter mit dem albanischen Nationalen Literaturpreis. Gedichtbände von ihm wurden ins Italienische, Englische, Chinesische, Rumänische, Kroatische und Mazedonische übersetzt. Zhiti übersetzt aus dem Italienischen ins Albanische. 2008 wurde er Mitglied des italienischen PEN.

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Die zweite Sonne Viel Blut wurde gegossen auf diese Welt doch noch haben wir keine Blutsonne geschaffen. Hör, mein Freund, diese Worte die beben: eine zweite Sonne wird aufgehen aus unserem Blut herzförmig Eines der Gedichte aus den 70er-Jahren, derentwegen der Autor zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde. Der Ruf nach einer zweiten Sonne wurde in der Anklageschrift «analysiert» als Aufruf zu einem anderen politischen System, da damals die «Sonne des Sozialismus» leuchtete.

Die Sphinx Die schreckliche Sphinx mit Dämmermähnen ruht düster auf der Wüste, ihre schwere Majestät von Stein machte sie, aaah, unbeweglich! Löwen schweifen durch Wälder in Windhöhlen und Regengüssen, doch die Sphinx unterm Sternsand wird gemartert von ihrer Majestät. Das endlose Fleisch der Sklaven bilden die Klauen bombastischer Sphinxe. Die Wüste lässt erdfern gipfelnd die Majestät wanken die schreckliche Majestät, die hohle Majestät. In der Anklageschrift gegen den Autor wurde dieses Gedicht als Allegorie auf die Partei und ihren Führer, den Diktator Enver Hoxha, gewertet. 12


Pegasus kommt in meine Zelle Am Tag – vormittags, nachmittags, Nachts – vor Mitternacht, um Mitternacht, nach Mitternacht, liess mich jedes Trappeln erschauern … … es kam mir vor wie Ketten, als käme die Polizei um mich zu holen, mich in ein Loch zu werfen wo es dem Grauen selbst grauen würde. Jedes Trappeln … Jäh das Trappeln Was will es? … Ein Trappeln … Ich spitze die Ohren, gleichsam ängstlich … Nahe dem Fensterschlitz, im spärlichen Gras – Hufe. Da graste ein Pferd wie einst, wie im Traum. Sein schöner Körper – Dämmerung, gebadet in Wasser und Mond. Welch gütiges Geschick brachte dich her? Bist du nicht gar der Pegasus?! Auch ich habe Wünsche gehabt, grüne, graszarte. Manche wurden mir zertreten, manche habe ich behalten. Dir werf ich sie zu – iss sie! Und mit ausgedörrten Lippen murmelte ich langsam wie man murmelt in der Liebelei: «Pferd, oh Pferd ...»

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Es hob den Kopf, wir sahen einander von Aug zu Aug. Seit langem hatte ich mich nicht im Spiegel gesehen, hatte fast schon mein Gesicht vergessen, und sah mich nun in Pferdeaugen die so menschlich waren und voll leuchtender Sorge. Kahlgeschoren war ich, verdreckt und stoppelbärtig ... Ich wich aus wollte dem Pferd nicht wild vorkommen. In der Zelle in Kukës Dezember 1979

so schön sang die Nachtigall am Gitter meines Fensterschlitzes, da wurden mir selbst die Gitterstäbe zu grünen Zweigen des Kirschbaums. Der Fussboden übersät von Zwitschern und auf den Knien klaubte ich wie Brotkrümel wie Krümel Leben jedes Zwitschern auf. Im Knastloch, 1980 Aus dem Albanischen von Hans-Joachim Lanksch

Die Gedichte sind der Internet-Zeitschrift transcript (www.transcript-review.org), Nummer 24 Neue Lyrik aus Albanien, entnommen.

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Rudian Zekthi

Rudian Zekthi vor der mittelalterlichen Burg in Elbasan.

Rudian Zekthi wurde im Juni 1970 in Elbasan, Albanien, geboren. Er hat 1990 bis 1994 an der Philologischen Fakultät der Universität Tirana studiert. Er hat drei Gedichtbände in den Jahren 1990, 1994 und 2011 veröffentlicht. Mit dem letzten, mit Messe betitelten Band hat er den vom Kulturministerium verliehenen Nationalen Literaturpreis für Lyrik gewonnen. Seit 1996 arbeitet er als Professor für Komparatistik und Ästhtetik an der Universität Elbasan. Als Wissenschaftler hat er zwei theoretische Abhandlungen publiziert: Betrachtung ohne Hintergrund, 2012 (kann als erste originale Ästhetik auf Albanisch angesehen werden), und Genres als sprachlicher und äusserlich transfigurierender Usus, 2015 (ebenfalls eine originale Theorie über literarische Genres). Schreibt von Zeit zu Zeit in der Presse Artikel über Gesellschaft, Kultur und Politik.

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Eier essen Ich entdeckte dass ich Eier essen kann. Wie ein Pappelhirn krieche ich an Mauern und mit der Zunge berührt mich das Hochland der Falter rings um das Licht. Auf diesem Hochland kriechen im Brand der Sonne Menschen und ihr Schweiss. Da Quecksilberkreise die Hölle beleuchten gibt es eine Hölle. Das Herz liegt so dass man, waagerecht gesehen, unter der Kralle das Herz wie Erdöl vollbartgross erkennt. Aus dem Ei fliesst Fett gleich der Fettigkeit der Nachtfalter von dem das Meer feist wird. Das Ei ist aufgeschlagen das Zimmer verschönert und draussen muss man essen. Doch das Zimmer wird nicht gegessen ein Acker mit Sonnenblumen ist darin und sinkende Quecksilberkreise steigen auf am Lärm der Tatsache drinnen. Zum zweiten Mal sehen wir Wolken unbedeckt von der grössten Klarheit der Hälfte des Ganzen. Ich entdeckte dass das Zimmer nicht gegessen wird doch an verschiedenen Punkten des Eies rhythmisch wächst. Nachts. Die Nacht ein Loch Erdöl im Kamin der Erde. In der Form eines Halbeies jeder Finger des Menschen umringt vom zahnigen Fenster des Bartes. Das Ei schlägt wie ein Blitz in mein Hirn ein. Da wo es gelb wird. Wer hat mir erlaubt Eier zu essen? Unter diesem Himmel von Geistern mechanisiert vom Erschaudern mir ähnlicher Wesen welchem künftigen Ereignis kam es in den Sinn dass ich Eier essen kann um der Welt noch näher zu kommen? Glühwürmchen lassen die Balken des Hauses einstürzen lassen es aussehen als fiele Feuer auf das Ei wie auf das Haus. Nachts. Quecksilberkreise beleuchten den Verkauf des Geistes zu fünf Hellern für Eier.

Die Gedichte Eier essen, Ich erfand das Nichteinstürzen der Decke und Unverbesserliches Menschenfleisch sind unveröffentlicht. Unter der Haut und Zusätzliche Musik sind der Internet-Zeitschrift transcript (www.transcript-review.org), Nummer 24 Neue Lyrik aus Albanien, entnommen.

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Ich erfand das Nichteinstürzen der Decke Das Unvermögen der Menschen ein Gedächtnis zu haben liess mich den Nichteinsturz der Decke erfinden das Tier das Zudecken des Tieres eingesperrt wie der Schatten einer Realitäts-Blase. Der Mensch erwacht mitten in dieser Wüste Wasser gibt es nicht und er trinkt das Gesicht er durchschreitet Weiten und kommt er ans Ende der Luft findet er dort Wasser als eine freskengeschmückte Kathedrale über ihr scheinen zwei – drei Sterne zwei – drei Höhen eingeritzt in die Höhe des künstlichen Abbruchs der Abbildung. Die Decke unterbrochen von der Berührung stürzt eben nicht in dem Augenblick ein den ich vergesse im Gegenteil man muss eine Vorrichtung erfinden die bei der leisesten Berührung die Unbeweglichkeit isoliert. Die Vorrichtung: Wasser und Herz Wasser dann das Herz dann Skizzen im Staub mit dem Spiegel gezeichnet dann das Gedächtnis wie ein Roboter der die Höhe in die Möglichkeit ändert in zwei verschiedenen Richtungen zu vergessen. Je höher man die Decke neben den Himmel hebt desto mehr Sterne sieht man wird ihr Licht mitten am Mittag mehr dringt es durch Tränen und füllt sie mit weichem Wasser. Zugleich schlafend und wachend fällt mir ein dass die Sterne früher herabstürzten danach sind sie nicht herabgestürzt dann erinnere ich mich an nichts auf welche Art man nach der lockeren Luft Wasser nur wie geschnitzt findet. Wegen der Unmöglichkeit das Wasser aus der Wüste zu vertreiben werde ich am Herabfallen der Decke sterben wenn ich auch nicht am Leben bin bevor die Sterne zu Boden stürzen.

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