Schlicht und einfach Liner

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Carl August LiNER

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Die frühe moderne Druckgrafik

FormatOst Leseprobe



LiNER

Carl August

Die frühe moderne Druckgrafik Sabine Hügli-Vass


Herausgeber

Historisches und Völkerkundemuseum, Museumstrasse 50, 9000 St. Gallen

© 2018 Verlag FormatOst, CH-9103 Schwellbrunn Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, ­elektronische ­Datenträger, auch auszugsweiser Nachdruck sind vorbehalten. Diese Publikation erscheint anlässlich der Ausstellung «Schlicht und einfach Liner. Druckgrafik und Zeichnungen» vom 24. November 2018 – 14. April 2019 im Historischen und Völkerkundemuseum St. Gallen. Publikation: Sabine Hügli-Vass Projektteam: Sabine Hügli-Vass, Daniel Studer, Isabella Studer-Geisser Umschlagbild: Liner, Dame mit Hut Gestaltung: Janine Durot Lektorat: Sabina Carraro, Peter Müller Druckvorstufe: Verlagshaus Schwellbrunn Druck: Galledia AG, Flawil Bindung: Bubu AG, Mönchaltorf Gesetzt in Rotis Serif Std und Akkurat Gedruckt auf Lessebo Smooth white, 120 g/m² ISBN 978-3-03895-004-2 www.verlagshaus-schwellbrunn.ch


Inhalt

6 Geleitwort

8 Vorwort

10 Einleitung 14 Zeittafel 22 Ausstellungen

28 Skizze der künstlerischen Biografie 32 Liners Druckgrafik 32 Radierung 36 Künstlerplakate 42 Original-Lithografien 50 Holzschnitte 84 Katalog der Holzschnitte 150 Holzstöcke ohne Handabdruck 153 Anmerkungen 161 Literatur 163 Abbildungsverzeichnis 166 Katalognummern 167 Bildnachweis 168 Dank


Geleitwort 6

In ihrem Testament hat die im September 2011 verstorbene Katharina Liner-Rüf, die Witwe von Carl Walter Liner (Carl Liner junior), eine Stiftung mit dem Ziel errichtet, der Nachwelt das Andenken an die kulturellen Leistungen von Carl (Walter) und Carl August Liner (Carl Liner senior) zu erhalten; das Landhaus Unterrain, das Vater und Sohn Liner als Wohn- und Wirkungsstätte gedient hatte, soll weiter zu einem lebendigen Treffpunkt für die Auseinandersetzung mit dem Werk der beiden Liner werden. Geleitet von diesem letzten Willen hat die im Jahr 2012 in das Handelsregister des Kantons Appenzell Innerrhoden eingetragene «Stiftung Landhaus Unterrain – Carl und Katharina Liner» im Jahr 2015 das Landhaus Unterrain einer grossräumigen Renovation unterzogen und dabei insbesondere die beiden Ateliers und die Wohnung von Carl und Katharina Liner umfassend erneuert. Das Landhaus strahlt nun wieder in neuem Glanz inmitten der rund 4.5 Hektaren, die zum Nachlass von Katharina Liner-Rüf gehörten. Einen Teil des grafischen Werkes von Carl Liner senior und insbesondere auch der anlässlich der Renovationsarbeiten zu Tage getretenen Holz-Druckstöcke konnte die Stiftung dem HVM schon für die vielbeachtete Ausstellung «Faszination Farbholzschnitt» (Juni 2016 bis März 2017 in St.Gallen, April bis Juni 2017 in Reutlingen und Juli bis Oktober 2017 in Solothurn) zur Verfügung stellen. Da aber weiter auch zahlreiche Lithografie-Druckplatten zum Vorschein gekommen waren, trat der Direktor des HVM, Daniel Studer, mit der Idee einer bislang noch nicht vorhandenen, umfassenden Aufarbeitung des grafischen Werkes von Carl Liner senior samt entsprechender Ausstellung an den Stiftungsrat heran, welcher diese Idee gerne aufgenommen und unterstützt hat.


Abb. 1 Landhaus Unterrain bei Appenzell

Die professionelle Würdigung dieses grafischen Werkes sei den hierfür entsprechend ausgebildeten Spezialistinnen und Spezialisten überlassen. Dem Stiftungsrat der «Stiftung Landhaus Unterrain – Carl und Katharina Liner» ist es an dieser Stelle vielmehr ein ausdrückliches Bedürfnis, diesen Spezialistinnen und Spezialisten einen grossen und ganz herzlichen Dank auszusprechen. Wir sind vom investierten Herzblut und von der geleisteten Arbeit tief beeindruckt und freuen uns, mit unserem Beitrag einen in der Tat bislang nicht vorhandenen Blick auf das grafische Werk von Carl Liner senior ermöglicht zu haben. Der Titel der Ausstellung «Schlicht und einfach Liner» trifft den Nagel in mehrfacher Hinsicht auf den Kopf: Gerade die einfachen Motive des Appenzeller Alltags und auch deren einfache, eben schlichte und ungeschönte Darstellung hatten es Liner senior angetan. Gleichzeitig war er mit seinem grafischen Werk schlicht und einfach seiner Zeit voraus und wurde so zum Wegbereiter der neuen Künstlergrafik im frühen 20. Jahrhundert – auch dies wiederum «schlicht und einfach», denn Liners diesbezüglicher Verdienst wurde, soweit ersichtlich, bis heute nicht in gebührendem Ausmass wahrgenommen. Dass sich dies nun ändert, ist dem Team des HVM und insbeson­ dere der Gastkuratorin Sabine Hügli-Vass zu verdanken, und es erfüllt den Stiftungsrat mit Freude, aber auch mit Stolz, einen Beitrag dazu beigesteuert zu haben. Stiftungsrat der «Stiftung Landhaus Unterrain – Carl und Katharina Liner»

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Abb. 2

Vorwort Atelier von C. A. Liner im Landhaus Unterrain in Appenzell

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Ausstellung und Katalog über das druckgrafische Werk von Carl August Liner entsprechen einem lange gehegten Desiderat. Bereits in meiner kunsthistorischen Abschlussarbeit über Martha Cunz an der Universität Zürich vor bald 30 Jahren hatte ich ein Werkverzeichnis der qualitativ hochwertigen Farbholzschnitte von Carl August Liner vermisst. Zu diesem Zeitpunkt gab es ausser einem Abbildungsband mit Zeichnungen einzig die Publikation von Franz Felix Lehni von 1970, die aber nicht nach wissenschaft­ lichen Grundsätzen abgefasst und dementsprechend nur eingeschränkt verlässlich ist. Als ich bei der Vorbereitung zur Sonderausstellung «Faszination Farbholzschnitt» (2016) Zugang zu Liners Nachlass im Landhaus Unterrain in Appenzell erhielt, stellte ich fest, dass nebst Farbholzschnitten auch die meisten Druckplatten vorhanden sind. Dies ist eine grosse Seltenheit, wurden doch Druckstöcke vom Künstler beziehungsweise seinen Nachkommen häufig entsorgt. Spätestens da reifte der Entschluss, Carl August Liner eine Einzelausstellung unter besonderer Berücksichtigung seiner Holzschnitte und Lithografien auszurichten. Ich trug meine Idee an die Stiftungsräte der «Stiftung Landhaus Unterrain – Carl und Katharina Liner» heran. Diese reagierten positiv und ermöglichten diese Ausstellung mitsamt Katalog. Dank dem Engagement der Stiftung konnte das HVM die Kunsthistorikerin Sabine Hügli verpflichten und sie mit dem Projekt zur Erarbeitung einer Ausstellung mit wissenschaftlicher Begleitpublikation beauftragen. Sie hat ihre Aufgabe hervorragend gelöst und legt mit diesem Katalog ein kritisches Verzeichnis des druckgrafischen Œuvres von Liner vor, wie es bislang noch keines gab.


Abb. 3 Altes Atelier im Landhaus Unterrain in Appenzell, 2018

* Brief von Martha Cunz an die Eltern, 18. März 1903, SIK-ISEA, Zürich, Schweizerisches Kunstarchiv, Dokumentation Martha Cunz.

Jetzt wissen wir, dass Liner zum gleichen Zeitpunkt wie seine fünf Jahre jüngere St. Galler Kollegin Martha Cunz oder Wassily Kandinsky, nämlich 1902, mit dem japanisierenden Farbholzschnitt begonnen hat. Das bedeutet, dass auch er der ersten Generation der in Mitteleuropa tätigen Holzschnitt-Künstler zuzuordnen ist, die einen wesentlichen Beitrag zur Erneuerung der Künstlergrafik im frühen 20. Jahrhundert geleistet hat. Die beiden St. Galler verstanden sich auch persönlich sehr gut. Man wohnte in München-Schwabing nur wenige Strassen auseinander, und die gastfreundliche Malerfamilie Liner war häufig erste Anlaufstation für Martha Cunz. In einem Brief  an den Vater berichtete sie über eine Abendeinladung im März 1903 beim Ehepaar Carl August und Cécile Liner-Bernet: «Der Abend war sehr gemütlich u.[nd] recht ächt schwyzerisch [sic], da ausser mir niemand geladen war, gerade damit wir ungestört Dialekt sprechen konnten. Ich muss sagen, er u.[nd] seine Frau, die sehr glücklich zusammen scheinen, gefallen mir mit jedem Mal besser.» * So gut, wie sich Carl August Liner und Martha Cunz verstanden haben, so gut hat auch die Zusammenarbeit des HVM mit der ­Stiftung Landhaus Unterrain und der Gastkuratorin Sabine Hügli geklappt. Ich danke dem Stiftungsrat der Stiftung Landhaus Unterrain für seine wohlwollende Begleitung und die finanzielle Unterstützung. Mein herzlicher Dank gebührt Sabine Hügli. Mit viel Fachwissen und kunsthistorischem Gespür hat sie den künstlerischen Weg von Carl August Liner nachgezeichnet, bislang verborgene Quellen aufgespürt und damit die Liner-Forschung ein gewaltiges Stück vorwärts gebracht. Daniel Studer, Direktor HVM St. Gallen

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Einleitung 10

Carl August Liner (1871–1946) gilt als einer der wichtigsten Ostschweizer Künstler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er war ein gebürtiger St. Galler, der sich in der zweiten Lebenshälfte in Appenzell niederliess und sich intensiv mit der ländlichen Kultur des Alpsteins beschäftigte. In der Kunstgeschichte gilt Liner als Hauptvertreter der Pleinairmalerei (Freiluftmalerei) in der Ostschweiz1 und ist bis heute ein geschätzter Maler des appenzellischen Volks- und Brauchtums. Sein malerisches Werk besteht aus Porträts, Landschaften, Figuren- und Genrebildern. Die Bildthemen seiner Druckgrafik, die hier das Hauptthema bildet, sind denen seiner Malerei verwandt. Die Lithografien zeigen hauptsächlich ­ Landschaften und Strassenansichten aus Ostschweizer Kleinstädten. In den Radierungen und Holzschnitten widmete er sich primär Themen des ländlichen Alltags. Besondere Faszination entwickelte er für die Naturverbundenheit der Landbevölkerung und deren ­Liebe zum eigenen Kulturgut. Neben Szenen mit Menschen und Tieren reihen sich Porträts seiner Familienmitglieder, Geburtsanzeigen, Neujahrsgrüsse, Urkundengestaltungen und Veranstaltungsflyer. Nach seinem Tod geriet Liners Andenken zunehmend in Vergessenheit. Durch die umfangreiche Biografie aus dem Jahr 1970 von Franz Felix Lehni wurde ein erstes Überblickswerk geschaffen. Es dient heute noch als Standardpublikation zum Leben und Werk des Künstlers, wird jedoch insbesondere wegen weitgehend fehlender Quellenangaben dem heutigen wissenschaftlichen Anspruch nicht mehr vollends gerecht.2 Erst durch das 1998 von der Heinrich Gebert Kulturstiftung eröffnete «Liner Museum», heute bekannt als Kunstmuseum Appenzell, wurden Forschungen zu Liner und sei-


Abb. 4

11 Fotoatelier Ch. Schalch in St. Gallen, Carl August Liner, wohl 1890er-Jahre

nem Künstlersohn Carl Walter (1914–1997) wieder aufgenommen, Aufsätze publiziert und regelmässige Ausstellungen gezeigt. Während sich der Sohn mit diversen modernen Strömungen der Nachkriegszeit auseinandersetzte und seine Bedeutung für die Schweizer Kunstgeschichte schon länger feststand, versuchte die Forschung auch den Vater in den Kontext seiner Zeit einzuordnen.


Bisher wurde das druckgrafische Werk von Liner keiner wissenschaftlichen Untersuchung unterzogen und über die genauen Datierungen oder die Entstehungshintergründe der Arbeiten war wenig Wissen vorhanden. Im Rahmen dieser Publikation und einer Ausstellung im Historischen und Völkerkundemuseum in St. Gallen (HVM) wurde erstmals das druckgrafische Werk von Liner umfangreich aufgearbeitet. Es zeigte sich, dass die Druckgrafik als Schlüsselwerk für eine Neubewertung seines künstlerischen Nachlasses gesehen werden kann. Bisher war kaum bekannt, dass Liner um 1900 ein wichtiger Vertreter der frühen modernen Druckgrafik in der Schweiz war. In früheren Publikationen zur Geschichte der modernen Schweizer Druckgrafik wurde Liner lediglich vereinzelt erwähnt und seiner Bedeutung in der Grafikgeschichte der Schweiz kein besonderer Stellenwert beigemessen. In der Tat ist sein druckgrafisches Werk eher klein. Das grafische Kernwerk, die Holzschnitte, umfasst gemäss dem aktuellen Stand der Kenntnis 38 Arbeiten. Daneben sind vereinzelte Radierungen und Lithografien bekannt. Die Grafik spielte jedoch in Liners Gesamtœuvre eine zentrale Rolle. Sie ist verblüffend modern und lässt auf anschauliche Weise eine enge Verbindung des Künstlers mit dem Gedankengut der abstrakten Moderne erkennen. Die Beschäftigung mit dem Holzschnitt und der Lithografie diente nicht nur ihm, sondern einer ganzen Künstlergeneration seiner Zeit als wichtiger Impulsgeber für neue künstlerische Ausdrucksformen, die schliesslich die Entwicklung der klassischen Moderne entscheidend mitprägten. Liner galt zu Lebzeiten als ein Künstler, der eine moderne Kunstauffassung vertrat und die Kunst in dieser Hinsicht mit viel Engagement zu fördern versuchte. Er war am Puls der frühen ab­strakten Moderne, nahm deren Grundprinzipien auch in seine Kunst auf und war stets bestrebt, nicht der blossen Nachahmung zu verfallen, sondern seinen künstlerischen Ambitionen treu zu bleiben.

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Die Verknüpfung von Recherchen zu den einzelnen Werken mit der Biografie des Künstlers und den Fakten der Zeitgeschichte ergab, dass Liner zusammen mit einer Gruppe weiterer Künstler einen wesentlichen Beitrag zur Verbreitung der modernen Druckgrafik in der Schweiz und in Deutschland leistete.3 Er selbst feierte be­ sonders mit seinen Farbholzschnitten ansehnliche Erfolge. Diese zeigen, dass seine Tätigkeit als Grafiker in seiner Biografie einen besonderen Stellenwert einnehmen muss. Bisher hat man angenommen, dass er sich der Grafik nur aus Gründen des Gelderwerbs widmete.4 Liner setzte jedoch die Druckgrafik als gezieltes und effizientes Mittel der künstlerischen Selbstvermarktung ein: Durch die eigenhändige Durchführung des Druckvorgangs konnte er die Werke selbst vervielfältigen. Die gleichzeitige Präsentation der


Arbeiten in verschiedenen Ausstellungen und deren Verkauf zu erschwinglichen Preisen vergrösserte die Anzahl potenzieller Käufer. Ein solches Vorgehen steigert auch den Bekanntheitsgrad eines Künstlers auf effiziente Weise – eine wirksame Marketingstrategie. Liners Erfolg wurde damit gekrönt, dass der Bund 1905 gleich mehrere Farbholzschnitte des Künstlers für die Bundeskunstsammlungen ankaufte. Dieses Buch ist als Ergänzung zu den vorangehenden Forschungen über Liner zu sehen und soll dem Laien wie auch dem Fachmann gleichermassen dienen. Im ersten Teil des Buches erwartet den Leser ein Überblick über die wichtigsten biografischen Fakten. Der zweite Teil widmet sich dem Hauptthema, der Original-Grafik (Radierung, Lithografie und Holzschnitt), also jene druckgrafischen Erzeugnisse, die als eigenständige Kunstwerke und nicht als Gebrauchs- respektive Werbegrafik im engeren Sinne gelten. Eine Ausnahme bilden die Plakat-Gestaltungen, da es sich dabei um Künstlerplakate handelt. Im dritten Teil wird der «Katalog der Holzschnitte» aufgeführt, teilweise mit Werkkommentaren der Autorin. Sabine Hügli-Vass

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Abb. 5

Zeittafel 1871

Geburt Carl August Liners (1871–1946) am 8. Juni 1871 als drittes von acht Kindern der Eltern Josef Anton Liner und Johanna Carolina, geb. Blattner, im Elternhaus an der Speicherstrasse 17 in St. Gallen-Tablat.

1886–1890 Besuch der Technischen Abteilung der Kantonsschule St. Gallen.

1890 Matura in St. Gallen (Frühjahr).

1890–1893

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Studium an der Königlichen Akademie der Bildenden Künste in München ab dem Wintersemester 1890/1891. Immatrikulierung in der «Naturklasse» von Prof. Johann Caspar Herterich (1843–1905).5 Aufenthalte am Ammersee bei München zusammen mit der Malerklasse von Prof. Paul Höcker, der den Studenten den Pleinairismus (Freiluftmalerei) näher brachte. Kurse in einer Spezialschule für künstlerische Anatomie bei Ludwig Schmid-Reutte (1863–1909).6

1891 Artillerie-Rekrutenschule in Bière (VD).

um 1892 Offiziersschule in Thun.

1893 Studienabschluss in München.7

C. A. Liner, Selbstporträt, 1895


1894 Rückkehr nach St. Gallen. Einrichtung eines eigenen Ateliers im Elternhaus an der Speicherstrasse 17 in St. Gallen-Tablat. Von da an malerische Streifzüge durchs Appenzellerland nach dem Vorbild Emil Rittmeyers. Gelegentliche Malaufenthalte am Untersee, in Altenrhein, im Rheintal und Toggenburg. Auszeichnung zum Leutnant am 1.12.1893.8

1895 Herstellung der ersten Radierung, vgl. Porträt von Emil Rittmeyer (Abb. 14).

1896/1897 Teilnahme am ersten grossen Künstlerwettbewerb zusammen mit 20 weiteren Mitstreitern. Wettbewerbsthema war die Ausschmückung der Waffenhalle für das Schweizerische Landesmuseum in Zürich.9 Ferdinand Hodler (1853–1918) gewann den ersten Preis.10

1897 Beginn einer regen Ausstellungstätigkeit in der Schweiz und in Deutschland. Im Sommer Aufenthalte auf dem Land oberhalb von Brülisau (AI)11 und im übrigen Appenzellerland.

1897–1915 Mitarbeit als Illustrator bei Die Schweiz. Schweizerische illustrierte Zeitschrift.12

1897–1898 Studienreise nach Rom (Dezember): Kunst- und Antikenstudium, Kurse an der Scuola Libera der italienischen Akademie und der Académie de France.13 In Terracina, am Golf von Gaeta und in Neapel entstanden Aquarelle und Zeichnungen mit Landschaften, Strassenszenen sowie Figuren und Genrebilder mit ländlichen Bewohnern. Erkrankung an Malaria im Sommer 1898 und Rückkehr nach St. Gallen.

1898/1899 Grossauftrag zusammen mit Johannes Stauffacher (1850–1916), Professor an der St. Galler «Zeichenschule für Industrie und Gewerbe», für die künstlerische Gesamtgestaltung des Culturhistorischen Festzuges, der am 15. März 1899 in St. Gallen stattfand.14 Im Rahmen dieses Auftrages entstand Liners erstes Werbeplakat (Abb. 19).

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Geissbub Kat. Nr. 1 Titel Geissbub Datierung 1902 Technik Farbholzschnitt Masse 32,8 x 46,1 cm Bezeichnungen unten links im Bild: «C. Liner.»; unten links: «Original-Farbholzschnitt (Handdruck)» Druck 5 Holzplatten; Farben: Lila, Orange, Hellblau, Blau, Grün, Braun, Dunkelbraun

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Literatur [Autor unbekannt], «Basler Kunsthalle», in: Nationale Zeitung, 17. Juli 1903; P.A., «Aus der Basler Kunsthalle», [Zeitungsname und genaues Datum nicht bekannt], 1903, Zeitungsausschnitt; Vorausstellung der Schweizer. Graphischen Kunstabteilung an der internationalen Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik, Ausst.-Kat. Zürcher Kunsthaus, 1.3.–28.3.1914, S. 9. Nr. 214.

Der Geissbub ist der erste Farbholzschnitt, den Liner schuf. Er kann auch als Camaieu-Druck bezeichnet werden.185 Ziel dieser Technik ist, die malerische Wirkung der lavierten Pinselzeichnung mit den Möglichkeiten des Holzschnittes wiederzugeben. Dargestellt ist ein auf der Wiese liegender Hirtenknabe, zwei weisse Geisslein zu seiner Rechten. Die Figur des Ziegenhirten entwarf Liner bereits einige Jahre zuvor für das Gemälde Blick von der Vögelins­egg gegen den Bodensee von 1897 und übernahm sie fast unverändert (Abb. 64).186 Ein sehr ähnliches Motiv eines entspannt in der Wiese liegenden Jungen malte einige Jahrzehnte zuvor der legendäre Münchner Maler Franz von Lenbach (1836–1904). Dieses Gemälde mit dem Titel  Hirtenknabe diente wohl als Vorbild für Liners Geissbub (Abb. 66). Liner drehte den Jungen jedoch bereits für sein Gemälde von 1897 um 180 Grad. Diese Darstellung ist ein kunsthistorisches Zitat. Er verweist damit einerseits auf seine künstlerische Verwurzelung in der Münchner Schule und andererseits stammt sein Hirte aus seiner Ostschweizer Heimatregion, dem Appenzellerland.187 Wie auch Liner, entwarf Lenbach den Hirtenknaben ursprünglich als Teil einer grösseren Komposition und erhob ihn schliesslich zu einem eigenständigen Bildmotiv.188 Lenbachs Hirtenknabe ist nicht irgendein Bild und war den Münchner Kunststudenten wie auch Liner auf jeden Fall bekannt. Es war ein Vorzeigebild der einflussreichen Münchner Schule sowie der 1858 gegründeten Münchner Schack-Galerie, deren Sammlung eines der ersten Museen für zeitgenössische Kunst überhaupt war. Im Verzeichnis der Gemäldesammlung von 1895 wird der Hirtenknabe als «ganz vorzügliches Bild, das in der Geschichte der deutschen Malerei seine feste Stellung hat» bezeichnet.189 Im Juli des Jahres 1903 stellte Liner das Werk in der ersten Ausstellung des durch ihn und weitere Mitglieder neu gegründeten «Graphischen Künstlerverbandes der Schweiz» (GKVdS) in der Kunsthalle Basel aus. Der Geissbub wurde in den Zeitungsberichten mit lobenden Worten gewürdigt: «Das originellste Blatt in der kleinen Ausstellung ist ein Farbholzschnitt von C. Liner in St. Gallen […].»190 Ein weiterer Zeitungsbericht erwähnt dagegen: «Als­­ ein höchst interessanter Künstler erscheint uns Karl Liner in St. Gallen. […] Auch hier […] hat Liner das Dekorative gut verstanden; wir zögern darum nicht, ihm als Graphiker eine Zukunft zu versprechen.»191



Mädchen mit Ziegen Kat. Nr. 2 Titel Mädchen mit Ziegen Datierung 1903 Technik Farbholzschnitt Masse 16 x 22 cm Bezeichnungen im Stock: LC Druck 2 Holzstöcke; Farben: Schwarz, Orange, Blau, Braun, Dunkelbraun

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Literatur Kunstverein Glarus (Hrsg.), Katalog der schweizerischen Kunstausstellung in Glarus, 26.6.–17.7.1904, Glarus: Kunstverein Glarus, 1904, S. 9 und 20; Grautoff 1904; VIIIme Exposition Nationale Suisse des Beaux-Arts, Lausanne, Palais de Rumine, 20 août – 20 octobre [1904], Lausanne: [s.n.], 1904; Bericht in Tageszeitung «La Liberté Fribourg», 30. August 1904; Michel 1905, S. 453 Abb.; Lang 1908, S. 427 Abb.; Katalog der Juli-Ausstellung, Kunsthaus Zürich, 5.–29. Juli 1914, [Zürich: Kunsthaus, 1914], S. 13, Nr. 214; Vorausstellung der Schweizer. Graphischen Kunstabteilung an der internationalen Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik, Ausst.-Kat. Zürcher Kunsthaus, 1.3.–28.3.1914, S. 9. Nr. 210; Zeitschrift Schweizerland, 1918/19, 5. Jg. S. 39, Abb. Holzschnitt Ziegenhirtin, Text zu S. 54.; Ausstellung, Kunsthaus Zürich, 13.11.–3.12.1919, [Zürich: Kunsthaus, 1919], S. 13, Nr. 185. St. Gallen 2016, S. 41 mit Farbabb.

Mädchen mit Ziegen ist Liners zweiter Farbholzschnitt.192 Das Motiv lehnt sich sehr stark an das von Max Liebermann geschaffene Gemälde Frau mit Geissen in den Dünen (Abb. 67) an. Dieses Gemälde war 1891 an der Münchner Jahresausstellung im Glaspalast ausgestellt. Liebermann konnte es dort verkaufen, und es ­gelangte daraufhin in die öffentliche Sammlung der Neuen Pinakothek in München, wo es Liner bereits während seiner Studienzeit an der dortigen Kunstakademie sehen konnte.193 Das Motiv eines hart arbeitenden Mädchens ist ausserdem kein typisches Motiv aus dem Kulturkreis des Appenzellerlandes. Dies bestärkt die Aussage, dass sich Liner hier der genannten Vorlagen bediente. Die Mädchen der Bauernfamilien im Appenzellerland wurden in der Regel nicht für körperliche harte Arbeit herangezogen, sondern sie mussten sich die Stickerei-Kunst aneignen und brauchten dafür feine, sensible Hände.194 Liner war mit Mädchen mit Ziegen über Jahre hinweg sehr erfolgreich an diversen namhaften Ausstellungen vertreten. Im Frühling 1904 stellte er den Farbholzschnitt neben der Turnus-Ausstellung des Schweizerischen Kunstvereins unter anderem auch in der XI. Ausstellung der «Phalanx» im renommierten Kunstsalon Helbing in München aus. Dies war ein wichtiges Ereignis für die «graphische Bewegung in München».195 In den Münchner neusten Nachrichten vom 6. April 1904 schrieb der deutsche Kunsthistoriker Otto Nikolas Grautoff (1876–1937) über die bei Helbing präsentierten Holzschnitte der jungen Münchner Grafiker. Mädchen mit Ziegen und Liners übrige Arbeiten zählten gemäss dem Autor zu den besten Arbeiten der Ausstellung.196 1905 wurde Kat. 2 ausserdem zusammen mit Senn am Butternapf, neben drei Arbeiten in Schwarzweiss, in der Zeitschrift Deutsche Kunst und Dekoration ganzseitig abgedruckt (Abb. 58). Einige von Liners Werken wurden als Einzige in Farbe gezeigt und hoben sich so besonders von den übrigen ab.197 1908 fand eine Wanderausstellung der grafischen Vereinigung «Die Walze» in mehreren Städten in der Schweiz statt (St. Gallen, Zürich, Aarau). Der Publizist Willy Lang hatte in der Zeitschrift Die Schweiz ausführlich über die dort ausgestellten Arbeiten berichtet: «Auch Carl Liner hat mit seinem ‹Mädchen mit Ziegen› eine Arbeit von starken Qualitäten gegeben. Als Silhouette gesehen hebt sich das Mädchen in seinem blauschwarzkarierten Kleid vom violetten Grund in seiner Nüancierung ab, wozu das Weiss und Schwarz der Tiere die farbige Struktur vertieft. Die Zeichnung ist in ihren Umrissen prachtvoll gesehen und kommt durch die ­sichere Verteilung der Flächen zu schöner Geltung.»198



Damenbildnis Kat. Nr. 3 Titel Damenbildnis Datierung 1903/1904 Technik Farbholzschnitt Masse 16,7 x 16,7 cm Bezeichnungen im Stock: «LC»; unten links mit Bleistift: «Handdruck (Portrait)»; unten rechts: «C. Liner.» Druck 3 Holzstöcke; Farben: Schwarz, Grün-Blau, Blau

Der Originaltitel lautet Damenbildnis, und Liner datierte das Werk 1916 in einer handschriftlichen Werkliste ins Jahr 1904.199 Doch auf einem der Handdrucke dieses Holzstocks, wofür er einen orangen Hintergrund wählte, hatte er eine datierte Widmung hinterlassen: «Meiner lieben Mutter z. Weihn[achten]. 1903.» (Abb. 55). Dieser Druck belegt, dass Liner den Holzstock bereits im Winter 1903 fertiggestellt hatte und zu jener Zeit mit ersten Farbvarianten experimentierte (Abb. 56). Neben einem Blatt mit hellblauem Hintergrund und beige-orangem Inkarnat schuf er die Hauptvariante, die er vermutlich 1904 druckte (Kat. 3). Sie zeigt einen Hintergrund in blauer Farbe. Die Hautfarbe der Frau und die beiden Bäumchen sind leicht grünlich. Dargestellt ist das Porträt von Cécile Liner-Bernet. Es handelt sich um den dritten Holzschnitt, den Liner nach Geissbub und Mädchen mit Ziegen herstellte. Er ist flächig aufgefasst und dank seinem wohlkomponierten und dekorativen Charakter ausdrucksstark und modern. Er zeigt eine junge Frau im Rechtsprofil mit freien Schultern und hochgestecktem Haar. Die beiden jungen Hochstammbäumchen im Hintergrund, mit einem Singvogel auf einem Ast, sind dekorative Bildelemente, die dem Stilgedanken des Symbolismus und Jugendstils entnommen sind. Auch eine Anspielung an Ferdinand Hodler und sein Kunstprinzip des Parallelismus ist naheliegend. Die junge Frau, das Vögelchen und die Bäumchen stehen sinnbildlich und unverkennbar für Jugend, Frühling und Lebensfrische, denn es ist das Bildnis einer Jungvermählten. Der Farbholzschnitt entstand nur wenige Monate nach Liners Hochzeit mit seiner Frau Cécile Bernet. Der Verbleib der Druckstöcke dieses Holzschnittes ist nicht bekannt. Ein Bleistiftentwurf befindet sich im Kunstmuseum Appenzell (Abb. 57). Wie auf einem Entwurf zu ­sehen ist, waren ursprünglich im Hintergrund noch Pflanzen in B ­lumentöpfen vorgesehen (Abb. 57). Zugunsten des modernen, nach Reduktion strebenden Gestaltungswillens hatte Liner diese schliesslich wieder ausradiert – sind aber auf der Originalzeichnung noch erkennbar. Die verbleibenden Bildelemente im fertigen Holzschnitt besitzen kaum mehr erzählenden, sondern bloss noch symbolhaften Charakter.

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Literatur Katalog der Juli-Ausstellung, Kunsthaus Zürich, 5.–29. Juli 1914, [Zürich: Kunsthaus, 1914], S. 13, Nr. 212–213; Ausstellung, Kunsthaus Zürich, 13.11.– 3.12.1919, [Zürich: Kunsthaus, 1919], S. 13, Nr. 189; St. Gallen 2016, S. 41.



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