WanderOrte

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Literarische Werke und ihre Schauplätze

Wander Orte

Mit einem Nachwort von Urs Faes

10 Einleitung

14 «Der König der Spaziergänger»

Robert Walsers erstaunliche Wanderungen in der Ostschweiz

24 «Unter ihnen lag der Bodensee im letzten Glanz des Tages»

Vom Dunant-Platz in Heiden zum Restaurant Ochsen in Grub AR

36 «Die Abendsonne lag warm auf dem Tale»

Gottfried Kellers Verbundenheit mit dem Bauerndorf Glattfelden

46 Im selben Haus und doch getrennt

Auf den Spuren des jüdischen Erbes in Endingen und Lengnau

56 Die Macht der «Friedhofsschwerkraft»

Hermann Burgers Roman Schilten und der Ärger der Bevölkerung

65 Am Ende der Welt

Karl Kraus’ Rückzugsort und Liebesnest in Tierfehd Inhalt

Standseilbahn Ligerz-Prêles, mit Blick auf den Bielersee und die Berner Alpen.

76 «Hoch über einem Felsen stand der ebenmäβige Bau hell in der Sonne»

Eine unerwartete Liebesnacht weit hinten im Maderanertal

86 Im Reich der schwarzen Spinne Streifzug durch Jeremias Gotthelfs Welt in Sumiswald

97 «Des Menschen Seele | Gleicht dem Wasser» Goethes Begeisterung über den Staubbachfall und die Bergwelt

107 Im Reich des Wahnsinns

Ein Themenweg in Münsingen zu Friedrich Glausers Roman Matto regiert

118 Einbruch des Bösen in die Bielersee-Idylle Ligerz als Kulisse für Dürrenmatts Roman Der Richter und sein Henker

129 «Es war ein Abend von einer fast unerträglichen Süße und Schwermut» Erich Maria Remarque und seine Wahlheimat Ronco

139 «Ist hier nicht die Schweiz? Asyl!» Aline Valangin beschreibt aus ihrem Palazzo das Dorfleben von Comologno

152 Im Bann der «gotischen Kathedralentürme»

Carl Zuckmayer findet in Saas-Fee eine neue Heimat

162 «Die wunderbarsten Tiefen des Himmels»

Rainer Maria Rilke verfällt dem Zauber der Walliser Landschaft

174 «Tausend Meter Stille vom letzten Nachbarn entfernt»

Corinna Billes Romanheldin Blanca streift durch die Wälder des Réchy-Tals

183 «Da war jetzt nirgends mehr etwas anderes als die Reglosigkeit und die Stille des Todes»

Derborence – Charles Ferdinand Ramuz über die Macht der Natur und der Liebe

193 Ein kleines Kreuz über einem namenlosen

Schicksal

Stefan Zweigs Antikriegserzählung Episode am Genfer See

203 Wandern und Schreiben

Ein Nachwort von Urs Faes

209 Dank

210 Anhang

Die Twannbachschlucht verbindet Twann mit Lamboing, zwei der Schauplätze in Dürrenmatts Kriminalroman Der Richter und sein Henker.

Einleitung

Ich wandere gern, ich lese gern. Und so hat sich mir die Frage gestellt, wie ich beides miteinander verbinden könnte. Das war der Beginn der wander-orte, die in den vergangenen zwei Jahren in der Schweizer Literaturzeitschrift orte erschienen sind. Je länger ich auf den Spuren von Schriftstellerinnen und Schriftstellern oder ihrer Romanfiguren durch Schweizer Täler und Dörfer, über Hügel und Berge wanderte, je mehr ich mich auf das Projekt einliess, umso grösser wurde meine Begeisterung. Schon bald fasste ich den Entschluss, die bestehenden wander-orte zu überarbeiten und neue zu schreiben. Das Ergebnis ist dieses Buch. Bei der Wahl der Autorinnen und Autoren, denen jeweils ein Kapitel gewidmet ist, sowie des dazu passenden literarischen Werkes wurde ich von Romanen, Erzählungen und Gedichten inspiriert, die ich gelesen hatte oder gerade am Lesen war; auch von Wanderrouten auf den Spuren eines Dichters oder einer Dichterin, vom Projekt Literaturlandkarten der Schweiz mit ihren zahlreichen Einträgen zu literarischen Schauplätzen1 sowie von zwei literarischen Wanderbüchern, die im Rotpunktverlag erschienen sind.2 Ich wollte Handlungsorte und Schauplätze aufsuchen, die im literarischen Werk eine Rolle spielen, sowie Landschaften sehen, die den Schriftsteller oder die Schriftstellerin beim Schreiben inspiriert hatten. In einigen Fällen war es

auch umgekehrt: Eine Landschaft oder ein bestimmter Ort, sei es ein Dorf, ein Hotel, eine Kirche, waren der Anstoss zur Lektüre literarischer Texte, die dazu einen Bezug hatten. Bei manchen Wanderungen begleitete mich Ruedi Seitz, mein langjähriger Freund aus der gemeinsamen Internatszeit. Zur Reihenfolge der Texte: Die Wanderungen beginnen in der Ostschweiz. Weiter geht es über die Kantone Zürich, Aargau, Glarus, Uri und Bern ins Tessin. Den Schlusspunkt bilden das Wallis und der Genfersee. Die Wanderungen sind von unterschiedlicher Länge. Die einen dauern mehrere Stunden; manche von ihnen sind wegen der vielen Höhenmeter auch anstrengend und anspruchsvoll. Die im Buch angegebenen Routen lassen sich aber abkürzen oder auf einen Teilabschnitt beschränken. Bei anderen handelt es sich um gemütliche Spaziergänge.

Einige der achtzehn in diesem Buch versammelten Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus verschiedenen Epochen haben die Landschaft oder die Orte, die in ihren literarischen Werken, ihren Briefen oder Autobiografien eine Rolle spielen, selbst wandernd erkundet, etwa Johann Wolfgang von Goethe, Carl Zuckmayer oder Robert Walser. Sie alle waren begeisterte und ausdauernde Wanderer. Meine eigenen Wanderungen mit einem Roman oder Gedicht im Rucksack waren faszinierende, die Sinne, den Geist und die Fantasie belebende und beflügelnde Entdeckungsreisen. Drei Beispiele: Ich stiess auf ein Hotel in der hintersten Ecke des Kantons Glarus, wohin sich der Wiener Publizist und Schriftsteller Karl Kraus zwischen August 1916 und September 1928 mit seiner heimlichen Geliebten mehrmals zurückzog. Er schrieb dort den Epilog seines Weltkriegsdramas Die letzten Tage der Menschheit. Ich erfuhr, warum es die beiden frischverliebten Hauptfiguren von Otto F. Walters Roman Das Staunen der Schlafwandler am Ende der Nacht ausgerechnet ins abgelegene Urner Maderanertal verschlägt, obschon sie doch nach Italien fahren wollten. Ich durchwanderte die Emmentaler Landschaft, in der die schwarze Spin-

ne aus Jeremias Gotthelfs gleichnamigem Roman ihr Unwesen trieb.

Bei meinen Wanderungen kam ich manchmal in Gegenden, in denen ich noch nie gewesen war. Ich lernte nicht nur die Schweiz besser kennen. Ich entdeckte auch literarische Welten, die mir zuvor verborgen geblieben waren. Es war anregend, an einem literarischen Schauplatz zu sein oder die vom Dichter oder der Dichterin beschriebene Landschaft auf mich wirken zu lassen. Ich sah nicht nur die im Buch gestaltete fiktive Welt mit anderen Augen, sondern auch die ausserliterarische; etwa die Wälder im Walliser Réchy-Tal, die Blanca, die Protagonistin des Romans Dunkle Wälder von S. Corinna Bille, durchstreifte; die Rebberge am Bielersee mit der grandiosen Aussicht auf die Petersinsel und die Alpen, die Friedrich Dürrenmatt in seinem Kriminalroman Der Richter und sein Henker als Kulisse dienten; oder das Restaurant Bären in Münsingen, das älteste Gasthaus im Kanton Bern, das Kommissar Studer in Friedrich Glausers Roman Matto regiert gern aufsuchte, um Weisswein zu trinken; oder den Staubbachfall in Lauterbrunnen im Berner Oberland, der Goethe zu seinem berühmten Gedicht Gesang der Geister über den Wassern inspirierte. Als ich die Verse am Ort der Entstehung lese, also gegenüber dem Wasserfall, ist die Wirkung eine andere als zuvor bei der Lektüre zu Hause. Ich sehe nun den Staubbachfall mit anderen Augen, und auch das Gedicht erscheint in einem neuen Licht.

In der Literatur wird immer eine fiktive Welt geschaffen, die sprachlichen und narrativen Gesetzmässigkeiten folgt, sich aber in kleinerem oder grösserem Masse auch Elementen der realen Welt bedient. Erlebtes, Erfahrenes, Gesehenes und Gedachtes hinterlassen Spuren. Fiktives und tatsächlich Bestehendes sind ineinander verwoben. Ich fühlte mich auf meinen Wanderungen wie ein Detektiv, der Spuren verfolgt. Manchmal führten sie in die Irre. Ich suchte Überlappungen, Verbindungen und Bezüge zwischen der sprachlichen

und der bestehenden Welt, wie sie sich mir präsentiert. Wie sehen die literarischen Orte heute aus, die Autorinnen und Autoren inspirierten? Erkenne ich sie wieder? Es kam vor, dass ich beim Wandern durch eine Landschaft oder beim Erkunden eines literarischen Schauplatzes den Eindruck hatte, ich sei am falschen Ort. Nichts schien dem zu entsprechen, was ich zuvor gelesen oder mir vorgestellt hatte. Das mag daran liegen, dass die Welt zur Zeit der Entstehung des Werkes eine ganz andere war, oder die Wirklichkeit wurde beim Schreiben und Erzählen mit Absicht sprachlich so verfremdet, dass sie kaum mehr wiederzuerkennen ist. Noch eine Frage beschäftigte mich: Wie wirken die beschriebenen Landschaften auf mich? Welche Gefühle wecken sie in mir? Schwappt etwa die Begeisterung, die Carl Zuckmayer beim erstmaligen Anblick der Viertausender in Saas-Fee empfand, auch auf mich über? Er nennt sie in seiner Autobiografie Als wär’s ein Stück von mir ehrfurchtsvoll «gotische Kathedralentürme». In diesem Fall kann ich die Frage mit Ja beantworten.

«Der

König der Spaziergänger»

Robert Walsers erstaunliche Wanderungen in der Ostschweiz

Manch einer dürfte sich gewundert haben, wenn er die beiden Wanderer erblickte, die rauchend, plaudernd, manchmal auch schweigend, mit erhitzten Gesichtern und oft eiligen Schrittes an ihnen vorbeigingen. Vor allem der eine von ihnen erregte Aufmerksamkeit. Er trug immer einen Anzug mit Weste. Auch die Krawatte fehlte nie. Meist hatte er zudem einen Hut auf dem Kopf und einen Regenschirm am Arm. Die beiden Männer waren bei jedem Wetter unterwegs, bei Regen, Schnee und Hitze, im Sommer und im Winter, im Frühling und im Herbst, im Appenzellerland, im Kanton St. Gallen, im Thurgau, insgesamt mehr als vierzig Mal zwischen dem 26. Juli 1936 und Weihnachten 1955. Der eine von ihnen, der auffälligere, war der Dichter Robert Walser (1878 – 1956), der andere sein Vormund und Förderer Carl Seelig (1894 – 1962). In einem bemerkenswerten Buch über diese gemeinsamen Wanderungen hält Seelig fest, was ihm Walser unterwegs über sein Leben, die Literatur, das Schreiben, über Bücher, Dichter, Politiker und das Weltgeschehen erzählte. Oder worüber er in den

Die letzten 23 Jahre seines Lebens verbrachte Robert Walser als Patient in der kantonalen Heil- und Pflegeanstalt von Appenzell Ausserrhoden in Herisau.

zahlreichen Wirtschaften sprach, in die sie auf ihren langen Märschen einkehrten. Seelig beschreibt in Wanderungen mit Robert Walser nicht nur die Orte, durch die sie kamen und in denen sie Halt machten. Er vermerkt auch, oft lustvoll bis in alle Einzelheiten, was sie unterwegs in Restaurants und Wirtshäusern assen und vor allem tranken – und darüber kann man nur staunen, wie auch über die enorme Länge der Strecken, welche die beiden in kurzer Zeit zurücklegten. Der Appetit war offensichtlich unstillbar, ebenso der Durst. Müdigkeit scheinen die beiden Herren nicht gekannt zu haben, trotz des hohen Tempos, das sie meist anschlugen.

Am 4. Januar 1937 zum Beispiel wandern Walser und Seelig von Herisau über St. Gallen und Speicher nach Trogen. Das Mittagessen nehmen sie im Gasthof Schäfli ein, dazu trinken sie eine Flasche «vom schweren Buchberger»3. Am Nachmittag geht es bei «melancholischer Schneestimmung»4 weiter auf den Gäbris. Zurück nach Herisau fahren sie mit der Bahn. Am 15. April 1938, zum sechzigsten Geburtstag des Schriftstellers, genehmigen sich die beiden Wanderer, bevor sie sich auf den Weg machen, zuerst einmal im Bahnhofbuffet Herisau eine «heiße Käswähe» und einen Schoppen. «In scharfem Tempo»5 marschieren sie danach auf schmalen, einsamen Seitenwegen nach Lichtensteig; das sind immerhin rund 25 Kilometer, und Robert Walser war erst noch erkältet. In den Aufzeichnungen schreibt Seelig: «Robert bleibt oft stehen, um die Anmut einer Hügelkuppe, die Behäbigkeit eines Wirtshauses, die Bläue des österlichen Tages, die friedliche Abgeschlossenheit eines Landschaftsausschnittes oder eine grün-braune Waldlichtung zu bewundern.»6 Zum Abschluss verzehren die beiden in Lichtensteig in einem Wirtshaus in der Nähe des Dorfplatzes ein üppiges Mittagessen. Mit dem Zug fahren sie nach Herisau zurück und trinken im Bahnhofbuffet noch Bier, «hernach spritzigen Neuchâteler im Eidgenössischen Kreuz, wo sich Robert besonders wohlfühlt.»7 Am

23. April 1939 marschieren sie von Herisau nach Wil, «ständig plaudernd, in dreieinhalb Stunden. Uns ist, als hätten wir Rollschuhe an, so leicht traben wir vorwärts.» Sie legen in dieser Zeit immerhin 26 Kilometer zurück, und das «nur mit einem Vermouth als ‹Benzin›»8. In Wil essen und trinken sie ausgiebig, in insgesamt fünf Wirtschaften.

Am 28. Januar 1943 wandern die beiden «auf der vereisten Straβe» von Herisau nach St. Gallen, «wo wir uns im Bahnhofbuffet bei Kaffee und Zigaretten aufwärmen.»9 Später bestellen sie in einem Wirtshaus ausserhalb der Stadt Vermouth und heisse Käswähe. Dann geht es weiter nach Rorschach am Bodensee. Im Restaurant Post trinken sie roten Buchberger «und lassen das Menü kommen, das tatsächlich gut ist: Kalbsschnitzel mit Kartoffelstock, Bohnen und Erbsen. Wir essen alles radikal auf und plaudern nachher in einer Konditorei bei einem schwarzen Kaffee weiter.»10 Daraufhin fahren sie mit dem Zug zurück nach St. Gallen, wo sie in der Bayrischen Bierhalle einkehren. Danach gibt es im Bahnhofbuffet auch noch einen Abschiedstrunk. Zuvor hatten sie auf dem Markt Orangen und Marroni gekauft.

Am 16. Mai 1943 führt die Wanderung von Herisau über Schwellbrunn nach St. Peterzell. Zum Mittagessen in einem Restaurant bestellen sie Bratwürste und Kalbsschnitzel, dazu trinken sie einen leichten Tiroler und «lassen Kuchen auffahren»11 – und das alles mitten im Zweiten Weltkrieg. Dann marschieren sie über Waldstatt zurück nach Herisau, wo sie in zwei Bierhallen einkehren. Die Wanderung auf dem Jakobsweg von Herisau nach St. Peterzell und zurück dauert heute rund acht Stunden. Doch das scheint für die beiden Herren kein Problem gewesen zu sein, auch nicht für Walser, der zu jener Zeit schon 65 Jahre alt war.

Am 2. Januar 1944 geht es nach Gossau und weiter nach Bischofszell, wo die Wanderer in der Metzgerei-Wirtschaft speisen: «Es gibt Fleischsuppe, Geschnetzeltes, Erbsen, eine Art Pommes frites, Salat und Früchtekompott. Dazu

den roten, rassigen Nussbaumer aus der Gegend.»12 Zurück in Herisau gehen sie im alten Dorfteil in die Wirtschaft zu den Drei Königen, wo Walser zügig drei grosse Dunkle trinkt.

In der Zeit der Wanderungen mit Carl Seelig lebte Robert Walser, der am 15. April 1878 in Biel geboren wurde und am 25. Dezember 1956 in Herisau starb, als Patient in der kantonalen Heil- und Pflegeanstalt von Appenzell Ausserrhoden in Herisau. Dort verbrachte er die letzten 23 Jahre seines Lebens. Er schrieb kaum mehr, der Dichter war verstummt, geriet in Vergessenheit. Ebenso sein literarisches Werk, etwa die drei Romane Geschwister Tanner, Der Gehülfe und Jakob von Gunten. Sie alle entstanden in seiner produktiven Berliner Zeit (1905 – 1913). Im Jahr 1934 wurde Walser gegen seinen Willen unter Vormundschaft gestellt. Ab 1944 war Carl Seelig sein rechtlicher Vertreter. Er hatte Walser im Juli 1936 erstmals getroffen. In Wanderungen mit Robert Walser schreibt er dazu: «Ich empfand das Bedürfnis, für die Publikation seiner Werke und für ihn selbst etwas zu tun. Unter allen zeitgenössischen Schriftstellern der Schweiz schien er mir die eigenartigste Persönlichkeit zu sein.»13 Er tat dann viel. Mit zahlreichen Artikeln in Zeitungen und Werkausgaben hat er dazu beigetragen, dass Walser und seine Romane und Erzählungen nicht ganz aus der Öffentlichkeit verschwanden. Seelig nahm ihn unter seine Fittiche. Er verstand sich als dessen Sprachrohr und wurde immer mehr zum Hüter von Walsers literarischer Hinterlassenschaft, wie es im Nachwort der Wanderungen mit Robert Walser heisst. Kritikerinnen und Kritiker meinen, er sei mit seiner Fürsorge zu weit gegangen, er habe den Schriftsteller zu sehr vereinnahmt und gegen die Aussenwelt abgeschirmt. Seelig habe sogar in seinem Testament verfügt, so schreibt

Unterhalb der Wachtenegg in Herisau wurde Robert Walser am 25. Dezember 1956 tot aufgefunden.

der Literaturkritiker Manfred Papst, dass der handschriftliche Nachlass Walsers, der sich in seiner Obhut befinde, nach seinem Tod vernichtet werden solle.14 Dazu kam es zum Glück nicht. Der aus einer vermögenden Familie stammende, umtriebige, schillernde Journalist und Schriftsteller Carl Seelig hat sich nicht nur mit unermüdlichem Eifer und grossem Engagement um Robert Walser und dessen Werke gekümmert. Er unterstützte auch zahlreiche Autorinnen und Autoren, die in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt wurden.

Wanderungen mit Robert Walser erschien erstmals 1957 im St. Galler Tschudy-Verlag. Carl Seelig vernichtete alle seine Notizen, die er für die Erstausgabe des Buches verwendete. Er hatte sie wohl unmittelbar nach den Wanderungen verfasst. Sind die aufgezeichneten Gespräche also authentisch? Die Frage, ob der Schriftsteller alles so sagte, wie es Seelig wiedergibt, oder ob er Walser da und dort eigene Worte in den Mund legte und eigene Gedanken und Einschätzungen unterschob, lässt sich nicht beantworten; ebenso wenig die Frage, ob die beiden bei ihren stundenlangen Märschen die vielen minutiös beschriebenen Speisen und Getränke wirklich zu sich nahmen. Und schliesslich: Schafften sie es tatsächlich, in so kurzer Zeit solche enormen Distanzen zurückzulegen, und dies erst noch in Anzug und Krawatte und mit viel Alkohol im Blut? Walser war zur Zeit der Wanderungen mit Seelig zwischen 58 und 77 Jahre alt. Wie dem auch sei: Gegenüber der Darstellung seines Förderers, die das Bild des Schriftstellers für die Nachwelt prägte, ist eine gewisse Skepsis angebracht.

Robert Walser wanderte und spazierte nicht nur zusammen mit Carl Seelig, sondern oft auch allein, vor allem in der Umgebung von Herisau. Seelig bezeichnet ihn zu Recht

Gedenkstein auf dem Friedhof Herisau.

als «König der Spaziergänger», als ein «wahres Bummelgenie».15 «Man braucht nicht viel Besonderes zu sehen. Man sieht so schon viel»16, schreibt Walser in seinem 1914 geschriebenen kurzen Prosastück Kleine Wanderung. Oft ging Walser hinauf zum Rosenberg, einem der Hügel, die Herisau umgeben. Hierhin zog es ihn immer wieder, vielleicht wegen der herrlichen Aussicht auf die Alpsteinkette. Der von Walser geliebte Rosenberg und seine Umgebung gehören denn auch zu den schönsten Abschnitten des 1986 geschaffenen Robert-Walser-Pfads, des ersten Literaturwegs in der Schweiz überhaupt. Konzipiert hat ihn der Ausserrhoder Schriftsteller Peter Morger (1955 – 2002). Für die Wanderung benötigt man rund zweieinhalb Stunden. An verschiedenen Lebensstationen Walsers sind Tafeln mit Zitaten aus dem Werk des Schriftstellers angebracht. Die Wanderung, die im alten Dorfteil von Herisau am WalserBrunnen beim Museum beginnt, führt hinauf zum Psychiatrischen Zentrum. Dann geht es wieder hinunter und auf der anderen Seite hinauf zur Wachtenegg und zum Rosenberg mit der Burgruine. Zu sehen sind dort die Überreste einer Wehranlage aus dem 12. Jahrhundert. Schliesslich führt der Rundweg in einem Bogen hinunter zum Ausgangspunkt. Unterhalb der Wachtenegg brach Robert Walser auf seinem letzten Spaziergang am Weihnachtstag 1956 zusammen und starb. Das Polizeifoto von damals zeigt den Dichter ausgestreckt im Schnee; etwas abseits liegt sein Hut. Auf der dort angebrachten Gedenktafel stehen die von Walser stammenden Worte:

Leben und Sterben, Beginnen und Endigen liegen freundschaftlich beieinander. Neben dem Greise steht das Kind. Blühen und Welken umarmen einander. Der Ursprung küsst den Fortgang. Anfang und Abschluss geben einander lächelnd die Hand. Erscheinen und Verschwinden sind ein Einziges.17

Heiden, Appenzell Ausserrhoden

«Unter ihnen lag der Bodensee im letzten Glanz des Tages»

Vom Dunant-Platz in Heiden zum Restaurant Ochsen in Grub AR

Henry Dunant traf im Juli 1887 mit wenig Gepäck in Heiden ein. Der Ort oberhalb des Bodensees war in jener Zeit ein über die Grenzen der Schweiz hinaus berühmter Kurort mit zahlreichen Hotels und Pensionen, geschätzt wegen der Molkenkuren, der guten Luft und der Ruhe. Wahrscheinlich fuhr Henry Dunant, wie schon einmal sechs Jahre zuvor, mit der Zahnradbahn von Rorschach hinauf nach Heiden; allerdings nicht wie das erste Mal in Begleitung von Freunden aus Stuttgart, sondern allein. Nach dem Konkurs seiner Firma in Algerien 1867 und der Verurteilung wegen betrügerischen Bankrotts durch ein Genfer Gericht ein Jahr später war der Mitbegründer des Roten Kreuzes verfemt, heimatlos, verbittert, verarmt, gesundheitlich angeschlagen. Er war ein gebrochener Mann, hatte sein Vermögen verloren, seine Gläubiger waren ihm auf den Fersen. Dunant, 1828 in Genf geboren, wurde in seiner Heimatstadt geächtet und musste aus der Rot-Kreuz-Gesellschaft austreten. Er sah sich gezwungen, Genf zu verlassen. Nur die finanzielle Unterstützung einiger Freunde bewahrte ihn vor dem völligen Absturz.

Dunant-Denkmal am Lieblingsort Dunants in Heiden: Die Sicht über den Bodensee wird ihn an den Genfersee erinnert haben.

Anders als bei seinem ersten Besuch 1881, als Henry Dunant im «Freihof», dem vornehmsten und teuersten Hotel in Heiden, abgestiegen war, wohnte er nun in der günstigeren Pension Zum Paradies in der Nähe des Bahnhofs. Ende 1890 zog er in die Pension Lindenbühl um, wo er etwas mehr als ein Jahr blieb. Sie lag auf einer Anhöhe, zwanzig Minuten zu Fuss von Trogen entfernt. Vom 30. April 1892 bis zu seinem Tod am 30. Oktober 1910 lebte er zurückgezogen in einem Eckzimmer des Bezirksspitals Heiden. In demselben Gebäude, in dem er starb, befindet sich heute das Henry-Dunant-Museum. Die Pension Zum Paradies gibt es schon lange nicht mehr, an ihrer Stelle steht ein Wohnhaus. Das Hotel Lindenbühl in Trogen ist heute ein Seminar- und Ferienhaus. Im ehemaligen Hotel Freihof, ein markanter Bau an der Poststrasse, der das Ortsbild von Heiden noch immer prägt, gibt es keine Kurgäste mehr. In dem 1981 renovierten Haus befinden sich ein Posten der Kantonspolizei, eine Zahnarztpraxis sowie einige Wohnungen. Mit der Ankunft Henry Dunants in Heiden beginnt der Roman Der Zeitreisende von Eveline Hasler. Die Pensionäre im «Paradies», so schreibt die Autorin, wunderten sich über den «geheimnisvollen Gast, dessen Umgangsformen die vornehme Herkunft verrieten»18. Dunant mied den Salon, wo sich die anderen Gäste trafen, und begab sich am Abend meist früh auf sein Zimmer. Nach dem Abendessen spazierte er gern zu seinem geliebten Platz, damals noch hinter den letzten Häusern gelegen, «von dem aus der Blick eine taumelnde Fahrt macht über Hügel und steile Wiesen zum Bodensee. Wie von einer Steilklippe blickte er auf das Südufer des Sees hinunter, vierhundert Meter in der Tiefe zogen rötliche Lichtbahnen über das Wasser. Drüben, im Abendglanz, schimmernde Erhebungen, im Süddeutschen schon oder im Österreichischen»19. Die Aussicht erinnerte den Verfemten an seine Heimat, den Genfersee und sein geliebtes Genf, das er seit seinem finanziellen Ruin zwanzig Jahre zuvor nicht mehr betreten hatte. Er würde seine Heimat-

stadt auch nie mehr wiedersehen. Es war nicht der schöne, baulich einheitliche Ortskern von Heiden, der Henry Dunant hierhergezogen hatte. Nach dem verheerenden Brand von 1838, dem fast alle Häuser zum Opfer gefallen waren, wurde das Zentrum im Stil der Biedermeierzeit wiederaufgebaut. Deshalb ist Heiden als Biedermeierdorf bekannt. Es gab andere Gründe, warum Henry Dunant ausgerechnet in diesem Ort Zuflucht suchte: sein schlechter Gesundheitszustand und, wie erwähnt, die von ihm empfundene Ähnlichkeit mit dem Genfersee. Wer von seinem Lieblingsort in Heiden, dem heutigen Dunant-Platz an der Seeallee, den Blick hinunter über den Bodensee schweifen lässt, kann das gut verstehen.

Henry Dunant besuchte oft den jungen Lehrer und Journalisten Wilhelm Sonderegger und dessen Frau. Sie wurden Freunde. Sie redeten über die politische Lage, das humanitäre Völkerrecht, über die Schaffung einer lokalen Sektion des Roten Kreuzes in Heiden. Diese wurde denn auch 1890 gegründet. Sein 1862 auf Französisch erschienenes Buch Un souvenir de Solférino (Eine Erinnerung an Solferino) war in deutscher Sprache vergriffen. Henry Dunant wollte, dass es neu übersetzt und herausgegeben wird. Im Buch beschreibt er die schrecklichen Zustände während und nach der blutigen Schlacht bei Solferino vom 24. Juni 1859 zwischen den siegreichen französischen und sardischen Truppen auf der einen sowie der österreichisch-ungarischen Armee auf der anderen Seite. Im Mittelpunkt steht das Los der vielen Verwundeten, um die sich niemand kümmert. Dunant, der sich damals in der Nähe von Solferino aufhielt, sah mit eigenen Augen die Verletzten, die Sterbenden und die Toten, die überall auf dem Schlachtfeld herumlagen. Es waren Zehntausende. Das erschütterte ihn zutiefst, weshalb er entschied zu bleiben. Er half, wo er konnte, und pflegte zusammen mit Einheimischen die Verwundeten, unabhängig von deren Herkunft. Sein Buch rüttelte auf, es zeigte Wirkung. Zahlreiche Regierungen und gekrönte Häupter unterstützten

seinen Aufruf, in den Ländern Europas Hilfsorganisationen zur Versorgung der in Kriegen Verwundeten ins Leben zu rufen. Schon bald, im Februar 1863, kamen die Gründungsmitglieder des späteren Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) in Genf zum ersten Mal zusammen. Im Jahr darauf wurde die Erste Genfer Konvention angenommen, die den Grundstein für das humanitäre Völkerrecht legte. Sie verpflichtet die Kriegsparteien unter anderem, sich um die Verwundeten zu kümmern, unabhängig davon, auf welcher Seite diese gekämpft haben. Henry Dunant erhielt 1901 den damals erstmals vergebenen Friedensnobelpreis.

Der Mitbegründer des Roten Kreuzes wohnte im «Lindenbühl», als ihn die deutsche Gräfin Charlotte Itzenplitz besuchte. Sie stand dem Hofe von Kaiser Wilhelm II. und dem Roten Kreuz nahe. Die Gräfin war im Hotel Freihof abgestiegen, wo in jener Zeit wohlhabende Kurgäste aus aller Welt residierten. Im Roman von Eveline Hasler unternahmen die Gräfin, ihre Nichte Livia und Henry Dunant in einer Kutsche einen Ausflug zum Fünfländerblick: «Sie erreichten die Anhöhe, als eben die Sonne sank. Unter ihnen lag der Bodensee im letzten Glanz des Tages, vom Seebecken aus weitete sich der Blick über rauchgraue Anhöhen in alle Richtungen, fünf Länder, sagte Dunant, und auf Livias Bitte hin zählte er auf: Schweiz, Österreich, Baden, Württemberg, Bayern.»20 Auch wanderte Henry Dunant oft mit Gästen über den Kaien, einen Hügelzug in der Nähe von Heiden. Einmal auch mit Wilhelm Sonderegger: «Die beiden Männer schritten nebeneinander durch das kurze Alpgras, die Sonne hatte die Hügel herbstlich eingefärbt. Unter leichten Nebeln sah man den Bodensee.»21

Der Kaien und der Fünfländerblick sind noch immer Ausflugsziele, die sich lohnen. Man kann beide miteinander

Im ehemaligen Bezirkskrankenhaus in Heiden verbrachte Dunant die letzten 18 Jahre seines Lebens.

verbinden. Ausgangspunkt der Wanderung ist die Postautohaltestelle Kaien unweit von Heiden. Von dort führt der Weg steil bergauf. In weniger als einer halben Stunde erreicht man den Kaienspitz (1121 Meter über Meer). Die Aussicht von hier oben ist grandios: Der Blick schweift vom Appenzellerland, dem Säntismassiv über die Innerschweizer Alpen und das Zürcher Oberland bis zum Bodensee und über die Grenze hinaus nach Baden-Württemberg. Weiter wandern wir bergab nach Grub AR. Von dort aus erreicht man in einer Viertelstunde Grub SG; auf dem alten Weg, der ins Tobel des Mattenbachs hinunterführt und auf der anderen Seite wieder hinauf, oder über die 180 Meter lange Hängebrücke, die seit 2019 die beiden gleichnamigen Ortschaften verbindet. Sie spannt sich in einer Höhe von 40 Metern über das Tobel des Mattenbachs, der die Grenze zwischen den Kantonen Appenzell Ausserrhoden und St. Gallen bildet. In einem kurzen, aber steilen Aufstieg gelangen wir schliesslich von Grub SG zum Fünfländerblick (898 Meter über Meer). Die Wanderung dauert weniger als zwei Stunden.

Die Route führt am Hotel-Restaurant Ochsen in Grub AR vorbei. Als wir an einem Nachmittag im Oktober 2023 hierherkommen, ist es geschlossen – allerdings anders, als wir Berichten lokaler Zeitungen entnehmen, nicht für immer. Zwei Monate später sind wir an einem Sonntag wieder hier, und der «Ochsen» ist geöffnet. Der Besuch übertrifft alle unsere Erwartungen. Doch davon später mehr. Seit fünfzig Jahren wirtet hier das Besitzerehepaar Erich und Luise Högger. Nun wollen sie das 1753 erbaute und 2003 renovierte Appenzellerhaus im Dorfzentrum von Grub AR mit dem geräumigen, heimeligen «Säli», in dem sich einst die Dorfbevölkerung traf und Familienfeste feierte, verkaufen; ebenso den Anbau mit den Hotelzimmern. Doch haben sie bisher niemanden gefunden, der bereit wäre, den traditionsreichen «Ochsen» weiterzuführen (Stand Januar 2025). Und so arbeiten die beiden noch immer, auch nach fünfzig

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