B. und der König

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Ruth

B. und der König

Roman

orte Verlag

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Würdest du gleich einmal von mir getrennt, lebtest da, wo man die Sonne kaum kennt; ich will dir folgen durch Wälder und Meer, Eisen und Kerker und feindliches Heer. Ännchen von Tharau, mein Licht, meine Sonn’, mein Leben schließt sich um deines herum!*

* «Ännchen von Tharau». Melodie: Friedrich Silcher (1789 – 1860), Text: vermutlich Simon Dach (1605 – 1659); aus dem Samländischen ins Hochdeutsche übertragen von Johann Gottfried Herder (1744 – 1803), https://liederprojekt.org/medien/Lieddokumente/ 29179_Aennchen_von_Tharau.pdf.

Sein Gesicht war schmal geworden, und die Lippen hatten eine bläuliche Farbe angenommen. Jeder Atemzug schien ein Kampf zu sein, ein Ringen um ein wenig Lebenszeit. Darum, sich noch nicht verabschieden zu müssen. Vielleicht geschah diese letzte Auflehnung gegen den bevorstehenden Tod, ohne dass er sich dafür entschieden hatte, zu kämpfen. Vielleicht war es nichts mehr als eine Reaktion seines Körpers. Denn dass er sterben würde und dass dies bald geschehen würde, war ihm klar, und er hatte sich darauf vorbereitet. Er habe ein paar Sachen verschenkt, hatte er mir erzählt, Bücher, Bilder, Uhren. Und vieles habe er weggeworfen, Kleidungsstücke, Schuhe und Zeitschriften, die er über die Jahre gesammelt habe. Seine Frau solle nicht damit belastet werden, es sei genug, dass sie allein werde zurechtkommen müssen.

Auf mich machte sie keineswegs einen hilflosen Eindruck. Sie war bei meinen Besuchen immer elegant gekleidet, trug passenden Schmuck und hörte klassische Musik. Manchmal sass sie in ihrem Arbeitszimmer an einem Schreibtisch aus dunklem Holz und tippte etwas in ihren Computer. Nachrichten an Bekannte, sagte sie. Oder dass sie finanzielle Angelegenheiten zu erledigen habe.

Ein paar Tage zuvor hatte er erklärt, dass er bereit sei, zu sterben. Er sei alt geworden, so alt, wie er es nie erwartet hätte.

Seine Frau sagte, ach komm, Vater, wir hätten dich gerne noch ein wenig länger hier bei uns.

Dass sie mit wir die beiden Söhne meinte, die Enkelkinder und den Hund, erzählte sie mir danach. Dass sie ihn nicht mit seinem Namen, sondern mit Vater ansprach, irritierte mich, auch wenn ich dies schon öfter erlebt hatte. Es mochte viele ältere Paare geben, die sich so ansprachen, Vater, Mutter. Ich fand das lächerlich. Gleichzeitig machte es mich traurig. Traurig, dass eine Beziehung, die wie die meisten anderen auch aus Liebe entstanden war, in einer Rollenzuteilung endete, in einer Benennung, die den Partner in seiner Weiterentwicklung hinderte.

Nachdem ich ihm bei der Dusche geholfen, ihm die Medikamente verabreicht und seine Vitalzeichen gemessen hatte, war er so erschöpft, dass er schlafen wollte. Er schloss die Augen und bat mich, den Fensterladen zu schliessen. Die Fensterflügel liess ich offen. Es waren Kinder zu hören, die auf dem Pausenplatz der nahegelegenen Schule spielten. Die Pausenglocke ertönte, ein letztes Aufbäumen des Kinderlachens, und dann wurde es ruhig.

Danke, sagte Hr. M.

Gern geschehen, ich werde morgen wieder da sein.

Ich zog die Türe hinter mir zu, nicht ganz, einen Spalt sollte sie offenbleiben, damit seine Frau ihn würde rufen hören.

Sie stand vor dem Fenster im Wohnzimmer. Ob ich einen Kaffee möge, fragte sie.

Dass dafür keine Zeit bleibt, leider, muss ich meiner Kundschaft immer wieder erklären.

Schade, antwortete sie, es wäre schön gewesen, wieder einmal mit jemandem von aussen zu sprechen. Mit jemandem von aussen meinte sie wohl einen Menschen, der nicht zu ihrem Familienkreis gehörte, nicht zu jenen, die nicht so recht wussten, worüber sie im Angesicht des nahenden Todes des Vaters sprechen könnten. Vielleicht kann ich es mir morgen einrichten, sagte ich zu ihr und verabschiedete mich.

Die Touren des Pflegedienstes sind ausgefüllt, jede Minute zählt und wird erfasst. Stehe ich am Morgen in der Garderobe, um meine Arbeitskleidung anzuziehen, kommt es mir vor, als würde ich mich gleichzeitig der Zeiterfassung unterwerfen. Ich kann der Einteilung der zu erbringenden Leistungen in Minutenpakete nicht entrinnen. Meine Touren sind vorgegeben und auf meinem Tablet gespeichert. Rasch verschaffe ich mir einen Überblick über Neueintritte und Veränderungen bei den bestehenden Klientinnen und Klienten. Dann mache ich mich auf den Weg. Ich bin mit einem Kleinwagen unterwegs, den die Firma zur Verfü-

gung stellt. Die Stadt, in der ich arbeite, kenne ich mittlerweile wie meine Westentasche, und es kommt nur selten vor, dass ich eine Strasse ins Navigationsgerät eingeben muss. Rasch steige ich Treppen hoch, betrete Häuser und Wohnungen, versorge Wunden, pflege kranke und alte Körper, höre Menschen zu, die einsam und verzweifelt sind. Ich versuche zu trösten, was mir nicht immer gelingt. Das Trösten scheint mir das Schwierigste, oftmals fühle ich mich hilflos dabei, und ein Gefühl des Versagens bleibt an mir hängen. Genauso wie der Geruch von dreissig Katzen in einem verwahrlosten Haushalt in meiner Nase hängenbleibt oder der Verwesungsgeruch einer unheilbaren Wunde, den ich mit einer Schale Kaffeebohnen zu neutralisieren versuche.

Am nächsten Tag erfuhr ich, dass eine Klientin in der Nacht vom Notarzt versorgt und in ein Spital eingewiesen worden war. Für mich bedeutete das, dass ich ein freies Zeitfenster hatte und mir etwas Zeit für ein Gespräch mit der Frau des sterbenden Mannes nehmen konnte. Da er zu schwach war, um aufzustehen, wusch ich seinen Körper, der nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen schien, im Bett. Ich massierte vorsichtig seine Beine. Seine Atemzüge, die ihn viel Kraft zu kosten schienen, wurden etwas ruhiger. Einmal öffnete er kurz die Augen, sah mich an, sah durch mich hindurch und murmelte ein paar Worte, die ich nicht verstehen konnte. Seine Frau stand auf der anderen Seite des Bettes und hielt seine Hand. Gemeinsam zogen wir das Bettlaken fest, wechselten den Kissenbezug und legten ihm eine leichte Decke über die Beine. In den Augen von Frau M. sah ich Tränen, und es war, als hätte sie etwas von der Zuversicht, die sie sonst ausstrahlte, verloren.

Ich habe noch einen Moment Zeit, sagte ich, bevor wir den Raum verliessen. Es roch nach dem Lavendelöl, das ich mit der Körpercreme vermischt hatte.

Sie lächelte. Ich habe Fotoalben herausgesucht. Alfred als Kind, Alfred als junger Mann.

Auf dem runden Tisch im Esszimmer lagen zwei dünne Alben aus rotem Leder, daneben eine Schachtel. Sie nahm die Fotos aus der Schachtel und legte sie auf den Tisch.

Ob sie nachts ein wenig schlafen könne, fragte ich, und ob einer der Söhne die Nachtwache am Bett des Vaters übernehmen könnte. Alle hätten viel zu tun, erwiderte sie. Arbeit, Familie, Sport. Dennoch, es sei wichtig, dass sie wieder einmal versuche, eine Nacht durchzuschlafen.

Sie werde es sich überlegen, vielleicht am Wochenende. Vielleicht der älteste Enkelsohn.

Sie nahm ein Foto in die Hand, das Porträt eines Mannes, schwarz-weiss, in einem Fotostudio aufgenommen, die Jahreszahl 1930. Mein Schwiegervater Franz, erklärte sie. Wie ihr älterer Sohn ihm gleiche. Die Augen, das Lachen, die Art, wie er sich bewege. Und hier die Schwiegereltern an ihrem Hochzeitstag.

Da ich die Personen auf den Fotos nicht kannte, interessierten sie mich nicht besonders. Doch ich merkte, wie gut es ihr tat, dass jemand da war und ihr zuhörte.

Sie fragte mich nach meinen Grosseltern, fragte, woher sie kämen, ob sie schon gestorben seien.

Dass mein Grossvater aus demselben Dorf stamme wie ihr Schwiegervater – ein Zufall. Ich fand daran nichts Aussergewöhnliches, ein Dorf ein paar Kilometer weiter. Da war es gut möglich, auf Menschen zu treffen, die ebenfalls dort aufgewachsen waren. Ausserdem hatte ich keine Ahnung, ob sich die beiden gekannt hatten. Ihr Schwiegervater war schon lange tot, auch mein Grossvater.

Ich schaute auf die Uhr, dass ich gehen müsse, sagte ich, und dass wir das mit der Nachtwache am nächsten Tag nochmals besprechen sollten.

Sie schien mich nicht gehört zu haben, schien versunken in den Anblick der Bilder aus vergangener Zeit, der Menschen, die es schon lange nicht mehr gab. Ein Foto nahm sie in die Hand, ein junges Mädchen in einem dunklen, hochgeschlossenen

Kleid war darauf zu sehen. Das Mädchen hatte schmale Schultern, es blickte ernst in die Kamera oder in eine Zukunft, von der es nicht wissen konnte, was sie bereithielt. Hatte ich dieses Gesicht schon einmal gesehen? An wen erinnerte es mich? Aber nein, dachte ich, weshalb sollte ich ein Mädchen kennen, das auf einem alten Foto abgebildet war. Ich hatte schon öfter solche Bilder gesehen, und es schien mir, als seien sich die Personen, die darauf abgebildet waren, alle ähnlich.

Ich stand auf, nahm meine Tasche und ging zur Tür.

Berta, hörte ich die Frau sagen, Berta, Nachbarin, meine Berta. Die Schrift meines Schwiegervaters. Meine Berta. Sie lachte. Meine Schwiegermutter war das nicht. Eine jugendliche Schwärmerei vielleicht?

Ich verabschiedete mich. Ich muss gehen, sagte ich, die nächste Klientin wartet auf mich.

In den folgenden Tagen dachte ich nicht mehr an die Fotos oder daran, dass mich das Mädchen Berta an jemanden erinnerte.

Zwei Wochen später an einem Abend rief Frau M. mich an: Mein Mann ist verstorben.

Er war eingeschlafen, nachdem er davor tagelang unruhig gewesen war, er schien geträumt zu haben, Träume, aus denen er nicht mehr herausgefunden hatte. Die Kollegin, die für den Abenddienst eingeteilt war, übernahm den letzten Einsatz. Am nächsten Tag dokumentierte ich den Todeszeitpunkt und schloss seine Klientenakte. Ich brachte die übrig gebliebenen Medikamente zur Entsorgung in die Apotheke und schrieb eine Beileidskarte im Namen der Pflegefirma. In ein paar Wochen würde jemand aus unserem Team die Witwe besuchen. Man würde mit ihr nochmals über den Verstorbenen reden, über die Trauer, darüber, ob sie Unterstützung benötige. Ich legte einen Termin dafür fest, um zu verhindern, dass es vergessen ging. Danach bereitete ich eine Neuaufnahme vor, die für den nächsten Tag angemeldet worden war. Eine junge Frau, der nach einer

Operation Infusionen verabreicht werden mussten. Ich legte das notwendige Material zurecht und verliess meinen Arbeitsplatz etwas früher als üblich.

Später sass ich in einem Café im Zentrum. Ich wartete auf eine Freundin, die in der nahegelegenen Boutique ein Kleid abholen wollte, das für sie hatte abgeändert werden müssen. Es war viel los wie immer in der Ferienzeit. Besucherinnen und Besucher drängten sich in Gruppen durch die Gassen der Innenstadt. Den Dom wollten sie sehen, das Kunstmuseum, den Park, in dessen Mitte sich die Statue des Stadtgründers befindet: ein kräftig gebauter Mann, der auf einem Pferd sitzt und mit seiner rechten Hand eine Flagge in die Höhe hält. Möglich, dass die Besuchenden das alles gar nicht sehen wollten, dass sie sich nicht dafür interessierten, sondern einfach da durchgeschleust wurden, weil es dazu gehörte, weil man sonst nicht sagen konnte: Ich habe diese Stadt besucht. Es war früher Abend, die Wespen drängten sich um Getränke und Süssigkeiten, an einer Ecke sass ein Cellospieler. Ihm war die Müdigkeit anzumerken, und sein Spiel war ohne jede Spannung. Ich bestellte einen Apéro ohne Alkohol, sah, wie er endlich sein Cello in den Koffer legte, den Hocker zusammenklappte und in der Seitengasse verschwand. Ein kurzer Moment der Ruhe, schon stand ein anderer da, ein Feuerschlucker oder Feuerartist oder wie auch immer das hiess, was er mit dem Feuer zu machen gedachte. Aus einem kleinen Radio drang Musik, die das Drama unterstrich, das Drama der brennenden Fackeln, die zu Boden fielen, was die Show ins Stocken geraten liess. Der Mann bückte sich mit einem Lächeln, um die Fackeln wieder aufzuheben, doch die Anstrengung war ihm anzusehen, Schweiss im Gesicht, Schweiss auf seinem nackten Oberkörper, der gerötet war. Ein schwarzgekleideter Mann ging hinter ihm vorbei, jung, schlank, ging rasch und trug im Arm den Körper einer Frau. Kopf, Hals, Oberkörper, Arme. Einige Meter hinter ihm eine Frau mit einer grossen Tasche über der

Schulter. Aus der Tasche ragten weisse Beine, schlanke Waden und Füsse, deren Sohlen gegen den Himmel gerichtet waren. Ich hätte ein Foto machen müssen, so absurd schien es, doch so traute ich mich nicht. Ich versuchte, die Beobachtung in meinem Notizbuch festzuhalten. Versuchte, es so zu beschreiben, als wäre es eine Fotografie. Gerne hätte ich die Besonderheit dieses Moments eingefangen, doch eine sachliche Beschreibung war alles, was ich zustande brachte. Die Belustigung, meine kindliche Freude an der Situation, das Lachen über die Frau, der aus praktischen Gründen die Beine abgenommen worden waren. Es gelang mir nicht, diese in meinem Notat wiederzugeben.

Doch in dem Moment, in dem ich das schwarze Notizbuch zurück in meine Tasche steckte, fiel es mir ein.

Berta. Eines der Fotos, das mir die Frau des nun verstorbenen Herrn M. gezeigt hatte. Das Foto, auf dessen Rückseite ihr Schwiegervater «Meine Berta» geschrieben hatte. Die Erkenntnis, an wen mich die Fotografierte erinnerte. Die schmalen Schultern, der Mund, die Augen. Was genau es war, das mich an sie erinnerte, wusste ich nicht. Es waren wohl die verschiedenen Eindrücke dieses Tages. Die Empfindungen, die sie in mir geweckt hatten, und der Gedanke daran, was von einem Leben übrig bleibt ausser ein paar Fotos. Fotos, auf denen Menschen abgebildet sind, an deren Namen sich kaum einer erinnert.

Ich fühlte mich seltsam aufgewühlt. Mein Inneres schien aufgeraut, als hätte es einer mit einem groben Schleifpapier bearbeitet. Der Körper der Schaufensterpuppe, die abgetrennten Beine, das Zusammenzucken bei ihrem Anblick, als ich dachte, es sei der Körper einer Toten. Ich kannte die Gemeinsamkeiten von Berta und dem geteilten Puppenkörper nicht.

Noch nicht. Nicht, bevor ich die Geschichte von Berta erfahren hatte. Von Berta, der Schwester meines Grossvaters. Von der Frau, die ich nur von Fotos kannte, da sie kurz nach meiner Geburt verstorben war. Der Frau, von der es heisst, dass ich ihr wie aus dem Gesicht geschnitten sei.

Berta

Das Zimmer ist lang und schmal. Wenn sie auf dem Stuhl sitzt, berühren ihre Füsse die Wand hinter dem Tisch. Wenn sie auf dem Bett sitzt, treffen ihre Knie auf die hinteren Stuhlbeine. Der Tisch ist aus dunkel gebeiztem Holz, und der Stuhl hat ein Polster aus gestreiftem Stoff in einer Farbe wie Senf. Der Stoff ist abgewetzt. Abgesessen, denkt sie und lacht. Abgesessen. Wenn sie aufsteht, kann sie aus dem Fenster sehen. Sie sieht die Strasse, die zum Haus führt. Viel befahren ist sie nicht. An den Sonntagen ein paar Autos. Eines mit britischem Kennzeichen war nie dabei. Sie spricht kein Englisch. Im Radio hat sie ein paar Sätze gehört. Verstanden hat sie nichts davon.

Sie stellt sich vor, in einen Spiegel zu blicken. Sie sitzt auf der Kante des Bettes, und wenn sie den Kopf ein wenig nach links dreht, ist sie mitten in diesem schmalen Gesicht, sie sieht hinein, und dann wird es still um sie. Es sind satte Farben, die sich von der Blässe der Haut abheben. Die Augen in einem Blau wie Enzian und um den Kopf ein dunkelrotes Tuch mit einer goldbestickten Borte, das in gleichmässigen Falten über ihre Schultern fällt. Sie streicht sich mit der Hand über das Kinn und über die Wangen. Sie wundert sich über die Wärme und darüber, dass der Blick jeden Tag derselbe ist. Das Sonnenlicht fällt nun direkt auf ihr Bett. Sie blinzelt. Ihr Spiegelbild schaut ungerührt. Schau nur, sagt sie, dir fällt das Licht nicht mitten ins Gesicht. Dafür bleibst du blass, das ganze Jahr hindurch.

Sie mag es, wenn sich ihre Haut bräunt. Wenn sie bloss die Fensterflügel öffnen könnte. Auch er mag es, an der Sonne zu liegen. Manchmal setzt sie sich neben ihn. Sie zieht den Stuhl vors Fenster und hält seine Hand. Wenn sie dann die Augen schliesst, ist ihr Spiegelbild verschwunden. Um sie taucht alles in ein warmes Orange. Einmal hat sie eine Orange in ihrer Schürzentasche mit aufs Zimmer genommen. Sie hat die Schale

abgezogen und auch die weissen Häutchen. Sie mag das Bittere, das ihren Mund zusammenzieht. Wie sich die Schleimhaut kräuselt. Wie sich der Speichel sammelt. Zuerst hat sie das Fruchtfleisch gegessen. Der Saft ist über ihre Hand gelaufen, und zwei, drei Tropfen sind auf seiner hellen Hose gelandet. Rasch hat sie das Sonntagstaschentuch aus der Nachttischschublade genommen und die Feuchte aus dem Stoff getupft. Nachher war kaum mehr etwas davon zu sehen. Die Häutchen hat sie gegessen, sie hat alle in den Mund gestopft. Als er sie fragte, ob sie bei ihm bleiben werde, musste sie husten.

Ein Auto fährt vors Haus. Sie hört das Knirschen des Kieses. Sie beugt sich aus dem Fenster. Es ist das schwarze Auto des Arztes. Dann nähert sich der Leichenwagen. Er fährt schnell und streift die Hundsrosen, die entlang der schmalen Strasse blühen. Wie sie zittern. Dabei eilt es doch nicht. Nicht mehr. Der Wagen sieht elegant aus und stolz. Glänzend und mit gerüschten Vorhängen an den hinteren Fenstern.

Gegrüsst seist du, Maria. Ihr Mund spuckt die Worte aus. Er ist eine Maschine, die nie ins Stocken gerät. Sie hält sich die Ohren zu. Nein, ruft sie. Nein. Sie weiss nicht, ob sie an diese Maria glaubt. Wie soll sie das wissen. Nie hat jemand danach gefragt, nie hat jemand daran gezweifelt. Oder es hat keiner über die Zweifel geredet. Denn ohne Zweifel geht das nicht. Und Hilfe schickt keiner. Dabei hat sie gegrüsst, bis sie nicht mehr denken konnte.

Der Totengräber schiebt einen Sarg ins Auto. Es sieht aus wie ein Ungeheuer, das sein Maul weit aufgerissen hat. Der Wärter hilft ihm dabei. Er schimpft. Wie schwer der ist, hört sie ihn sagen. Aus dem geöffneten Maul hört sie ein Lachen, ein Lachen wie der Ausbruch eines Vulkans. Sie sieht die Zähne, wie sie lang werden und spitz, Schwerter, die sich in den Sarg bohren. Rasch schliesst sie die Augen. Sie dachte, dass sie entkommen sei. Dass sie es besiegt habe. Doch nun weiss sie, dass sie nie-

mals in Sicherheit sein kann. Als sie die Augen vorsichtig öffnet, ist das Auto verschwunden. Im schmalen Beet, das rechts neben der Tür liegt, wiegen sich die Schwertlilien in einem weichen Rhythmus. Eine Frau in einem enganliegenden Kleid verlässt das Haus. Über dem rechten Arm hängt eine schwarze Handtasche. Sie hebt die linke Hand und winkt. Es ist niemand zu sehen, der dieses Winken empfangen könnte. Vielleicht steht jemand an einem Fenster, vielleicht hat die Frau die Sicherheit, dass ihr jemand mit Blicken folgt.

Berta hebt die Hand und winkt, sie tut es, auch wenn die Frau ihr fremd ist. Es ist eine kleine Bewegung, und sie reicht nicht, um die Leere zu füllen, die sich in ihr aufgetan hat. Sie könnte nach draussen gehen, in den Park. Sie könnte dem Weg folgen bis zur Linde, deren Krone sich auf eine Seite neigt. Sie könnte nach unten gehen, bis zum Beginn des Dorfes. Der Gedanke an den Anstieg, der danach folgen würde, macht sie müde. Ihre Beine sind schwer, und die Sonntagsschuhe aus schwarzem Leder drücken in ihre geschwollenen Füsse.

Sie legt sich auf das Bett. Wenn sie auf dem Rücken liegt, fallen ihre Brüste auf die Seiten. Sie streckt die Arme neben ihrem Körper aus. Sie fragt sich, wie es wäre, wenn sie die Anstalt verlassen würde. Den Koffer in der rechten Hand, den Mantel über den linken Arm gelegt. Sie würde an der Pforte vorbeigehen, mit erhobenem Haupt, als wäre sie eine Besucherin. Er würde sie begleiten, und wenn sie es geschafft hätten, wenn sie draussen stehen würden, vor der Mauer, auf der anderen Seite der Mauer als derjenigen, die vom Zimmer aus zu sehen war, wenn sie es geschafft hätten, dorthin zu gelangen, wären sie endlich frei.

Nie zuvor ist sie einem Menschen so nah gewesen. Nie zuvor hat sie so tief in die Augen eines Mannes geblickt. Eine Wärme in ihr, sein Blick, das Lächeln, das seinem Mund und den leicht abstehenden Ohren eine Eleganz verleiht, die ihn zu dem macht, was er ist. Ein Prinz. Ihr Prinz. Einer, der sie auch ohne Worte verstehen kann. Einer, der auch lächelt, wenn ihr das Aufstehen am Morgen schwerfällt, wenn der Schatten gross wird, wenn die Wut sie packt und Worte wie Pfeile aus ihr herausschiessen. Pfeile, die so spitz sind, dass damit ein Tier erlegt werden könnte.

In einer der ersten Nächte an diesem Ort fand sie keinen Schlaf. Es war ein heisser Tag gewesen, und die Schwüle hatte sich über das kleine Zimmer gelegt. Ein Gewitter war aufgezogen, und im Bett liegend sah sie Blitze, denen laute Donner folgten. Als sich der Himmel beruhigt hatte, schlug sie das Leintuch zurück und ging zum Fenster. Sie lehnte mit dem Oberkörper an die kalte Scheibe. Wenn sie bloss die Flügel hätte öffnen können. Da fielen erste Regentropfen. Sie stellte sich vor, wie die feuchte Erde riechen würde. Wie ein paar Tropfen vom Wind in ihr Zimmer geblasen würden. Sie konnte sie spüren, sie trafen auf ihr Nachthemd, und als sie die oberen Knöpfe öffnete, spürte sie die Nässe auf ihren Brüsten. Sie verstrich die Tropfen mit den Fingerspitzen auf der Haut. Ihre Finger glitten weiter, über den Bauch, dessen Haut sich kühl anfühlte, und zwischen die Beine. Wie weich sie war. Wie warm.

Dabei war es verboten. Verboten, und überall waren Augen, Augen, die Bestrafung in sich trugen. Sie konnte sich nicht verstecken, sie konnte ihm nicht entrinnen. Sie war ein Teil des Bösen, sie war ein Teil der Verachtung. Immer noch gehörten sie zusammen, und dass sie der Arzt davon heilen konnte, daran glaubte sie nicht.

Heftig zog sie die Hand zurück. Gegrüsst seist du.

Sie schloss die Augen und stellte sich seinen Blick vor, stellte sich vor, wie er über die weisse Haut gleiten würde. Sie dachte nicht, dass ihr Körper schön war. Weich war er, und dass die Haut kaum einmal der Sonne begegnete, war ihr anzusehen. Wenn sie sich einmal sehen konnte, wenn sie einen Blick auf die glänzenden Kacheln des Waschraums warf, in denen sie sich spiegelte, erschrak sie. Ihre schmale Figur war breit geworden, sie war aus der Form geraten, ein Teig, dem zu viel Hefe zugefügt worden war. Kein Mann würde daran Gefallen finden.

Mutter Gottes. Ohne Sünde empfangen.

Die Worte, die in ihrem Kopf waren, die sich in einer endlosen Schlaufe drehten, tönten aus den Wänden und aus dem

verzerrten Spiegelbild. Der ohne Sünde Empfangene ist dein Bräutigam. Wer sollte das alles verstehen. Sie verstand es nicht.

Bitte vergib mir. Sie lachte. Es war ein kurzes Lachen, ein Aufschrei eher. Rasch schloss sie die Knöpfe des Nachthemds.

Unzüchtiges Verhalten, hatte der Beichtvater gesagt, und das Gesicht der Novizenmeisterin wurde rot. Die Bräute Gottes verpflichten sich zu Keuschheit. Wer sein Begehren nicht unterdrücken kann, hat im Kloster keinen Platz. Begehren, dachte Berta, und Übelkeit stieg in ihr auf. Wie er sich ihr genähert hatte. Wie er seine Hand unter ihren Rock geschoben hatte. Wie sie erstarrt war. Wie er sie in die Scheune gestossen hatte. Die Erinnerung an das, was sich danach ereignet hatte, schien verschwunden zu sein und hatte sich gleichzeitig in ihre Haut gebrannt. Der Weg nach Hause zog sich unendlich in die Länge. Ihre Beine zitterten so stark, dass sie sich an einem Zaun festhalten musste, und als der Geruch der nahen Schnapsbrennerei in ihre Nase stieg, musste sie sich übergeben. Am Abend sah sie das Blut, das an der Innenseite ihrer Beine eingetrocknet war. Sie wusch sich mit kaltem Wasser und rieb die Haut mit einem Tuch aus Leinen so lange trocken, bis sie ganz rot war. In der Nacht träumte sie. Einer stand vor ihr, mit einem kräftigen Körper und ohne Kopf. Seine Arme waren lang und dünn, und da, wo die Hände hingehörten, befanden sich runde Besen, aus denen Weihwasser spritzte. Sie sah ihren Rücken, sah ihre Haut, die aufgerissen war, und dort, wo das Wasser auf ihren Körper traf, blieben Kreuze zurück.

Sie wisse nicht, ob sie es noch länger aushalte. Nicht im Kloster, nicht an diesem Ort, an dem sie eine andere sein sollte, eine, die sie nicht sein könne. Dass sie das Kloster vielleicht verlassen werde, sagte sie zu den Eltern.

Die Mutter hielt die Hand vor den Mund, als ob sie einen Schrei zurückhalten wollte. Ihre Augen richtete sie hinauf, dorthin, wo der Herrgott in der Stubenecke am Kreuz hing. Du kannst doch nicht, mehr konnte sie nicht sagen, ihre Stimme war heiser und erstarb ob des Schreckens.

Der Vater hatte die Brille abgenommen und mit seinem Taschentuch begonnen, die Gläser zu polieren.

Es war an einem Sonntag, ein paar Wochen nach Ostern, und sein Taschentuch war ein weisses. Berta hatte den Atem angehalten, so selten sah sie die Eltern, und dass sie an einem ihrer wenigen Besuche ihre Erwartungen so bitter enttäuschen musste, tat ihr weh. Ihr Herz klopfte heftig, und der Mund war ausgetrocknet. Die Zunge klebte am Gaumen. Mit ihren Händen strich sie über den Stoff des bestickten Tischtuches, immer wieder, bis dieses aussah wie frisch gebügelt. Eine Fliege hatte sich auf das Sims unter dem Küchenfenster gesetzt. Unablässig versuchte sie, die Scheibe entlang nach oben zu gelangen. Dabei war ein Gesumme zu hören, das sich direkt in Bertas Kopf zu befinden schien. Sie stand auf und öffnete den Fensterflügel, doch die Fliege zog sich zurück. Anstatt nach draussen zu fliegen, setzte sie sich auf den Tisch, und ihre Beine rieben an einem Brotkrümel.

Wenn die Eltern doch etwas sagen würden. Wenn der Vater nicken würde, wenn die Mutter sie anschauen würde. Doch beide schienen versunken in ihre Gedanken, als hätten sie nicht damit gerechnet. Nicht damit, dass ausgerechnet sie, die seit zwanzig Jahren gut aufgehoben und versorgt bis an ihr Lebensende zu sein schien, dem ein Ende setzen wollte. Du bist doch seine Braut, sagte der Vater schliesslich, und da ging die Tür auf, und die Kinder des älteren Bruders stürzten herein und setzten sich auf Grossvaters Schoss.

Ihr Urlaub hatte zwei Tage gedauert und als sie am Abend an die Tür der Frau Mutter klopfte, um sich zurückzumelden, konnte sie nichts anderes denken, als dass sie hungrig war und an den feinen Geruch des Bratens, den die Mutter aufgetischt hatte. Sie hatte kaum einen Bissen davon heruntergebracht und so lange darauf herumgekaut, bis die Mutter den Kopf geschüttelt hatte. Ach, Berta, hatte sie gesagt.

Beim Abschied hatte der Vater ihr mit Weihwasser ein Kreuz auf die Stirn gezeichnet.

Ja, natürlich war sie seine Braut, er war ihr erster Gedanke am Morgen, und um ihm nah zu sein, kniete sie abends so lange in der Kapelle und betete, bis ihre Knie taub waren. Wie sie hoffte, dass er sie verstehen würde, er, der Erlöser der Menschen. Er, der ein strenger Gott war, einer, von dem sie dennoch erwartete, dass er ihr den Verrat verzeihen würde. Sie betete zur Muttergottes und flehte sie an, ihr beizustehen. Und jeden Tag berichtete sie bei der Beichte von ihren Sünden, doch über ihre grösste Sünde, über das Drängen in ihr konnte sie nicht sprechen. Nicht über die Verzweiflung, die sich abwechselte mit der Hoffnung, dieser Enge entkommen zu können. Nachts erwachte sie, und das Nachthemd klebte an ihrem schweissnassen Körper. Sie dachte an die Gelübde, die sie voller Ehrfurcht abgelegt hatte, die Worte dröhnten in ihrem Kopf und hielten sie umklammert. Sie legte die Hände auf die Ohren, doch es half nicht. Was sie versprochen hatte, war stärker. Sie konnte ihr eigenes Gesicht sehen, die Augen, wie sie strahlten, als sie eingekleidet wurde. Da tönte ein lauter Schrei, und als sie an ihrem Körper hinunterblickte, hing ihr Habit in Fetzen an ihr. Rund um sie schwarzgekleidete Frauen mit Gesichtern, denen die Augen fehlten. Mit dünnen Fingern, die nur aus Knochen bestanden, zeigten sie auf die Fetzen, zeigten auf ihren Körper. Und als Berta sich umdrehen wollte, als sie hinausrennen wollte, war da keine Tür. Auch die Fenster waren verschwunden, und die Frauen brachen in lautes Gelächter aus.

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