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Myriam Zdini

Alba und die Legende von Schaaf

Illustriert von Katja Nideröst

1. Kapitel

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Liebe Julie

An Katze Lili

Julie Neff

Betreff

Du bist die Allerallerbeste! Ich freu mich riesig, dass ich den zweiten Vornamen deiner Lili aussuchen darf. Ich nehme an, dass deine Katze genau wie du mit Nachnamen Neff heisst. Einige Ideen habe ich schon, aber bevor ich mich entscheide, musst du mir ein paar Fragen beantworten. Wie fühlt sich ihr Fell an? Ist es sehr weich und kuschelig? Ist Lili frech und wild oder scheu? Wo schläft sie am liebsten? Und nascht sie gern Schokoladenglace? Ich bin so neidisch auf dich! Du weisst, wie gern ich eine Katze hätte. Nur wegen Papa und seiner dummen Allergie geht das nicht. Ich glaube ja, die Allergie ist nur vorgetäuscht. In Wahrheit will er das Sofa nicht mit noch jemandem teilen. Total unfair. Er benutzt es eh am meisten, weil das Wohnzimmer sein Homeoffice ist. Wenn ich das Sofa zum Auspowern benutzen will, schimpft er: «Auf den Polstermöbeln wird nicht geturnt.» Und sobald ich darauf chille, heisst es: «Mach was. Geh in den Garten aufs Trampolin.» Und wenn ich coole Moves auf dem Trampolin übe, schlüpft garantiert Elino durchs Netz zu mir herein und fängt an zu heulen, weil ich ihn angeblich getreten haben soll.

Seit du weg bist, kann ich mit niemandem mehr richtig reden. Belana hat ständig ihre Zimmertür abgeschlossen. Auch wenn ich vorsichtig und mäuschenstill die Klinke drücke, merkt sie es und schreit mich durch die Tür an.

Aber was erzähle ich dir das alles. Du kennst ja meine Familie. Immerhin bist du meine allerallerallerbeste Freundin und wirst das auch immer bleiben. Egal wie weit weg du wohnst.

Das einzig Gute ist, dass ich jetzt recht easy im Zehnfingersystem tippen kann, weil ich dir so oft am Computer schreibe. Ich werde Journalistinnen-Jenny bei den Typewriter-Lektionen in der Schule locker vom Thron fegen. Hoffentlich heult sie. Seit sie Chefredakteurin der Schulkinderzeitung ist, ist sie noch eingebildeter. Aber ja, ich weiss, ich soll nicht fies sein. Ich geb mir Mühe.

Kuschelumarmung

Deine Alba

Bis vor den Weihnachtsferien war die Welt in Ordnung. Dann zog Julie mit ihrer Familie aus Schaaf weg. In der letzten Schulstunde vor den Ferien sass die ganze Klasse im Kreis, und Frau Kovacic liess uns nette Wünsche zu Julie sagen. Noam wünschte: «Unendlich Popel zum Rumspicken.»

Frau Kovacic meinte, er solle nochmals überlegen. Danach war ich dran, und mir kamen die Tränen. Ich hätte gern gesagt, wie toll Julie ist und wie sehr ich sie vermissen werde, aber ausser Schluchzen kam nichts aus mir heraus.

Als wir einmal rundherum waren, gab Frau Kovacic Julie das Geschenk, das wir heimlich für sie gestaltet hatten. Es war ein Buch, in dem jedes Kind eine Zeichnung gemalt und eine Erinnerung mit Julie aufgeschrieben hatte. Die Aufgabe war ebenfalls schwierig für mich gewesen, weil ich so viele, grossartige Erinnerungen mit ihr habe. Julie nahm das Buch verlegen in Empfang. Auch sie hatte etwas für uns: fünfzehn farbige, coole Freundschaftsarmbändchen. Und weil bald Weihnachten war, gab es obendrauf für jedes Kind eine Kleinigkeit von Frau Kovacic. Sie schenkte uns Emoji-Radiergummis mit unterschiedlichen fröhlichen Gesichtern. Sofort gingen die Beschwerden und das Tauschen los. Frau Kovacic, ganz Profi, wünschte frohe Weihnachten und schickte uns hinaus.

Julie lief mit ihrer selbstgestalteten Schreibunterlage unter dem Arm und dem Finkensack über der Schulter neben mir nach Hause.

Am nächsten Tag zog ihre Familie um, und mir standen die traurigsten und einsamsten Weihnachtsferien bevor. Und als ich glaubte, blöder kann es nicht werden, geschah das:

Senden Betreff

Liebe Julie

Julie Neff

An Neue Nachbarn

Heute ist es passiert! Ich habe in meinem neuen Comic gelesen, da hör ich von draussen etwas. Du weisst, als Mitglied der coolen Katzencrew entgeht mir nichts, was in der Nachbarschaft vor sich geht. Natürlich bin ich gleich zu meinem Fenster gerannt.

Unten auf der Strasse habe ich mehrere dunkelhaarige Männer gesehen, die aus einem riesigen Lastwagen eine Unmenge Möbelstücke geschleppt und in EUER Haus transportiert haben. Das Haus eurer Familie, das schon deiner Oma Linde gehört hat. Ein weiteres Auto ist kurz darauf in eure Einfahrt eingebogen und hat parkiert. Aus dem Auto ist eine Familie ausgestiegen: eine Frau, ein Mann und zwei komische, total unterschiedliche Jungs. Einer in unserem Alter, angezogen wie ein Erwachsener mit Hemd und Gürtel. Der andere lang und schlaksig, ganz in Schwarz gekleidet. Und dann hat die Frau einen grossen zottigen Hund aus dem Kofferraum gelassen.

Oje, Mama ruft. Sie denkt, ich sitze an den Hausaufgaben. Ich muss Schluss machen. Ich halte dich auf dem Laufenden.

Kuschelumarmung

Deine Alba

Der Januar kam. Die Schule begann wieder. Ich war froh, meine Lehrerin und meine Klasse zu sehen. Frau Kovacic malte mit Kreide etwas an die Wandtafel. Sie war ganz vertieft. Die Tafelbildgestaltung war eine ihrer grossen Leidenschaften. Natürlich hätte sie in Nullkommanichts am Computer eine spitzenmässige Grafik entwerfen und auf dem Smartboard zeigen können. Aber sie stand mehr auf die gute alte Handarbeit. Und das, obwohl sie blutjung war, wie meine Mutter meinte. Zu unserem Leidwesen hatte es sich Frau Kovacic auf die Fahne geschrieben, dass ihre Klasse schön darstellen kann.

Kopien gab es in ihrem Unterricht höchst selten.

Meine Mutter kommentierte zu Hause: «So ein Furz.» Ich zitiere nur.

Als ich das Klassenzimmer betrat, liess ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Jana-Lena, Vlad und Loris sassen in der Leseecke und tauschten Sammelbilder. Mustafa lag auf einer Bank und malte seine Interpretation von «Gregs Tagebuch». Die anderen waren noch nicht da. Die Pulte standen jetzt nach den Weihnachtsferien in Zweiergruppen zusammen. Ich seufzte und suchte meinen Platz.

Wir waren daran gewöhnt, dass Frau Kovacic uns mit ihren Ideen überraschte. Vor ein paar Wochen hatte sie, passend zur besinnlichen Adventszeit, einen Klassensatz Yogamatten bestellt und Karten mit Yogaübungen laminiert. Seither entspannte sich unsere Klasse nach jeder Doppelstunde. Die Balanceboards und das Minitrampolin waren in einem Schrank im Gruppenraum weggesperrt worden. Ich konnte es nicht beschwören, aber es hatte möglicherweise mit den Ninja-Wettkämpfen zu tun, die unsere Klasse anstatt des angeordneten Teamworks im Gruppenraum veranstaltet hatte. Nun war tiefes Ein- und Ausatmen angesagt.

Unsere Schreibunterlagen mit unseren Namen drauf lagen an den neuzugeteilten Plätzen. Na super. Ich hatte das Vergnügen, neben dem Nachwuchsclown Noam zu sitzen. Er besuchte wirklich einen

j

j Clownkurs. Mir gegenüber waren Tatjana und Loris platziert. Tatjana verbrachte einen Grossteil des Unterrichts ausserhalb des Klassenraums bei Frau Bach in einem wandschrankartigen, vollgestopften Zimmer mit Ordnern, Spielen und tausend bunten Karten. Dafür würde an unseren Pulten die Klassenassistentin Frau Ferrari Präsenz markieren, und versuchen, Loris davon abzuhalten, seine Stifte aufzufressen. Loris und Tatjana hatten ganz andere Mathepläne und Lernziele als ich. Und Noam machte sich nicht viel aus der Schule. So hatte ich an meinem neuen Platz niemanden zum Vergleichen meiner Lösungen. Ich seufzte wieder.

Die Schulglocke läutete. Frau Kovacics Begrüssung «Guten Morgen liebe Klasse» blieb aus. Für gewöhnlich schaute sie nach ihrem Gruss in die Runde und fixierte die Kinder, die noch redeten, mit ihrem Blick. Darauf folgte die Aufforderung: «Kommt in den Kreis.» Diese wohlbekannte Formel vermissten wir heute. Stattdessen kam ein heiteres Kichern vom Lehrerinnenpult. Bei Frau Kovacic stand ein blonder Junge mit Brille. Erst kapierte ich nicht, aber kurz darauf erkannte ich ihn. Es war der Bub im Hemd, der mit seiner Familie in Julies Haus gezogen war. Angeregt plauderte er mit Frau Kovacic und lachte mit ihr. Die meisten der Klasse machten grosse Augen. Nur Mustafa zuckte mit den Schultern und begann wieder zu zeichnen.

Schliesslich rief Frau Kovacic uns in den Morgenkreis und stellte uns den Jungen vor.

«Wir haben einen neuen Mitschüler bekommen. Er ist gerade hierhergezogen. Vielleicht möchtest du dich selbst mit einigen Worten vorstellen, Kai? Ich habe hier einige Karten, die dich dabei unterstützen.»

Frau Kovacic legte farbenfrohe Wortkarten auf den Boden: «Hobbys», «Geschwister», «Lieblingssuperheld», stand beispielsweise darauf. Wir erfuhren über Kai, dass er in der Stadt gewohnt und einen älteren Bruder hatte, dass er gern las und Superman super fand. Alles in allem sehr gewöhnlich, fand ich. Er redete mit Bedacht und in perfektem Hochdeutsch. Danach ging es reihum. Jedes Kind durfte sich ein Wort aussuchen und dazu etwas über sich sagen.

Mustafa sagte: «Ich bin Superman.»

Und Journalistinnen-Jenny prahlte damit, dass sie keine Geschwister, aber einen eigenen Laptop habe.

Danach ging der Unterricht los. Endlich – ich war ganz heiss darauf, etwas zu lernen. Ehrlich.

«Die Medien», sagte Frau Kovacic und zeigte auf die Wandtafel. Und wir schrieben und malten ab.

2. Kapitel

Für mich machte es keinen Unterschied, aber Mama fand, gekochtes Essen müsse man warm essen. Daher hatte ich auf dem Nachhauseweg neuerdings

Stress. Weil Julie als Weggefährtin weggefallen war, lief ich mit Lara von der Schule nach Hause, die ein Stück weiter den Hügel hinauf in einem modernen Einfamilienhaus mit riesigen Fenstern wohnte.

Früher war sie mir auf dem Schulweg gar nie aufgefallen, und ich war überrascht, als ich feststellte, dass wir praktisch Nachbarinnen waren.

Lara war ein kluges Köpfchen. Auch wenn das nicht für alle auf den ersten Blick ersichtlich war. Denn in Lara-Land tickten die Uhren anders. Wenn wir aus dem Schulhaus kamen, waren die Strassen wie leergefegt. Das fiel Lara nicht auf. Mich beunruhigte dies zunächst auch nicht. Lara war eine unterhaltsame Person. Sie kannte tolle Geschichten und konnte diese mitreissend erzählen. Nur leider war

Multitasking, also mehr als eine Sache gleichzeitig machen, nicht ihr Ding. Und so steckten ihre Füsse auch nach der achten Story noch in ihren Finken, während ich in meiner Jacke und unter meiner Dächlikappe langsam zu schwitzen begann. Nicht weiter schlimm, fand ich. Doch als ich eines Mittags so spät nach Hause gekommen war, dass ich nach

Ich eilte in die Schule. Ohne Lara wohlgemerkt, denn die wurde gefahren. Meine Mutter lehnte Elterntaxi vehement ab. Bewegung sei gesund und so. Da begann ich, Techniken zu entwickeln, damit ich nicht wegen Laras Wesenszügen beim Mittagessen leer ausging.

Die Wochen plätscherten dahin. Ich hatte mich in meinem neuen Alltag ohne Julie eingerichtet, und heute lief es super für mich. Frau Kovacic lobte mich im Schlusskreis für meinen vernünftigen Medienkonsum. Unsere Wochenaufgabe war es gewesen, unsere Bildschirmzeit, also fernsehen, gamen und googeln, eine Woche lang zu dokumentieren. Weil ich noch kein Handy hatte, beschränkte sich diese Bildschirmzeit auf das Angebot des abonnierten Streamingdienstes und den gelegentlichen Gebrauch des Familiencomputers. Die zwanzig Minuten, in denen ich googelte, wie viel Bildschirmzeit mit zehn Jahren angemessen sei, unterschlug ich. Genauso wie die ein oder andere entspannende

14 j einer gehetzten Tasse Früchtetee und einem Käsebrot nur noch kurz meine Zähne putzen konnte, um wieder zum Nachmittagsunterricht aufzubrechen, war mein Seelenfrieden dahin. Meine Geschwister hatten sich meine Portion Lasagne teilen dürfen, als ich zur Essenszeit nicht aufgetaucht war, und grinsten mich hämisch und zufrieden an.

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