WIE SOGAR DAS ALTER VERALTET –UND DREI
CHANCEN ZUM NEUSTART HAT
Wie die «hoffnungslosen Stühle», die Stefan Inauen in eine künstlerisch neue Gestalt bringt, so sucht das Alter nach Metamorphosen, damit es nicht plötzlich schief in der Landschaft steht. Die gesellschaftlichen Konditionen haben sich in kurzer Zeit so gründlich verändert, dass die traditionelle Art zu altern hoffnungslos antiquiert scheint, falls sie sich nicht erneuert – allerdings nicht Richtung fortdauernde Jugend oder gar ewiges Leben, sondern hin zu einer bisher unerhörten Freiheit, die mit ihren altersspezifischen Kräften gesellschaftlich mitwirkt: existenzielle Erfahrung, praxisgesättigtes Wissen, endlichkeitsbereite Heiterkeit – und eine Portion List, siehe Ludwig Stocker, 91, nicht nur mit seinen Styropor-Skulpturen.
Stefan Inauens «hoffnungslose Stühle» mit der aktuellen Lage des Alters zu vergleichen, scheint abstrus. Ausgerechnet heute, wo wir Alten so fidel wie nie unterwegs sind, ungleich zuversichtlicher wie damals, als sie kaum aus ihren Ohrensesseln krochen. Noch mit 80 denken manche an alles Mögliche, bloss nicht an den eigenen Tod. Wir buchen die nächste Reise, reservieren das Schwingfest übers Jahr, legen eine E-Bike-Tour ein … Es mag mit den Jahren allerlei schrumpfen, doch kaum der Appetit auf Reisen und Konzert und Konsum.
Das bedeutet zunächst nur: Alter ist keine Naturkonstante. So wie ein Stuhl keine fixe Grösse ist, nicht ein für allemal als Stuhl taugt, sondern je nach Gesellschaft und Lebensart mal solid und präsentabel dasteht – und irgendwann hoffnungslos aus der Zeit fällt: So kann es auch dem Alter passieren, dass es plötzlich eine komische Figur abgibt, und niemand weiss, was es soll, wozu es taugt. Zumal heute, wo es sich stets weiter ausdehnt, so dass man sich fragt: Ist das überhaupt noch das Alter – oder eher Aufschub fürs Altwerden? Eine Art Zwischenstufe zwischen Erwerbszeit und Abschiedsphase? Eine vorletzte, keineswegs die letzte Etappe, die später erst kommt mit all dem, was das Alter seit je bescherte: Gebrechen, Polymorbidität, Hinfälligkeit? Dann müsste aber – für dieses vorletzte Alter – eine eigene Erzählung erfunden werden, die Erzählung einer speziellen Lebenslage mit ihrem Temperament, ihren Freuden und Leiden.
Klar ist: Die Art, wie wir heute alt werden, ist kaum noch vergleichbar mit den Zeiten unserer Eltern und Grosseltern. Ich bin 1944 geboren, in den 80 Jahren seither hat sich das Alter regelrecht revolutioniert. Und wir Alte – wandeln wir uns auch? Oder bricht bloss die gesellschaftliche Dramaturgie um, also die äussere Spielanlage, nach der wir in die Jahre kommen? Während wir, die Spieler, in unserer Haltung weitgehend die alten bleiben, den
Bedürfnissen von gestern folgen, die Sehnsüchte unserer Vorfahren träumen? Also eine komisch unzeitgemässe Figur abgeben?
Die Dramaturgie wandelt sich gründlich – in mindestens drei Hinsichten:
Da ist erstens die Langlebigkeit. 1944 waren 80-Jährige so rar, dass sie fast als Sensation galten, als verehrungswürdig sowieso. Heute sind sie normal, es werden stets mehr, so dass sie gesellschaftspolitisch zum Problem werden können, nicht nur versicherungsmathematisch. Damals hiess alt meist auch: altersmüde. Heute entkommen immer mehr 65-Jährige erstaunlich unbeschadet der angeblich so brutalen Erwerbswelt, sie bleiben lange bei Kräften, unternehmungsfreudig, erlebnishungrig.
Da ist zweitens der Pensionärsstatus. 1944 gab es keine Altersgrenze, die staatliche Rente AHV kam erst 1948, die berufliche Pension noch später. Wer es körperlich schaffte, arbeitete weiter, in Werkstatt und Bauernhof gab es immer zu tun; so blieben Alte Akteure der Familie, der Gesellschaft. Heute gehen wir «in Rente», sind freigestellt, quasi Passivmitglieder der Gesellschaft. Darum sind Alte im Rentnerstatus so frei, wie es Menschen zuvor nie waren, ganz im eigenen Auftrag unterwegs, man kann auch sagen: «nur» im eigenen Auftrag unterwegs – und darum anfällig für Überflüssigkeits-Gefühle, für das, was ich «Beliebigkeits-Koller» nenne.
Hinzu kommt drittens die Endstationsstimmung. Noch 1944 war das Alter Übergang in eine andere Existenz, ob christlich oder buddhistisch, die Erwartung eines Jenseits holte das Alter aus seiner Vereinzelung, verlieh ihm einen metaphysischen Bezug – und überdies eine Spezialbeschäftigung: Vorbereitung auf die Existenz nach dem Tod. Das mag individuell heute weiter gelten (wie rund um den Planeten), doch gesellschaftlich trägt diese Überzeugung nicht mehr. Das Alter, einst Übergang, wird zur Endstation, metaphysisch obdachlos. Vom Himmelsdruck entlastet, neigt es dazu, umso mehr Druck auf irdische Optimierung zu machen, aus dem Leben noch herauszuholen, was es hergibt.
So richtet sich die Dramaturgie neu aus: mit Langlebigkeit, Rentnerstatus, Endstationsstimmung. Und drängt uns Alte, uns diesen Konditionen anzupassen. Daran probieren wir derzeit herum. Dabei pendeln wir zwischen eingespielten Routinen (Alter = Rückzug, Urlaub) und neuen Chancen (Alter = Freiheit mitzuwirken). Wir verabschieden uns vom jahrhun-
dertelangen Alterskanon: Lebensmüdigkeit (Alter = Verluststory), Erfahrungsbonus (sogenannte Altersweisheit), Jenseitsaussicht (Alterswürde als künftiger Ahnenstatus). Wo wir schliesslich landen, bleibt unentschieden. Unterwegs sieht das einstweilen so aus:
1. Von Lebensmüdigkeit zu Vitalitätsrekorden. Noch meine Eltern waren mit 65 sichtlich alt, körperlich erschöpft. Für sie war das Alter, was dem Schöpfergott der Siebente Tag: ausruhen, zurückblicken, sich freuen über das, was gelungen ist. Heute dominiert die Figur des «aktiven Seniors», der poetische «Lebensabend» wird zum prosaischen Nachmittag des Lebens, das Alter zur Phase eines unentfremdeten Lebens, frei von Erwerbsdruck und Existenzangst, offen wie in einer zweiten Pubertät: reisen, geniessen, bilden, neu verlieben. Im sogenannt Dritten Alter sind wir nicht wirklich alt, es gibt uns bloss schon lange. Und weil wir uns daran gewöhnen, denken wir an alles, bloss nicht an unser Ende. «Longevity» heisst das Schlagwort: Mit Anti-Aging-Medizin die Alterungsprozesse bremsen, gar umkehren, Zellen, besser gleich komplette Organe verjüngen. David Sinclair («Das Ende des Alterns») sieht Menschen, die 150 werden, bereits unter uns.
2. Vom Altersbonus «Erfahrung» zur gesellschaftlichen Passivmitgliedschaft. Vorteil Alter hiess bis vor kurzem: Erfahrung. Sie machte Alte unentbehrlich. Heute, in dynamischen Zeiten, sagt man: Wo sich alles immer schneller erneuert, da veraltet auch alles immer schneller, vor allem die Erfahrung von gestern. Jugendliche Flexibilität samt frischem Wissen erhalten den Vorzug. Erfahrung wird ausgemustert, in Rente geschickt. Falls Rentner noch etwas bewegen, dann sich selbst. Die einen vergnügt es, andere zermürbt es – weil sie sich vorkommen wie weggelegte Schachfiguren; sie sind nicht mehr im Spiel, werden nicht gebraucht, Passivmitglieder der Gesellschaft.
3. Von der Jenseitsbeheimatung zur kosmischen Vereinsamung. Noch meine Eltern fühlten sich von «drüben» erwartet, von ihren Ahnen. Das gab Alten eine eigene, eine irdisch nicht verdiente Würde. Ungeachtet ihres irdischen Lebenswandels und ihres gesellschaftlichen Status standen sie mit einem Bein nicht nur im Grab, sondern im Reich der Ahnen. Mit den Ahnen wollte es keiner verderben, schon weil sie in Überzahl waren. Damit war Alter nicht der banale letzte Akt, sondern schon der erste einer neuen Existenz. Nicht Auslauf des Lebenslaufes, sondern dessen neuer Anlauf. Bricht diese Perspektive ab, steht das Alter kosmisch abgenabelt da. Wie ein später Gast, von niemandem erwartet, nicht abgeholt.
Wird so der Vergleich mit Stefan Inauens «hoffnungslosen Stühlen» anschaulicher? Longevity (weiter so, ziellos), Passivmitglied (gesellschaftlich entpflichtet), kosmisch verwaist –riecht das nicht verdächtig nach Bedeutungsschwund? Nach Substanzverlust und Beliebigkeit? Stehen wir Alten also doch antiquiert in der Gegend herum? Jedenfalls laufen wir in lauter Ambivalenzen: Da sind die stets neuen Vitalitätsrekorde – und gleichzeitig der dunkle Reigen der in Demenz verdämmernden Seelen. Da haben wir die fabelhafte Sorglosigkeit des Rentnerdaseins – und das deprimierende Gefühl, entbehrlich zu sein. Da ist die Befreiung von Höllenangst – und der Verlust der Zugehörigkeit in eine metaphysisch umgreifende Erzählung.
Die insgeheime «Hoffnungslosigkeit» des Alters in der späten Moderne: dass es seine alte gesellschaftliche und metaphysische Relevanz abstreift, ohne eine neue zu gewinnen. So dass ich Alter am Ende nichts habe ausser mir selbst. Was zum Paradox führt, dass ich auf keinen Fall verschwinden will – und gleichzeitig immer weniger weiss, wozu ich da bin. Bin ich nichts als Endverbraucher meiner Lebenschance? Ist das cool oder tragisch? Klar ist: Bin ich mir das Wichtigste auf der Welt, habe ich im Alter schlechte Karten. Ich bin nämlich letztlich nicht zu retten. Meine Zukunft schrumpft.
Und die Zukunft des Alters? Hängt davon ab, ob wir uns von veralteten Routinen verabschieden. Ob wir die Kraft finden, uns aus der postmodernen Vereinsamung zu lösen und – unter den neuen Konditionen – neu zu verbinden, gesellschaftlich, vielleicht sogar metaphysisch. Ich sehe dazu mindestens drei Chancen. Sie entspringen drei Besonderheiten alternder Existenz: 1. Wir leben schon lange. 2. Wir leben nicht mehr lange. 3. Wir leben tendenziell zwecklos.
Chance 1 zum Neubeginn:
Wir leben schon lange – mit dem Vorteil unerhörter Freiheit.
Bis vor kurzem galt: Weisheit zeichnet Alte aus. Altersweisheit galt als Höchststufe: Im Alter hängen wir nicht einfach ein paar Runden an, wir rutschen nicht Richtung Ausgang, nein, im Alter wandeln wir uns, wir beschliessen unser Leben in einer «reiferen» Form. Altersweisheit meinte: Erfahrungsreichtum plus Triebstille. Je älter, umso erfahrener, wissender, gewitzter. Und: Je älter, umso freier von Gier, sexuell wie pekuniär, freier von Konsum und Geltungstrieb. Generell: Je älter, umso freier.
Beides steht heute nicht hoch im Kurs. Die Erfahrung der Alten, sagt man, veraltet rasch in schnelllebigen Zeiten. Triebstille fällt ähnlich aus der Zeit. Was bleibt? Aus meiner Sicht: Die Freiheit im Alter. Wir Alte, traditionell die Fraktion der Hilfsbedürftigen, sind heute die Privilegierten. Jedenfalls im sogenannt Dritten Alter: Unser Leben haben wir im Trockenen. Unsere Tage gehören uns. Wir haben Zeit. Was tun mit dieser Zeit? «Spaziere, Höckle, Gnüsse» (Plakat in Zürich)? Reicht das, gutgelaunt alt zu werden: sich selber in Bewegung zu halten, mit Reisen, Fitness, Genuss? Die bestgelaunten Alten, die ich kenne, bringen alle mehr in Bewegung als sich selbst. Kein Wunder, sind wir doch, sagen Philosophen, «exzentrische Wesen», wir haben unser Zentrum nicht in uns, wir müssen aus uns hinaus (ek-sistieren), um zu uns zu kommen, hinaus zur Welt, mit andern zu etwas Gemeinsamem, mitwirken an etwas, das grösser, bedeutender ist als mein Ego. Menschen sind Weltgestalter, nicht Weltenbummler.
Exemplarisch: die Künstler. Seit wann werden Künstler pensioniert? Sie machen einfach weiter, auch wenn die körperlichen Kräfte schwinden. Sie passen dann die Methode an –oder wechseln das Material. Wie Ludwig Stocker, mit 91 nicht frei von Altersgebrechen: Er findet in seinen Styropor-Skulpturen eine «altersgerechte Materialverarbeitung». Erinnert mich an den Pianisten Artur Rubinstein. Auf die Frage, wie er es schaffe, mit über 90 unvermindert brillant zu konzertieren, nannte er drei Gründe: Erstens spiele er weniger Stücke – die Kunst, sich zu beschränken. Zweitens übe er diese wenigen Stücke umso intensiver –die Kunst zu optimieren. Drittens spiele er die langsamen Sätze so langsam, dass dann die schnellen viel schneller wirkten, als er sie noch spielen könne – die Kunst zu kompensieren. Genial als Alterskonzept: Weniger, dafür intensiver, Ausfälle listig überspielend.
Das könnte auch uns Nicht-Künstlern durchs Alter helfen. Nur dass wir, falls wir Weltgestalter statt bloss Weltenbummler sein wollen, mehr wechseln müssen als das Material: unsere Einstellung zum Leben, unser Interesse – an anderen statt an uns selbst. Wir könnten zum Beispiel in Schulen gehen, mit Schülern Deutsch üben, Mathe, sie dabei unterstützen, Tritt zu finden in ihrem Leben, stark zu werden, erfolgreiche Berufsleute. Erleben werden wir das nicht mehr, doch wir werden drin sein in ihrem Leben. Unsere Zukunft schrumpft, doch wir können mitwirken an einer Zukunft, auch wenn die nicht mehr unsere sein wird. Ich werde oft gefragt, ob ich an ein Leben nach dem Tod glaube? Klar, sag ich dann, es muss ja nicht mein eigenes sein.
Altersstufe 1 also: Mitwirken an Zukunft. Geht ganz einfach. Dafür sorgen, dass es künftig Bienen gibt. Oder Vögel. Wo Vögel zwitschern, leben Menschen vergnügter; also Hecken pflanzen, Garten renaturieren – schon sieht die Zukunft der Jungen freundlicher aus. Da wir schon lange leben, haben wir eine angereicherte Ahnung, worauf es ankommt. Lebenskenntnis kann man nicht lernen, wir müssen sie machen. Das braucht Zeit. Die hatten wir. Darum: Lebenserfahrung, der biografische Standortvorteil von Alten – sofern wir sie nutzen, im Interesse an eine Zukunft über uns hinaus.
Sie sehen, ich bewege mich eher pragmatisch zu den Altersstufen. Altern ist – wie alles Menschliche – eine durchzogene Geschichte. Mit Eindeutigkeiten verfehlt man sie leicht, sowohl sarkastisch («Das Alter ist ein Massaker», Philip Roth), wie auch mit philosophischer Veredelung («Die hohe Kunst des Alterns», Otfried Höffe). In meiner Wahrnehmung hängen wir die Kunst zu altern eher zu hoch – und werden prompt sauer, sobald das Knie schmerzt. Also tiefer hängen. Näher hin zum real existierenden Senior. Nicht jeder taugt zum kleinen Seneca. Der Ohrensessel steht im Brockenhaus. Gelassenheit wird zur Tugend, wenn uns einzig bleibt, das Unerträgliche geduldig hinzunehmen; bis dahin empfiehlt sich das unphilosophische Vergnügen, nach Kräften am Leben teilzunehmen.
Soviel zur Metamorphose 1: Wir leben schon lange – mit dem Vorteil unerhörter Freiheit. Hinzu kommt der Profit aus der Gegentendenz:
Chance 2 zum Neubeginn:
Wir leben nicht mehr lange. Mit dem Vorteil, uns – mangels Zukunft – intensiver an die Gegenwart zu verlieren.
Junge müssen sich ins Spiel bringen; wir Alte beobachten lieber, was sich abspielt. Ambitionen haben wir kaum noch, umso besser schauen wir zu. Rannten wir früher Träumen nach, sind wir nun Pragmatiker des Möglichen. Da wir selbst kaum noch Zukunft haben, machen wir uns weniger Illusionen. Wir sind für niemanden mehr Rivalen, also brauchen wir auch keine Rücksichten mehr zu nehmen. Ohne Zukunft wird Taktieren zwecklos. So kommen wir in die Lage, die Dinge zu sehen, wie sie sind – diesseits von Entwürfen und Begehrlichkeiten. Als der Tag heute begann, nahm ich vergnügt wahr: Was für ein glänzender Morgen! Vor geraumer Zeit hätte ich so reagiert: Was für ein toller Tag – was mache ich mit ihm? Meine Antwort heute: Gar nichts. Dass er schön wird, reicht.
Ludwig Stocker ist noch ein Jahrzehnt älter als ich. Interessant, wie ambivalent er von der Faszination der «Leere» spricht. Sie zieht ihn an – und sie beunruhigt ihn. Die Leere – als Nichtmehrsein – irritiert. Sie ist das total Unbekannte, es gibt zu ihr keine Erfahrung. Gleichzeitig gewährt sie – als Nichtmehrmüssen – dem Alter eine unerhörte Freiheit: Ludwig Stocker kann sich dem Welt- und Kunstbetrieb entziehen, er hat genug getan, er muss keinen Erwartungen genügen, und diese (vorläufige) Leere befreit ihn erst recht zur Wahrnehmung des Neuen, des Unverbrauchten. So macht ihn das Alter regelrecht jünger: unfertiger, empfänglicher fürs Unergründliche in allem. Die Neugier weicht seinem Staunen, etwa über die «rätselhafte und gewaltige Urkraft», die aller Evolution vorausgegangen sein muss.
Mit dieser Dialektik von Alt zu Jung könnten wir Alte interessant werden für Jüngere, die –mit Blick auf ihre offene Zukunft – in der «Welt als Wille und Vorstellung» leben, also Wille und Wirklichkeit ineinanderschlingen. Unsere Altersstärke liegt genau darin, das Sein vom Wollen zu trennen. Nicht dass wir uns darauf allzu viel einbilden sollten, wir verdanken sie unserem Mangel an Zukunft. Jüngere betrachten die Welt perspektivisch, wir sehen sie –weil eine Perspektive fehlt – zyklisch. Darum lösen wir das Wirkliche leichter vom Willentlichen. Uns etwas vorzumachen, wird sinnlos.
Das allmähliche Verschwinden der Illusionen entschädigt uns mit der Chance bereicherter Gegenwart. Die Teilnahme am Leben, für die ich werbe, muss nicht ein praktisches Tun, es kann auch reines Interesse sein, theoretisches Interesse. Theorie kommt von Sehen. Hinsehen, ohne etwas zu wollen. Darum taugt das Alter besser zur Theorie als die Jugend. Die Logik erläutert Odo Marquard im Buch «Endlichkeitsphilosophisches. Über das Altern»: «Wer nichts mehr will, gewinnt – kompensatorisch – die Fähigkeit, viel zu sehen. Man braucht sich der Sichträson der Lebens- und Handlungsnotwendigkeiten nicht mehr zu beugen, nicht mehr dem, was in Zukunft noch zu erledigen ist. Theorie ist das, was man macht, wenn nichts mehr zu machen ist. Das Alter ist jener Abschnitt, in dem – aus zunehmendem Mangel an Zukunft – immer weniger und schliesslich gar nichts mehr zu machen ist. Darum gehört zum Alter die Theorie: das Alter ist in besonderem Masse theoriefähig.» Mehr Staunen als Neugier. Der Morgen, die Berge hier, der See, die Myriaden Sterne – und ich, ein Winzling, bin auch da, gehöre dazu.
Gilt das auch für die «geistige Einquartierung» (Heinrich Heine)? Für eine altersaffine Einstufung? Statt mit 80 hinter denselben Bedürfnissen herrennen wie mit 45: Stufe wechseln,
mehr seelischer Eigenbetrieb, erfüllter vom Augenblick, empfänglicher für die Geheimnisse des Daseins, erheitert über dessen Kapriolen, frei von eskapistischen Allüren. So bekäme das Alter sogar eine gesellschaftliche Bedeutung. Wir leben gerade in einer Zeit des Wandels. Der Fortschrittsoptimismus ist angezählt, die Wachstumslogik kippt: in Konsum, Mobilität, Gesundheit. Insgeheim dämmert uns: Wir haben uns zu lange über den Konsum definiert. Dass wir dafür leben, damit wir uns mehr leisten können, das ruiniert nicht nur unsere Lebensgrundlagen, es macht uns auch nicht wirklich froh. Was dann? Verzicht? Nicht mehrheitsfähig. Weniger ist mehr? Hübsche Floskel – wer will das? Reduktion als Lebenskunst? Minimal Art als Alltag?
Können wir Verzicht in Lebensgewinn verwandeln? Könnten wir. Wir Alten. Wir könnten es vorleben. Wir könnten uns das Weniger = Mehr leisten. Weil wir nicht mehr im Steigerungstheater mitspielen müssen. Und weil wir aus Erfahrung wissen: Weitermachen banalisiert. Noch einmal zum Italiener, noch einmal Teneriffa, noch ein neuer SUV? Nutzt sich ab. Gute Laune? Kommt von innen. Kommt aus Beziehungen. Ein alter Hut? Eben. Gelingt am besten gut gealtert. Aus Erfahrung statt Moral. In der Figur souveräner Alter.
Die Logik in allem: Konzentration auf (erfüllte) Gegenwart. Eröffnet sogar die einzig noch mögliche Zukunft. Bert Brecht, kurz vor seinem Tod: «Jetzt gelang es mir, mich zu freuen alles Amselsanges nach mir auch.»
Chance 3 zum Neubeginn:
Wir leben auf Abschied – mit der Lizenz zum kosmischen Komödiantentum. Was nun, wenn die Kräfte schwinden, wenn Mitwirken (Chance 1) obsolet wird? Wenn theoretische Teilnahme (Chance 2) illusorisch ist? Ich habe diesen Zustand nach einem körperlichen Zusammenbruch erlebt – und von einer dritten Chance geträumt. Ich nannte sie «Lizenz zu vertrotteln».
Vertrotteln ist nicht verblöden. Verblöden können schon 30-Jährige, wenn sie reibungslos in ihrer Zweckwelt aufgehen, alle Träume vergessen, nur noch spuren. Vertrotteln wäre das Gegenteil: Schluss mit spuren – weiter träumen. Das hätte seine Würde: Der vertrottelnde Alte spielt nicht mehr mit, er weiss, dass er unnütz ist, er hört auf, sich auf Pseudonützlichkeit zu trimmen, er verplempert seine Tage, er pfeift auf Konventionen, die uns die Arbeitswelt abverlangt, er lacht über Disziplin, er hat begriffen: Er ist jetzt reiner Selbstzweck, zu
nichts gut, ausser vielleicht zum höchstpersönlichen Schlendrian. Jetzt kann er ganz Mensch sein, so extravagant, wie der Mensch halt ist, ein komischer Vogel, komplett zweideutig, das grosse Fragezeichen des Universums, ein irdisch vergänglicher Komödiant des Welttheaters.
Mit der Lizenz zu vertrotteln meine ich: In der Rolle des Komödianten gewänne der Alte für sich einen tieferen, heitereren Lebenssinn. Vertrotteln als Lebensform einer allerletzten Autonomie – jenseits aller Lebensangst. Als Sisyphus, der auf dem Stein sitzt, statt ihn hinanzurollen. Als Geniesser des Absurden einer Welt, die einmal dem Tohuwabohu entsprang.
Was gibt das Alter her für Komödie? Daniel Schmid schildert in seinem traumhaften Film «Il bacio die Tosca» das Leben in der «Casa di Riposo», die Giuseppe Verdi 1896 für Musiker-/Sängerinnen stiftete, «die weniger Glück hatten als ich». Sie sind nun alle alt und vergessen, sie leben aus dem Koffer ihrer Erinnerungen, ihre Stimmen klingen brüchig und zittrig, doch ihr Auftritt hat noch immer Klasse, sie sind überzeugt, ihr Gesang sei unerreicht …
Falls ich einmal richtig alt werde, will ich diesen Film immer wieder sehen. Die Auftritte, die Allüren der einstigen Stars haben etwas Skurriles und gleichzeitig eine Grösse, eine Würde, die jeden ansteckt, der seine Menschenseele nicht aus Versehen mitbekommen hat.
Diese Alten wissen durchaus, dass sie im Pflegeheim «Casa Verdi» leben, dass ihre Bühne hier eine fiktive ist, dass sie am Verdämmern sind. Sie sind aber nicht bereit, ihre musikalische Vergangenheit zu kappen, sie leben sie weiter, auch wenn sie immer weniger wissen,
was daran real, was eingebildet ist. Ist auch gleichgültig. Hauptsache, ihr Alter hat eine innere Bewegung, eine Bewegtheit und eine Freude. Hauptsache, die Seele hat ihre Erzählung, sie träumt, sie singt. Da mag das Selbst verfliessen, wie es will.
So ungefähr. Ich beanspruche für meine Vorschläge gegen die Antiquiertheit des Alters keine höhere Gültigkeit. So wie Stefan Inauen uns nicht vorschreibt, was wir mit hoffnungslosen Stühlen anstellen sollen. Es kommt auf den Spirit an. Er beginnt mit dem Unbehagen im Hoffnungslosen. Und belebt den Mut zu neuer Hoffnung. Abschied und Neubeginn. Ganz so, wie Hermann Hesse es in seinem «Stufengedicht» ausspricht:
«Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe / Bereit zum Abschied sein und Neubeginne, / Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern / In andere, neue Bindungen zu geben. / Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, / Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.»
Dr. Ludwig Hasler, Zollikon Philosoph, Physiker und Publizist
LEERE UND FÜLLE: EIN RAUM DAZWISCHEN
Ein Gespräch zwischen Hao Hohl und Ludwig Stocker
Wir kommen zur Welt, wachsen durch Lernen und Erfahrungen, bewegen uns, sammeln Erinnerungen, leben und kreieren im ewigen Vergehen der Zeit. Wir wachsen und wachsen, bis wir eines Tages fast genug haben. Wer möchte schon alt werden? Wer kann ewig jung bleiben?
Was ist für dich wichtig im Leben? Und was ist für mich gerade zentral? (Hao Hohl)
Das Gespräch mit Ludwig Stocker fand kurz vor meiner Reise nach China in seinem Atelier in Basel statt.
LEERE
Hao Hohl: Nächste Woche werde ich meine Mutter besuchen, die derzeit schwer krank ist, und das beschäftigt mich sehr. Allein die Vorstellung, ihre Stimme eines Tages nicht mehr hören zu können, bereitet mir grosse Angst. Was passiert, wenn sie plötzlich nicht mehr da ist? Ich befürchte, es wird eine immense Leere geben. Aber was bedeutet diese «Leere» für mich? Vor unserem Treffen habe ich deinen Text «Textfragmente» gelesen. Am Ende des Textes hast du geschrieben: «Im Liegen suche ich Leere ... Wissen wir denn, was Leere ist? Nein, aber diese Erfahrung beunruhigt. Wissen wir, was wir sinnvoll wollen?». Was bedeutet «Leere» für dich?
Ludwig Stocker: «Leere»? Das ist eine innere Ausrichtung, weil Leere sich der Beschreibung entzieht. Die Leere hat für mich den Anschein eines Ursprungs oder eines Ahnens. Ich glaube, dass wir uns tatsächlich in einer Art Leere befinden, da wir sehr wenig über die Vorgänge und die Welt wissen, und das, was wir sehen oder zu sehen glauben, nicht endgültig ist. Wir versuchen manchmal, uns in diese Leere zurückzuziehen. Jedoch finde ich es persönlich sehr schwierig, diese Leere überhaupt herbeizuführen, da wir ständig visuellen Eindrücken, Gesprächen, Bildern und vielem mehr ausgesetzt sind. Es scheint fast unmöglich, die Leere zu erreichen.
Hao Hohl: Kann die Leere nicht auch als eine totale Befreiung empfunden werden?
Ludwig Stocker: Totale Befreiung? Das wäre sehr schön.
ALT / JUNG
Hao Hohl: Mit zunehmendem Alter gewinnen wir an Erfahrung und Wissen, doch stellt sich die Frage, ob Wissen immer mit etwas Altem einhergeht. Was ist das Gegenteil von «alt»? Was können wir als «jung» bezeichnen?
Ludwig Stocker: Wenn es um Objekte und Kunst geht, empfinden wir «jung» als das Unverbrauchte, das Neue oder das gerade Geborene. «Jung» können wir als etwas bezeichnen,
das mit Vitalität und geistiger Wachheit verbunden ist sowie mit besserer intellektueller Leistung im Vergleich zu jemandem, der zum Beispiel 90 Jahre alt ist.
Hao Hohl: Was bedeuten für dich das Altsein und das Altwerden?
Ludwig Stocker: Das ist eine Erfahrung, die ich gerade mache. Einerseits spüre ich in manchen Situationen keinen Unterschied zu vor 30 Jahren. Andererseits merke ich, dass meine Kräfte bei körperlichen Bewegungen nachlassen. Oft schweife ich in Erinnerungen ab über Dinge, die ich getan habe, und darüber, was möglicherweise vom Schicksal abhängt. Im Leben spielt der Zufall eine grosse Rolle. Die Unsicherheit darüber, was nach dem Tod kommt, das Offene, Unbestimmte und das Nichtwissen stellen vielleicht keine Belastung dar, aber eine grosse Schwierigkeit. Im ägyptischen Totenbuch aus der Hochkultur Ägyptens und in den christlichen Himmels- und Höllenvorstellungen im literarischen Opus von Dantes «Divina Commedia» werden Vorstellungen zum Jenseits dargestellt. Es ist schwierig, über ihren mythischen und literarischen Wert hinaus Hilfe zu finden, um herauszufinden, was nach dem Tod sein wird. Ich denke, dass dies unserem Nachdenken darüber verschlossen bleibt, dass man aber auch hier Vertrauen ins Ganze haben darf. Es ist auch ein grosses Rätsel. Wenn man an die Geburt denkt, kommt das Neugeborene aus dem Mutterleib, einer Art Höhle. Der Begriff «Höhle» ist ein wunderbares Bild. Das Kind verlässt die Höhle und tritt in die Welt, die Realität ein, die vermutlich auch grosse Teile unseres Unbewussten ausmacht und daher gewisse Ähnlichkeiten mit der Höhle im Mutterleib aufweist. Auch meine eigene Arbeit und mein Denken empfinde ich manchmal in diesem Kontext der Höhle.
Hao Hohl: Ein sehr interessanter Ansatz. Dies verbindet mich auch mit dem Begriff «Heimat». Neugeborene sind heimatlos, denn mit ihrer Geburt müssen sie den warmen und schützenden Mutterleib verlassen, ihre ursprüngliche Heimat. Um dieses geborgene Gefühl wiederzufinden, haben wir unsere Familie, unsere Arbeit, unsere Kollegen und unsere Beziehungen zu anderen Menschen. Der Tod ist vielleicht auch eine Art Rückkehr, zurück zur ursprünglichen «Heimat» oder zur «Höhle».
ZEICHNEN / GESTALTEN
Hao Hohl: Du hast mir erzählt, dass du derzeit viel zeichnest, und ich hatte den Gedanken, dich dabei mit meiner Kamera zu filmen. Jedoch hast du betont, dass das Zeichnen für dich ein intimer und persönlicher Prozess ist. Empfindest du es als einen Teil von dir?
Ludwig Stocker: Ja, es ist ein Impuls, ein Drang, der mich antreibt, und der im Diffusen und Unbewussten stattfindet. Ich widme mich täglich dem Zeichnen, oft auf kleinen Formaten wie Postkarten. Dabei lasse ich mich von Zitaten aus meiner aktuellen Lektüre inspirieren. Mein Ziel ist es nicht, den Text direkt zu illustrieren, sondern der Zeichnung eine eigene Dynamik zu ermöglichen, die ihren eigenen Gesetzmässigkeiten folgt. Am Ende entsteht eine einzigartige Verbindung zwischen dem Text und der Zeichnung, die nur in mir existiert. Die Zeichnung spricht für sich selbst und stellt mit Formen, Farben, Linien und anderen gestalterischen Elementen eine eigene Bildsprache dar.
Hao Hohl: Gibt es auch zufällige Momente in deinen Werken?
Ludwig Stocker: Ja, sehr viele. Meistens starte ich ohne konkrete Idee, sei es bei der Skulptur oder der Zeichnung. Es beginnt mit einer vagen Vorstellung und entwickelt sich dann durch den Zufall. Doch darauf folgen die Regulierung und formale Komposition. Hierbei kommt der Intellekt zum Einsatz, aber der Ursprung liegt im Trieb. Es ist ein völlig unbewusster Prozess.
MATERIAL
Hao Hohl: Das Material trägt in sich eine eigene Bedeutung. Josef Beuys hatte einen Einfluss auf dich, insbesondere durch seine Art der Materialverwendung.
Ludwig Stocker: Beuys hat mich in gewisser Weise durch seine Betonung der Selbstaussage des Materials beeinflusst. Diese Erkenntnis war für mich eine Offenbarung.
Hao Hohl: Jedes Material birgt eigene Herausforderungen und Vorteile, die es zu meistern gilt. Das Spiel mit den Eigenschaften des Materials und die Beherrschung seiner Grenzen
sind entscheidend für die Bildhauerei. Viele deiner Werke bestehen aus Stein, Marmor und auch Bronze. Was hat dich dazu inspiriert, Skulpturen aus Styropor zu gestalten?
Ludwig Stocker: Styropor ist ein modernes Material, das den Prozess der Formgebung erleichtert – das ist seine praktische Eigenschaft. Durch die Beschichtung einer so entstandenen Form mit Jute, weissem Zement, Hochglanzfolie und Teer erkannte ich im Laufe der Zeit ganz neue inhaltliche Komponenten, die deutliche Bezüge zu meinem Denken aufweisen. Im Gegensatz zum Stein hat das beschichtete Objekt keine durchgehend homogene Struktur. Die Betrachtung des Objekts offenbart nur seine Oberfläche, seine Haut, während das unter der Oberfläche Verborgene unsichtbar bleibt. Die Fragilität des Styropor-Materials sehe ich als Analogie zur Verletzlichkeit und Instabilität im Leben.
FRAGILITÄT / STYROPOR
Hao Hohl: Die Fragilität des Körpers im fortgeschrittenen Alter lässt Raum für verschiedene Interpretationen und kann als Symbol für das Altern betrachtet werden. Einige Styroporskulpturen behalten ihre ursprünglichen Eigenschaften, während andere mit Silberfolie belegt oder bemalt werden. Welche Botschaften werden dadurch ausgedrückt und welche Bedeutung haben sie für die Betrachter? Spiegeln sie wirklich die Dualität von Risiko und Schönheit wider?
Ludwig Stocker: Beschichtete oder bemalte Styroporskulpturen beziehen sich nicht nur auf die Oberflächenwahrnehmung, sondern auch auf Täuschung. Mit Hochglanz-Silberfolie versehene Styroporskulpturen beziehen sich auf die heutige Vorstellung von Leichtigkeit, Glamour und unbeschwerten Glanz des Lebens. Der Betrachter widerspiegelt sich in diesen Skulpturen. Die farbigen Styroporskulpturen im Spätwerk werden so gestaltet, dass Körperformen zu bewegten Objekten werden. Durch die Zusammensetzung verschiedener Formteile und die Fragilität des Materials sind sie äusserst instabil und gefährdet in ihrer Existenz. Dennoch wird der Risikocharakter der dargestellten Formen durch die Schönheit der aufgetragenen Farbe neutralisiert, wodurch die Schönheit das Risiko überdeckt. Diese Erfahrung, die im Alltag des menschlichen Lebens und im gesamten Universum allgegenwärtig ist, zeigt sich beispielsweise darin, dass wir uns der potenziellen Verheerungen
Die Herausforderung
durch starke Sonneneruptionen auf der Erde bewusst sind, während wir gleichzeitig Licht und Wärme, die uns die Sonne schenkt, als wohltuend erfahren.
DEKONSTRUKTION / RAUM
Hao Hohl: Inwiefern spielt die Dekonstruktion eine Rolle in deinem kreativen Prozess und wie reflektieren sich diese Aspekte in deinen Skulpturen?
Ludwig Stocker: Wenn mich beispielsweise eine Skulptur von Donatello besonders fasziniert, betrachte ich sie intensiv und analysiere sie nicht nur rational, sondern auch intuitiv. Dabei achte ich auf die Formzusammenhänge, formale Gegebenheiten, Rhythmen, Hauptlinien und Hauptvolumen. Ich nehme diese Elemente bewusst wahr und setze sie durch eine abstrakte Neuinterpretation in geschichteten Platten um. Die Figur wird nicht mehr als geschlossene Einheit oder feste Vorstellung wahrgenommen, sondern tritt auf eine andere Weise in den Raum. Die Kunstgeschichte ist für mich stets präsent, ihre bildlichen Gestaltungen wandeln sich aber in der Gegenwart unter dem Einfluss aktuellen Denkens.
Hao Hohl: Ein Raum kann sowohl begrenzt als auch offen definiert sein, sei es auf physischer oder konzeptueller Ebene. Kurven sind in deinen Skulpturen sehr präsent und verleihen ihnen Dynamik und Bewegung. Wie beeinflussen sich Form, Kurven und Raum gegenseitig in einer Skulptur und wie wirkt sich das auf unser ästhetisches Erleben und die Interpretation aus?
Ludwig Stocker: Kurven sind ein Formelement ebenso wie gerade Linien. Die Form einer Skulptur kann den Eindruck einer menschlichen Gestalt erwecken. Daher ist es wichtig, über die dahinterliegenden Gedanken und Ideen nachzudenken. Nehmen wir als konkretes Beispiel diese Skulptur aus Bronze (vgl. Abbildung links), die ursprünglich aus Styropor hergestellt und dann im Direktgussverfahren in Bronze umgewandelt wurde. Obwohl möglicherweise noch ein Kopf erkennbar ist, ist die Figur aufgebrochen und nimmt kein geschlossenes Volumen mehr ein. Stattdessen wird sie im Raum positioniert. Es scheint fast so, als würde der Raum durch die Figur hindurchdringen. Hier spielen formale Überlegungen eine Rolle – etwa die Erkenntnis, dass lineare Elemente eine klare, flächige Gegen-