Michaela Glöckler, Claudia Grah-Wittich (Hg.)
Michaela Glöckler, Claudia Grah-Wittich (Hg.)
Die Würde des kleinen Kindes 2
Gesunde Entwicklung und Prävention
Begleitung des Kindes von Geburt an
Zum Geleit
Michaela Glöckler, Claudia Grah-WittichDie institutionelle Betreuung von Kindern unter drei Jahren ist weltweit zu einer gesellscha lichen Tatsache geworden. Da die fachliche Ausbildung, die Entwicklung von inhaltlichen Konzepten und die Finanzierung für die personelle Betreuung diesen rasanten Veränderungen o nicht nachkommen, sind gravierende Qualitätsmängel die Folge – zu Lasten der Kinder. Auch die internationale Waldorfkinderkrippenbewegung hat sich dieser Herausforderung zu stellen. Daher gibt es in einigen Ländern fachliche Arbeitskreise zur Konzeptentwicklung und Optimierung, die mit der Internationalen Waldorfkindergartenvereinigung IASWECE zusammenarbeiten. Auf Initiative des deutschen Arbeitskreises Kleinkind wurden bereits von 1998 an am Goetheanum in Dornach in Zusammenarbeit mit der Medizinischen Sektion große internationale Kleinkindkongresse veranstaltet mit dem Obertitel Würde des kleinen Kindes. 2017 wurde seitens der Medizinischen Sektion ein interdisziplinäres Fachkolloqium Care 1 begründet, speziell zur optimalen pädagogisch-medizinischen Betreuung und P ege in der Kleinkindzeit. Auch dabei steht die Frage nach der Würde des Kindes und seiner Menschenrechte im Mittelpunkt:
Was können wir vorbeugend in Schwangerscha und früher Kindheit tun, um seiner Souveränität – in einer Zeit größter Schutz- und P egebedür igkeit – gerecht zu werden?
Wie begleiten wir den Geburts- und Inkarnationsvorgang des Kindes so, dass in den ersten Jahren der Grund gelegt werden kann für lebenslange Gesundheit?
Wie kann daran anschließend die individuelle Entwicklung des Kindes in den heutigen Familiensituationen und im Zusammenhang mit den Betreuungseinrichtungen gefördert werden?
Wie können Stress und Überforderung durch Prävention so vermieden werden, dass keine gesundheitlichen Beeinträchtigungen im späteren Leben zu befürchten sind?
Der vorliegende Band setzt sich aus Beiträgen zusammen, die im Rahmen der internationalen Kleinkindkongresse 2013 und 2016 am Goetheanum vorgetragen wurden und auf heute bereits eingetretene Entwicklungen vorausblickten. Sie wurden für diese Publikation und im Hinblick auf den Kongress 2020 so aufbereitet, dass sie auch für eine breitere Leserscha von Interesse sind.
Allen Beiträgen ist gemeinsam, dass sie zu einem vertie en menschenkundlichen Verständnis der frühkindlichen Altersstufen bzw. der Entwicklungszusammenhänge und -gesten von der Konzeption bis zum dritten Lebensjahr beitragen. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Entwicklung der ätherisch-physischen Konstitution des Kindes. Zentral steht dabei auch die Frage, wie die drei Seelenfähigkeiten des Erwachsenen – Denken, Fühlen und Wollen – weiter zu entwickeln sind,
damit ihre Interaktionen mit dem Kind in der Praxis seine Würde nicht verletzen?
Die folgenden Fragen an das kleine Kind können Eltern bereits während der Schwangerscha begleiten. Sie sind aber auch für alle, die mit Kindern in den ersten Lebensjahren zu tun haben, wegweisend:
Wo kommst Du her?
Wohin geht Dein Weg?
Was kann ich für Dich tun?
Diese Fragen schärfen den Blick für den großen Entwicklungszusammenhang, der sich in jedem noch so kleinen Entwicklungsschritt des Kindes abbildet. Dazu gehören die Bildegesten des werdenden Menschen ebenso wie die embryonalen und nachgeburtlichen Signaturen seiner Entwicklung – aus medizinischer, künstlerischer und pädagogischer Sicht. Rudolf Steiner gibt uns dazu einen entscheidenden Hinweis:
«Mit der physischen Geburt wird der physische Menschenleib der physischen Umgebung der äußeren Welt ausgesetzt, während er vorher im Fruchtwasser von der schützenden Mutterhülle umgeben war. Was vorher die Krä e und Sä e der Mutterhülle an ihm getan haben, das müssen jetzt die Krä e und Elemente der äußeren physischen Umgebung an ihm tun.»1
Daraus können wir ableiten, dass die vertie e Wahrnehmung dieser Gesten
und Signaturen jedem Elternpaar und pädagogisch-therapeutischen Wegbegleitern Inspiration für das eigene Handeln vermitteln kann, wenn sie der elementaren Frage nachgehen:
Wie kann Erziehung nach dem Übergang der Geburt in die irdischen Lebensverhältnisse zur Fortführung dessen werden, was dem Kind vorgeburtlich Sicherheit und Hülle gab?
Dieser 2. Band möge allen Lesern helfen, im familiären Umfeld des Kindes sowie in den pädagogischen Einrichtungen bzw. therapeutischen Praxen Bedingungen zu scha en, die dem Kind auch nach der Geburt das nötige Ausmaß an Schutz und Entwicklungsraum geben – Qualitäten, die für seine gesamte weitere Entwicklung von entscheidender Bedeutung sind.
In diesem Sinne richtet sich dieses Werk an alle, die mit dem Kind in den ersten drei Jahren nach der Geburt zu tun haben: Eltern, Hebammen, Ärzte, Kinderärzte, Eltern-Kind-Gruppenleiterinnen, Eltern-Kind-Beratungsstellen, Tageseltern, Kinder- und Jugend-Therapeuten, Mitarbeiter von Schrei-Ambulanzen, Therapeuten, Frühförderer, Krankenschwestern und Betreuer von Kleinkindeinrichtungen.
Mögen wir alle das wichtige Thema des Lebensanfangs zu unserem Herzensanliegen machen, um dem kleinen Kind, wo immer wir mit ihm zu tun haben, die bestmögliche physische, seelische und geistige Umgebung bieten zu können.
In diesem Buch wird die Würde des kleinen Kindes in all ihren Dimensionen lebendig. Besonders berühren die konkreten Erfahrungen der Autorinnen und Autoren, wenn sie dabei die Kinder in sensibel ausgewählten Bildern und Zitaten selbst zu Wort kommen lassen. Alle Beiträge speisen sich aus jahrzehntelanger pädagogischer, kinderärztlicher, therapeutischer und auch rechtlichpolitischer Erfahrung im Umgang mit Kleinkindern und ihrem Umfeld: Eltern, Familien, kleinkindpädagogischen und therapeutischen Einrichtungen. Gemeinsam machen die unterschiedlichen Beiträge zunächst deutlich, was ein neu geborenes Kind alles mitbringt. Aus eigener fünfunddreißigjähriger Erfahrung in der Untersuchung von Neu- und Frühgeborenen kann ich bestätigen, dass jedes dieser Kinder für geübte Sinne so verschieden, so individuell in seinem Wesen ist wie Erwachsene. Es gehört zu den tiefsten Erfahrungen im langjährigen Umgang mit Menschen in dieser Lebensphase, hinter ihrer, uns unmittelbar anrührenden Erscheinung die ganze Tiefe, den Ernst, den Lebenswillen einer menschlichen Individualität wahrnehmen und achten zu lernen. Und dies bei gesunden Kindern wie bei Kindern, die einen schweren Start ins Leben haben, sei es durch körperliche Erkrankungen und Behinderungen, sei es bedingt
durch ihr seelisches Umfeld oder durch die Lebensumstände, wo sie geboren werden, etwa durch Krieg, Armut und Hunger. Das vorliegende Werk lehrt uns, ihre Individualität, die sich entwickeln, die in der Welt erscheinen will, von Anfang an in ihrer Würde, in ihrem ganzen Potenzial zu achten. Dass das schon für die Schwangerscha von wesentlicher Bedeutung ist, lernen wir heute immer feiner zu verstehen. Nicht nur elterlicher Stress und Ängste, sondern noch mehr die liebevolle innere Annäherung, Freude und Zuversicht sind für das Ungeborene spürbar und beein ussen seine leibliche Entwicklung. Einzelne Beiträge beleuchten detailliert diese Phase und vertiefen die Frage nach dem Anfang und Ursprung menschlichen Lebens.
Dem Respekt vor der menschlichen Autonomie gegenüber steht die Notwendigkeit, einem Kleinkind soziale Hüllen zu schenken, wenn es die leiblichen Hüllen des Mutterleibes verlassen hat. Dieser Prozess beginnt schon vor der Geburt. Nichts belastet die Schwangere mehr als das Gefühl oder die Angst, alleinegelassen zu werden. Der Einbezug des Vaters, die Frage eines unterstützenden Netzwerkes für die werdenden jungen Eltern sind für eine gesunde frühkindliche Entwicklung von entscheidender und nachhaltiger Bedeutung. Dabei geht es nicht darum, ideale, sondern mit o einfachen
Mitteln menschenwürdige Umstände für das Kind und seine Entwicklung zu scha en. Dafür bietet dieses Buch eine Fülle lebendiger, kreativer Anregungen. Was das Kind zunächst erlebt, ist die Haltung der Erwachsenen, sind ihre Gesten, ist ihr mehr oder weniger liebevolles Miteinander nicht nur mit dem Kind, sondern untereinander. Vor kleinen Kindern kann man nichts verstecken, und der Mund eines Dreijährigen kann ungeschminkt die Wahrheit an den Tag und auf den Tisch bringen, die die Erwachsenen so gerne verstecken und kaschieren würden. Richtig aufgefasst, sind Kleinkinder wunderbare Lehrmeister, ehrlicher mit sich und anderen zu werden, obwohl man erwachsen ist. Auch dafür gibt dieses Buch praktische Hilfestellungen, und dies immer wieder mit dem notwendigen Humor, den uns die Kinder selbst schenken können. Von unserer Hüllenbildung, der wachen Wahrnehmung, kreativen Begleitung und gleichzeitig willensmäßigen Zurückhaltung kann für das kleine Kind die Wärme und Sicherheit ausgehen, die einen Goldgrund für seine Grundgestimmtheit, sein Selbstvertrauen, seine Seelenwärme im Leben abgibt. Auf den Anfang kommt es an! – dieses Motto vermittelt das vorliegende Buch in einer Weise, die jeden Leser teilhaben lässt an den Schätzen und der Schatzsuche frühkindlichen Lebens.
Möge dieses Werk seinen Weg in die Herzen der Leser nden – die Kinder werden es Ihnen danken!
Georg SoldnerKinder- und Jugendarzt, Stellvertretender Leiter Medizinische Sektion am Goetheanum
Dornach/Schweiz
