Leseprobe «Caroline Chanter – Aus der Farbe zur Form»

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AUS DER FARBE ZUR FORM

Einblicke in Gerard Wagners Umgang mit Rudolf Steiners Hinweisen zum Malen

EINLEITUNG

Vor über hundert Jahren, zeitgleich mit anderen Neuaufbrüchen in der Welt der Kunst, sprach Rudolf Steiner1 davon, dass beim Malen die Form, das Motiv, « aus der Farbe heraus » zu fnden sei. Diese Überlegung sowie seine Gedanken über einen neuen Malimpuls thematisierte er in Vorträgen über die Kunst im Ersten Goetheanum in Dornach (CH )2, in München (DE ), wo damals neue Kunstbewegungen entstanden,3 und in anderen Zusammenhängen. Die gemeinte neue Haltung dem Malen gegenüber wird auch von dem Maler Johannes Tomasius, einem der Protagonisten in Rudolf Steiners Mysteriendramen, vertreten.4

Was heißt « aus der Farbe heraus malen », und wie erreicht man es ? Diese Fragen beschäftigten den begabten jungen Maler Gerard Wagner, als er sich 1926 in Dornach niederließ und dort Teil einer wachsenden anthroposophischen Gemeinschaf wurde, deren Mitglieder alle hohe Ideale in ihrem künstlerischen Arbeiten verfolgten. Wagners damals beginnende Suche nach Antworten konfrontierte ihn mit beträchtlichen inneren und äußeren Kämpfen. Allmählich, über viele Jahre hinweg, entfaltete sich sein Werk in der Abgeschiedenheit seines Ateliers. Erst Anfang der 1940er Jahre trat er erstmals damit an die Öffentlichkeit und begann, seine Arbeiten regelmäßig im bescheidenen Schreinerei-Gebäude am Goetheanum auszustellen.

Rudolf Steiners Hinweise bildeten den Ausgangspunkt für den Weg, den Gerard Wagner für sich gewählt hatte. Er studierte alle Gemälde und Zeichnungen Steiners ausführlich, überzeugt, dass sie ihm auf der Suche nach der Lösung des Geheimnisses, wie Form aus der Farbe hervorgeht, die Richtung weisen würden. Wagners methodisches Experimentieren mit der Reihenfolge, in der er beim Komponieren eines Bildes die Farben einbrachte, wurde zu seinem Markenzeichen. Er entdeckte, dass sich diese Reihenfolge entscheidend auf die Entstehung des Motivs auswirkte und ihm Aufschluss darüber geben konnte, wie Farbe Form hervorbringt.

In dem folgenden Ausschnitt aus der Monografe « Gerard Wagner – Die Kunst der Farbe » 5 lernen wir mehr darüber, wie der junge Künstler zu Beginn seiner Suche von seiner damaligen Umgebung geprägt wurde und wie seine Farbexperimente für ihn zum Erkenntnisweg wurden :

Wer diesen Weg zu gehen versucht, kann zu der Gewissheit kommen, dass die Anweisungen Rudolf Steiners den, der sie genügend durchlebt, dazu führen können, die schöpferischen Bildekräfe der Farbe zu ergreifen und in diesem Lebenselement zu gestalten, ohne es zu verletzen. Dadurch, dass Rudolf Steiner uns solche Bilder

des aus der Farbe heraus geformten Lebens gegeben hat, hat er Ziele für eine weite Zukunf der Malerei gesetzt.

Das immer Gegenwärtig-haben der künstlerischen Werke Rudolf Steiners war die Voraussetzung, um diesen Weg zu gehen; zugleich das intensive Miterleben des geistigen Lebens in Dornach, der Eurythmie und Bühnenkunst, das Wirken der Persönlichkeiten von Marie Steiner6, Albert Steffen7 und der vielen anderen, die dieses Leben prägten. Dass alles dies auf die eigene Arbeit stärksten Einfuss hatte, ist selbstverständlich. Sie wäre ohne jene Anregungen undenkbar gewesen. Rudolf Steiner hatte Menschheitsziele aufgedeckt für Kunst und Wissenschaf.

Da wurde nur Persönliches bedeutungslos. Allmählich nahmen die « Experimente » mit der Farbe, welche durch Jahre und Jahrzehnte immer konsequenter durchgeführt wurden, deutlichere Formen an. Sie führten zu Metamorphosereihen, die einen Versuch darstellen, durch methodisches Umgehen mit der Farbe zu malerischen Erkenntnissen zu kommen. Im Grunde lassen sich alle Bilder in dieses Üben einreihen – denn vor allem wurden sie gemalt, um den Zusammenhang von Farbe und Gestaltung zu ergründen. Der Gedanke, « Bilder » zu malen, die eventuell ausstellbar oder verkaufbar seien, lag mir ganz fern. Der Prozess des Malens selber, das immer wieder Eintauchen in diesen geheimnisvollen Vorgang, das gegenseitige sich Halten und Tragen der Farben in einem schwebenden Gleichgewicht – das war es, was mich interessierte. Nicht sollte aus ihnen ein zu nennendes, zu deutendes « Motiv » gezogen werden, sondern diese ergaben sich erst allmählich durch immer genauere Einsichten in die Folgerichtigkeit des « Farbenaufbaus », in dem die Grundlage der Motivbildung liegt.

Rudolf Steiner hatte keine künstlerische Ausbildung absolviert. Dennoch waren Umfang und Vielfalt der Werke, die er in vielen künstlerischen Bereichen, wie Malerei, Bildhauerei und Architektur, hervorbrachte, für seine Mitarbeitenden äußerst anregend, vor allem beim Bau des Ersten Goetheanum in Dornach (CH ), der 1913 begann. Steiner war zutiefst vertraut mit Goethes Farbenlehre, an die er mit seiner eigenen Lehre anknüpfe. Seit über hundert Jahren inspirieren seine Einsichten in Farbe und Malerei Künstlerinnen und Künstler, darunter bekannte Persönlichkeiten wie Piet Mondrian, Wassily Kandinsky, Hilma af Klint und in jüngerer Zeit auch Josef Beuys.

Der relativ unbekannte Maler Gerard Wagner war von Rudolf Steiners Werk nicht nur inspiriert, sondern leitete seine eigene Methode beim Malen direkt von Steiners Hinweisen ab. Somit nimmt sein Werk einen wesentlichen Platz in der Geschichte der Malerei ein. Den Unterschied zwischen Wagners Verhältnis zu Rudolf Steiners Kunstimpulsen und

dem anderer Künstler beschrieb Michael Piotrovsky, Leiter der Eremitage in St. Petersburg (RUS ), im Katalog zur dortigen Gerard-Wagner-Ausstellung 1997 wie folgt : 8

Viele Künstler wurden von den Ideen Rudolf Steiners inspiriert : Kandinsky, Mondrian, Klee…Da diese jedoch selbst neue Welten geschaffen haben, gingen sie weit von den Steinerschen Vorstellungen über das Wesen der Künste weg und gebaren ganz andre Sprachen. […] Der Maler Gerard Wagner hat für sein ganzes Leben nicht nur seine Begeisterung, sondern auch seine Treue zu den Ideen Rudolf Steiners behalten. Sein Werk ist eine konsequente Durchführung des Prinzips, wie Form aus der Farbe entsteht.

Gerard Wagners malerisches Erbe umfasst eine große Vielfalt an Motiven, in denen sich das Leben des Seelisch-Geistigen in den Naturreichen, im Menschen und den höheren Welten offenbart. Die meisten der über 5000 Bilder in seinem Archiv warten noch darauf, von einer breiteren Öffentlichkeit entdeckt und geschätzt zu werden. Sie sind in einer künstlerischen Sprache ausgeführt, die von höheren Daseinsebenen spricht, die für Menschen heute nicht so leicht zugänglich sind. Doch wollte Wagner neben diesem geheimnisvollen und eher verborgenen Aspekt seines Schaffens auch grundlegend und nachvollziehbar zeigen, wie man ein Bild malerisch aufbaut. Hinweise dazu fnden sich in dem Arbeitsbuch « Die Individualität der Farbe ». 9

In den 1970er Jahren wurden zwei Mappen mit Bildern und Texten zum Tema Metamorphose veröf fentlicht : « Wandlung des Elementarischen im Jahreslauf » und « Tiermetamorphose », beides künstlerisch-wissenschafliche Studien, die Einblicke in Gerard Wagners Arbeitsansatz eröfnen. Im Jahr 1980 erschien eine Monografe, die einen Überblick über seine Malerei ab den 1950er Jahren gibt; eine umfassende Untersuchung seiner Werksgeschichte fndet sich in der Biografe « Ein Leben mit Farbe – Gerard Wagner 1906 – 1999 ». 10

Der vorliegende Band « Aus der Farbe zur Form » möchte weitere Einblicke in Gerard Wagners Arbeitsmethode vermitteln, indem er einige der grundlegenden Farbstudien und Farbübungen vorstellt, die Wagner zunächst als Lernhilfe für sich selbst entwickelte. Später bildeten sie aber auch die Grundlage für den Unterricht an seiner Malschule und für die zahlreichen Kurse, die er über viele Jahre hinweg gab. Weiterhin möchte das vorliegende Buch auf die Schulungsskizzen hinweisen, die Rudolf Steiner als Hilfe für Menschen anfertigte, die sich tiefer mit dem Wesen der Farbe verbinden wollten. Diese Skizzen bildeten die Grundlage für Gerard Wagners Farbforschung und Farberkenntnis.

DIE KUPPELMOTIVE

Die Skizzen der Kuppelmotive für das Erste Goetheanum waren im Grunde Rudolf Steiners erste bildliche Darstellungen. Sie waren als Richtlinien für die Künstlerinnen und Künstler bestimmt, die sich 1914 auf das Ausmalen der beiden Kuppeln vorbereiteten.33

Die Motive der großen Kuppel zeigen die Evolution der Welt von der Schöpfung der Erde durch die Elohim und weiter durch die vier großen nachatlantischen Kulturepochen des Alten Indiens, Alten Persiens, Ägyptens und Griechenlands. Die Darstellungen in der kleinen Kuppel zeigen die innere Entwicklung des Menschen kulminierend in dem zentralen Motiv des Menschheitsrepräsentanten.

Gerard Wagners eigene Beschreibung in der Monografe « Die Kunst der Farbe » 34 gibt einen Einblick in die Art und Weise, in der er sich den auf einem Hintergrund von Regenbogenfarben gemalten Motiven der großen Kuppel näherte. Er berichtet, wie sich ihm der Zugang zu dem Motiv « Auge und Ohr » eröfnete :

Auch die Motive für die Kuppelmalerei des ersten Goetheanum waren Vorbilder beständigen inneren Suchens, zunächst mehr stimmungsmäßig, in späteren Zeiten mehr auf die gestalterischen Notwendigkeiten und auf die motivischen Zusammenhänge achtend. Obwohl hier für den Beschauer das « Motiv» besonders deutlich hervortritt, sind sie ebenso sehr «der Farbe Werk» wie die anderen Bildwerke Rudolf Steiners. Man kann sie so erleben, als wenn ein Motiv durch die verschiedenen Farben des Regenbogens –die in großen Fluten den Kuppelraum bedecken, –hindurchwandert und auf diesem Wege sich verwandelt, entsprechend den Farben, in welche es eingetaucht ist. Es ist für ein verständnisvolles Nachempfnden dieser Motive und ihrer Gestaltung notwendig, die Grundfärbung, aus welcher heraus sie wuchsen, im Bewusstsein zu haben. Wie die Schulungsskizzen sind auch die Kuppelbilder von dem gleichen objektiven Leben erfüllt. Auch sie tragen in sich das Prinzip der Metamorphose. […] Um nicht in ein unkünstlerisches Kopieren hineinzukommen, wurde versucht, bei der Skizze « Auge und Ohr » so vorzugehen : Ich nahm eine kleine Fläche Schwarz und setzte ihr gegenüber eine kleine Fläche Braun – in ähnlicher Art, wie diese zwei Farben in der Skizze zueinander in Beziehung stehen – das Ganze in eine blaue Stimmung gehüllt. Ich fragte mich nun : in welcher Reihenfolge müssten die Farben gewählt werden, um in die Gestaltungskräfte zu kommen, die zu diesem Motiv führen ? Wie kristallisieren sich die Farben in die gegebene Beziehung von Schwarz und Braun ? Und ich versuchte : Tiefblau – Hellblau – Rot – Grün – bis ich

zu einer Folge von Farben kam, von welcher ich die Empfndung hatte, dass sie notwendigerweise zu der gegebenen Gestaltung führen müssten. Natürlich mit Hilfe der Skizze, die ich dauernd als Wahrnehmung vor mir hatte. Es wurde dadurch möglich, dem eigenen künstlerischen Gefühl zu folgen, ohne zu « kopieren », doch zugleich mit einer dauernden Anregung von außen, die dem Suchen die Richtung gab.

Nach einem ersten, mehr äußeren Bildwahrnehmen bestand ein wichtigster weiterer Schritt in dem Gewahrwerden der gemeinsamen lebendigen Formkraf, durch die alle Bildgestalten miteinander verwandt erschienen. Wie die Farben gewählt werden können, um aus der Farbe heraus diese Gestaltung anzunehmen, ist eine nächste Stufe für den malerisch Forschenden. Es ist dies ein Forschen, das auf einer reinen Empfndungsebene sich abspielt. Dahinter erst lebt das Motiv als geistige Wirklichkeit. Doch so, wie wir die Mitteilungen von übersinnlichen Tatsachen durch das gewöhnliche Denken verstehen können, wenn diese einmal durch den Geistesforscher gegeben sind, so können wir durch künstlerisches « Forschen » seine aus dem Geistigen entstandenen Motive, auf vielschichtigen Ebenen verstehen lernen.

[…] Was da entstand, glich öfers sehr wenig dem Bildwerk Rudolf Steiners –allein, mir war zunächst bedeutsam, dass das, was ich malte, in sich selber künstlerisch bestehen, künstlerisch lebendig werden sollte. Wie man erleben, wie man die Farbe wählen müsste, um dem Resultat Rudolf Steiners näher zu kommen, das war mir stets die Frage. Man könnte meinen, man käme auf diese Weise in eine bloße Abhängigkeit von dem, was man für sich als Vorbild erkannt hat. Es ist aber gerade das Gegenteil der Fall. Indem man folgt dem eigenen Erleben von dem, was man als gesetzmäßig empfndet, auch dann, wenn dies ganz anders aussieht als das Vorbild, wird man gerade frei, unabhängig von diesem. Das Farberleben muss stärker werden als die Kraf der Vorstellung, muss letztere ganz verdrängen können. Dann führt es uns in das Gebiet der bewegten, lebendigen Farbe, aus dem heraus die Motive der einzelnen Bilder immer neu sich erbilden. Nur ein übendes Leben mit der Ganzheit der Kuppelmotive kann zu jenem überraschenden Eindruck führen, der den Maler vor neue, noch völlig ungelöste Fragen stellt, zu der rätselhaften Empfndung, dass ein Motiv, z. B. »Auge und Ohr », das aus dem Blau heraus erlebt werden kann, wenn es ins Grüne hinaufversetzt werden würde, sich in das Paradies-Motiv verwandeln oder – nach unten, ins Indigo versetzt – sich in das Motiv der hereinstrahlenden Wesen umwandeln könnte.

Gerard Wagner wandte sich bis in seine letzte Schaffensphase hinein immer wieder den Motiven der Goetheanum-Kuppeln zu. Eines seiner Spätwerke ist die beeindruckende Metamorphose-Reihe, die mit dem Motiv « Auge und Ohr » beginnt (siehe Tafel 90 – 93).

Tafel 85 : a) Skizze des farbigen Hintergrundes der Decke im Zweiten Goetheanum, b) « Es wirken die Elohim in die Erde hinein, es strahlen hinein die Lichtwesen. », c) « Es entstehen die Sinne, es werden Auge und Ohr. », d) « Jahve und die luziferische Versuchung / Paradies »

Tafel 86 : a) « Der indische Mensch », b) « Der persische Mensch », c) « Der ägyptische Mensch », d) « Griechenland und das Ödipus-Motiv » a b c d

Tafel 87 : « I – A – O », Oben: « Gottes Zorn und Gottes Wehmut / Das I », Mitte: « Der Reigen der Sieben / das A », Unten: « Der Kreis der Zwölf / Das O »

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