Streben nach Gleichgewicht
DAVID HORNEMANN V. LAER UND MIRELA FALDEY
Als die Künstlerin Mieta Waller im Herbst 1917 durch die Holztür des Hochateliers in Dornach tritt, steigt ihr der Geruch von Harz, Paraffin und Bienenwachs in die Nase. Natürliches Licht fällt von oben in den hohen Raum und taucht das aus Gips und Plastilin geformte, fast zehn Meter hohe Felsen- und Figurenensemble in ein gedämpftes Licht. Ihr Blick verfängt sich in dem unübersichtlichen, schwer zu fassenden Gebilde direkt vor ihren Augen, reißt sich los und flüchtet über die Felsenhöhle hinweg nach oben. Dabei folgt er den diagonalen, geradlinigen Gewandfalten sowie dem erhobenen Arm der Mittelfigur und wird von der ausgehöhlten, gekrümmten und weit nach rechts ausgreifenden Form darüber angezogen. Beeindruckt von der Dimension und Beschaffenheit des gesamten Modells bricht es unwillkürlich aus ihr heraus: «Herr Doktor, die Gruppe fällt aber nach rechts um, sie ist nicht im Gleichgewicht!»1
Abb. A1
1:1-Modell der Gruppe im Hochatelier
Rudolf Steiner Winter 1916-1917 Links im Bild vermutlich
Rudolf Steiner, daneben Architekt Josef Englert
Rudolf Steiner hatte dieses 1:1-Modell (Abb. A1) mit der Bildhauerin Edith Maryon zusammen über einen Zeitraum von drei Jahren und über acht Modelle hinweg entwickelt. Beide hielten den soeben von seinem Gerüst befreiten Prototyp für fertig. Er brauchte jetzt nur noch in Holz umgesetzt zu werden. Statt darauf zu beharren, dass an dem vollendeten Modell nichts mehr geändert werden dürfe, erweitert Rudolf Steiner infolge der spontan geäußerten Beobachtung Mieta Wallers das Kunstwerk um eine sechste Figur.2 Wie der Künstler, der im Gestaltungsprozess unmittelbar aus der ihm durch seine Sinne zugänglichen Welt schöpft, so richtet sich auch Steiner, wie er selbst betont, nach dem, was sich ihm (und anderen) aus der Wahrnehmung intuitiv ergibt – und nicht nach einem «von vornherein gefassten abstrakten Gedanken».3 Der offene, unvoreingenommene Blick Mieta Wallers entspricht dem Ideal eines freien, selbständigen Anschauens, das Rudolf Steiner nicht nur für den Umgang mit Kunst anstrebt. An seiner eigenen Äußerung über die Formen des von ihm entworfenen Goetheanumbaus in Dornach, auf dessen Bühne die Holzskulptur hätte stehen sollen, zeigt sich, wie herausfordernd ein solcher Zugang ist – auch für ihn selbst: «Ich war noch nie mit einer solchen Antipathie besessen gegen dasjenige, was ich selber sage, als wenn ich diese Formen des Goetheanum erklären sollte; denn sie waren nicht dazu da, um sie zu erklären, um sie in Begriffe zu fassen, sondern sie waren dazu da, angeschaut zu werden, künstlerisch, ästhetisch aufgefasst zu werden!»4
Der eindringlichen Schilderung ist zu entnehmen, welchen Stellenwert Rudolf Steiner dem Anschauen bzw. einem künstlerisch-ästhetischen Auffassen beimisst.
Die im Titel dieses Buches angesprochene Gleichgewichts-Thematik zieht sich wie ein roter Faden durch die aus den unterschiedlichsten Perspektiven getroffenen Aussagen Rudolf Steiners zu seinem Werk. Auch für die Gestaltung der vorliegenden Publikation ist sie insofern von Bedeutung, als versucht wird, Bild und Text in ein stimmiges Verhältnis zu bringen, um ein anschauendes Verstehen oder verstehendes Anschauen anzuregen. Nicht zuletzt spielte die Gleichgewichts-Thematik auch im Herstellungsprozess der Holzskulptur eine Rolle, wie Edith Maryon an Rudolf Steiner, den «Meister des Gleichgewichts»5, berichtet: «Diese Woche fange ich wieder an zu schnitzen an dem Ahriman Kopf und der Hand von Luzifer, ich halte mich dadurch im Gleichgewicht.»6
Das zentrale künstlerische Motiv des Goetheanum
Nach dem Ersten Weltkrieg appellierte Walter Gropius im Bauhaus-Manifest von 1919 an seine Zeitgenossen: «Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft, der alles in einer Gestalt sein wird: Architektur und Plastik und Malerei, der aus Millionen Händen der Handwerker einst gen Himmel steigen wird als kristallenes Sinnbild eines neuen kommenden Glaubens.»7 Zu jener Zeit war Steiners «Bau der Zukunft» in Dornach bereits weit fortgeschritten. Schon 1913 hatten dort die Arbeiten an dem ganz in Holz gestalteten Doppelkuppelbau begonnen, der sich auf einer breiten Betonterrasse erhob. Bei der Innenraumgestaltung wurden die von Gropius genannten Kunstgattungen um die Glaskunst (Glasradierung) erweitert und im Sinne eines Gesamtkunstwerks vereinigt, um Raum für weitere Künste zu schaffen wie die Musik, die neu entwickelte Bewegungskunst Eurythmie sowie für ein Schauspiel, in dem alle Künste zusammenwirken: das Mysterienspiel.
Die Errichtung des Goetheanum zog rasch zahlreiche Künstler an. Unter ihnen befanden sich auch die schon erwähnte, aus England stammende Bildhauerin Edith Maryon, die russische Grafikerin Assja Turgenieff, der dänische Maler Baron Arild Rosenkrantz sowie die für das Radieren der Glasfenster verantwortlichen polnischen Künstler Tadeusz Rychter und das Ehepaar Franciszek und Jadwiga Siedlecki. Darüber hinaus engagierten sich zeitweise über zweihundert HandwerkerInnen (Abb. A2) und Helfer aus insgesamt siebzehn Nationen – darunter Belgier, Deutsche, Finnen, Franzosen, Holländer, Italiener, Norweger, Österreicher, Russen, Schweden, Schweizer und Tschechen – auch während ringsherum der Erste Weltkrieg tobte und vom nahegelegenen Elsass der Kanonendonner herüberdrang.8 Das Goetheanum wurde in der Silvesternacht 1922/23 durch Brandstiftung zerstört und ab 1924 in neuer Gestalt an derselben Stelle in Sichtbeton wieder errichtet. Gilt das Bauhaus bis heute weltweit als Synonym für die Avantgarde der Klassischen Moderne, so finden die Goetheanumbauten in Dornach und die damit verbundenen künstlerischen Impulse erst in jüngerer Zeit mehr und mehr Beachtung.9 Erst allmählich kommt zu Bewusstsein, dass der von hier ausgehende Bauimpuls «nicht als irgendein abseitiges Konzept, sondern als Antwort auf eine zentrale Frage seiner Zeit zu verstehen [ist], zu verstehen als ein Versuch, zwischen phantastischem Utopismus und abstraktem Strukturalismus eine dem Menschen gemäße moderne Baugestalt zu finden».10 (Vergl. Abb. A3-A5) In einer Zeit des künstlerischen Aufbruchs wurde auch in Dornach darum gerungen, den in der Kunst herrschenden Akademismus zu überwinden und neue Formen und Gestaltungsmöglichkeiten zu entwickeln und umzusetzen. Rudolf Steiner, der zeitlebens mit zahlreichen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in Verbindung stand und dessen Werk schon innerhalb seiner Entstehungszeit eng mit den Zeitströmungen verflochten war,11 erweist sich damit als Wegbereiter und Mitgestalter der Moderne, «nur eben einer Moderne, die wir heute mit wachsender Distanz als immer vielschichtiger, reicher und widersprüchlicher begreifen, als es jahrzehntelang der Fall war».12
Abb. A2 Richtfest des Ersten Goetheanum 1. April 1914

Kristallisationspunkt all dieser künstlerischen Bemühungen war die Arbeit an der 9,69 Meter hohen, tonnenschweren Großskulptur, bei deren Ausgestaltung Steiner zufolge «alles nur Historische in den Hintergrund treten muss gegenüber dem Zukunfts-Schöpferischen, Anregung-Gebenden».13 Dieses auch in der Malerei und Glasradierung angestrebte Ideal erforderte von den klassisch ausgebildeten Künstlern, die Steiner bei seinen Vorhaben helfend zur Seite standen, ein Höchstmaß an Flexibilität und die Bereitschaft zum Neuanfang, um aus einem vorbehaltlosen, unbefangenen Wahrnehmen einerseits und einem intuitionsoffenen Denken andererseits zu neuen Möglichkeiten künstlerischen Ausdrucks vorzudringen. Geistesgeschichtlich ist die durch das zentrale bildnerische Motiv in den drei Gattungen vor Augen geführte Gleichgewichts-Thematik – der individuelle Mensch als «Sucher des Gleichgewichtes» zwischen «zwei polarischen Kräften»14 – immer wieder beschrieben worden. So ist schon in Aristoteles’ Nikomachischer Ethik davon die Rede, dass der Mensch zwischen zwei Extreme gestellt sei und das Gleichgewicht zwischen Übermaß und Mangel finden müsse.15 Auch Friedrich Schiller macht in seinen 1795 erschienenen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen auf ein sensibles, immer wieder neu zu erringendes Gleichgewicht, auf einen «ästhetischen Zustand» aufmerksam, in den sich der Mensch – bedroht vom Zwangsdiktat der Vernunft und der Willkür der Sinne (Natur) – durch die Kunst versetzen könne.16 Schließlich spielt auch in der heutigen Kommunikationswissenschaft die Einsicht eine zentrale Rolle, dass eine Führungspersönlichkeit eine Balance schaffen müsse zwischen Authentizität und Übereinstimmung mit der Situation.17 Rudolf Steiner hatte diese «polarischen Kräfte» zunächst in begriffliche Formen zu prägen versucht. So heißt es bereits in einer Widmung seines Erstlingswerks Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung: «Was in diesem Büchlein steht: ich habe es nicht nur geschrieben, ich habe es gelebt, wenn meines Innern Mächte im verzehrenden Kampfe einander begegneten; mit Worten sucht ich des ringenden Geistes Bahnen nachzuzeichnen.»18 In künstlerischer Gestaltung steht dieses Motiv in der Holzskulptur, Malerei und Glasradierung unmittelbar vor Augen als ein «erster Versuch, solche Dinge, die sich im Geistigen abspielen, künstlerisch zu gestalten – wirklich in größerem Umfang nach allen Seiten hin künstlerisch zu gestalten».19
Ein künstlerischer Zugang
Rudolf Steiner gilt als einer der «einflussreichsten, aber auch umstrittensten Reformer des 20. Jahrhunderts».20 Anlässlich seines 150. Geburtstages am 27. Februar 2011 wagte es ein Museum erstmals, außerhalb des anthroposophischen Kontextes eine umfassende Retrospektive zu seinem Leben und Werk zu zeigen.21 Am Ende waren es gleich drei Museen, die in Kooperation untereinander eine Doppelausstellung initiierten: Rudolf Steiner – Die Alchemie des Alltags und Rudolf Steiner und die Kunst der Gegenwart. 22 Die Ausstellungen trugen maßgeblich dazu bei, den Einfluss dieses «Denkers und Praktikers einer ganzheitlichen Lebenskunst»23 sichtbar zu machen. Vor allem aber drang Rudolf Steiner als Künstler ins öffentliche Bewusstsein, dessen zahlreiche Impulse bis heute in der Kultur und im praktischen Leben wirksam geblieben sind.24 Mittels der Präsentation von Primärdokumenten und Exponaten aus Steiners Leben gelang es, den Blick auf die «bis heute nachwirkungsmächtigste Figur der Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts»25 zu schärfen und den Besuchern einen eigenen, unverstellten Zugang zu seinem Werk zu ermöglichen. Folgerichtig heißt es im Grußwort der die Ausstellungen unterstützenden Kulturstiftung des Bundes: «Zukünftig müssen wir ihn weder verehren noch verspotten, um uns Rudolf Steiner zu nähern – egal, ob er uns als variantenreicher Alchemist des Geistes oder als veritabler Gestalter unseres Alltags begegnet.»26




Abb. A3
«Casa Nova», Ausschnitt aus einer Entwurfszeichnung
Hermann Finsterlin 1919
Abb. A4
Erstes Goetheanum
Rudolf Steiner 1913-1922 (unvollendet)
Abb. A5
Glashochhaus, Modell
Ludwig Mies van der Rohe 1922
Der sich schon an der eingangs geschilderten Beobachtung Mieta Wallers abzeichnende künstlerisch-wahrnehmende Zugang zu Rudolf Steiner und seinem Werk findet sich auch in den Äußerungen der Künstler wieder, deren Exponate in den Ausstellungen mit vertreten waren. So hebt Joseph Beuys die «große Leistung» Steiners hervor, «gar nichts ‹erfunden› […], sondern (nur!) aus der unendlich gesteigerten Wahrnehmung heraus vorgetragen zu haben».27 Für Bernd Ribbeck ist maßgeblich, «auf welche Weise imaginiert wurde. Das ist für mich als Künstler natürlich am besten anhand der Bilder, Zeichnungen, Architekturen oder auch des Designs zu erkennen, die eine geistige Strömung hervorgebracht hat. Beim Lesen der Texte Steiners habe ich eher meine Schwierigkeiten.»28 Und für Claudia Wieser steht fest: «Mich interessieren an Rudolf Steiners Schaffen hauptsächlich die Bereiche, in denen es um seine Ästhetik, die Architektur und sein Design geht, im Allgemeinen mehr um sein künstlerisch-gestalterisches Schaffen. Dabei steht meine visuelle Erfahrung mit Steiners Werk im Vordergrund, das heißt der Besuch des Goetheanum, Ausstellungskataloge, alte Fotos, andere Künstler, die sich auf ihn beziehen etc. – weniger seine Schriften und Theorien.»29
Durchgängig ist es die Art und Weise, wie Rudolf Steiner wahrgenommen, imaginiert und gestaltet hat, die die Aufmerksamkeit der Künstler fesselt. Nicht die Steiner’schen Texte interessieren sie, sondern ihre eigenen, visuellen Erfahrungen. Oder wie es der Künstler Jan Albers ausdrückt: «Mir stellt sich nicht die Frage, ob es die Wahrheit ist, sondern regt es mich an und auf welche Weise nimmt es mich mit?»30
Unbedingter Gestaltungswille
Wie spätestens durch die erwähnten Ausstellungen bekannt wurde, war Rudolf Steiner nicht nur Autor, Herausgeber, Lehrer und Vortragsredner, vielmehr entwarf er auch Plakate, Schmuck, Möbel und ganze Gebäude, unterhielt ein eigenes Atelier und griff auch selbst zu Bleistift, Pinsel und Schnitzmesser. Wie wichtig dem Geistesforscher seine Arbeit im Atelier war, auf die er sich «ganz herzlich» freut, zu der es ihn «sehr drängt» und für die er Einladungen zu Vorträgen ablehnt,31 geht aus seinem Briefwechsel mit der Bildhauerin Edith Maryon hervor. Sie half ihm maßgeblich bei der Verwirklichung seiner bildhauerischen Vorhaben, fertigte eigenständige Modelle und Einzelstudien zur Gruppe an und leistete einen Großteil der künstlerischen wie auch der planerisch-organisatorischen Arbeit für deren Umsetzung in Holz. Sind es zu Lebzeiten außerhalb der zur Errichtung des Goetheanum in Dornach versammelten Baugemeinschaft nur wenige, die in Rudolf Steiner den «geborenen Künstler»32 erkennen, ist es heute vor allem dessen weit ausgreifende, sich auf die unterschiedlichsten Lebensgebiete erstreckende Kreativität, deren Nachhaltigkeit und Originalität eine breitere Öffentlichkeit zu interessieren beginnt.33 Exemplarisch kommt dies in den Worten Jan Albers’ zum Ausdruck: «Steiner beeindruckt mich zuerst als großer Gestalter. Es ist dieser unbedingte Gestaltungswille und die Vehemenz im Auftritt, die mich als Künstler interessieren. [...] Nichts wird einfach nur übernommen, alles wird geprüft und, wenn nötig, verändert. So kommt er zu ungewöhnlichen Lösungen, und wenn es nur ein bizarrer Handknauf oder ein abgekantetes Fenster ist.»34 Auch wenn Rudolf Steiner vermutlich erst im Jahr 1911 – mit fünfzig Jahren – sein erstes Bild malte,35 so erweist sich bei näherem Hinsehen schon sein philosophisches Grundlagenwerk als Produkt eines ‹unbedingten Gestaltungswillens›. Auch hier wird nichts «einfach nur übernommen», was die Philosophiegeschichte an Ideen bereithält. Vielmehr überprüft Steiner die Gedankengänge der Philosophen und stellt bereits 1894 in seiner Philosophie der Freiheit fest: «Die Philosophen sind von verschiedenen Urgegensätzen ausgegangen: Idee und Wirklichkeit, Subjekt und Objekt, Erscheinung und Ding an sich, Ich und Nicht-Ich, Idee und Wille, Begriff und Materie, Kraft und Stoff, Bewusstes und Unbewusstes.» In einem an Kühnheit kaum zu überbietenden Satz fügt er hinzu: «Es lässt sich aber leicht zeigen, dass allen diesen Gegensätzen derjenige von Beobachtung und Denken, als der für den Menschen wichtigste, vorangehen muss.»36 Die «Vehemenz» des Steiner’schen Gestaltungswillens war damit vorgedrungen bis zu den Fundamenten der Wissenschaft – und ließ auch diese nicht unverändert. Statt sich an den einander widersprechenden Ergebnissen der Philosophen abzuarbeiten, untersuchte Steiner die Voraussetzungen für deren Zustandekommen und stellte fest, was bislang unbemerkt geblieben war: die beobachtende und die denkende Betätigung des menschlichen Geistes, welche den gesuchten ‹Urgegensatz› tatsächlich konstituiert. So lassen sich zum Beispiel an der Holzskulptur Figuren beobachten, die einander ähnlich sehen. Die Ähnlichkeit ruft die Frage nach einem möglichen Zusammenhang hervor. Schon dadurch ist der Betrachter in einer zweifachen Weise tätig geworden: beobachtend und denkend (fragend). An die Stelle von Theorien tritt hier das Beobachten. Steiners Devise lautet daher: «Nicht wie die Wissenschaft bisher das Bewusstsein interpretiert hat, geht mich an, sondern wie sich dasselbe stündlich darlebt.»37
Künstlerische Wissenschaft
Was verändert sich, wenn der Wissenschaftler nicht von seinem Vorwissen oder daraus entspringenden Interpretationen ausgeht, sondern – wie der Künstler – sich der Welt beobachtend nähert und zu erfassen sucht, was sich ihm hier und jetzt zeigt? Wenn er vom Festen
zum Flüssigen, vom Inhaltlichen zum Wahrnehmbaren, vom bloß Gewussten zum Lebendigen vorzudringen wagt? Der Wissenschaftsbegriff wurde durch das direkte, unmittelbare Ansetzen Steiners bei den ursprünglichsten, in jedem Menschen vorhandenen Fähigkeiten um eine entscheidende Dimension erweitert. Durch die Einbeziehung dieser Aktivitäten wurde die Ergebnisorientierung der Wissenschaft in eine Prozessorientierung überführt, die es möglich macht, mittels Beobachtung auch das Zustandekommen von Ergebnissen mit zu erfassen.38 Dem «großen Gestalter» war es mit dieser grundlegenden Erweiterung – wenn auch von der Öffentlichkeit zunächst vollkommen unbemerkt – gelungen, die Wissenschaft auf ein neues, tragfähiges Fundament zu stellen und einen Paradigmenwechsel anzustoßen, dessen Folgen sich heute erst in Umrissen abzuzeichnen beginnen.39 Für den hier behandelten künstlerischen Aspekt des Steiner’schen Schaffens ist dies in zweifacher Hinsicht von höchstem Interesse: Einerseits werden dadurch die Ausgangspunkte seines Forschens kenntlich, die mit denen des Künstlers zusammenfallen;40 andererseits beschränkt sich die Vehemenz seines Gestaltungswillens nicht darauf, Bilder zu malen, Objekte zu entwerfen oder Theaterstücke (Mysteriendramen) zu schreiben, sondern zielt darauf ab, die künstlerische Methodik in der Wissenschaft zu verankern und das wissenschaftliche Forschen der künstlerischen Tätigkeit anzunähern, oder – in den Worten seiner Frau Marie Steiner - von Sivers – «als geborener Künstler die gesamte Wissenschaft zu beherrschen».41 Was aber geschieht, wenn die künstlerische Methodik in die Wissenschaft Einzug hält? Werden dadurch nicht zwei Bereiche miteinander in Berührung gebracht, die letztlich nicht ohne Grund voneinander getrennt sind? Die Wissenschaft, wie wir sie heute erleben, spezialisiert sich immer weiter in ihre einzelnen Fachgebiete und verursacht eine «Wissensexplosion», die es zunehmend unmöglich macht, selbst das Wissen der eigenen Fachdisziplin zu überblicken.42 Wenn sich das künstlerische Vorgehen, das heißt das ausgebildete Wahrnehmungsvermögen mit der denkerischen Schärfe und Exaktheit der Wissenschaft verbindet, dann ist und bleibt der Forscher in direktem Kontakt mit seinem Gegenstand. Er wird dann nicht mehr vorgefertigte Theorien mit diesem verbinden wollen, sondern mittels eines gesteigerten Wahrnehmens zu erfassen suchen, wie er vorzugehen hat und welcher Schritt sich jeweils aus dem vorhergehenden notwendig ergibt.43 Dieses das Wahrnehmen methodisch-systematisch mit einbeziehende – weder einseitig rationale noch bloß willkürliche – Vorgehen überführt die künstlerische Methodik in die Wissenschaft. Der Wissenschaftler (Philosoph) wird dadurch zum «Begriffskünstler», seine Ideen zum «Kunstmateriale» und die wissenschaftliche Methode zur «künstlerischen Technik». Er gewinnt dadurch nicht bloß ein Wissen von den Dingen, sondern gestaltet das Wissen – analog zum Kunstwerk – zu einem «realen, sich selbst beherrschenden Organismus», sein «wirkliches, tätiges Bewusstsein hat sich über ein bloß passives Aufnehmen von Wahrheiten gestellt».44 Aus dem Angeführten werden sowohl das Spezifische der Steiner’schen Kunst als auch der von ihm gewünschte und praktizierte Zugang zu ihr nachvollziehbar und verständlich. Beides zielt nicht auf eine Verbildlichung oder bloße Bestätigung vorher gewusster Inhalte. Auch bleibt diese Kunst nicht einem einmal gefundenen Stil verhaftet,45 sondern geht immer wieder neu von den «Urelementen»46 aus, das heißt von der konkreten Anschauung47 und daraus entspringenden «ursprünglichen Gedanken»48 (Intuitionen) – wie dies bereits aus der eingangs geschilderten Begebenheit im Atelier Rudolf Steiners hervorging. Der Mensch, der sich dieser sein Verhältnis zur Welt konstituierenden, produktiven Fähigkeiten bewusst wird und sie immer exakter, lebensnaher und zugleich behutsamer und hingebungsvoller zu handhaben lernt, wird – wie Steiner es in Anknüpfung an Goethe ausdrückt – zum «Fortsetzer des Weltgeistes», der die Schöpfung da weiterführt, «wo dieser sie aus den Händen gibt».49
Abb. A6
Oberer Ahriman
Rudolf Steiner 1916-1917
1:1-Modell der Gruppe
Vom Wissen zum Sehen
Wer einmal versucht hat, sich in der Betrachtung eines Kunstwerks jeglicher Interpretation zu enthalten, kann bemerken, wie er es mit unwillkürlich auftretenden Assoziationen, Einfällen, Erinnerungen, sympathisch oder antipathisch gefärbten Gefühlen usw. zu tun bekommt, die seinen Seheindruck beeinflussen. Oft sind es dann nicht mehr die tatsächlichen Gegebenheiten, sondern nur die eigenen, unbemerkt in das Objekt hineingesehenen Vorstellungen, die im Anschauen wieder herausgelesen werden. So ‹sieht› der eine im Mittelmotiv der Deckenmalerei in der kleinen Kuppel des Goetheanum Michelangelos Erschaffung Adams zitiert50, ein anderer erblickt darin eine «weltanschaulich hoch aufgeladene Malerei mit ungelenken, oft strichmännchenartigen Bildern»51; ein Dritter schließlich gewahrt eine «Farbmystik»52 – je nachdem, welche Vorstellung der Autor mit dieser Malerei verbindet. Haben sich die genannten Vorstellungen einmal im Bewusstsein festgesetzt, so ordnen sich alle nachfolgenden Sinneseindrücke diesem Inhalt unter. Das Kunstwerk erfüllt dadurch seinen Zweck ‹auf den ersten Blick›. Alles weitere Anschauen dient dann nur noch der Bestätigung und kann zum Erkannten nichts prinzipiell Neues mehr beitragen. Selbst der beste interpretatorische Einfall und die genialste, zur Deutung herangezogene Idee beeinflussen den Betrachter in seinem Sehen.
Die Konsequenz beschreibt der Kunstwissenschaftler Michael Bockemühl mit den Worten: «Die spirituellste Interpretation, die höchste geistes- und kulturgeschichtliche Idee, für die in dieser Weise in einem Bild Bestätigung gesucht wird, macht blind für die durch nichts anderes als durch das Bild eröffneten Anschauungsmöglichkeiten, engt letztlich sogar ein, was sich im Anschauen auch ideell entzünden kann.»53 Schon Friedrich Schiller stellte in seinen bereits erwähnten Briefen fest: «Die Natur mag unsre Organe noch so nachdrücklich und noch so vielfach berühren – alle ihre Mannigfaltigkeit ist verloren für uns, weil wir nichts in ihr suchen, als was wir in sie hineingelegt haben, weil wir ihr nicht erlauben, sich gegen uns herein zu bewegen, sondern vielmehr mit ungeduldig vorgreifender Vernunft gegen sie heraus streben. Kommt alsdann in Jahrhunderten einer, der sich ihr mit ruhigen, keuschen und offenen Sinnen naht und deswegen auf eine Menge von Erscheinungen stößt, die wir bei unsrer Prävention übersehen haben, so erstaunen wir höchlich darüber, dass so viele Augen bei so hellem Tag nichts bemerkt haben sollen.»54 Für die Qualität unseres Blicks ist daher entscheidend, dass wir eine messerscharfe Unterscheidung treffen zwischen dem tatsächlichen Sinneseindruck und den oben genannten, subjektiven Hinzufügungen, die sich nur allzu leicht damit vermischen. Goethe spricht diesbezüglich von den «inneren Feinden», die beim Übergang von der Sinneswahrnehmung zum Urteil wie in einem Hinterhalte lauerten: «Einbildungskraft, Ungeduld, Vorschnelligkeit, Selbstzufriedenheit, Steifheit, Gedankenform, vorgefasste Meinung, Bequemlichkeit, Leichtsinn, Veränderlichkeit und wie die ganze Schar mit ihrem Gefolge heißen mag, alle liegen hier im Hinterhalte und überwältigen unversehens sowohl den handelnden Weltmann als auch den stillen, vor allen Leidenschaften gesichert scheinenden Beobachter.»55 Für Goethe und Schiller gehört deshalb das «in Jahrhunderten» nur selten stattfindende «reine Anschauen»56 zu den größten Herausforderungen überhaupt. In einem Distichon fasst Goethe zusammen:
«Was ist das Schwerste von allem? Was dir das Leichteste dünket, Mit den Augen zu sehn, Was vor den Augen dir liegt.»57
Dass der scheinbar so selbstverständliche Sehvorgang Schwierigkeiten, ja Widerstände enthält, wird in aller Regel nicht bemerkt. So stellt der Betrachter vielleicht befriedigt fest, dass sich sein Vorwissen angesichts der Skulpturengruppe auf das Schönste bestätigt. Alles ist so, wie er es zuvor gelesen hat.58 Fast erübrigt sich der Besuch des Originals, denn er weiß bereits vor dem ersten Hinblicken um dessen Bedeutung. Sein innerliches Credo lautet: «Meine Wahrnehmung kann mir nur bestätigen, was ich schon weiß!»
Wenn der Betrachter dagegen keinerlei inhaltliche Deutungen dieser Gruppe kennt, aber bemerkt, dass das Anschauen für sich genommen auch etwas sein könnte, das ihn befriedigt, kann er vielleicht beobachten, wie ihn angesichts des reinen, gedanklich nicht sogleich einzuordnenden Sinneseindrucks eine subtile Angst beschleicht. Der damit einhergehende Kontrollverlust und das Gefühl der Ohnmacht untergraben sein Vertrauen in das eigene Wahrnehmen und erzeugen die Sehnsucht nach klärenden, ordnenden Begriffen. Schon die übliche Frage nach der Bedeutung eines Kunstwerks lenkt die Aufmerksamkeit von der Betrachtung auf eine begriffliche Ebene. Die Beobachtung ist dann nicht mehr darauf gerichtet, wie sich das Kunstwerk selbst mitteilt, wie sich im anschauenden Vollzug der Formensprache sinnliche Erlebnisse einstellen, wie es anregt, irritiert oder provoziert. Vielmehr bleibt es dann oft, wie schon Rudolf Steiner beklagt, bei einem «künstlerisch eigentlich langweilige[n] Auseinandersetzen: das ist Luzifer, das ist Ahriman usw. usw.».59
Wer mit dem Sehen jedoch zu experimentieren anfängt, wird bald bemerken, wie das, was an einem Kunstwerk erklärt, gedeutet und interpretiert werden kann, immer mehr in den Hintergrund tritt zugunsten der Beobachtung des Zusammenspiels von Farben, Formen, Linien und Gebärden. An die Stelle vorher gewusster Inhalte (Interpretationen) tritt dann das Interesse an dem, was sich im Prozess des Anschauens erst entwickeln kann: Wie spricht mich das Kunstwerk an? Wie leitet es meinen Blick? Wie kommt das, was ich sehe, in mein Bewusstsein? Welche Wirkungen werden erfahrbar? 60 Das eigene Anschauen in Bewegung zu bringen und dabei selbst in Bewegung zu kommen im Übergang von einer in die nächste Form; nicht zu wissen, sondern zu warten, wohin das Wahrnehmen führt, ist das Ziel. Das Eingehen auf das Andere, das uns Fremde, das nicht unseren Sehgewohnheiten und schon vorhandenen Begrifflichkeiten Entsprechende ist daher die eigentliche Leistung, die uns diese Kunstwerke abfordern.
Einen Anfang wagen
Rudolf Steiner war sich des Anfänglichen wie auch des Unvollkommenen seiner Kunstwerke genauso bewusst, wie er sich über den Wert dieses neuen, künstlerischen Gesamtimpulses im Klaren war: «Alles ist unvollkommen, alles ist elementar, alles ist nur ein Anfang, aber es soll der Anfang schon etwas völlig Neues sein.»61
Die vorliegende Monografie möchte zu einem anschauenden Umgang mit diesen Kunstwerken einladen und zugleich dazu auffordern, sie mit jener Unbefangenheit und Klarheit des Blickes zu betrachten, mit der Mieta Waller – wie eingangs beschrieben – dem soeben enthüllten 1:1-Modell begegnete. Damit verbunden ist die Hoffnung, dass sich das immer wieder neu zu erringende Gleichgewicht auch auf das Sehen auswirkt und die Betrachter und Leser so in Schwung versetzt, dass sie fortwährend in Bewegung bleiben und – bildlich gesprochen – die Balancierstange selbst in der Hand halten können.
Abb. A7
Kleiner Luzifer
Rudolf Steiner 1916-1917
1:1-Modell der Gruppe