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Vara sandr ne saer ne svalar unir

Zum Stabreim

In der 4. Klasse begleiteten uns das ganze Jahr über die germanische Mythologie und Sagenwelt vorallem im sogenannten Erzählteil. Immer in der letzten Viertelstunde des Epochenmorgens erzähle ich den Kindern ein Stück aus diesen bildgewaltigen Sagen. Zuerst von der Schöpfung der Welt mit dem Riesen Ymir und der Weltenesche Yggdrasil, dann die Taten der Götter von Asgard: Odin, Thor, Freya und der listenreiche und zuweilen bösartige Loki. Schliesslich die Abenteuer der Helden um Gudrun und Siegfried.

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Zum anderen pflegten wir im rhythmischen Teil immer wieder den Stabreim. Er ist ein wichtiges Element der alten germanischen Dichtung. Dabei beginnen die betonten Wörter mit demselben Anfangsbuchstaben: vara sandr ne saer ne svalar unir (nicht war Sand, noch See, noch Salzwogen). Diesen wiederholten Anfangslaut nennt man Stab. Das Wort steckt auch im Wort Buchstabe.

Wir haben die Verse auch mit einem kräftigen Holzstab gesprochen. Dabei lässt man, bevor man den Stablaut spricht, den Stab etwas fallen, geht leicht in die Knie und packt ihn wieder. Beim Aufrichten spricht man dann das Wort mit dem Stablaut am Anfang.

Die Verse im Stabreim haben etwas sehr Kraftvolles. Man spürt schnell, wie sich Energie in einem aufbaut und man tief in den Willen hineinkommt. Das Sprechen der Stabreimverse bildet also den Willen. Das ist gerade im aktuellen Alter der Kinder sehr wichtig. Vor dem Rubikon verlief die Entwicklung noch sehr träumerisch und spielerisch. Nun wird sie bewusster und muss gezielter ergriffen werden.

Auch bei den Kindern konnte ich die Wirkung auf den Willen gut wahrnehmen. Sie waren nach dem Üben deutlich konzentrierter, ruhiger, mehr in ihrer Kraft. Das Sprechen hatte definitiv eine positive Wirkung auf die Kinder und tat ihnen gut.

Andererseits bereitete ihnen das Sprechen der Stabreime wenig Freude. Es war immer etwas ein Gejammer, wenn wir anfangen wollten, und anfangs war es jeweils träge und sie waren wenig bei der Sache. Es brauchte viel Führung und Motivation von mir, dass sie hineinfanden. Ich war damit in einem Dilemma. Einerseits sah ich die positive Wirkung, andererseits bin ich immer sehr vorsichtig mit den Kindern vermeintlich Unbeliebtes zu behandeln. Ich frage mich dann immer, wie so ein Inhalt, der nicht mit Freude und Liebe aufgenommen wurde, in der Kinderseele wirkt. Kann da wirklich etwas Fruchtbares daraus werden? Man muss dann jeweils gut wahrnehmen, ob es nur eine anfängliche Ablehnung ist, die dann mit dem Tun verschwindet, oder eine grundsätzliche. Das sind so die wirklich pädagogischen Fragen, welche die Arbeit mit den Kindern gleichermassen spannend wie herausfordernd macht. Es ist ein ständiges Suchen.

Thierry Fink

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