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3. Kl. Die Vertreibung aus dem Paradies

Die Vertreibung aus dem Paradies

Buddhas erste edle Wahrheit: Das Leben auf der Erde ist leidvoll. Da stellen Kinder keine Ausnahme dar. Buddhas dritte edle Wahrheit: Es gibt Werkzeuge, um das Leid zu lindern und sich davon zu befreien. Die Waldorfpädagogik ist eines dieser Werkzeuge.

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Die Biografie eines Menschen ist durchzogen von diversen Rhythmen. Alle diese Rhythmen haben ihre Einflüsse auf den Lebenslauf, und wenn man sie als Perspektiven auf das menschliche Leben anwendet, können sich daraus erhellende Einsichten ergeben. Einer dieser Rhythmen sind die Mondknoten mit einer Periode von 18,6 Jahren. Der zweite Mondknoten im 38. Lebensjahr bringt in mancher Biografie eine Neuausrichtung (MidlifeCrisis).

In der Kindheit liegt der erste halbe Mondknoten bei 9 1⁄3 Jahren. Dies ist ein wichtiger Wendepunkt in der Entwicklung des Kindes. Es fällt um diese Zeit aus einer Art Einheitsbewusstsein, in dem es sich selbst noch nicht von der Aussenwelt unterscheidet, in eine gewissermassen gespaltene Welt. Von nun an stellt sich das Kind als Selbst der Welt gegenüber. Wenn ein Kind diesen Schritt bewusst und intensiv erlebt, kann das sehr schmerzhaft sein. Es fällt aus einer schützenden Hülle, verliert ein Stück Geborgenheit. Gefühle der Einsamkeit und damit verbundene Ängste können sich zeigen. Mehr oder weniger bewusste Fragen tauchen auf: Wer bin ich? Woher komme ich? Was ist meine Aufgabe? Es gibt in unserer Kulturgeschichte ein grosses Bild für diesen Vorgang: die Vertreibung aus dem Paradies im Alten Testament. Auch Enkidu im Gilgamesch-Epos oder Mogli im Dschungelbuch sind Darstellungen dieses Übergangs. Die Bewältigung dieser Entwicklung stellt für das Kind eine grosse Aufgabe dar.

Hier kommt nun eine der Stärken der Waldorfpädagogik zum Tragen. Sie erachtet es als eine ihrer vorrangigsten Aufgaben, Kinder bei solchen Entwicklungsaufgaben zu unterstützen. Die Unterrichtsinhalte sollen dazu dienen, diese Hürden zu meistern. Besonders gut sichtbar wird dies im Lehrplan der dritten Klasse, in der die Schöpfungsgeschichte und die anschliessenden Mythen ein Thema sind. Sie geben den Kindern eine Antwort auf die Frage nach dem Woher, und zwar eine altersgerechte, bildhafte Antwort, nicht eine, die den Intellekt an-

Thierry Fink Klassenlehrer spricht. Zudem kommt ihnen im Bild von aussen entgegen, was sie innerlich erleben. Das gibt ihnen Trost und Verständnis.

Vor der Unterscheidung von Ich und Welt stellt sich die Frage, wo mein Platz in der Welt ist, noch nicht. Nach der Trennung wird sie aber dringlich. Das Kind muss lernen, wie es sich zur Welt stellen will, wo es seinen Platz hat und was seine Aufgabe ist. Da wird es vom Ackerbauprojekt und von der Beschäftigung mit den Handwerkern unterstützt. Sie zeigen dem Kind, was es heisst, Erdenbürger*in zu sein. Das eigene Tun mit den sichtbaren Erzeugnissen schenkt ihm aber auch das Vertrauen, dass die Aufgaben zu bewältigen sind. Schliesslich das Bauprojekt: Der Bau eines Hauses gibt dem Kind die Möglichkeit, die verloren gegangene Hülle nun selber um sich aufzubauen.

Thierry Fink