Wunder und Machtübernahme: Shingon-Shintô und die Tokugawa Eine Besonderheit der Ise-Schreine ist die Tradition des shikinen-sengû 式年遷宮: die Schreine werden im 20-Jahreszyklus von Grund auf neu erbaut. Die Bauweise ähnelt der eines traditionellen Reisspeichers. Kämpfer beschreibt einen der Schreine als „von Holz niedrig und schlecht gebaut, und mit einem sehr niedrigen Stroh- oder Heudach bedeckt. Man gibt sich ungemeine Mühe, ihn in seinem ersten schlechten Originalzustand immer zu erhalten, damit er ein bleibendes Denkmal sei von der Armut der ersten Einwohner dieses Landes, oder wie die Japaner sagen, der ersten Menschen.“20 Der periodische Neubau soll also die perfekte strukturelle Integrität und Reinheit der Gebäude, sowie die lebendige Überlieferung der Bautradition des shinmei-zukuri 神明造 gewährleisten. 235 lunare Phasen, ca. 19 Jahre, entsprechen auch dem metonischen Zyklus, der astronomischen Re-Synchronisation von Sonne und Mond. Die Wartung der Schreine soll im 16. Jhd. vernachlässigt worden sein. Die „Wiedergeburt“ ist den san-eiketsu 三英傑 (Reichseinigern) zu verdanken, vor allem Oda Nobunaga 織田信長 [1534-1582] und Toyotomi Hideyoshi 豊臣秀吉 [1537-1598]: sie förderten mit großzügigen Spenden die Restauration. So schickte Hideyoshi, im Bruch mit kaiserlichem Protokoll, seine Opfergaben zum sengû von 1585 nicht über den kaiserlichen Hof, sondern ließ sie direkt von seiner Mutter nach Ise überbringen. Als die Mutter 1588 erkrankte, versprach er den Schreinen eine Spende von 10,000 koku21, sollte sie genesen. Zum Anlass der Heilung pilgerte Hideyoshi im Oktober 1588 persönlich nach Ise. Besondere Gunst erwies er 1894 anlässlich der Katastervermessung der Provinz Ise: das gesamte Terroir östlich des Miya Flusses sollte fortan den Status „nicht-kartographierten“, also steuerfreien Lands genießen – ein solches Privileg galt sonst nur den engen, Tempeln/ Schreinen vorgelagerten monzen-machi 門前町. Diese „Handlungen der Pietät“ zeigen u.a., dass Legendenbildung und zur Schau gestellter Glaube zu Beginn der Edo-Zeit machtpolitisch eine wichtige Rolle spielten und Eindruck hinterließen.22 Das Selbstverständnis der Tokugawa, niedergeschrieben auf dem Amulett, das der 3. Shogun, Tokugawa Iemitsu 徳川家光 [1604 – 1651], stets an sich getragen haben soll, lautet: „Ise Tenshô Daijin 伊勢天照大神 – Hachiman Daibosatsu 八幡大菩薩 – Tôshô Daigongen–shôgun 東照大権現 将軍. Drei Schreine, geeint in Körper und Seele.“23 D.h.: Der shôgun als Symbol heiliger Vereinigung des „Königs aller Götter“ Tenshô Daijin (Amaterasu) 20
KAEMPFER, Engelbert, Hsg: DOHM, Christian W.: “Viertes Kapitel: Von der Sanga oder der heiligen Walfart nach Jsje”. In: Geschichte und Beschreibung von Japan, Drittes Buch. 21 1 koku = 180 l, bzw. die Menge getrockneter Reiskörner, die ein Erwachsener in einem Jahr verzehrt 22 In einer bewegten und sterblichen Zeit – nicht zuletzt das Wüten Oda Nobunagas gegen den Buddhismus – ist Glaubenszuwendung nicht verwunderlich. Tokugawa Ieyasu, ultimativer Sieger der Machtkämpfe um die Vorherrschaft im Land, erkannte die politische Gefahr des neu importierten christlichen Gedankenguts und der Aufklärung: die symbolische Bedeutung eines weltliche Regenten legitimierenden Papstes, Prediger und Orden im Dienst fremder Mächte, der Spaltpilz der Reformation und insbesondere die Ermächtigung des Individuums gegenüber Staat und Kirche durch kritische Interpretation der Bibel und antiker philosophischer Werke, insbesondere der Griechen. Unter seinem Sohn und Nachfolger, Tokugawa Hidetata 徳川秀忠 [1581 - 1632], wurde das Verbot des christlichen Glaubens und westlicher Literatur mit mörderischem Eifer umgesetzt, Missionare des Landes verwiesen. Zugleich drängt sich einem christlichen Beobachter bezüglich Iemitsus „heiligen“ Legitimationsschema der Vergleich zur Dreifaltigkeit – „Mutter“ Amaterasu statt des göttlichen Vaters, Hachiman statt des Heiligen Geist und Ieyasu statt Sohn Jesus – auf. Die Aussprache des Namens Ieyasu ähnelt zudem dem Namen Jesus. Dies wären sicherlich ungewollte Assoziationen für Japaner. 23 Das Amulett ist im Original im Rinnô-ji Tempel in Nikkô erhalten und kann besichtigt werden.
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