Surprise Nr. 450

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Strassenmagazin Nr. 450 17. bis 30. Mai 2019

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass

Athen

Krise? Kunst! Wie Griechenlands Kulturszene die Gesellschaft neu denkt Seite 8

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Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information

SURPRISE SURPRISE WIRKT WIRKT

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Expertenrolle Expertenrolle

SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

GESCHICHTEN GESCHICHTENVOM VOMFALLEN FALLEN UND UNDAUFSTEHEN AUFSTEHEN Kaufen KaufenSie Siejetzt jetztdas dasBuch Buch«Standort «StandortStrasse Strasse––Menschen MenschenininNot Notnehmen nehmen das dasHeft Heftinindie dieHand» Hand»und undunterstützen unterstützenSie Sieeinen einenVerkäufer Verkäuferoder odereine eine Verkäuferin Verkäuferinmit mit1010CHF. CHF. «Standort «Standort Strasse» Strasse» erzählt erzählt mitmit den den Lebensgeschichten Lebensgeschichten von von zwanzig zwanzig Menschen, Menschen, wie wie ununterschiedlich terschiedlich diedie Gründe Gründe fürfür den den sozialen sozialen Abstieg Abstieg sind sind – und – und wie wie gross gross diedie SchwierigSchwierigkeiten, keiten, wieder wieder aufauf diedie Beine Beine zuzu kommen. kommen. Porträts Porträts aus aus früheren früheren Ausgaben Ausgaben des des Surprise Surprise Strassenmagazins Strassenmagazins ergänzen ergänzen diedie Texte. Texte. Der Der Blick Blick aufauf Vergangenheit Vergangenheit und und Gegenwart Gegenwart zeigt zeigt selbstbewusste selbstbewusste Menschen, Menschen, diedie es es geschafft geschafft haben, haben, trotz trotz sozialer sozialer und und wirtschaftliwirtschaftlicher cher Not Not neue neue Wege Wege zuzu gehen gehen und und einein Leben Leben abseits abseits staatlicher staatlicher Hilfe Hilfe aufzubauen. aufzubauen. Surprise Surprise hathat siesie mitmit einer einer Bandbreite Bandbreite anan Angeboten Angeboten dabei dabei unterstützt: unterstützt: Der Der Verkauf Verkauf des des Strassenmagazins Strassenmagazins gehört gehört ebenso ebenso dazu dazu wie wie derder Strassenfussball, Strassenfussball, derder Strassenchor, Strassenchor, diedie Sozialen Sozialen Stadtrundgänge Stadtrundgänge und und eine eine umfassende umfassende Beratung Beratung und und Begleitung. Begleitung. 156156 Seiten, Seiten, 3030 farbige farbige Abbildungen, Abbildungen, gebunden, gebunden, CHF CHF 4040 inkl. inkl. Versand, Versand, ISBN ISBN 978-3-85616-679-3 978-3-85616-679-3 Bestellen Bestellen beibei Verkaufenden Verkaufenden oder oder unter: unter: surprise.ngo/shop surprise.ngo/shop Weitere Weitere Informationen Informationen T +41 T +41 6161 564 564 9090 9090 | info@surprise.ngo | info@surprise.ngo | surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: | Facebook: Surprise Surprise NGO NGO

Erlebnis Erlebnis


TITELBILD: MYRTO PAPADOPOULOS

Editorial

Phönix aus der Asche Griechenland: Erst kam die Staatsschuldenkrise, dann kamen die Flüchtlingsströme. Man kann sich kaum vorstellen, dass unter solchen Umständen Leute in rosaroten Plüschkostümen herumhüpfen und verkopfte Gedichte vorlesen. Doch in Athen hat sich tatsächlich eine bunte Gegenkultur entwickelt, die aus einer vielfältigen Kunstszene und einer starken QueerBewegung besteht. Die Stadt steigt wie ein Phönix aus der Asche: Es entstehen kreative Graswurzel-Projekte, Künstler denken die Gesellschaft neu, und Utopien werden geboren. Lesen Sie die Reportage von Yvonne Kunz und Myrto Papadopoulos ab Seite 8. In der Schweiz werden derweil keine Utopien entwickelt, sondern Ideen zur Kürzung von Sozialhilfegeldern propagiert. SVP-Regierungsrat Pierre Alain Schnegg möchte in Bern den Grundbedarf kürzen, die Abstimmung ist am 19. Mai. In einem Interview, das wir vor einem Jahr mit ihm geführt haben, antwortete er auf die Frage, ob er selber von 900 Franken leben könnte: Seine Frau und er hätten zu Studentenzeiten auch

4 Aufgelesen 6 Moumouni …

... für Unsicherheit 7 Fokus Surprise

Streiken für eine bessere Welt 8 Athen

Rebellen in der Kunst

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16 Sozialhilfe

«Machen Sie sich ein schönes Leben?»

bescheidene Mittel gehabt. «Das war für uns überhaupt keine traurige Zeit», fand er. Stimmt, ich habe das zu Studentenzeiten auch geschafft und hatte auch keine traurige Zeit. Dass die Situation aber eine andere ist, wenn man alleinerziehend eine Tochter mit Trisomie 21 zu betreuen hat, lesen Sie ab Seite 16. Kollege Simon Jäggi hat zwei Frauen, die von der Sozialhilfe leben, nach ihrer Situation befragt. Der Staat müsse nicht für Ausflüge von Sozial­ hilfebezügern aufkommen, sagte Schnegg noch. Das ist offenbar eine Meinung, die ein Politiker haben kann. Aber sie hat nichts mehr zu tun mit dem Gedanken, der hinter dem Sozialstaat steht. Und übrigens: Wir haben engagierte Literatur- und Schreibprojekte gesammelt und eine Mini-Serie zusammengestellt: «Die Schweiz schreibt», Seite 24. DIANA FREI Redaktorin

20 Musik

Dino Brandão und die Heimat 22 Literaturtage

Halbe Autorin 24 Die Schweiz schreibt

Humanitär lesen 25 Experimentalfilm

Brasilien und die Militärdiktatur

26 Veranstaltungen 27 Agglo-Blues

Der Anpfiff 28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt

«Ich wünsche mir mehr fröhliche Menschen»

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Aufgelesen

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 34 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Real Street Food Die Strassenzeitung von Oklahoma City, The Curbside Chronicle, bat ihre Verkaufenden eine Woche lang zu dokumentieren, was sie essen. Dazu fotografierten sie einzelne Mahlzeiten. Von Suppen­küchen­Menüs bis hin zu «gar nichts» war alles dabei. Grösster gemeinsamer Nenner: Fast alle Verkaufenden erleben ihre Ernährungssituation als unsicher und instabil.

FOTOS: NATHAN POPPE

THE CURBSIDE CHRONICLE, OKLAHOMA CITY

Terri, 29

Renita, 52 Renita hat ein sehr beschränktes Budget für Mahlzeiten und greift häufig zu 99-Cent-Angeboten aus dem nächsten Supermarkt, wenn sie Hunger hat. An einigen Tagen isst sie gar nichts. Sie hat sich so sehr daran gewohnt, wenig zu essen, dass es sich auf ihren Appetit auswirkt. Seit sie wieder eine Unterkunft hat, kann sie öfter in einem günstigen Laden um die Ecke einkaufen. Wenn sie mehr Zeitschriften verkauft, kann sie sich bald auch mehr zu essen leisten, sagt sie.

Terris zwei kleine Kinder sind immer in Bewegung, und sie selber auch. Wegen ihrer Doppelbelastung – sie verkauft die Strassenzeitung und kümmert sich um ihre Kinder – kommt sie häufig nicht zum Kochen. Seit 2018 lebt die Familie in einer Notunterkunft. Ihre Kinder aber gehen nie hungrig ins Bett, Terri gibt ihr ganzes Geld für Lebensmittel – auch Gemüse – für die beiden aus. Sie selbst isst oft nur Cornflakes, da man die Portionen gut einteilen kann und sie schnell zubereitet sind.

Brian, 46 Brian ist obdachlos, hat kein Auto und ist für sein Essen auf Hilfsorganisationen angewiesen, die in der Nähe sind. Er hätte gern wieder eine eigene Wohnung, um Lebensmittel in einem Kühlschrank aufbewahren zu können.

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Vor Gericht

Vollbremsung vor Gericht

Michael, 61 Michael kocht sehr gerne. Solange er wohnungslos war und in seinem Auto lebte, liess er einzelne Mahlzeiten aus und ernährte sich ausschliesslich von Fast Food, was ihm schwerfiel. Seit November hat er wieder eine Wohnung und kaufte als Erstes Lebensmittel ein. Jetzt kocht er wieder, auch gerne für andere, wie es schon seine Mutter tat.

April, 51 und Frederick, 44 Das Paar teilt sich die meisten Mahlzeiten. Da die beiden auf der Strasse leben, hängt der Zugang zu Suppenküchen von der Distanz ab. Wegen Aprils Knien können sie keine langen Strecken mehr laufen. Wenn sie Geld haben, mieten sie ein kleines Zimmer in einem Motel, um sich Essen in der Mikrowelle warmmachen zu können. Manchmal essen sie ihre Instantnudeln auch trocken.

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Gebräunter Teint, rosa Polohemd, beige Hose, das Jackett locker über die Schulter geworfen: Herr Jäger* tritt auf, als habe er nur eben sein Golfspiel unterbrochen für diesen lästigen Termin am Zürcher Bezirksgericht. Er will den Tolggen im Reinheft tilgen lassen und erhebt Einsprache gegen einen Strafbefehl. An einem herrlichen Frühsommernachmittag letzten Jahres kurvte Herr Jäger mit seiner potenten Sportlimousine – er hatte gerade bei einem Kunden gewinnbringend einen Verkaufsabschluss getätigt – noch ein bisschen durch die Landschaft. Bei einem Waldstück am Stadtrand rutschten ihm die Hormone in den Fuss, und dieser drückte das Gaspedal auf unerlaubte 76 statt der signalisierten 50 Stundenkilometer durch. Es blitzte. Damit fällt das Vergehen haarscharf in die Kategorie «grobe Verkehrsregelverletzung». Die Folge: eine bedingte Geldstrafe von 1 000 Franken, eine Busse von 800 Franken, Gebühren in gleicher Höhe, ein Eintrag im Strafregister und ein mindestens dreimonatiger Entzug des Führerausweises. Ein Dutzendfall also. Doch schon bald wird klar, dass der smarte Mittvierziger mit dem Anschein eines erfolgreichen, unbescholtenen Familienvaters um sein Überleben kämpft. «Ich stehe bereits am Abgrund», sagt der IT-Fachmann zum Richter, «und nun will man mich noch ganz runterstossen.» Wen er damit meint, bleibt unklar. «Ich bin ein anständiger Eidgenosse, der immer seine Steuern bezahlt hat», führt er aus. Aber die Polizei habe nichts Besseres zu tun, als die

Bürger zu schikanieren und an jeder Stras­ senecke einen «Melkstand» hinzustellen. Auf jenem Streckenabschnitt, wo er geblitzt wurde, habe er noch nie eine Menschenseele gesehen, und von einem «Innerorts» sei weit und breit nichts zu sehen. Er erhebt seine Stimme und geht nun auf die Überholspur: «Da geht es nur um Abzocke!» Der Richter hört stirnrunzelnd zu und stellt ihm schliesslich die einfachste aller Fragen: Warum er denn zu schnell gefahren sei. «Einfach», sagt Herr Jäger nun kleinlaut. Eigentlich gehe es ihm gar nicht ums Geld, obwohl er davon keines habe. Vielmehr versuche er den dreimonatigen Führerausweisentzug durch die Administrativbehörde abzuwenden, indem er ein milderes Urteil oder einen Freispruch des Strafgerichts präsentieren könne. «Ich werde ja sonst doppelt bestraft», findet Herr Jäger. Nach langer Arbeitslosigkeit und einem Konkurs habe er in der Wirtschaft wieder Fuss gefasst, als er beim Start-up-Unternehmen eines Kollegen einsteigen konnte. Dabei habe er bereits einige Kunden akquiriert. Weil diese im «Krachen» wohnen, sei er auf das Auto angewiesen. Derzeit überlebe er nur dank Zuschüssen von Eltern und Geschwistern. Immerhin senkt der Richter die bedingte Geldstrafe auf 300 Franken. Doch aufgrund von Gutachten und den Verfahrenskosten schuldet Herr Jäger dem Staat nun bereits mehr als 4 000 Franken. Gewiss, Peanuts auf seinem Schuldenberg. Doch der Fahrausweisentzug ist damit nicht abgewendet. «Dann muss mich halt meine bald 80-jährige Mutter zu den Kunden chauffieren», sagt Herr Jäger beim Hinausgehen. Er sei nach seiner wüsten Scheidung sowieso wieder bei ihr eingezogen. * persönliche Angaben geändert ISABELL A SEEMANN   ist Gerichts­reporterin

in Zürich. 5


ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

Menschen erklärt wird, in Schulklassen und an Arbeitsplätzen, die segregiert von Menschen mit Behinderungen sind, in einem Land, in dem Armut entweder als selbstverschuldet oder inexistent gehandelt wird. Es ist unter diesen Umständen fast unmöglich, nicht durch unhinterfragte «Normalität» sexistisch, homophob, transfeindlich, rassistisch, ableistisch (also Menschen mit Behinderung diskriminierend) und klassistisch zu sein. Die Probleme sind strukturell, da stecken wir alle drin. Wer aber diese Umstände in persönlichen Beziehungen nicht verstärken will, muss zuhören und in den Spiegel schauen. Das ist verunsichernd: «Warum weiss ich nicht, wie eine Person mit Behinderung fragen, ob sie Hilfe braucht, ohne dabei übergriffig zu sein?», «Warum weiss ich nicht, wie mit Leuten mit Migrationshintergrund sprechen, ohne dass sie sich wie ein Zootier fühlen?», «Warum hat sich xy erst so spät geoutet?» Warum diese Unsicherheit nicht als produktiv wahrnehmen?

Moumouni …

… für Unsicherheit Wie verunsichert viele immer noch über «diese neue political correctness» sind! Dann das Verteidigen: Ein erschrockenes «Ich hab’s doch nicht so gemeint!» wird zum empörten «Warum sollte das plötzlich falsch sein?» wird zum trotzigen «Ihr seid zu empfindlich» wird zum weinerlichen Heraufbeschwören einer Zensur, die eine Gefahr für unsere lang erkämpfte Freiheit darstelle, die unschuldige Opfer fordere und und und. Ich muss nicht mit Leuten diskutieren, denen es egal ist, ob sie mit ihrer Sprache verletzen oder nicht. Schade finde ich es jedoch, wenn Leute, die auf keinen Fall rassistisch, sexistisch, homophob sein wollen, zu ungeduldig sind, ihren Sprachgebrauch (und die Reaktion darauf) zu hinterfragen. Doch wer diagnostiziert sich schon gern eine Cis-hetero-kapitalistische Trans6

phobie, postkolonial-klassistische Hegemonialbürgerlichkeit oder gar einen strukturellen Normativ-Ableismus? Niemand! Die meisten Leute wohl hauptsächlich, weil sie die Begriffe nicht verstehen, die ich ehrlich gesagt auch extra möglichst kompliziert zusammengewürfelt habe. Dabei ist es gar nicht so kompliziert: Wir wachsen in einer Welt auf, in der Frauen um Minderheitenrechte kämpfen müssen, obwohl sie keine Minderheit sind, wo Homoliebe immer noch komisch scheint oder gar hart sanktioniert wird, während die Binarität der Geschlechter ad absurdum durchdekliniert wird, eine Welt, in der man in der Schule kaum etwas über koloniale Geschichte lernt (schon gar nicht über die der Schweiz) und Rassismus als nicht mehr existent oder überlebensnotwendige Natur des

Dass man heute eher zurechtgewiesen wird als früher, liegt nicht daran, dass etwa plötzlich eine ausserirdische Armee von Sprachpolizist_Innen daherkam, die alles, was bisher richtig war, neu als «falsch» labelte, sondern daran, dass bestimmte Minderheitengruppen heute sichtbarer sind und (zumindest in der Schweiz) weniger eingesperrt und nicht mehr verbrannt oder gesteinigt werden. Es geht also um eine Demokratisierung. Denn Minderheitengruppen werden nicht nur von den «bösen Rechten», vom System oder sonst wem diskriminiert, sondern auch durch das Unwissen, die Unbeholfenheit und Naivität von Menschen, die ihr Herz eigentlich am rechten Fleck haben, aber sich eben leider nie genug in Unsicherheit über ihren Sprachgebrauch und ihre Privilegien begeben haben, um ihr Defizit zu beheben.

FATIMA MOUMOUNI  muss zugeben, dass das Stammeln auch ein bisschen witzig ist! Stammeln wir nicht alle ab und zu ein wenig? Mehr davon!

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FOTO: MATTHIAS WILLI

«Warum wechseln viele die Strassenseite, wenn sie Armut begegnen, statt dass wir für die Betroffenen auf die Strasse gehen?» Paola Gallo, Geschäftsführerin Surprise.

Fokus Surprise

Streiken für eine bessere Welt «System change, not climate change!» Wer in den letzten Mona­ ten die Nachrichten verfolgt hat, kennt den Slogan, die regelmäs­ sigen Demos und die junge schwedische Frau, die diese Streiks in Bewegung gebracht hat. Auch wenn sich einige vor allem da­ rüber aufzuhalten scheinen, dass da Schülerinnen und Schüler die Schule schwänzen: Es ist eine Bewegung entstanden, ein «movement» gegen den Klimawandel. Menschen streiken gleichzeitig und zu Abertausenden in vielen Städten auf der ganzen Welt.Öffentlicher Protest scheint wieder das Mittel der Wahl zu sein, um die Gesellschaft und die Politiker in Bewegung zu bringen. Rufen also auch wir eine Demo aus: «System change, no poverty!» oder «Armut ist illegal» oder «Wir haben genug, wir wollen Geld». Warum wechseln viele die Stras­ senseite, wenn sie Armut begegnen, statt dass wir für die Betrof­ fenen auf die Strasse gehen? Warum fordern wir nicht ein wür­ diges Leben für alle ein? Armutsbetroffene haben keine Lobby. Im Gegenteil, sie haben mächtige Gegner. In den Kantonen werden die Sozialhilfebeiträge Surprise 450/19

gekürzt. Der Grundbedarf, der – wie es der Name sagt – das Allernötigste beinhaltet, soll weiter gekürzt werden. Die Absicht? Die Betroffenen sollen auf diese Weise motiviert werden, arbei­ ten zu gehen und ihr eigenes Auskommen zu verdienen. Daber will der erste Arbeitsmarkt nicht jede und jeden. Die Arbeitgeber kümmert es nicht, wie viele Leute Sozialhilfe beziehen. Die Wirt­ schaft hat ihre eigenen Gesetze, es werden nun mal nicht alle gebraucht. Und je weiter die Digitalisierung voranschreitet, desto weniger Leute werden im klassischen Arbeitsmarkt Platz finden. Auch die Anforderungen verändern sich laufend, und es gibt Menschen, die nicht mithalten können. Dabei geht es selten nur um ein bisschen guten Willen und Motivation. 60 Prozent der arbeitsfähigen Sozialhilfebeziehenden sind sogenannte Working Poor: Menschen, die Vollzeit arbeiten und dennoch nicht genug für den Lebensunterhalt verdienen. Was die Gegner der Armutsbetroffenen zusätzlich verkennen: Von den rund 600 000 Menschen, die am oder unter dem Exis­ tenzminimum leben, beziehen nur rund 270 000 Sozialhilfe. Die Gründe dafür sind unterschiedlich, aber müssten uns alle zu denken geben. Laut einer Studie der Berner Fachhochschule gibt es drei Gruppen von Nichtbezügern: Die sogenannten «Ausstei­ ger», die erste Gruppe, sind auf der Suche nach alternativen Le­ bensformen abseits von Staat und Gesellschaft – sie wollen keine staatliche Hilfe. Zur zweiten Gruppe gehören besonders schutz­ lose Bevölkerungsgruppen, also Menschen in mehrfachbelasten­ den Problemlagen (Migration, Gesundheit, Familie, Finanzen) – sie haben zum Beispiel Angst vor der Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung oder sind wegen Depressionen nicht in der Lage, ihren Anspruch geltend zu machen. Und schliesslich gibt es auch Working Poor, die trotz Anspruch keine Sozialhilfe beziehen. Viele könnten die Unterstützung nicht mit dem eige­ nen Empfinden von Würde vereinbaren – ausserdem ist es in Grenzfällen schwierig, selber zu beurteilen, ob man mit seinem Einkommen anspruchsberechtigt wäre. Bei der Sozialhilfe können Bezugsberechtigte maximal 986 Franken beziehen – dies variiert je nach Kanton und Gemeinde. Bei einer Kürzung von 30 Prozent, wie das einige Kantone vor­ sehen, würden einer vierköpfigen Familie noch 20 Franken pro Tag für Nahrungsmittel zur Verfügung stehen. Wer am meisten darunter leidet und die Spätfolgen trägt, sind die Kinder. 60 Pro­ zent der angemeldeten Sozialhilfebezüger sind Familien mit Kin­ dern. Das ist zum einen eine traurige Tatsache, die die meisten von uns emotional trifft. Zum anderen wird die Sache genau damit auch politisch, denn hier sind zentrale Gründe für die struk­ turelle Armut zu finden: Armut wird zementiert, indem sie von den Eltern an die Kinder weitergegeben wird. Seit 450 Heften geht Surprise täglich auf die Strasse, um ge­ gen Armut zu demonstrieren. Die rund 430 Verkaufenden zeigen uns seit zwanzig Jahren jeden Tag auf, dass Armut auch in der reichen Schweiz ein Thema ist. Wir danken Ihnen, liebe Leserin und lieber Leser, dass Sie nicht an unseren Verkaufenden vorbeigehen. Danke, dass Sie das Strassenmagazin kaufen und mit unseren Verkaufenden einen freundschaftlichen Kontakt pflegen.

Ihre PAOL A GALLO, Geschäftsführerin Surprise 7


Künstlerische Intelligenz Kunst Innert zehn Jahren mauserte sich Athen vom gebeutelten Moloch zum hippen Kulturmekka und zur trendigen Wochenenddestination. Wie Kunst den gesellschaftlichen Wandel vorantreibt. TEXT  YVONNE KUNZ FOTOS  MYRTO PAPADOPOULOS

Athen GRIECHENLAND

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An unsere kapitalistische Gegenwart, sagte der verstorbene Pop-Theoretiker Mark Fisher gerne, werden wir uns im Westen einst erinnern als eine Ära des politischen und kulturellen Stillstands. Als ein aufreibendes Warten auf den Bruch und die Ankunft des Neuen. In Griechenland aber kam die Zäsur. Denn es ist der Ort, wo sich die grossen europäischen Krisen der letzten Jahre kumuliert haben: das Finanzsystem, die Menschen auf der Flucht. Dabei ist den Griechen die Zukunft nicht nur in zermürbenden politischen Debatten abhandengekommen. Sondern im Alltag der einschneidenden Austerität, im Chaos der globalen Migrationspolitik. Während Zentraleuropa inzwischen rekord­ niedrige Ankunftszahlen von Asylsuchenden vermeldet, ist Griechenland vom Durchreisestaat zum Aufnahmeland geworden. Muss die Menschen integrieren, ihnen Arbeitsplätze anbieten – bei einer Arbeitslosenquote von immer noch um die zwanzig Prozent, über vierzig Prozent bei den unter 25-Jährigen. Dass das einigermassen gut geht, ist einer Zivilgesellschaft zu verdanken, die dem Umbruch pragmatisch begegnet, mit Tauschbörsen, Sprachkursen und Suppenküchen. Aber auch mit Wut und Kunst. Vor allem in der Hauptstadt. Sexy, boho Athen. Die alte Hafenstadt hat in den letzten Jahren auch eine starke Sogwirkung auf die immer nach Dringlichkeit durstenden westlichen Kunstkarawanen entwickelt. Ein Ort, wo der innere Aufruhr dieser Zeit fühlbar ist. «Eine der interessantesten Städte Europas», schwärmte Documenta-Chef Adam Szymczyk und hielt 2017 die weltgrösste Extravaganza für zeitgenössische Kunst nicht nur im provinziellen Kassel ab. Im Ausnahmezustand Athens lasse sich besser ganz neu über globale Ideen und Politik nachdenken. «Learning from Athens» hiess deshalb auch die Kunstschau. Was, wenn Krisen Wandel erzwingen? Was geschieht mit Identitäten in einer sich so schnell verändernden Gesellschaft? Was mit der Kunst?

Lange nur als Stadt der klassischen Antike von Interesse, wurde Athen mit den Krisen in die Gegenwart katapultiert.

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1 Graffito beim berüchtigten Omonoia-Platz: Manchmal hilft nur noch beten. 2 Künstlerin Antigoni Tsagkarpoulou im Kunstraum Atapos propagiert neue Familienbilder. Surprise 450/19

Der totale Make-over «Athen ist das neue Berlin», heisst es. «Das stimmt, auf In­ stagram», sagt der Künstler und Kurator der Athener Kunstbiennale, Poka-Yio. «Wir sind auch das neue Barcelona oder Tel Aviv. Wir haben nun eine globalisierte Identität.» Einen «totalen Make-over» nennt er den schnellen Wandel Athens vom beschaulichen Vorort Europas zur dynamischen Metropole. Lange nur als Stadt der klassischen Antike von Interesse, wurde Athen mit den Krisen in die Gegenwart katapultiert. Und es wurde zum Flaggschiff der Revolten: gegen Polizeigewalt, Privatisierungen, die EU, gegen die Gegenwart und für eine andere, menschlichere Zukunft. Poka-Yio – was nach Fernost klingt, ist der Künstlername eines gebürtigen Atheners – war 2007 Mitbegründer der Athener Biennale, kurz AB. Ende November 2018 sitzt er im zugigen Café in einer der Ausstellungsstätten der sechsten Ausgabe, AB6: ein früheres Edel-Hotel an einer verkehrsumspülten Ecke des zen­ tralen Altstadtviertels Syntagma. Beissende Selbstkritik hängt über seinem Fazit des letzten Jahrzehnts. «Wir wollten Athen auf die Weltkarte zeitgenössischer Kunst hieven, jetzt ist es der G-Spot von Airbnb.» Man denke ja immer, Kunst sei per Definition antiEstablishment. Heute weiss er: Hier die Kunst, dort das System – das ist der grösste Irrtum des Kunstbetriebs. 9


Die AB6 sollte Teil der Documenta sein. Auch das Biennale-Team um Poka-Yio sah die Chance einer allgemeingültigen gesamteuropäischen Lektion aus den Krisen. «Athen ist ein soziales Labor, glokal, ein kleiner Ort, auf den globale Herausforderungen konkret einwirken.» Doch die Documenta foutierte sich um die griechische Perspektive, die Zusammenarbeit platzte. Die Documenta geriet zum selbstzufriedenen Abfeiern von Künstlern als Kreuzritter des Guten. Man kritisierte Neo-Kolonialismus und Gentrifizierung. Und dann prosteten die Gäste aus dem Norden Poka-Yio zu: Fantastische Stadt! Wie kann ich hier eine Wohnung kaufen? Athens Künstler dagegen sind tatsächlich sehr engagiert. «Wir wurden zu Brigaden von inoffiziellen Sozialarbeitern, mittendrin, mit Migrantinnen und Obdachlosen», sagt Poka-Yio, in dessen Sätzen oft genau in der Mitte ein fettes Aber sitzt: «Dann brüsteten sich die offiziellen Vertreter der Kommunen mit diesen freien Initiativen.» Und schliesslich flossen Gelder, die in die Flüchtlingsarbeit gehen sollten, in Kunstprojekte. Er spuckt die Worte fast aus: «Der Künstler als Raubritter der Krise, eine Pest.» Offiziell sei Griechenlands Krise vorbei, jene der Griechen ist es nicht, so Poka-Yio. Nicht zuletzt hinterfragen die Biennale-Macher das Krisen-Narrativ selbst. Es sei doch bezeichnend, sagt Poka-Yio: «Just wenn sich im Westen die Entwicklungskurven verflachen, propagieren wir all diese globalen Krisen. Im Osten und Süden teilt man das Feeling nicht.» Denn das Letzte, was uns im Westen von links bis rechts noch verbinde, sei die depressive Grundstimmung, dass alles noch schlimmer kommen werde. Gerade Linken falle das Reden über die Zukunft schwer. Entweder zerfleische man sich gegenseitig als zu liberal, zu radikal, zu banal. Oder kippe in düstere Akzelerationen: das Öko-System, die Demokratie, alles am Ende. Poka-Yio: «Am Schluss bleibt der einsam in die Zukunft galoppierende Liberalismus und Reaktionäre, die über eine romantische Vergangenheit reden.» Als «geisterhaft» bezeichnet er den Aufstieg der extremen Rechten in Griechenland, wo Neonazis im Parlament sitzen. Es sei eine merkwürdig gesichtsund geräuschlose Bewegung. «Die machen keine Kunstprojekte», sagt er sarkastisch. Sie existierten als Unterströmung, in den Familien, Quartieren, Schulen. Das rechte Gedankengut nistet sich ein im Alltag. Wer sich öffentlich in einer praktischen Situation gegen Rassismus wehrt, muss mit Repressionen rechnen. Nein, in Athen bestehen die Polarisierungen nicht aus Gesinnungskriegen in Leitartikeln und Leserforen. Sondern aus auf offener Strasse erschlagenen Geflüchteten und gemeuchelten Polit-Rappern. Oder sie zeigen sich in der Ermordung des Queer-Aktivisten Zak Kostopoulos – als Zackie POK A-YIO Oh war er ein stadtbekannter Drag-Performer. Das war im September 2018, und noch immer steht die Stadt unter Schock. Die AB6 war Zackie Oh gewidmet. Die Queer-Szene, die sehr sichtbar ist, setzt für Poka-Yio den Kontrapunkt: «Als wir einen Ausweg aus unserer Hoffnungslosigkeit am meisten brauchten, waren die Queer-Communities mit optimistischem Tatendrang zur Stelle. Warben für Unvoreingenommenheit, tanzend, lebensbejahend.» Sie spürten: Das konservative Griechenland ist an einem gesellschaftlichen Wendepunkt. Sie waren getragen vom Gedanken: Wir können die Dinge bis zum Limit verbiegen, die Grenzen des Menschseins ausloten.

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1 Athener Biennale 2018: Latex-Installation «Pigpen» der japanischen Künstlerin Saeborg. 2 Mitbegründer und Ko-Kurator der Athener Biennale Poka-Yio. 3 Techno-Märchen gegen Gender-Klischees: Queer-Popstar Lykourgos Porfyris aka POP Tektonism.

«Hier die Kunst, dort das System – das ist der grösste Irrtum des Kunstbetriebs.»

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Und sie täuschten sich nicht: 2017 verabschiedete das Parlament eines der progressivsten Anti-Diskriminierungsgesetze der Welt. Ab 15 kann man sein Geschlecht selbst wählen. Wider den zeitgenössischen Realismus Etwas abseits der Innenstadt findet man die kreativen Graswurzel-Projekte, die Griechinnen auf der Suche nach der anderen Zukunft. Jenseits des berüchtigten Omonoia-Platzes, ein paar hundert Meter die Strasse runter, mitten durch den Stadtteil Metaxourgeio, durch gereizte Geschäftigkeit zwischen den Geschäften. Vorbei an unbeschäftigt rastlosen Männergruppen und kleinen Drogenszenen. Wo sich Realitäten bald übereinander schieben. Überwucherte Ruinen wechseln sich ab mit hübschen Restaurants an gemütlichen Plätzen. Manchmal geben halb geöffnete Tore den Blick frei auf Lagerhallen, die bis zur Decke mit plastikverpackter chinesischer Billigmode gefüllt sind. Dieses Viertel ist das Zuhause von Natassa Douruda. Am Anfang der Krisen las sie George Orwells «1984». Ein Fehler: Drei Jahre lang betrachtete sie alles durch die Linse der dystopischen Düsternis des Romans. Elend sei es ihr gegangen bei ihren Streifzügen durch die Stadt. Durch Strassen, an denen verlassene Häuser eins ums andere zu verrotten begannen. Und immer mehr Obdachlose unter Decken begraben eng an die Hausmauern gepresst den ganzen Tag einfach dalagen. Es erschien Natassa, als würde gerade die ganze neuere Geschichte enden. Und Athen Surprise 450/19

war der Ort, an dem sie endete. Der Ort der verfallenden Häuser und Menschen. Die Probleme, dachte sich Natassa irgendwann, könnten sich eigentlich gegenseitig lösen. Natassa überzeugte also ein älteres Paar, dass sich ihr kleines Anwesen erhalten liesse. Nur kümmern müsste man sich um die schmucke Stadtvilla, weit verwinkelt, mit Dachterrassen und Innenhof. Sie bekam die Erlaubnis, das Gebäude zu nutzen, einzig mit der Verpflichtung, es instand zu halten. Mit einer Truppe Gleichgesinnter schrieb sie ein Manifest, das Angst als Zugang zur Realität ablehnt. Als Name wählte man «Communitism», das Kunstwort ist Programm: die Überwindung des Individualismus. Und die Kunst ist der Generator von Gemeinsamkeit. Seit drei Jahren gibt es nun diese offene Gemeinschaft für Creative Professionals von zeitweise bis zu sechzig Aktivisten, die seit gut drei Jahren die lottrige Stadtvilla belebt. Mit Kino, Clown-Workshops, Gratis-Kleiderbasar für Geflüchtete. «Perspectives» heisst ein Studio, das Künstlerinnen aus Syrien, Af­ghanistan und Kurdistan betreiben. Auch bei Communitism gedenkt man des ermordeten Zak Kostopoulos. Aus einem kleinen Stuckrahmen blickt er nachdenklich in den Raum. Ein weiteres Plakat kommt auf die Frage nach der gesellschaftlichen Wirksamkeit von Kunst zurück: «Kunst zeichnet die Linien, die unsere Seelen verbinden.» Natassa erinnert der Spruch an die Gemeinschaftstänze, weit draussen auf dem Land. Tänze in Kreisen zu Hunderten, zusam11


mengehalten nur von der Musik. Kunst und Musik, sagt sie, füllten eine Lücke der säkularen Welt. Seien ein Mittel zum Ausdruck des Glaubens an die Metaphysik. Und es ist, was viele Künstler formulieren, wenn sie diese Frage erörtern: Kern der Kunst ist, dass sie nicht nur zum intellektuellen Verständnis verhilft. Ein Song, ein Gemälde, eine In­ stallation kann die Betrachterin zu einem Gefühl transportieren, das nicht unbekannt ist, das sie aber noch nie bewusst empfunden hat. Nach diesem transformativen Erlebnis suche die Kunst immerfort, sagte der Installationskünstler Olafur Eliasson in einer Rede am WEF 2016. Wichtig in einer Gegenwart, die vorführt, wie begrenzt die Wirkungsmacht des Faktischen ist. All das Wissen aus Datenbergen und Diagrammen erzeuge vor allem Überforderung, Ohnmacht und Mitgefühlsmüdigkeit. Denn, so Eliasson: «Wir fühlen uns nicht als Teil eines grösseren Wir.» Queer in Heterotopia Angel Torticollis, Communitism-Mitorganisator und Drag­ Performer, sagt, Kunst sei im sich rasant wandelnden Athener Alltag ein praktisches Multifunktionswerkzeug, ein gesellschaftliches wie auch individuelles menschliches Schmiermittel. Zunächst natürlich: Wie verständigt man sich mit so vielen Sprachen, Mind-sets, Kulturen, Welten? Angel: «Wir nutzen die Kunst, um einander unsere ganz unterschiedlichen Geschichten zu erzählen. Sie ist aber auch ein Mittel der Auseinandersetzung mit dem Selbst. Damit, wie es sich in einer Stadt verhält, in der alles in Bewegung ist.» Angel lebte 16 Jahre in London, wollte ins Modebusiness, versuchte sich als Koch, wurde schliesslich Osteopath. Seit zwei Jahren ist er wieder hier. In einer Stadt, die er als Fluss der Veränderung beschreibt, der ihn mitgerissen habe. Angel ist wie vor ihm Zak zum populären Drag-Performer geworden, mit 45. Zufällig, als ein Künstlerfreund sein Gesicht zu bemalen begann. Sie dann kleine Videos drehten, diese im Internet posteten und sich eine Figur formte: Kangela Tromokratisch, eine ausserirdische Hausfrau auf Acid, mit Bart – und Fans: Angelos traf einen Nerv, immer populärer wurden seine Clips. Immer krasser die Kangela: Bei Gelegenheit singt sie umgetextete Nationalistenlieder in Sado-Maso-Montur auf ruppigem Elektropunk-Sound. Sein Drag hat nicht mehr viel mit dem klassischen Cabaret-Akt zu tun, bei dem sich ein Mann als Frau verkleidet. «Wir fordern nicht nur das Patriarchat, überhaupt die Idee von Geschlecht, sondern auch Drag-Klischees heraus.» Mann oder Frau zu sein habe ihn ohnehin nie interessiert, Angel sieht sich als non-binär. Da passt diese neue Spielart des Drag, bei der jeder irgendein Wesen, eine eigene Welt erschaffen kann. Ein klassischer Genderaktivist, der sich mit Pronomen- oder Benimmregeln herumschlägt, ist er auch nicht. Er macht’s andersherum: «Meine Figur Kangela sagt die scheusslichsten Dinge, auf möglichst groteske Art. Die Leute lachen, aber sie hinterfragen sich dabei: Denke ich vielleicht auch ein bisschen so?» Aber genau darauf fahren die Athener ab, sagt Angel, weil sie unbändigen Durst nach Entertainment haben – und nach dem Neuen, Undefinierten, auch bei sich selbst. Kuscheln gegen das Cistem Das Hinterfragen von Stereotypen ist auch die Mission von Antigoni Tsagkaropoulou. Sie aber tut das auf radikal freundliche Art, derzeit mit ihrer «Fluffy Library» im Kunstraum Atapos, ei12

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1 Angel Torticollis verwandelt sich in Kangela Tromokratisch. 2 Akropolis: Manches bleibt vom Wandel unberührt. 3 Kein klassischer Cabaret-Act: Draging Drag.

ner Grossinstallation anlässlich von UNESCO-Welthauptstadt des Buches. Athen war das im Jahr 2018. In dieser «genderfluiden, ausserweltlichen Lese- und Knuddel-Atmosphäre» entstehen neue Märchen zu Identität, Gender und zwischenmenschlichen Beziehungen. Mit den Mitteln der Performance, des kollektiven Storytellings und Plüschskulpturen. Fluffy ist der Kosename eines pelzigen Monsters, das sich im gesamten oberen Stock des Kunstraums Atapos breitgemacht hat. Nach Zeitungsberichten finden auch viele Familien ohne Bezug zur Kunst- oder Queer-Szene den Weg an diesen Ort. Sie kommen nicht, weil sie einen genderfluiden Safe Space suchen, sie kommen, weil ihnen die Bilder gefallen. Monster und Märchen: ein cooler Ausflug mit den Kindern. Auch bei unseren Besuchen wandeln stets ein paar Knirpse durch die Räume, strahlend staunend, kuscheln mit dem Einhorn, lassen sich zu den Eltern auf die riesigen Kissen fallen, kramen aus kleineren Kissen Kinderbücher hervor. Nun hat das Einhorn sowohl Bart als auch Brüste. Die Kissen haben die Gestalt poppiger Vulven. Die Bilderbücher, welche die Kinder aus den Schlitzen ziehen, erzählen Geschichten von queeren Paaren, die ein verlorenes Ei ausbrüten, von Babys, die GleichSurprise 450/19


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heit für alle fordern, von Queer-Aktivisten. Antigoni erzählt: «Wenn die Eltern diese Geschichten vorlesen, sagen sie oft nur hm, interessant. Wissen nicht recht, was antworten, wenn die Kinder fragen, was die Plüschskulpturen darstellen.» Man könnte sagen: Mischwesen aus Insekten und Geschlechtsteilen, aber so gefällig, dass man sie sich bestens als Goodie in einem Happy Meal bei McDonald’s vorstellen kann. Überrascht seien diese Eltern, befremdet vielleicht, aber nie verärgert, sagt die Künstlerin. Inzwischen gebe es viele Anfragen für Kindergeburtstage. Antigoni freut’s, damit hat sie mehr erreicht, als sie zu träumen wagte. Denn im Zusammenhang mit Kindern, sagt sie, sei die gesellschaftliche Stimmung bei queeren und feministischen Themen ja nicht bloss gereizt, sondern tabu, gefährlich gar. «Ich spiele mit der Grenze zwischen Kunst und politischem Aktivismus – aber immer mit einem leichten Touch.» Sie wolle dem Publikum nichts aufzwingen, nur spielen, mit der flauschigen Freundlichkeit die scharfen Kanten des Diskurses etwas abwetzen. Schon bald findet der erste Drag-Workshop für Kinder statt.

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«Ich spiele mit der Grenze zwischen Kunst und gesellschaftlichem Aktivismus.» ANTIGONI TSAGK ARPOULOU

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Lob der Latenz Athen könnte überall sein, sagt die Performance-Künstlerin und Occupy-Wall-Street-Organisatorin Georgia Sagri, jeder Ort, wo viel auf dem Spiel stehe. «Hier werden Themen verhandelt, die uns noch viele Jahrzehnte beschäftigen werden.» Sie will Teil des öffentlichen Gesprächs sein, dabei sein bei der Formulierung der Argumente. Kunst habe seit den Höhlenmalereien immer die Funktion gehabt, dabei den Ton anzugeben. Nach über zehn Jahren in New York ist sie zurück in ihrer Heimatstadt. Es war keine Rückkehr in die Komfortzone, im Gegenteil: «Künstlerinnen dürfen sich nie allzu wohl fühlen, sie müssen immer auch fremd sein.» In der von ihr angeregten Kunstpraxis Hyle macht sie sich auf die Suche nach einer neuen Art, die Gegenwart zu verstehen, zu erleben und zu beschreiben. Dazu bedürfe es eines völlig neuen Vokabulars, einer neuen Sprache. Die zentrale Frage unserer Zeit, sagt Georgia, sei, wie wir politische Repräsentation verstehen. Wer unsere Repräsentanten sind. Was sind das für Figuren? Wer repräsentiert da wen, warum, was geht da vor sich? Georgia: «Wie Dinge dargestellt und verstanden werden, ist das Kerngeschäft der Kunst, und deren Analyse eine künstlerische Verpflichtung.» Politische Repräsentanten seien heute nicht mehr in der Lage, die Alltagssituation – sozial, wirtschaftlich oder emotional – zum Ausdruck zu bringen. Kunst schon, so Sagri: «Sie kann Stimmen pluralisieren, dafür sorgen, dass möglichst viele Sprachen im Diskurs vertreten sind.» Hyle ist eine Dreizimmer-Wohnung im dritten Stock einer Betonburg. Der Balkon überblickt nach innen gerichtet die Passage vom Omonoia-Platz in eine kleine Seitenstrasse. Ein Drittel der Läden stehen leer, offen sind das Reisebüro Bollywood, ein Hutgeschäft und eine Papeterie. Für diese Wohnung verteilte Georgia Sagri sieben Schlüssel, mit der Einladung, den Raum zu teilen, das Private öffentlicher zu machen. Als eine «Übung in Vertrauen». Die Reaktionen der Schlüssel-Empfänger waren ganz unterschiedlich, von Unverständnis, Misstrauen bis zu Einklinken. Mit Videoreihen, Künstler-Residenzen und Ausstellungen. Noch ist kein enger Kreis entstanden. Noch, sagt Georgia, ist es vor allem eine «Übung darin, mit Gewissheiten und Gewohnheiten zu brechen». Die Welt, sagt sie, sei ja eigentlich voller Ideen, voller Erfindungen, voller Informationen – aber der Mensch habe überhaupt Surprise 450/19


1 Antigoni Tsagkarpoulou in ihrer Grossinstallation «Fluffy Library». 2 Fluffy: Ein genderfluider Safe Space. 3 Dichterin Mayra Rodriguez Castro am Omonoia-Platz. 4 Gegen alle Binaritäten: Kunstraum Hyle. 5 Kunst ist auch Arbeit: Georgia Sagri und Künstlerin Maria Rodriguez.

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keine Zeit, sich das alles zu vergegenwärtigen. In Hyle sollen deshalb verschiedene Denkweisen zusammenkommen, aus Politik, Wissenschaft und Kunst, um die Gegenwart zu verstehen. Die Kunst sei dabei der Treiber. «Denn die Kunst glaubt immer daran, dass es überhaupt neue Sprachen geben kann.» Modernismen, sagt sie, seien als Methode, die Zeit zu verstehen, vorbei. «Der Modernismus geht davon aus, dass man sich von allem Vergangenen löst, um etwas für ein mögliches Später zu kreieren.» Und Kunst habe die Kraft, nach Neuem zu suchen. Aber Kunst brauche auch den Prozess, man müsse üben, bis der Strich sicher wird, der Ton klingt. Das heisst für Georgia: Etwas Bestehendes nehmen, auf dem man etwas Neues bauen kann. Die Dinge in die Schwebe bringen zwischen Gewesenem und Künftigem und so eine Gegenwart erschaffen. Konsequent werden Grenzen verwischt, jegliche Binaritäten aufgehoben, auch in der künstlerischen Praxis. Kunst, sagt Georgia, muss nicht gesehen werden, um zu existieren. «Wir versuchen, die Dualität von Produktion und Reproduktion, Werk und Betrachterin, Künstlerin und Bürger aufzulösen.» Eben arbeitet die kolumbianische Dichterin und Lyrik-Übersetzerin Mayra Rodriguez Castro einen Monat in Hyle. Bald ist der Monat um, in einer Stunde findet die dritte und letzte Lesung Surprise 450/19

ihres Zyklus «Fugue» statt. Sie verschränkt dabei eigene Texte mit Stimmen von schwarzen Poeten wie June Jordan und Amiri Baraka, die, wie sie sagt, ihr Vokabular der Gefühle erweitern. Sie hat ein Ritual vor ihren Lesungen. In letzter Minute geht sie hinaus zu einem Copy-Shop, um ihr Manuskript zu drucken und sich einen Blumenstrauss für den Lesetisch zu kaufen. Hinaus über den Omonoia-Platz. Kein behaglicher Ort, eher ein unglücklicher Umstand, wo verfehlte Stadtplanung, korrupte Bürokratie und prekäre Lebensumstände von allen Seiten aufeinanderprallen. Hier wurde Zak Kostopoulos alias Zackie Oh ermordet. Erst, sagt Mayra, sei sie überfordert gewesen von der Hektik und Schroffheit hier – und sie stammt aus Bogotá. Der Weg zurück ist ihre Hauptprobe, sie rezitiert ihre Stücke, lässt ihre Stimme eins werden mit dem tosenden Verkehrslärm. Als sie die Wohnung wieder betritt, beginnt das Publikum bereits Platz zu nehmen, einander plaudernd kennenzulernen. Acht Personen sind im Raum, als Mayra beginnt. Der warme Klang ihrer Stimme vermag die Grelle des brutalen Neonlichts etwas zu dimmen. Durch die Wand sind Kinder zu hören, die in der angrenzenden Wohnung spielen. «Ich spreche über das Bild einer gemeinsamen Utopie», rezitiert Mayra aus Amiri Barakas «Short Speech to My Friends». Ein Raunen geht durch den Raum. 15


Das Geld reicht nur knapp zum Leben Sozialhilfe Das Bild von Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern ist

klischeebeladen. Zwei betroffene Frauen erzählen, wie es ihnen geht. TEXT  SIMON JÄGGI FOTOS  EPHRAIM BIERI

Die Sozialhilfe gerät schweizweit immer mehr unter Druck. Angefeuert von rechts-konservativen Politikern denken zurzeit mehrere Kantone über massive Kürzungen nach. Im Kanton Aargau und im Kanton Baselland haben die Parlamente einer Kürzung von rund einem Drittel zugestimmt. Auch im Kanton Bern hat der Grossrat Kürzungen von bis zu 30 Prozent beschlossen. Am 19. Mai entscheidet das Stimmvolk über die umstrittene Sparmassnahme. Das, nachdem eine breite Allianz von Verbänden und linken Parteien einen Gegenvorschlag lanciert hat. In der Vergangenheit orientierten sich die Kantone bei der Festlegung der Unterstützungsbeiträge an den Richtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (Skos). Ein Einpersonenhaushalt braucht demnach monatlich 986 Franken für ein menschenwürdiges Leben, wie es die Bundesverfassung vorschreibt. Bei zwei Personen sind es 1509 Franken, bei vier 2110 Franken. Mit den geplanten Kürzungen setzen sich die Kantone deutlich über diese Untergrenze hinweg. Damit droht ein Negativwettbewerb, der die Lebensbedingungen für die Sozialhilfebeziehenden schweizweit weiter verschlechtern könnte. Sparen bei den Ärmsten, diese Forderung ist nicht neu. Bereits vor zwanzig Jahren lancierte die SVP den ersten Angriff auf die Sozialwerke. Aus dieser Zeit stammen auch die Vorurteile, deren sich die Befürworter der Kürzungen bis heute bedienen: Sozialhilfebeziehende werden als 16

arbeitsfaule Schmarotzer dargestellt, die es sich auf Kosten des Staates gemütlich machen. Der Berner SVP-Regierungsrat Pierre Alain Schnegg behauptete kürzlich in einer Fernsehsendung, Sozialhilfebezügern gehe es heute «zu gut». Bestärkt werden die ignoranten und diskriminierenden Stereotype von Zeitungen wie dem Blick, der immer wieder über sogenannte Sozialhilfe­betrüger berichtet. Zuletzt erschien vor wenigen Wochen die Geschichte zum Fall «Kadir B.» aus Basel, der wegen zu Unrecht bezogenen Leistungen in der Höhe von 159 000 Franken verurteilt wurde. Für den überwiegenden Anteil der Sozialhilfebezüger ist die Realität jedoch eine entschieden andere. Gegenüber den Behörden müssen sie ihr ganzes Leben offenlegen: Bankauszüge und Informationen darüber, mit wem sie zusammenleben, was ihre Ärzte über sie sagen, all ihre Einnahmen und Ausgaben. Sie müssen sich um Arbeit bemühen oder an Beschäftigungsprogrammen teilnehmen. Sozialdetektive wachen darüber, ob die Betroffenen sich an die Vorgaben halten. Bei Verstössen kann das Amt die Leistungen um 30 Prozent kürzen. Doch auch ohne Kürzungen: Das Geld reicht für die meisten gerade knapp zum Leben. Das Bild des Sozialhilfebezügers, der zu Unrecht Leistungen bezieht, hält sich dennoch hartnäckig. Vor der Abstimmung im Kanton Bern haben wir zwei Frauen, die von der Sozialhilfe leben, getroffen und sie gefragt: Machen Sie sich ein schönes Leben? Surprise 450/19


Alles im Leben reduziert NADINE RAMSEIER, 51

«Ich sagte: Also, dann kürzen Sie meine Beträge. Ich kann keine Bäume versetzen.» NADINE R AMSEIER, 51

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«Bei den politischen Diskussionen bekomme ich Vögel. Die meinen alle, wir sünnelen in der Sozialhilfe und finden das lässig. Meint ihr wirklich, die Mehrheit würde nicht lieber arbeiten? Nach einem Monat fällt dir die Decke auf den Kopf. Ich habe mein halbes Leben gearbeitet, zuerst als kaufmännische Angestellte, später als Floristin. Vor zehn Jahren kam meine Tochter mit Trisomie 21 zur Welt, und von einem Tag auf den anderen war praktisch nichts mehr wie zuvor. Der Kindesvater verliess uns am Tag nach der Geburt, ich wurde alleinerziehend und konnte meine zugesagte Festanstellung nicht antreten. Schliesslich landete ich bei der Sozialhilfe. Ich erhalte den Grundbedarf: 1 495 Franken für einen Zweipersonenhaushalt. Dazu kommen die Alimente des Kindesvaters, die Kinderzulagen und die Hilf­ losenentschädigung. Insgesamt komme ich auf rund 2 900 Franken, am Ende des Monats bin ich immer gerade auf null. Manchmal auch darunter. Mir ist es zum Glück gelungen, die Situation anzunehmen, wie sie ist. Ich habe gelernt zu verzichten. Ich war nie mehr in den Ferien, seit meine Tochter auf der Welt ist. Der Coiffeur war irgendwann kein Thema mehr. Ich gehe nicht mehr auswärts essen, war nie mehr im Ausgang, nie mehr im Kino. Ich habe Kleider im Schrank, die habe ich seit zwanzig Jahren. Auch Geburtstage sind schwierig, weil oft das Geld fehlt, um jemandem ein Geschenk zu machen. In meinem Leben hat sich alles enorm reduziert. Die Finanzen, meine Gesundheit, meine Lebensmittelauswahl. Ab Mitte Monat muss ich meiner Tochter manchmal sagen: Jetzt habe ich keinen Mozzarella mehr zu den Tomaten. Luxus? Das sind die Zusatzversicherung bei der Krankenkasse und mein Fernsehanschluss. Dazwischen trinke ich mal ein Büchslein Prosecco. Und für meine Tochter gibt es Erdbeerglace aus dem Coop. Was unter dem Strich passiert: Man wird einfach einsam. Ausser meiner Schwester und meiner Mutter habe ich noch eine gute Freundin und vielleicht 17


noch drei bis vier gute Bekannte. Der Rest ist aus meinem Leben verschwunden. Das Menschsein geht komplett verloren. Alleine eine Tochter mit Trisomie 21 zu erziehen, ist bereits für sich eine Herausforderung. Dazu kam der Druck durch das Sozialamt. Während mehrerer Jahre war eine Mitarbeiterin für mich zuständig, die machte mich kaputt. Ich kann es nicht anders sagen. Jedes Mal, wenn ich an die Sitzung ging, dachte ich: Um Gottes Willen, habe ich alles richtiggemacht, habe ich alles erledigt, an was muss ich noch denken, was muss ich noch fragen, was muss ich noch bringen? Ich hatte manchmal das Gefühl, ich komme vor den Richter. Meine Tochter ging damals drei Tage in der Woche in eine betreute Schule. Da meinte meine Betreuerin, ich könne ja jetzt wieder arbeiten gehen. Dabei war ich damals sehr schlecht beieinander. Ich wog nur noch 45 Kilo, hatte keine Kraft mehr und ein Burnout hinter mir. Ich wollte ja selber zurück in den Arbeitsmarkt, aber es war zu diesem Zeitpunkt einfach nicht möglich. Ich brachte Arztzeugnisse, die bestätigten, dass ich nicht mehr als die Betreuung meiner Tochter leisten kann. Ich sagte der Mitarbeiterin immer wieder, sie solle doch einmal schauen kommen bei uns zu Hause. Vom Moment an, wo meine Tochter Alina um vier von der Schule nach Hause kam, war ich mit ihrer Betreuung durchgehend beschäftigt, bis sie ins Bett ging. An den Wochenenden kümmerte ich mich durchgehend um sie. Doch es half nichts. Ich merkte, ich kann mich noch so anstrengen. Ich liefere alle Finanzen, ziehe mich in jeder Sitzung beim Sozialdienst bis auf die Unterhosen ab, wenn ich sage, was Sache ist. Und dann heisst es, ich müsse jetzt einfach arbeiten können. Schliesslich habe ich resigniert. Ich sagte: Also, dann kürzen Sie meine Bezüge, ich kann keine Bäume versetzen. Und so kam es dann. Erst als im letzten Jahr eine neue Beraterin mein Dossier übernahm, verbesserte sich die Situation. Ich bin trotz dieser Erfahrung sehr dankbar, dass es den Sozialdienst gibt. Sonst weiss ich nicht, was aus mir geworden wäre. Aber es ist schon sehr schambehaftet. Dazu kommen immer wieder abschätzige Bemerkungen. Da sagt jemand: Jetzt habe ich gerade wieder so einen ty18

pischen Sozialhilfebezüger gesehen. Was heisst denn typisch? Hinter jedem steckt ein Schicksal, und niemand weiss, was dazu geführt hat. Das ist doch nichts, das man selber wählt! Am schlimmsten finde ich, dass Menschen mich verurteilen und mir unterstellen, ich ruhe mich auf Kosten der Sozialhilfe aus und liesse es mir gut gehen. Das ist respektlos und verachtend. Jetzt gibt es für mich eine Entspannung. Ein neues Gesetz schreibt vor, dass in unserem Fall der Vater einen Betreuungsunterhalt leisten muss. Deshalb bin ich seit diesem Monat nicht mehr von der Sozialhilfe abhängig. Auf grossem Fuss lebe ich noch immer nicht, aber ich kann etwas aufschnaufen. Im Sommer beginne ich eine Weiterbildung zum Coach. Ich möchte andere Eltern begleiten, die Kinder mit Trisomie haben. Und vor einigen Tagen habe ich mir eine Handtasche gekauft, zum ersten Mal seit vielen Jahren. Sie hat 30 Franken gekostet.»

Sogar der Tierarzt weiss Bescheid NADJA AELLEN, 50

«Ich denke manchmal, Armut scheint es in der Schweiz nirgendwo zu geben. Beim Coiffeur und im Kino bekommen Studenten und AHV-Bezüger Rabatt. Armutsbetroffene oder Sozialhilfebezüger sind dort nirgends aufgelistet. Da könnte man viel machen fürs Bewusstsein der Leute. Damit die Gesellschaft stärker wahrnimmt: Uns gibt es. Ich habe mir selber lange etwas vorgemacht. Bis ich eingestehen musste, ich bin armutsbetroffen. Das war erst vor ein paar Monaten, ich wollte ein Geschenk weiterverschenken und merkte, dass ich mir eigentlich nicht einmal das Postporto leisten kann. Da hat es mich durchgeschüttelt. Es sind jetzt knapp zwei Jahre, seit ich bei der Sozialhilfe bin. Es war im Jahr 2015, als ich arbeitslos wurde. Ich hatte meine Stelle verloren – und der Markt für kaufmännische Angestellte in der Region war total ausgetrocknet. Es war eine schwierige

Zeit. Meine Kinder waren zuvor von mir zu meinem Ex-Mann gezogen. Dazu kam eine belastende Beziehung, in der ich häusliche Gewalt erfuhr. Als ich mich dann im Jahr darauf beim Sozialdienst anmeldete, fiel mir das unheimlich schwer. Weil ich eben um das Bild wusste, das viele von einer Sozialhilfeempfängerin haben. Du siehst aber nicht so aus, das hörte ich oft. Ja, wie sieht denn eine Sozialhilfeempfängerin aus? Die kann vielseitig aussehen. Das muss nicht jemand sein, der schmuddelig daherkommt. Gerade bin ich wieder in einem Gstürm. Ich bin vor Kurzem umgezogen, in meine Herzwohnung in ein altes Bauernhaus. Gestern habe ich dann von meinem Vorgesetzten per Whatsapp erfahren, dass der Sozialdienst meine Praktikumsstelle gekündet hat. Weshalb, weiss ich nicht. Ich hatte davor lohnfrei bei der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde gearbeitet. Ich Huhn war zuvor Anfang des Jahres mit dem Fahrrad umgefallen und konnte mehrere Wochen nicht arbeiten. Trotz dem Arztzeugnis hatte das Sozialamt meine Inte­ grationszulage im März gestrichen. Statt 1 077 Franken habe ich nur 977 Franken bekommen. Wenn diese Integrationszulage durch die Kündigung nun ganz wegfällt, wird es knapp. Ich weiss nicht, ob ich mir so meine neue Wohnung überhaupt leisten kann. Es geht einem schon nahe. Ich verstehe jeden, der resigniert. Zum Glück weiss ich, wie ich beim Essen Geld sparen kann. Ich gehe nicht nach Lust einkaufen, sondern nach Aktionen. Meine positive Lebensenergie hilft mir. Aber wenn ich richtig hinschaue, muss ich eingestehen, ich verzichte auf sehr vieles. Und da rede ich nicht von Ferien oder Wellness-Weekends, das ist weit entfernt. Alle drei Monate zum Coiffeur liegt nicht mehr drin, das Badi-Abo kann ich mir nicht leisten, Schlittschuhlaufen mit den Kindern muss ich mir überlegen. Es sind kleine Dinge, die am meisten schmerzen. Für den Garten in meinem neuen Zuhause wollte ich mir Blumenzwiebeln kaufen. Aber da muss ich mir überlegen, ob ich mir das leisten kann oder nicht. Früher ging ich gerne töpfern, vor ein paar Monaten haben mir dann Freunde einen Töpferkurs geschenkt. Ich dachte, da sei alles inbegriffen. Manchmal schaue ich eben nicht so richtig. Dann kam am Ende des Kurses noch die RechSurprise 450/19


«Ich habe mir etwas vorgemacht, bis ich mir eingestand: Ich bin armutsbetroffen.» NADJA AELLEN, 50

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nung für den Ton und das Glasieren dazu. Das waren pro Tassli fünfzehn Stutz. Meine Söhne zahlten mir dann einen Teil. Ich fühlte mich fürchterlich, dass ich das nicht selber bezahlen konnte. Das Schwierigste ist, dass ich überall die Hosen runterlassen muss. Ich erzähle gerne, wenn ich mich freiwillig dazu entscheiden kann. Oft habe ich aber keine Wahl. Heute musste ich notfallmässig meine Katze zum Tierarzt bringen. Ich sagte dem Arzt, dass ich vom Sozialdienst unterstützt werde und nur über wenig Geld verfüge. In der Zwischenzeit kann ich das, aber es fällt mir immer noch sehr schwer. Übrig bleibt mir nichts am Ende des Monats. Eigentlich sollte ich dem jüngeren Sohn monatlich noch 100 Franken geben. Im Moment kann ich das nicht, weil ich den Anwalt abbezahle, der mich beraten hat wegen der Anzeige gegen meinen Ex-Partner. Zudem zahle ich jeden Monat mit 200 Franken meine Steuerschulden ab. Ich habe riesige Angst vor einer Betreibung, das will ich auf keinen Fall. In der neuen Wohnung bin ich auch Abwart. Da verdiene ich etwa 60 Franken im Monat. So kann ich beim Sozialdienst einen Teil meiner Schulden abbezahlen. Alles, was ich dort angehäuft habe, muss ich auch wieder zurückbezahlen. Je nachdem, was du verdienst, kommst du da gar nie mehr ganz raus. Auch wenn du wieder eine Arbeit findest. Falls der Kanton jetzt die Sozialhilfe um 8 Prozent kürzt, wären das 80 Franken weniger, das ist viel Geld. Statt Kürzungen würde ich mir wünschen, dass die Behörden den Betroffenen mehr entgegenkommen. Zum Beispiel eine Erlassung der Radio- und Fernsehgebühren, eine Ermässigung des Halbtaxabonnements und kostenlose Rechtsvertretung. Wir haben niemanden, der uns den Rücken stärkt. Weil das alles so viel kostet, wehrt man sich kaum noch. Wenn die Kürzungen kommen, werde ich wohl noch mehr beim Essen sparen. Dann muss ich vermutlich an die Essensausgaben, auch wenn das eine riesige Überwindung bedeutet. Jetzt überkommt es mich gleich wieder, wenn ich davon spreche. Ich glaube, dann habe ich das Gefühl, wirklich arm zu sein. Nicht innerlich, da bin ich sehr reich. Aber das Geld betreffend. Ja, das finde ich traurig.» 19


«Ich sehe Heimatgefühl als Illusion» Musik Die Band Frank Powers hat mit dem Album «Juheminee» Songs

geschaffen, die Heimatgefühle in einer globalisierten Welt thematisieren. Sänger Dino Brandão über Strassenmusik und Privilegien. TEXT  CLAUDIA PETER

Heimat sei ein Knopf im Taschentuch, ein Strauss Vergissmeinnicht auf dem Nachttisch, eine vage Erinnerung daran, weshalb man zu dem geworden ist, was man zu sein glaubt, erzählt Dino Brandão. Er ist Sänger der Bruggemer Band Frank Powers, Teilzeit-Strassenmusiker, Liederschreiber und gerade daran, sich mit seinem neuen Album «Juheminee» durch die Schweizer Clubs und Festivallandschaft zu spielen. Wir treffen den 27-Jährigen in der RioBar in Zürich, es ist Montagmorgen, die Sonne scheint, Brandão trinkt schwarzen Kaffee und raucht eine selbstgedrehte Zigarette, aus der braunen Cordjackentasche blitzt ein gelbes Reclambüchlein hervor: Sophokles’ «Elektra». Ein Drama über den Kreislauf von Rache, Leid, Schuld. «Die griechische Mythologie ist mir irgendwie nahe», sagt Brandão und lacht: «Wohl ein Erbe meiner 90er­­­Jahre-Kindheit: Ich habe mir als Kind im Fernsehen viel zu oft die Serie ‹Herkules› angeschaut.» Ernst fügt er aber hinzu: «Die griechische Mythologie behandelt die grossen Themen der Menschheit. Es erstaunt mich immer wieder, wie zeitlos und immer noch aktuell die Konflikte in diesen Geschichten sind.» Brandão spricht so, wie er singt: überlegt, ruhig, mit einem feinen Witz. Im Oktober 2018 hat er mit seiner Band das Album «Juheminee» veröffentlicht. Seither touren sie

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durch die Schweiz, um ihre mal kritischen, mal witzigen Songs bekannt zu machen. Der Untertitel der Tour heisst «Eine Art Heimatsongs». Wieso nur «eine Art»? «Ich besitze nebst dem Schweizer Pass noch ein abgelaufenes angolanisches Pendant dazu», erzählt Brandão. «So hege ich zwangsläufig eine ambivalente Beziehung zu Heimat und Herkunft. Obschon dieses Heimatgefühl wohl einigen Menschen Ruhe und Zugehörigkeit verschafft, sehe ich es eher als eine wirre, mittlerweile schwierig konnotierte Illusion.» Er überlegt weiter: «Es macht auf das persönliche Leben einen riesigen Unterschied aus, welchen Gefilden man entschlüpft ist, aber niemand hatte ja letztendlich die Wahl.» Brandão beobachtet die Welt genau, findet in ihr Dinge, die ihm gut gefallen, ebenso wie solche, die ihn nachdenklich stimmen. «Wir hören einander oft nicht richtig zu, lassen uns nicht ausreden. Das Leben sollte nicht zu einer konstanten ‹Arena›-Sendung werden.» Er hat den Eindruck, dass die Menschen durch diverse äussere Einflüsse immer skeptischer und ängstlicher werden. «Die Globalisierung hat die Probleme meiner Generation zu einem komplex gewobenen Teppich von Geldflüssen, Abhängigkeiten und Co-Abhängigkeiten, aber ebenso von schönen, neuen Möglichkeiten verstrickt. Diese neuartigen Freiheiten, wie die Möglichkeit zu reisen, die digitale Vernetzung, der weltweite Konsum, sind teils wunderbar, aber ebenso eine schwere Bürde und Überforderung eines jeden Einzelnen.» Gerade in der Schweiz vermisst Brandão den Mut, neue Wege zu gehen, zu experimentieren. «Wir sind eines der privilegiertesten Länder. Ein Experiment wie das bedingungslose Grundeinkommen könnten wir gut wagen – wir können uns sogar erlauben zu scheitern.» Brandão löst eine Ratsdebatte aus Die Möglichkeit des Scheiterns ist in Brandãos Leben eine durchaus präsente Konstante: Seit seiner Lehre im SBB-Reisebüro setzt er ganz auf die Musik. Er kann davon leben, bescheiden zwar. Aber: «Als Opfer sehe ich dies überhaupt nicht an. Es ist eine Entscheidung, deren Vorund Nachteile mir natürlich bewusst sind.» Er ist viel unterwegs, früher auf Hochzeiten und Geburtstagsfesten, in den vergangenen Jahren spielte er mehrere hundert Konzerte unter anderem am Montreux Jazz Festival. Als Surprise 450/19


FOTO: LUKAS MAEDER

«Es ist eine Herausforderung, auf Unschönes ruhig und bedacht zu reagieren»: Dino Brandão.

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den anregt, seine Haltungen und seine Taten zu reflektieren, dann ist das natürlich schön. Ich möchte aber nicht missionieren», sagt Brandão. Man muss bei den Songs genau hinhören, um die kritischen Zwischentöne herauszufiltern. Wieso er nicht mal laut rausschreit? Brandão lacht: «Das ist einfach nicht so meine Art. Und ich glaube auch, dass es eine viel grössere Herausforderung ist, auf Unschönes ruhig und bedacht zu reagieren.» Und, schiebt er nach, er sehe ja auch viel Schönes, das in seinen Songs Platz findet: «Das Schönste finde ich, Menschen zuzusehen, wie sie älter werden, denn Altern ist ein Privileg. Ich schätze es manchmal einfach, stehen zu bleiben und zu schauen, was um einen herum passiert. Rollbrett fahren, zu Techno tanzen, Holz verbrennen im jurassischen Stück Wald meiner Freunde und Mitmusiker oder zwischendurch eins über den Durst zu trinken, erfreut mich ebenfalls meistens, mindestens temporär.»

FOTO: ZVG

Background-Sänger und Gitarrist spielt Brandão ab diesem Sommer in der Band von Sophie Hunger, kehrt jedoch immer wieder auch zu seinen Wurzeln als Strassenmusiker zurück. «Das habe ich damals einfach mal angefangen, um Geld für das erste Album zu sammeln», erzählt er. In Baden hat er dank seiner Lehre das ganze Bahnhofs­ personal gekannt, wurde als Musiker von den meisten geduldet, auch wenn er immer wieder vom Security­ Personal weggejagt wurde. «Ich habe auch die eine oder andere Busse erhalten.» Was als Methode begann, um an etwas Geld zu kommen, endete mit einer Art politischer Performance und einem viel diskutierten Politikum in der Kleinstadt. «Es gibt ja an den Bahnhöfen immer Jugendliche, die Musik ab Lautsprecher spielen. Dafür gibt es keine Busse. Also habe ich bei meinem letzten Auftritt meine eigene Musik via Lautsprecher abgespielt und ein Schild dazugestellt, auf welchem ich erklärte, dass ich hier leider nicht mehr live spielen dürfe.» Das habe zu einer Debatte im Rat geführt, worauf man einen speziellen Platz für Strassenkünstler geschaffen habe. Auch heute noch spielt Brandão, der mittlerweile in Zürich lebt, gerne hin und wieder auf der Strasse: «Mir gefällt das Unmittelbare daran, diese feine Unterbrechung des Alltags der Passanten. Und ihre Reaktionen, die von bösen Beschimpfungen bis zu herzlichen Komplimenten alles sein können.» Die Lieder sind ruhig, wirken leicht und gar verträumt. «Ich möchte einen Spiegel kreieren, und wenn das jeman-

Frank Powers auf Tour: Sa, 25. Mai, Bus on Tour (ZG); Sa, 9. Juni, Palp Festival Muraz (VS); Do, 13. Juni, Mühlehalde (ZH); Sa, 20. Juli, Sommerbar Wohlen; weitere Daten online. frankpowersmusic.com

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Literatur ist nicht gefährlich? Jßrg Halters blutbeschmiertes Jackett nach seinem Auftritt an den Solothurner Literaturtagen.

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Halbe Autorin Solothurner Literaturtage Nora Zukker gehört zu den bekanntesten

Schweizer Autorinnen. Buch hat sie noch keines geschrieben. Aber die Solothurner Literaturtage kennt sie von innen. Ein bisschen. TEXT  NORA ZUKKER

Peter Bichsel wird bei seinem Rotwein unter dem Sonnenschirm vor dem Kreuz am Landhausquai sitzen. Die Meile, auf der man hoch- und runtergeht während drei Tagen, in denen so viel Leben in Solothurn ist wie sonst nur, wenn die Solothurner Filmtage stattfinden. Peter Bichsel wird auf seinem Stuhl sitzen, vor ihm der Wein, die Menschen werden ihn grüssen, kurz reden und sich verabschieden. Er hat keine Eile. Er lässt sich nicht mehr vom Betrieb hetzen, er muss nicht mehr gefallen. Die einen kommen wegen des Programms: «Wir laden Sie ein zu einer hart verhandelten aber – es kann nicht anders sein – subjektiven Werkschau in deutscher, französischer, italienischer und rätoromanischer Sprache», schreibt Pablo Haller im Editorial des Programms. Julia von Lucadou werde aus ihrem dystopischen Werk «Die Hochhausspringerin» lesen, wo die Menschen von Algorithmen kontrolliert werden, und Martin R. Dean aus «Warum wir zusammen sind», über die Liebe, ob wir sie überhaupt noch brauchen. Und dann werde es dieses Jahr interkulturell: Zunehmend fliesse die rasante Vernetzung der Welt und der Menschen in die Literatur ein. Etwa in Angelika Overaths Roman «Ein Winter in Istanbul» oder in Shelley Kästners «Jewish Roulette», in dem die Autorin weltweit mittels Interviews der Frage nachgeht, wie man jüdisch sein kann – denn die eine jüdische Identität gebe es nicht. Aber auch Andreas Niedermanns Kaleidoskop «Blumberg», wo eine bisexuelle Ex-Journalistin im multikulturellen Wien ermittelt. Andere kommen für das interessante Rahmenprogramm (u.a. Instantdichten, Fussballlesungen oder Kartoffeldruck), und wieder andere stellen sich einfach an die Bar und versuchen dabei das eine oder andere für ihre Karriere auszurichten.

Ich war bis heute einmal da. 2016 als Autorin, als ich bei den «Shot Stories» im ersten Stock der Kreuz-Bar mitgemacht habe. Das Konzept ist simpel: Die Besucherinnen und Besucher bestellen einen Shot und bekommen dafür von Autorinnen und Autoren eine Kurzgeschichte vorgelesen. Die Idee war schon, dass die Schreibenden mittrinken. Danach bekam ich Komplimente. Für meine Augen und meine Haare. Nicht für meine Texte. Die Herren Michael Wiederstein und Philipp Theisohn haben mich dann im Auto nach Hause gefahren zu einer unterirdischen 80er-Musik-Compilation. Ich war froh, konnte man sich nicht unterhalten, ich hätte nichts sagen können zu diesem Abend in Solothurn. Als ich dann in meiner Wohnblocksiedlung in Urdorf sass, dachte ich: Irgendwie habe ich mir das anders vorgestellt. Nicht Urdorf.

«Herr Muschg, welche Pfeife haben Sie geraucht, als Sie �Der weisse Freitag� geschrieben haben?»

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Wer räumt die Preise ab? Ich bin dabei gewesen. Bei der Literatur­ elite, und habe vorgelesen. Und sofort dachte ich auch, das war ja nicht so richtig. Das war ein Format der jungen Wilden, die Menschen mit Shots zur Literatur locken. Als Autorin, die ihr Debüt immer wieder verschiebt, weil so viel Leben dazwischenkommt, traute ich mich nachher nie mehr an die Solothurner Literaturtage. Jürg Halter war 2016 auch in Solothurn und postete auf seiner Facebook-Seite sein Jackett mit Blutflecken, das an einem Kleiderbügel an einem grünen Fensterladen hängt. Dazu schrieb er: «Literatur ist nicht gefährlich? Mein Jackett nach meinem Auftritt an den Solothurner Literaturtagen ... 1 Sturz vom Tisch, 1 Kopfplatzwunde, 1 Fahrt mit der Ambulanz und 7 Stiche später rief es leise aus mir: ‹Kinder, bitte, erzählt mir nichts von Kunst und Dringlichkeit.›» Ich war das Cover Girl vom Literarischen Monat, hatte während zwei Jahren meine eigene Literatursendung bei 23


Solothurner Literaturtage, 41. Solothurner Literaturtage, Fr, 31. Mai bis So, 2. Juni, verschiedene Veranstaltungsorte, Solothurn. literatur.ch 24

Humanitär lesen Die Schweiz schreibt Seit drei Jahren organisiert

die Autorin Dana Grigorcea in Zürich Benefiz-Lesungen für Menschen auf der Flucht. Wer sich auf ein gutes Buch einlässt, begibt sich auf eine Reise, während der man gefahrlos eine andere Welt kennenlernt und danach in sein gewohntes Leben zurückkehrt. Diese Vorzüge sind Menschen, die ihre Heimat wegen Krieg oder Armut verlassen mussten, nicht vergönnt. Ihre Reise ins Ungewisse ist voller Risiken und endet oft an der griechischen Küste. «Als uns etwa vor drei Jahren die schlimmen Bilder von Flüchtlingen erreichten, die dort aus dem Wasser gezogen wurden, habe ich mich gefragt, ob meine schriftstellerische Tätigkeit noch relevant ist in diesen Zeiten», sagt die mehrfach ausgezeichnete schweizerisch-rumänische Autorin Dana Grigorcea, die unter anderem 2015 im Rahmen des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs den «3sat Preis» gewann. Vor drei Jahren startete sie in Zürich eine Benefiz-Lesereihe zugunsten der Hilfsorganisation Schwizerchrüz. Jeden Monat werden mehrere Autorinnen und Autoren eingeladen, unentgeltlich aus ihren neusten Büchern zu lesen. So waren dieses Jahr bereits Franz Hohler, Ruth Schweikert oder Lukas Bärfuss zu Gast. Im Mai wird unter anderem Simone Meier lesen, im Juni Peter Stamm. Die meisten ihrer Gäste kennt Grigorcea persönlich. «Die deutschsprachige Literaturszene ist übersichtlich und man erfährt, wer an neuen Büchern schreibt.» Immer wieder höre sie, dass sich die Schweizer Schriftsteller kaum politisch äussern. «Aber allein die Tatsache, dass so viele bei diesen Lesungen für Menschen auf der Flucht mitmachen, ist doch ein klares politisches Statement.» Für die 1979 in Bukarest geborene Autorin und Philologin, die mit ihrer Familie in Zürich lebt, ist Literatur per se immer politisch. «Die Suche nach dem treffenden Ausdruck ist ein politischer Akt. Zur Politik gehört die Befähigung des Einzelnen, seine Stimme zu erheben. Kunst ist politisch, weil es die Reflexion des Einzelnen – Künstlerin oder Kunstgeniesser – hervorbringt.» In ihrem neuen Buch «Über Empathie» geht Grigorcea der Frage nach, ob uns Kunst zu einem besseren Menschen macht. Ihre Antwort darin lautet ganz klar: «Ja!»

MONIK A BET TSCHEN

Benefiz-Lesereihe zugunsten der Hilfsorganisation Schwizerchrüz, Café Justus, Asylstrasse 70, Zürich. Nächste Lesungen: Mo, 27. Mai, 19 Uhr; Mo, 24. Juni, 19 Uhr. Infos auf Facebook unter «Benefiz-Lesungen in Zürich». Surprise 450/19

ILLUSTRATION : TILL LAUER

Radio SRF 3 und schrieb Porträts über Stuckrad-Barre, Stefanie Sargnagel und Jürg Halter für das Feuilleton der NZZ. Aber bis heute kein Buch. Wie alt darf man eigentlich werden, dass man noch als Nachwuchs gelabelt wird? Das Gefühl der halben Autorin bleibt. Ich moderierte Benedict Wells, Melinda Nadj Abonji oder Adolf Muschg. Mit ihm habe ich über das Rauchen geredet. Ich stellte eine einzige Frage: «Herr Muschg, welche Pfeife haben Sie geraucht, als sie ‹Der weisse Freitag› geschrieben haben?» Ich rechnete mit vielem. Dann lächelt er und sagt: «Danke, dass Sie mich zum Wesentlichen befragen.» Danach hat er mir sein Buch signiert und eine Katze gemalt. Goethe habe Angst vor Hunden gehabt, das würden nur wenige wissen, deshalb male er jetzt eine Katze, neben Goethe auf dem Pferd. Letztes Jahr beim 40. Jubiläum der Solothurner Literaturtage strömten 18 000 Besucher zum Festival und besuchten 190 Veranstaltungen. Publikumsmagnete waren Pedro Lenz, Peter Stamm, Arno Camenisch und Franz Hohler. Fällt Ihnen etwas auf? Genau. Das Programm des Festivals kündigt heute u.a. ein Podium an, wo geklärt wird: Wer veröffentlicht Literatur? Wer liest und wer räumt schlussendlich die Preise ab? Ich habe mit meiner Kollegin Tabea Steiner gesprochen. Sie ist Teil des Autorinnenkollektivs Rauf. Zusammen mit Katja Brunner, Anaïs Meier, Gianna Molinari, Sarah Elena Müller, Michelle Steinbeck und Julia Weber wird sie in Solothurn die weiblichen Schreibenden, quer durch die Epochen, auf den Sockel stellen und mit dem Klischee der «irgendwie anderen Frauenliteratur» aufräumen. Sie sagte mir, dass der Berufsverband Autorinnen und Autoren der Schweiz AdS Erhebungen gemacht habe, die zeigten, dass Männer viel mehr Preise und Geld bekommen. Wenn Literaturpreise aber anonym verliehen würden, die Jury also nicht wisse, vom wem der Text sei, würden mehr Frauen ausgezeichnet. Tabea Steiner erzählt weiter, dass in den letzten Jahren sehr viele Debütantinnen für den Schweizer Buchpreis nominiert wurden. Wobei die Struktur des Preises aber verunmögliche, dass eine Frau für ihren Erstling den Preis bekomme, wenn ein Mann wiederholt nominiert sei. Das Autorinnenkollektiv will auf solche Alibi-Quoten aufmerksam machen. Ich bin heute mittendrin im Kuchen und der Kritik der Schweizer Literaturszene. Aber gefühlt als halbe Autorin. Vor zwei Monaten kam die Mail mit dem Betreff: «Programmkommission Solothurner Literaturtage» und ich las, bis ich zum Schluss errötete und dachte, jetzt geht’s aber richtig los. Man würde sich sehr freuen, wenn ich für die 42. Ausgabe im Programm mitmischeln würde. Ich weiss bis heute nicht, warum man sich für mich entschieden hat und was mich dafür qualifiziert. Wieder denke ich, mein Debüt wird auch 2020 nicht erscheinen, weil ich ab diesem Herbst sehr viel lesen werde.


Wie Brasilien gegen die Militärdiktatur anfilmte Experimentalfilm Ein Video aus der Kunstecke kann schon mal einfach eine formale Spielerei sein. An der Videoex lässt sich beobachten, wie hochpolitisch gerade experimentelle Formen sein können.

BILD: GLAUBER ROCHA

TEXT  SANDRA SCHWEIZER CSILLANY

«A idade de terra» von Glauber Rocha zerlegt Erzählgewohnheiten.

An der Videoex finden Experimental- und Animationsfilme, essayistische Arbeiten und Musikvideos eine Plattform. Das diesjährige Gastprogramm heisst «Brazil». «In Brasilien gab es eine vom Westen völlig unabhängige, fruchtbare kulturelle Szene, die sich zwischen dem Aufbruch der Sechzigerjahre und lateinamerikanischen Eigenheiten entwickelte», sagt Patrick Huber von der Festivalleitung. «Sie schuf wichtige experimentelle Werke, bevor die Militärdiktatur ihr ein Ende setzte. Wir wollen zeigen, was vor der Diktatur dort möglich war.» Die heutige politische Situation mit Javier Bolsonaro an der Spitze des brasilianischen Staates weise gewisse Parallelen zur damaligen Zeit auf. Denn: «Es häufen sich derzeit Anzeichen dafür, dass das Umfeld für experimentelles Kulturschaffen wieder schwieriger geworden ist.» Mit Glauber Rocha brachte das Land zwischen Samba und Fussball zudem einen der wichtigsten Vertreter des politischen und sozial engagierten «Cinema Novo» der Sechzigerjahre hervor. Neben Surprise 450/19

Rochas Werken sind die Filme von Hélio Oiticica bemerkenswert. Er war Mitbegründer der sogenannten Tropicália, einer kulturell-politischen Bewegung, die in den frühen Sechzigerjahren als Reaktion auf den Militärputsch entstand. Sie schlug sich vor allem in der Musik nieder, erfasste aber auch andere Kunstformen. Die Tropicália rieb sich kritisch an Konsummentalität und Massenmedien und stellte sich politisch gegen die zunehmende Repression. Rückstände des Kolonialismus Im Fokus-Programm «Sebastian Díaz Morales» zeigt die Videoex Zeitgenössisches aus Südamerika. Der argentinische Regisseur war 2009 Gewinner des Ersten Preises im internationalen Wettbewerb der Videoex und Teilnehmer an der letzten Kunst-Biennale in Venedig 2017. Morales, den vor allem die Unmittelbarkeit des Mediums Film interessiert, gehört der jüngsten Generation lateinamerikanischer Videokünstler an. Ein Kontrastprogramm bildet der CH-Focus. Uriel Orlow – For-

scher, Archäologe und Filmkünstler in einem – vertraut auf Recherche und schaut mit seinen Arbeiten auf den Bereich zwischen politischen Tatsachen und feinstofflicher Wahrnehmung. Es geht um Rückstände des Kolonialismus, räumliche Manifestationen von Erinnerung, um blinde Flecken der Repräsentation und Formen der Verfolgung. Zwei weitere Schwerpunkte liegen dieses Jahr beim thailändischen Regisseur Apichatpong Weerasethakul, der mit seinem «Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben» 2010 die Goldene Palme von Cannes gewann, und bei der unlängst verstorbenen Barbara Hammer. Die amerikanische Filmemacherin und Medienkünstlerin war eine Pionierin des Queer Cinema. Videoex – das internationale Experimentalfilm- & Video-Festival, Sa, 25. Mai bis So, 2. Juni, Festivalzentrum: Kunstraum Walcheturm/Festivalkino: Cinema Z3, Kanonengasse 20. videoex.ch 25


BILD(1): JÚLIO SILVA CASTRO BILD(2): VEREIN YOLDA UNTERWEGS, JOSEPHINE WEBER BILD(3): MYLÈNE & JEAN-LUC MYLAYNE, GLADSTONE GALLERY, SPRÜTH MAGERS

Veranstaltungen Basel «Wildwuchs Festival», Theaterfestival, Do, 23. Mai bis So, 2. Juni, Kaserne Basel, Roxy Birsfelden und weitere Spielorte in Basel. wildwuchs.ch

Aarau «Jean-Luc Mylayne – Herbst im Paradies», Ausstellung, Sa, 18. Mai bis So, 11. August, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, So 10 bis 20 Uhr, Aargauer Kunsthaus, Aargauerplatz. aargauerkunsthaus.ch Jean-Luc Mylayne ist Fotograf – und ein geduldiger Vogelbeobachter. Seine Werke haben Titel wie «N°96, Août 1990 à Décembre 1991». Darauf zu sehen ist jeweils ein Vogel, manchmal ganz beiläufig in einer Szene. Es sind sinnliche Bilder, sorglos irgendwie – so, wie man sich das Paradies auch gerne vorstellen würde. Die terminlichen Angaben in den Werktiteln halten fest, wie lange Mylayne den jeweiligen Vogel beobachtete, bevor er es wagte, auf den Auslöser (seiner analogen Kamera) zu drücken. Die Fotos sind somit Protokolle inniger Beziehungen. DIF

Wildwuchs ist ein vielfältiges Festival, da hier Hindernisse – gesellschaftliche, politische, persönliche – einfach überwunden werden. Oder sie werden zur Quelle neuer Möglichkeiten und Wege, physisch wie gedanklich. So hat sich die spanische Performance-Künstlerin La Ribot zusammen mit der Dançado Com a Diferença, einer inklusiven Tanzkompagnie aus Portugal, auf eine Reise entlang der Utopien und Träume der Tänzerinnen und Tänzer gemacht. Oder dann ist da «Mondkind – oder die geheime Geschichte von Neil Armstrong»: Ein Mondwesen versucht als Neuling auf der Erde «menschlich» zu werden. Eine Ermutigung für Kinder zum Anderssein. DIF

Bern «Wozu wählen?», Ausstellung, bis Sa, 26. Oktober, Mo 14 bis 18 Uhr, Di bis Fr 10 bis 18 Uhr, Sa 10 bis 16 Uhr, Polit-Forum Bern, Marktgasse 67. polit-forum-bern.ch 2019 ist ein Wahljahr. Nur die Hälfte der Wahlberechtigten in der Schweiz beteiligt sich an den Wahlen, bei den 18- bis 25-Jährigen ist es gar nur ein Drittel. Die Ausstellung des Polit-Forums hat denn auch ein Ziel: Sie will Leute zum Wählen animieren und jene informieren, die nicht wählen können. Das macht sie mit grundlegenden Fragen: Weshalb soll ich überhaupt wählen? Was kosten Wahlen eigentlich? Wie hat sich das Wahlsystem im Laufe der Zeit verändert, und was möchte ich selber verbessern? Und, nicht unwesentlich: Wo stehe ich politisch, und wen könnte ich wählen? Die Ausstellung wird von einer Veranstaltungsreihe begleitet, Themen sind etwa «Personalisierter Stimmenfang – Mobilisierung und Wahlkampf in digitalen Zeiten» (13. Juni, 18.30 Uhr) oder «E-Voting: Chance, Gefahr oder beides?» (18. Juni, 18.30 Uhr). DIF

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Basel «Çok Basel: Transnational Memoryscapes Switzerland – Turkey», Ausstellung, bis So, 30. Juni, Ausstellungsraum auf der Lyss, Spalenvorstadt 2. cok-basel.ch

Gemeinsamkeiten entdecken, indem man Erinnerungen austauscht: an Orte, eine Zeit, eine Erfahrung. Die Ausstellung «Çok Basel» zeigt Audiound Videodokumente aus Basel parallel zu solchen der Anadolu Culture Foundation – künstlerische und dokumentarische Arbeiten, die jeweils verwandte Themen in Basel und der Türkei behandeln. Darunter sind Audioporträts von Basel und Diyarbakır. Oder ein Video mit Erinnerungen an den Mehrsprachenunterricht im St.-Johann-Schulhaus in Basel, das einem Film über die Migrationserfahrung von Kindern aus Bulgarien in die Türkei gegenübergestellt wird. Mit der Ausstellung werden der Blick und die Erfahrungen der türkeistämmigen Bevölkerung von Basel gewürdigt, die längst Kultur, Politik und Leben in Basel mitgestaltet. Und damit Mehrwert für alle schafft: Çok Basel eben - viel Basel. WIN

Zürich «Wiediker Krimi», TheaterTour, Sa, 18. Mai, 14 Uhr, Sa, 8. Juni, 14 Uhr, Do, 13. Juni, 18 Uhr, Sa, 15. Juni, 14 Uhr, Do, 20. Juni, 18 Uhr. Treffpunkt Tramstation Schmiede Wiedikon, Birmensdorferstrasse 150. Tickets online käuflich, rollstuhlgängig, keine Aufführung bei Regen. schraege-voegel.ch Die «Schrägen Vögel» sind eine Gruppe von Menschen vom Rande der Gesellschaft, die mit Leidenschaft Theater spielen. Die Stücke entwickeln sie selber, und sie haben darum immer etwas mit ihnen selbst zu tun. Der «Wiediker Krimi» ist ein interaktives Stück, ein Theaterspaziergang von 90 Minuten durch die Strassen des Zürcher Quartiers Wiedikon und zu ortsansässigen Firmen. Die Zuschauerinnen und Zuschauer helfen bei der Aufklärung eines Mordfalles. Die Geschichte basiert auf dem Wiediker Roman «Schrottreif» von Isabel Morf. DIF

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ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT

Agglo-Blues

Folge 33

Der Anpfiff Was bisher geschah: Die Kriminalkommissarin Vera Brandstetter lässt den CEO der Firma Comartec, bei der das Mordopfer gearbeitet hatte, am Flughafen festhalten und stellt ihm ein paar dringliche Fragen. Am nächsten Morgen um halb acht wurde Brandstetter von ihrem Handy geweckt. Der Polizeikommandant wollte sie sehen. Äysäp, betonte der Kollege am Telefon genüsslich. Sie sprang aus dem Bett, duschte und suchte fiebrig ein paar Kleider zusammen. Obwohl es in dem Haus mehrere Maschinen und keinen Waschplan gab, war sie schon lange nicht mehr dazu gekommen, ihren Wäscheberg in den Keller zu tragen. Sie fand etwas halbwegs Dezentes und schaffte es, um neun auf der Hauptwache zu sein. Der Polizeikommandant liess sie zwanzig Minuten warten. «Nimm Platz», befahl er, als sie hereinkam. Er selber blieb auf die Schreibtischplatte gestützt stehen. «Kannst du mir sagen, was in dich gefahren ist?» Er hob eine Akte auf. «Heute Morgen haben wir per Kurier eine vierseitige Beschwerde von der renommierten Anwaltskanzlei Wegener bekommen. Freiheitsberaubung, Amtsanmassung, Nötigung, alles da.» Er schmiss sie auf die Schreibtischplatte, sodass es knallte. «Spinnst du komplett?», brüllte er. «Wir sind um ein gutes Image bemüht, und du spielst hier Dirty Harry oder was?» «Wenn schon, dann Jessica Jones», dachte Brandstetter und setzte laut an: «Herr Bloom hat …» «Ruhe, jetzt rede ich.» Der Kommandant ging die Beschwerde Punkt für Punkt durch. Brandstetter versuchte noch einmal, sich zu verteidigen, aber er liess sie nicht zu Wort kommen. Ihre Sicht der Dinge war nicht gefragt. Wut stieg in ihr hoch. Seine Aufgabe wäre gewesen, sich vor seine Mitarbeiterin zu stellen. Es war jedoch besser, zu schweigen und die Sache rasch hinter sich zu bringen. Sie hatte einen Fehler gemacht und konnte nur hoffen, dass die Konsequenzen nicht allzu schlimm waren, ihre geringen Karrierechancen nicht vollständig zerstört wurden. Was hätte er wohl gesagt, wenn er von der Episode mit Jackie erfahren hätte? Der Kommandant war von der Regierungsrätin eingesetzt worden. Ein Jurist, der von der Polizeiarbeit an der Front keine Ahnung hatte. «Dein Verhalten wird Konsequenzen haben. Ich werde dir den Surprise 450/19

Fall wegnehmen!», donnerte er. «Sobald Kapazitäten frei werden», fügte er etwas leiser hinzu. Brandstetter musste trotz allem ein Lächeln unterdrücken. Er hatte also keinen Dummen gefunden, der den aussichtslosen Provinzfall übernehmen wollte. Manchmal hatte der Personalmangel auch Vorteile. Oder es war ein Akt stiller Solidarität? Der Kommandant war nicht beliebt, die Kollegen hätten lieber einen altgedienten Polizisten auf seinem Posten gesehen. «Es tut mir leid», sagte Brandstetter, erleichtert, dass keine Verwarnung ausgesprochen wurde. «Wahrscheinlich habe ich die Situation falsch eingeschätzt.» Ihre demütige Haltung besänftigte den Kommandanten. «Schau einfach, dass so etwas nie wieder vorkommt.» «Versprochen, Chef.» Der Kommandant brummte etwas und sie verliess sein Büro. Da sie schon im Haus war, besuchte sie die Abteilung für Cyber-Kriminalität und fand Andi an seinem Schreibtisch. «Hast du die Zugangsdaten für den Firmencomputer von Schwander bekommen?», fragte sie. Sie hoffte, darauf irgendwelche Hinweise auf das ominöse Bewertungssystem zu finden. «Nein, leider nicht, der Rechtsdienst der Comartec hat unseren Antrag abgelehnt.» «Was soll das heissen?» «Sie haben eine Stellungnahme geschickt, dass sie dem Zugang zu Firmendaten in diesem Fall nicht zustimmen können, weil der tragische Tod ihres Mitarbeiters nichts mit seiner Arbeit zu tun gehabt habe.» «Verdammt nochmal, das herauszufinden ist unsere Aufgabe, und dazu brauchen wir den Zugang zu seinem Computer. Was hast du unternommen?» «Nichts.» Andi lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück. «Ich habe auch noch anderes zu tun.» Fast hätte Brandstetter ihm gesagt, dass er besser seinen Job machen sollte, anstatt sich an Bildern von Olena aufzugeilen, für die er ohnehin fünfzehn Jahre zu alt und etwa eineinhalb Lichtjahre zu unfit war, aber sie konnte sich gerade noch zurückhalten. «Alles muss man selber machen.» Sie stampfte aus dem Büro. Im Auto liess sie eine Playlist laufen, die ihr Thorsten zusammengestellt hatte. Finnischer Death-Metal. Genau das Richtige für ihre Stimmung. STEPHAN PÖRTNER  schreibt und lebt in Zürich. Alle bisher

erschienenen Folgen des Fortsetzungskrimis gibt es zum Nachlesen und -hören unter surprise.ngo/krimi 27


IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

VXL, gestaltung und werbung, Binningen

02

Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

03

Brother (Schweiz) AG, Dättwil

04

Kaiser Software GmbH, Bern

05

Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

06

Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

07

Physiopraxis M. Spring/S. Zeugin, Basel

08

Maya-Recordings, Oberstammheim

09

Cantienica AG, Zürich

10

Madlen Blösch, Geld & so, Basel

11

Schluep & Degen, Rechtsanwälte, Bern

12

Ozean Brokerage & Shipping AG, Muttenz

13

Beat Vogel, Fundraising-Datenbanken, Zürich

14

InhouseControl AG, Ettingen

15

Infopower GmbH, Zürich

16

Büro Dudler, Raum- und Verkehrsplanung, Biel

17

Hedi Hauswirth Psychiatrie-Spitex, Oetwil a. S.

18

SISA Studio Informatica SA, Aesch

19

Stellenwerk AG, Zürich

20

grafikZUMGLUECK.CH, Steinmaur

21

Waldburger Bauführungen, Brugg

22

Volonté Ofenbau, Schwarzbubenland

23

CISIS GmbH, Oberwil

24

RLC Architekten AG, Winterthur

25

Sternenhof, Leben und Wohnen im Alter, Basel

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

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Eine von vielen Geschichten Josiane Graner, Juristin, wurde in ihrem Leben von schweren Schicksalsschlägen getroffen. Sie kämpft und steht immer wieder auf. Ein Geschäftsprojekt, das sich zum Flop entwickelte, führte sie 2010 zu Surprise. Ihr Geschäftspartner hatte sich ins Ausland abgesetzt und sie mit dem Schuldenberg allein gelassen. Um ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten, verkauft Josiane Graner in Basel das Strassenmagazin. Zudem ist sie für den Aboversand zuständig. Dank des SurPlus-Programms erhält sie ein ÖVAbonnement und Ferientaggeld. Diese Zusatzunterstützung verschafft der langjährigen Surprise-Verkäuferin etwas mehr Flexibilität im knappen Budget.

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Wir alle sind Surprise Stadtrundgang Bern

Stadtrundgang Basel

«Berührt immer wieder»

«Hinschauen und hoffentlich helfen»

Vielen Dank für die sehr persönlichen Eindrücke, die wir mitbekommen haben. Ich setze mich seit jeher für Lösungen und bessere Anschlussmöglichkeiten für Menschen ein, die es in unserer Gesellschaft nicht so einfach haben. Aber es berührt mich immer wieder, wenn ich die persönlichen Geschichten höre. Und es gibt Energie für den Kampf, weil es viel zu vielen so geht wie Stadtführer Ändu Hebeisen. A . TREDE,  Bern, Nationalrätin

Stadtrundgang Bern

Stadtrundgang Zürich

«Angeregte Diskussionen»

«Brüchiges Eis»

Stadtführer Roger Meier vermittelt all seine Erfahrungen mit grosser Überzeugung und totaler Authentizität. Wir waren vom Rundgang sehr berührt, er hat zu vielen Diskussionen – auch im Freundeskreis – angeregt. So traurig Roger Meiers Erfahrungen im Leben waren, so wichtig ist es, dass er all diese verbreitet. Vielleicht hilft es dem einen oder andern, die Augen zu öffnen und im eigenen Leben einen anderen Weg einzuschlagen.

Sehr gute und eindrückliche Tour mit Stadt­führer Hans Rhyner. Trotz oder gerade wegen der Kälte wurde den SchülerInnen bewusst, was es heisst, in Zürich «unedure» zu müssen … Unser Guide zeigte ein­ drücklich auf, wie «das Eis, auf dem wir im Alltag scheinbar sicher wandeln», brüchig werden kann. Und wie respektive wo einem geholfen wird in unserer reichen Stadt.

A . HALTINER,  Münchwilen

C. NOETZLI,  Kantonsschule Zürich Nord

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion
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Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Rahel Nicole Eisenring, Georg Gindely, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Semhar Negash, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Ephraim Bieri, Dina Hungerbühler, Yvonne Kunz, Myrto Papadopoulos, Claudia Peter, Sandra Schweizer Csillany, Nora Zukker Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage  27 900 Abonnemente  CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:
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Ein herzliches Dankeschön an die Guides Lilian Senn und Heiko Schmitz. Hut ab vor den beiden, welche so offen über ihr Leben erzählen konnten. Das sind zwei ganz starke und herzensgute Menschen. Ich kannte durch die Freiwilligenarbeit bereits viele soziale Institutionen und Hilfeangebote in Luzern. Jedoch war die Führung in Basel nochmals sehr lehrreich. Wir wurden an Orte geführt, die wir vorher nicht kannten, und haben ganz viel erfahren. Ich finde es enorm wichtig, dass solche sozialen Stadtrundgänge angeboten werden, damit die Menschen hin- und nicht wegschauen und hoffentlich helfen. Denn schliesslich kann es jeden treffen. Ich freue mich für die beiden, dass sie sich gefunden haben und nun gemeinsam auch wieder eine Wohnung haben. Das mag ich ihnen von Herzen gönnen. A . SCHMIED,  Inwil

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FOTO: BODARA

Surprise-Porträt

«Ich wünsche mir mehr fröhliche Menschen» «Ich bin ursprünglich aus Schlieren. Vielleicht mag ich deshalb die ‹Schlieremer Chind› so sehr. Mir fällt in allen möglichen Situationen ein passender Liedertext des bekannten Kinderchors ein. In Schlieren lebte ich jedoch nicht lange. Als Kind bin ich viel umgezogen, und mit 16 Jahren kam ich ins Kinderheim nach Wädenswil. Dort absolvierte ich eine Anlehre als Gärtner. Eigentlich wollte ich eine kaufmännische Ausbildung beginnen, wie die meisten in meiner Familie. Mein Vater ist Steuerberater, meine Mutter arbeitete lange in einer Bank, meine Zwillingsschwester auf dem Notariat. Dazumal gab es aber keine Möglichkeit, eine Anlehre als Kaufmann zu absolvieren, welche von der Invalidenversicherung bezahlt worden wäre. Heute gäbe es zwar eine Stiftung, die kaufmännische Lehrgänge für Personen mit geistiger Beeinträchtigung anbietet, doch eine Zweitausbildung übernimmt die IV nicht. So arbeitete ich ungefähr 15 Jahre als Gärtner. Doch dann vertrug ich die harte körperliche Arbeit immer weniger und bekam Gelenkprobleme. So kam ich auf die Idee, Surprise zu verkaufen – das ist jetzt über zehn Jahre her. Heute stehe ich mit meinen Heften meistens am Bucheggplatz. Ich nenne ihn auch ‹Spinnenplatz›. Natürlich nicht, weil die Leute dort spinnen, die meisten Menschen sind nett. Auch die, die kein Heft kaufen wollen. Was mich manchmal nervt, sind diejenigen ohne Bargeld. Wieso muss heute alles mit der EC- oder Kreditkarte bezahlt werden? Da verliert man doch den Bezug zum Geld! Zurück zum ‹Spinnenplatz›: Ich nenne den Bucheggplatz so, weil die Fussgängerpassage, welche über den ganzen Platz gebaut ist, aussieht wie eine Spinne. Die wenigsten Leute nehmen sich Zeit, sie genauer anzuschauen, obwohl sie sehr spannend konstruiert ist. Ich bin froh, dass ich mir die Zeit dafür nehmen kann. Das ist ein Grund, weshalb ich gerne als Surprise-Verkäufer arbeite. Ich mag aber auch den täglichen Kontakt zu anderen Menschen. Zudem ist das Surprise-Team zu einer richtigen Familie geworden. Man kann zusammen lachen, streiten und Kritik anbringen. Mein Vorschlag, die Surprise-Verkaufenden mit einem EC-Gerät auszustatten, fand jedoch bisher kein Gehör. Der schlimmste Tag in meinem Leben war, als meine Zwillingsschwester beinahe ums Leben kam. Sie hatte einen Snowboard-Unfall, bei dem sie in eine Gletscherspalte fiel und fast erfror. Da waren wir 19 Jahre alt. Ihren Verlust hätte ich nicht verkraftet. Schon zuvor wurden wir zwei beinahe getrennt, als meine Eltern sich scheiden liessen. Ich erfuhr später, dass meinem Vater das Sorgerecht für uns Kinder zugesprochen wurde, weil meine Mutter nur meine Schwester behalten 30

Daniel Inglin, 43, verkauft Surprise am Bucheggplatz in Zürich. Gerne hätte er ein EC-Gerät, weil viele Menschen kein Bargeld mehr dabeihaben.

wollte, mich aber nicht. Die Behörden teilen Zwillinge nur sehr selten zwischen den Eltern auf. Mein Vater war bereit, uns beide aufzunehmen. Zu meinem Vater habe ich bis heute einen guten Kontakt. Manchmal helfe ich ihm, den Garten seines Ferienhauses zu pflegen. Ich bin auch oft auf meiner eigenen kleinen Terrasse. Dort pflanze ich Tomaten, Gurken und Peperoni an. Ich stehe nicht gerne im Mittelpunkt. Wenn ich den Leuten dennoch aus meinem Leben erzähle, sage ich oft: ‹Es ist, wie es ist.› Das meine ich ehrlich. In meinem Leben ist vieles nicht so gelaufen, wie ich es mir vorgestellt habe. Dies beginnt bei der Kindheit, geht über die Berufswahl, bis hin zu meiner jetzigen finanziellen Lage. Dennoch bin ich ein sehr fröhlicher Mensch. Wenn ich auf der Strasse Surprise verkaufe, frage ich mich manchmal, was die Leute unglücklich macht. Einer meiner grössten Wünsche ist, dass es mehr fröhliche Menschen gibt. Ich gebe mir auf jeden Fall grosse Mühe, beim Surprise-Verkauf einen Teil dazu beizutragen. Ein Lächeln da, ein Witz hier und zur Abwechslung mal ein Ständchen von den ‹Schlieremer Chind›. Zum Glück wirkt dies meistens.»

Aufgezeichnet von DINA HUNGERBÜHLER Surprise 450/19


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Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise


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