Surprise Nr. 449

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Strassenmagazin Nr. 449 3. bis 16. Mai 2019

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass

Eritrea

Warten auf den Wandel Asylsuchenden aus Eritrea bläst in der Schweiz ein harter Wind entgegen. Doch was sind die Perspektiven in ihrer Heimat? ab Seite 8


Kultur

Solidaritätsgeste

STRASSENCHOR

CAFÉ SURPRISE

Lebensfreude

Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

Unterstützung

Job

STRASSENMAGAZIN Information

Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten

STRASSENFUSSBALL

Expertenrolle

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE Perspektivenwechsel

SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

GESCHICHTEN VOM FALLEN UND AUFSTEHEN Kaufen Sie jetzt das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» und unterstützen Sie einen Verkäufer oder eine Verkäuferin mit 10 CHF. «Standort Strasse» erzählt mit den Lebensgeschichten von zwanzig Menschen, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Porträts aus früheren Ausgaben des Surprise Strassenmagazins ergänzen die Texte. Der Blick auf Vergangenheit und Gegenwart zeigt selbstbewusste Menschen, die es geschafft haben, trotz sozialer und wirtschaftlicher Not neue Wege zu gehen und ein Leben abseits staatlicher Hilfe aufzubauen. Surprise hat sie mit einer Bandbreite an Angeboten dabei unterstützt: Der Verkauf des Strassenmagazins gehört ebenso dazu wie der Strassenfussball, der Strassenchor, die Sozialen Stadtrundgänge und eine umfassende Beratung und Begleitung. 156 Seiten, 30 farbige Abbildungen, gebunden, CHF 40 inkl. Versand, ISBN 978-3-85616-679-3 Bestellen bei Verkaufenden oder unter: surprise.ngo/shop Weitere Informationen T +41 61 564 90 90 | info@surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: Surprise NGO

Erlebnis


TITELBILD: MEINRAD SCHADE

Editorial

Eritrea – und ein Preis «Was ist, wenn sie kommen und sagen: Jetzt musst du zurück nach Eritrea?», beschreibt der 24-jährige Sami die Frage, die sein Dasein in der Schweiz stets bestimmt hat. Und tatsächlich: Trotz Lehrstelle, Sprachkenntnissen, Freundschaften darf Sami nicht bleiben. Er und sein Freund Tes mussten ihre Ausbildungen abbrechen und in die Notunterkunft ziehen. Zukunft: Ungewiss (Seite 8). Die Rechtspraxis gegenüber den rund 11  700 Eritreerinnen und Eritreern im Schweizer Asylprozess hat sich verändert: Gesuche werden vermehrt abgelehnt, vorläufige Aufnahmen aufgehoben. Das spüren auch wir bei Surprise: Mehrere Verkaufende haben sich im letzten Jahr verabschiedet, sie ziehen weiter auf der Suche nach Sicherheit und einem Auskommen. Grundlage dieser Politik sind Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts, dessen Wort den Behörden quasi Gesetz ist, wie ein SEM-Sprecher gegenüber Surprise sagt. Das Interview mit Gerichtspräsidentin Marianne Ryter lesen Sie ab Seite 13.

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

8 Asyl

Tes und Sami müssen gehen

Vor allem der berüchtigte Nationaldienst treibt die Menschen aus Eritrea weg – und er blockiert die Entwicklung der eritreischen Wirtschaft, die sich die Menschen so sehnlich wünschen. Unser Autor hat sich in Eritrea umgehört und festgestellt, dass der Spielraum für den neuen Ansatz der Schweizer Entwicklungspolitik sehr eng ist (Seite 16). In eigener Sache: Das Surprise Strassenmagazin wurde beim European Magazine Award in Wien mit einem Spezialpreis in der Kategorie «Politik und Gesellschaft» ausgezeichnet. Wir freuen uns über diese Anerkennung unserer Arbeit und danken allen, die an der Produktion des Strassenmagazins beteiligt sind. Besonders verbunden sind wir unseren rund 430 Verkaufenden und über 140 000 Leserinnen und Lesern. Wir gratulieren ganz herzlich auch den Redaktionen der mitausgezeichneten Magazine Der Beobachter und The Economist. AMIR ALI

Redaktor

16 Eritrea

Zwanzig Jahre Stillstand

Finde den Hehler!

26 Veranstaltungen 27 Agglo-Blues

Der Chef 22 Kino

Wo sich die Wut hochschaukelt

6 Challenge League

Rassismus mit Humor begegnen?

23 Buch

Pragmatische Pracht

7 All Inclusive

Weniger ist mehr

28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

24 Theater 13 Asyl

«Es gibt nicht falsch oder richtig»

Wir müssen reden 25 Theater

30 Surprise-Porträt

«Ich will mein Bestes geben»

Und dann schreit sie

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Aufgelesen News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 34 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

FOTOS: MARIJO SILVA

Besen hoch! Hier trainiert die ugandische Quidditch-Mannschaft von Trainer John Ssentamu. Er gründete das Team, nachdem er zufällig «Harry Potter und der Stein des Philosophen» in die Hand gedrückt bekommen hatte. Quidditch ist der Lieblingssport von Harry Potter und wurde längst für Nicht-Magier adaptiert. Mehr als 400 Teams spielen weltweit – mit Stöcken als Besenersatz zwischen die Beine geklemmt. Kreisförmige Eisenstangen bilden die Tore, die mit schlaffen Volleybällen geschossen werden. Weil das ugandische Team für die Weltmeisterschaft 2016 in Deutschland keine Visa erhielt, trainiert die Mannschaft nun fieberhaft für die WM 2020. Sie wäre das erste afrikanische Team unter den Teilnehmenden.

BIG ISSUE AUSTRALIA, MELBOURNE

Ausländer raus? Wer füllt eigentlich die Lücken, die die EU-Arbeitsmigranten hinterlassen könnten, sollte der Brexit einmal Realität werden? Schon jetzt sind 100 000 Stellen im britischen Gesundheitssystem unbesetzt, bis 2030 könnten es 250 000 werden, wenn nicht nachhaltig in Ausbildung und Rekrutierung investiert wird, schätzen Experten. Auch im Pflegebereich sieht es schlecht aus: Derzeit sind 104 000 Care-Jobs in Grossbritannien mit EU-Bürgern besetzt. Sollten diese wegbrechen, wird es 4

zu massiver Unterversorgung kommen, da die Zahl der fehlenden Pflegekräfte schon heute 110 000 beträgt. Dass vor allem britische Arbeitskräfte vom Wegbleiben der EU-Migranten profitieren, ist unwahrscheinlich: 2018 ist die Zahl der Nicht-EU-Bürger im britischen Gesundheitswesen um 69,5 Prozent angestiegen.

THE BIG ISSUE, LONDON

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Housing First für Europa

In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Obdachlosen in fast allen EU-Ländern alarmierend gestiegen. Das stellt der Ende März veröffentlichte Bericht des europäischen Dachverbandes der Wohnungslosenhilfe-Organisationen FEANTSA fest. Die Zahl der Betroffenen wird auf 700 000 geschätzt, ein Anstieg um 70 Prozent. FEANTSA kritisiert die bürokratischen Hürden – Notunterkünfte stünden nicht allen Menschen in Not offen, und sie entsprächen oft nicht den Mindeststandards in Sachen Unterbringung, Sicherheit und Privatsphäre. Ein Vorbild für ein Umdenken sieht FEANTSA in Finnland, dem einzigen Land, das rapide sinkende Obdachlosenzahlen verzeichnet. Statt kurzfristiger Notlösungen werden Obdachlose gemäss der HousingFirst-Grundsätze zuerst mit eigenem Wohnraum versorgt, von wo aus sie auch freiwillig Unterstützung in Anspruch nehmen können.

BODO, BOCHUM/DORTMUND

Stimme her!

Wer in Deutschland eine ständige Betreuungsperson braucht, darf bisher nicht wählen. Diese Regelung trifft in erster Linie Behinderte und psychisch Kranke, die auf die Unterstützung ihrer Betreuungspersonen bei finanziellen, medizinischen und alltäglichen Erledigungen angewiesen sind. Im Februar beschloss nun das Bundesverfassungsgericht, dass die Regelung gegen das Diskriminierungsverbot und den Grundsatz der allgemeinen Wahl verstosse. Im Einzelfall könne zwar wegen geistiger Einschränkungen das Wahlrecht aberkannt werden, wie das auch bei Straffälligen möglich ist, doch keinesfalls pauschal für alle auf Betreuung Angewiesenen. Wie das Wahlrecht für die Betroffenen jedoch konkret umgesetzt werden soll, ist noch unklar.

TROTT-WAR, STUT TGART

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Vor Gericht

Finde den Hehler! Manchmal ergibt das eine das andere: Joseph*, aus Nigeria stammend, der vor 16 Jahren um Asyl ersuchte, noch immer kaum Deutsch spricht, derzeit arbeitslos ist und Sozialhilfe bezieht, wurde von der Staatsanwaltschaft wegen Geldwäscherei und Hehlerei angeklagt. Joseph hatte einem asylsuchenden Eritreer sein Bankkonto für fremde Überweisungen von rund 34 000 Franken zur Verfügung gestellt. Das Verfahren zu diesem Punkt wurde zwar eingestellt, weil sich ein verbrecherischer Ursprung des Geldes nicht nachweisen liess. Bei der Hausdurchsuchung fand man jedoch ein gestohlen gemeldetes iPhone 6S im Neuwert von 560 Franken, das er für 80 Franken auf einem Flohmarkt in Zürich erstanden hatte. Das Bezirksgericht hat ihn deswegen der Hehlerei schuldig gesprochen. Gegen dieses erstinstanzliche Urteil legt Joseph vor Obergericht Berufung ein. Auf die Fragen des Richters reagiert er maulfaul, den Wintermantel behält er wie einen Schutzschild während der ganzen Verhandlung an. Er sei unschuldig, er habe nicht ahnen können, dass das Handy gestohlen war. «Viele Afrikaner gehen auf den Kanzlei-Flohmarkt und suchen dort Schnäppchen», erklärt Joseph auf Englisch. Wieso er denn überhaupt ein rosa-goldenes iPhone ohne Ladekabel und Pin gekauft habe, will der Richter wissen. «Ich schlenderte durch den Flohmarkt und es gefiel mir.» Was er damit machen wollte? «Nichts.» Da wird der Richter ungehalten: «Sie haben Schulden, beziehen Sozialhilfe

und geben 80 Franken für nichts aus?» Verboten ist das nicht. Und ein Hehler ist nur, wer eine Sache kauft, obwohl er davon ausgeht, dass sie von jemand anderem etwa durch Diebstahl oder Betrug erlangt wurde. Sein Mandant sei deshalb zu Unrecht wegen Hehlerei verurteilt worden, sagt der Verteidiger und zerpflückt Punkt für Punkt die von der Staatsanwaltschaft hingeklatschte Beweiskette. Es gebe keine konkreten Beweise, dass der Schnäppchenjäger vorsätzlich Diebesgut erwarb. Sein Mandant wusste auch nicht um den angeblichen Ruf des Kanzlei-Flohmarkts, wonach dort Diebesgut verhökert werde. Des Staatsanwalts Argument, es müsse Verdacht wecken, wenn ein Mann ein rosa-goldenes Handy verkaufe, findet der Verteidiger «angesichts der Genderdebatte äusserst bedenklich». Die drei Richter entscheiden schliesslich, das Verfahren wegen Verletzung des Anklageprinzips einzustellen. «Der Angeklagte muss wissen, was ihm vorgeworfen wird, damit er sich verteidigen kann», erklärt der Richter. Dafür hätten wenigstens die Funktionstüchtigkeit und der Wert des iPhones abgeklärt werden müssen, was aber nie geschehen sei. Wenn es weniger als 300 Franken wert ist, wäre es nämlich gar nicht zu einem Strafantrag wegen Hehlerei gekommen. Die Staatsanwaltschaft hat es sich also zu einfach gemacht. Herr Joseph erhält nun 9000 Franken Prozessentschädigung. * Name geändert

ISABELL A SEEMANN ist Gerichtsreporterin

in Zürich.

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Challenge League

Rassismus mit Humor begegnen? Ich bin in einer Umgebung aufgewachsen, wo Menschen aus einem Land mit unterschiedlichen Sprachen, Religionen und Ethnien zusammenleben und eher wenig Kontakt mit Menschen aus anderen Ländern haben. Erst in der Schweiz habe ich Leute kennengelernt, die von unterschiedlichen geografischen Orten unseres Planeten stammen. Auf einer Seite bin ich begeistert von dem Privileg, Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen kennenzulernen. Auf der anderen Seite erlebe ich immer wieder auch Rassismus, mit dem und dessen Folgen ich leben muss. Ich weiss, Rassismus ist ein unbeliebtes Thema. Ich mag auch nicht gern darüber reden oder schreiben. Es gäbe viel spannendere Sachen, über die wir Menschen uns unterhalten könnten. Leider kann ich mich dem im Alltag nicht entziehen. Und Rassismus ist für mich allgegenwärtig.

Es fehlt an Bewusstsein und Methodik, um sich sachlich mit Rassismus auseinanderzusetzen.

Jedes Jahr macht die Stadt Bern eine Aktionswoche «Bern gegen Rassismus». Über eine Studienkollegin hatte ich letztes Jahr davon gehört SEMHAR NEGASH und wir gingen zusammen zur Veranstaltung «Festival der Kulturen». Der Abend mit Tanz, Musikprogramm und Kunstausstellung war spannend, wir hatten eine gute Zeit. Dieses Jahr hatte ich auch Lust hinzugehen. Ich suchte das Programm nach Workshops ab. Dabei stiess ich auf eine Veranstaltung mit dem Titel «Dekoloniale Kritik an weissen Bildungsinstitutionen – Rassismus an der Uni?». Dieser Programmpunkt interessierte mich besonders: Bisher hatte ich den Eindruck, dass es in der Öffentlichkeit und an der Uni ein Tabu ist, über Diskriminierung und strukturellen Rassismus zu sprechen. Es fehlt noch an Bewusstsein und auch an Methodik, sich sachlich auf einem gewissen Niveau mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Ich war auch an einem Workshop mit dem Titel «Lustiger Rassismus». Dieser Abend wirkt immer noch nach, weil ich mich die ganze Zeit im Dilemma mit mir selbst befand. Es war eine Podiumsdiskussion mit Leuten, die hier geboren und deren Eltern eingewandert waren, sowie einigen, die selber immigriert sind. Sie zeigten uns kleine Videos und erzählten von ihren eigenen Erfahrungen mit Rassismus. Es wurde viel gelacht und 6

Witze gemacht. Ich war nicht nur damit beschäftigt, gut zuzuhören, sondern auch mit einem inneren Konflikt: Ist Rassismus denn lustig? Mein Herz sagte: Nein, Rassismus ist vor allem schmerzhaft. Und mein Kopf daraufhin: Immer dieselbe Leier. Rassismus wird es wohl immer geben. Nimm es nicht so ernst. Es ist besser, wenn man das humorvoll verarbeitet. Dabei geht es gar nicht unbedingt um direkte verbale Beleidigungen. Rassismus spüre ich in einfachen Gesprächen. Beispielsweise wenn ich gefragt werde, wieso ich nicht mit sechzehn verheiratet wurde und Kinder bekommen habe, oder wie ich es denn sogar an die Uni geschafft habe. Oft scheint es gut gemeint zu sein, wie ein Kompliment, es gibt mir aber das Gefühl, dass ich als schwarze Frau offenbar nicht an die Uni gehöre. Darüber zu reden ist allerdings immer noch besser, als mich in eine Schublade zu stecken oder sich gar nicht darüber auszutauschen. Meist habe ich im Gespräch weniger Schwierigkeiten, zu antworten oder Witze darüber zu machen, weil ich weiss, dass es nicht stimmt. Aber hinter dieser Aussage steckt letztlich die Grundannahme, dass alle schwarzen Flüchtlingsfrauen mit sechzehn Kinder zur Welt bringen und nicht studieren können. Ich wünsche mir, dass die Leute sich mit solchen Grundannahmen, die sie ungefiltert in ihre Gespräche einbauen, kritischer auseinandersetzen und nicht verallgemeinern.

Die Berner Anthropologin SEMHAR NEGASH fragt sich oft, ob man Rassismus mit Humor begegnen kann – und glaubt, dass das einfacher wäre, wenn es ein grösseres Bewusstsein für strukturellen Rassismus im Alltag gäbe.

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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

ich mein eigenes Verhalten ändern? Werde ich mich einschränken müssen? Das thematisieren sie aber nicht. Man hat immer viel gearbeitet, da steht es einem doch zu, dass man sich im gesetzteren Alter ein grosses Auto oder regelmässige Flugreisen leistet. Das sind natürlich auch Statussymbole: «Also, letztes Wochenende in New York (…)», klingt halt kosmopolitischer als: «Kürzlich in der SAC-Hütte auf der Blüemlisalp (…)». Und jetzt fordern diese Jugendlichen, dass man plötzlich auf all diese Freiheiten verzichtet und ein furchtbar freudloses Leben führt?

All Inclusive

Weniger ist mehr Eine junge Frau mit Autismus ist vermutlich so ungefähr die letzte Person, der arrivierte Herren aus den Zeitungsredaktionen unter normalen Umständen Aufmerksamkeit schenken würden. «Was kann so ein Mädchen schon Wichtiges zu sagen haben», würden sie denken. Nun ist die Schwedin Greta Thunberg aber nicht mehr irgendwer, sondern die Ikone einer Bewegung, die rund um den Erdball hunderttausende Schülerinnen und Schüler zu Schulstreiks für das Klima inspiriert. Und die älteren Herren in den Redaktionen sind nicht nur verstimmt, sondern richtig schlecht gelaunt. «Diese Kinder werden instrumentalisiert», behaupten die einen. «Sollen besser zur Schule gehen», muffeln die anderen. Gar von «Kinderkreuzzügen» spricht der Chefredaktor der NZZ und entwirft ein düsteres Zukunftsszenario, wonach die geforderte CO2-Reduktion direkt in die Planwirtschaft und den antikapitalistischen Abgrund führt: «Wenn etwa die Autoindustrie an den Herausforderungen scheitert, müssten sich die bei den Zulieferern in Süddeutschland und der Schweiz beschäftigten Eltern ernsthafte Gedanken machen, wie sie ihren schwärSurprise 449/19

merischen Sprösslingen künftig noch Handy und Sneakers finanzieren könnten.» Viele Kritiker ignorieren das ernsthafte Bemühen der Jugendlichen absichtlich. Beispielsweise dass Greta Thunberg konsequent mit dem Zug anreist oder dass diverse Gymiklassen bei ihrer Maturareise bewusst aufs Fliegen verzichten. Vielmehr wird versucht, sie lächerlich oder unglaubwürdig zu machen. Das geht sogar so weit, dass ein ehemaliger NZZJournalist in den sozialen Medien ein Foto weiterverbreitete, das angeblich die Abfallberge nach einer Klimademonstration zeigte. Nur: Das Foto stammt von der Streetparade. Die Unterschiede könnten grösser nicht sein. Die Streetparade ist ein Kind der Neunzigerjahre, grösstenteils unpolitisch und konsumorientiert. Der Klimajugend hingegen geht es nicht ums Feiern, sondern um Verzicht. Und das ist vermutlich genau der Punkt, der die meisten Kommentatoren so beunruhigt. Zwar höhnen sie über die Handys und Turnschuhe der streikenden Jugendlichen, fragen sich aber vermutlich insgeheim bange: Muss

Vor einigen Jahren veröffentlichte die australische Palliativpflegerin Bronnie Ware ein vielbeachtetes Buch darüber, was Sterbende am Lebensende am häufigsten bereuen. Materielle Dinge spielen dabei überhaupt keine Rolle. Vielmehr bereuen es viele Menschen, dass sie so viel gearbeitet und darüber oft ihre eigenen Bedürfnisse vernachlässigt haben. Oft bedauern sie, dass sie ihren Liebsten nicht öfter gezeigt haben, dass sie ihnen wichtig sind, und die Kontakte zu ihren Freunden nicht besser gepflegt haben. Viele wünschten sich auch, sich hätten mehr Mut gehabt, sich selbst treu zu bleiben und sich mehr Freude zu gönnen. Im Interview mit der deutschen Talkmasterin Anne Will erzählte Greta Thunberg kürzlich, ihre Eltern sagten, sie sei heute viel fröhlicher als früher. Warum? «Ich habe das Gefühl, dass ich etwas bewege. Ich denke, dass ich einen Sinn gefunden habe. Und das fehlt uns. Es geht uns nur um oberflächliche Sachen. Wir brauchen etwas, wofür wir kämpfen.» Viele ihrer Mitstreitenden dürften das ähnlich sehen. Vielleicht sollten die mürrischen älteren Herren das mit dem Weltretten auch mal versuchen.

MARIE BAUMANN dokumentiert unter ivinfo.wordpress.com seit 2009 das politische Geschehen rund um die Invalidenversicherung.

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Schnupf, Töffli und Nothilfe Asyl Tes und Sami müssen gehen – trotz Lehrstelle, trotz Unterstützung aus der Obwaldner Bevölkerung, trotz scharfer Kritik an ihrem Heimatland Eritrea. TEXT BENJAMIN VON WYL

ILLUSTRATIONEN SOPHIA MARTINECK

«Es ist gut, wenn man eine Lehre macht, dann wird man selbständig und braucht keine Sozialhilfe», sagt Tes und holt seine Schnupfdose hervor. Er büschelt zwei Beigen auf dem Handrücken und zieht den Tabak geräuschvoll durch die Nase. «Das hilft auch der Schweizer Wirtschaft.» Tes fährt ein Töffli und war in der Lehre zum Metallbauer in einem Ortsteil von Sarnen. Diese musste er abbrechen – weil er ausreisen muss, ausreisen müsste: Das Bundesverwaltungsgericht hat seine Beschwerde gegen den negativen Asylentscheid abgelehnt, aber eine Rückkehr nach Eritrea kommt für den knapp 21-Jährigen nicht infrage: «Ich bin geflüchtet, weil ich nicht ins Militär wollte. Ich habe einen grossen Bruder, seine Zukunft im Nationaldienst ist dunkel.» Das gilt auch für Sami, drei Jahre älter, ebenfalls aus Eritrea, im selben Betrieb in der Lehre, Mitbewohner und Freund von Tes. Beide erfuhren im Dezember, dass sie keine Aufenthaltsbewilligung bekommen. Beide sind vor dem Nationaldienst geflohen, der militärischen oder zivilen Open-End-Zwangsarbeit, die alle in Eritrea verrichten müssen (siehe Seite 16). «So wollten wir nicht leben», sagt Tes. Tes übernimmt das meiste Reden, lächelt ob manchem in Worten Wiedererlebten und macht auch mal Witze. Schnee ist nur gut, wenn er die Alpenhänge in der Aussicht dekoriert, witzelt er, nicht wenn er überall ist, Surprise 449/19

so wie jetzt, Mitte Januar. Sami ist eher ein ruhiger Typ, blickt Tes während dessen Ausführungen konzentriert an und stellt ihm Rückfragen, wenn er Zweifel an Tes’ Darstellung hat: «Was? Mit wem warst du auf dem Pilatus wandern?» Sami hat schneller Anschluss gefunden in der Schweiz, Töfflibueb Tes war früher in sich gekehrt, erst im letzten Jahr habe er sich geöffnet. «Das ist mega schön jetzt: Dass ich Leute kenne. Einfach gute Menschen, Freunde, denen ich vertrauen kann.» Schlagzeilen und Gerichtsurteile Tes’ Stimmung geht immer mit dem Thema mit – an ihren Tiefpunkt gelangt er, als er erzählt, wie schwierig es für seinen Chef sei, zwei Lehrlinge zu verlieren. Aber es geht doch um euch? «Ja, aber für das Geschäft hat das auch Folgen.» Sami und Tes sprechen nur gut über ihren Lehrmeister, auch alle ehemaligen Arbeitskollegen zeichnen sie positiv. Ihr Chef sprach im «Echo der Zeit»; kurz vor Weihnachten hatten sich in Sarnen 70 Leute zur Unterstützungskundgebung für die beiden versammelt; eine Petition wurde gestartet. Tes und Sami haben Rückhalt in der Region. Haben sie denn gar keine negativen Erfahrungen gemacht? «Es gibt Leute, die Vorurteile haben, aber sie machen nichts. Es gibt Gesetze. Wenn tatsächlich was ist, habe ich sehr schnell 117 ins Handy getippt», sagt 9


Tes spitzbübisch. «Unsere Ängste sind auf einer anderen Ebene», ergänzt dann Sami. «Was ist, wenn sie eines Tages kommen und sagen: Jetzt musst du zurück nach Eritrea?» Am Tag dieses ersten Treffens mussten Tes und Sami auch physisch ihr bisheriges Leben hinter sich lassen: Am Nachmittag zogen sie, unterstützt von einer Kollegin, aus ihrer Wohnung in die Notunterkunft. Was ist, wenn sie eines Tages kommen? Tes und Sami sind nicht die einzigen Eritreer in der Schweiz, die mit dieser Angst leben. Grund dafür sind Schlagzeilen, politische Vorstösse – und vor allem Gerichtsurteile, die Schlagzeilen machen, sogenannte Referenzurteile. «Mein Anwalt hat gesagt: Dein Asylantrag war gut. Vor drei Jahren wäre er angenommen worden», sagt Tes. Das Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen (BVGer) veröffentlichte in den letzten anderthalb Jahren drei Referenzurteile zur Situation in Eritrea, diese und die Prozesse, die ihnen zugrunde liegen, haben geprägt, wie die Beschwerde gegen den negativen Asylentscheid von Tes dort beurteilt worden ist (siehe Interview Seite 13). Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts senkt aber auch die Erfolgschancen aller neuen Asylanträge aus Eritrea. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) sei de facto an die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts gebunden, so ein Sprecher des SEM gegenüber Surprise: «Der rechtliche Gehalt wird als in ähnlicher Weise massgebend betrachtet wie der Inhalt einer gesetzlichen Norm.» Auch aus nicht publizierten Urteilen aus St. Gallen können sich «allgemeine und für die Praxis des SEM relevante Hinweise ergeben». Überwachung, Folter, Missbrauch In den öffentlichen Leiturteilen des BVGer erinnern bei manchen Passagen nur die vielen Fussnoten daran, dass es sich nicht um die empörte Medienmitteilung einer Menschenrechtsorganisation handelt. Eritrea sei ein «autokratischer Einparteienstaat mit einem undurchsichtigen Militär- und Sicherheitsapparat sowie einem komplexen und vielschichtigen Überwachungs- und Spionagesystem». Gefängnisstrafen würden willkürlich ausgesprochen, teils ohne Gerichtsurteil. So steht es im Referenzurteil von August 2017, doch trotzdem kommt das 44-seitige Urteil zum Schluss: Die Rückkehr nach Eritrea ist zumutbar. Im letzten Referenzurteil, jenem vom vergangenen Juli, bestätigt das Gericht: Folter und sexueller Missbrauch seien im Umfeld des eritreischen Nationaldiensts verbreitet – aber nicht systematisiert. Eine Sonderkommission des UNO-Menschenrechtsrat befand 2016, basierend auf 833 Zeugenaussagen, dass in Eritrea Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliegen. Zwei Jahre später kam man in St. Gallen zu einem anderen Schluss: Ausschaffungen nach Eritrea seien möglich, wären möglich – denn die eritreische Regierung akzeptiert bisher nur freiwillige Rückkehrer. Eine stellvertretende Menschenrechtskommissarin der UNO erklärte zudem im März dieses Jahres, dass man auch nach dem Friedensschluss mit Äthiopien keine Verbesserung der Menschenrechtslage feststellen konnte. 10

«Was ist, wenn sie eines Tages kommen und sagen: Jetzt musst du zurück nach Eritrea?» SAMI

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Was aber, wenn das autoritäre Regime irgendwann einem solchen Abkommen zustimmt? Viele in die Schweiz geflüchtete Eritreer haben Angst – manche tauchen unter oder flüchten weiter. «Die Praxis des Bundesverwaltungsgerichts ist ein Schuss ins eigene Bein, denn so schafft es Hunderte von resignierten Papierlosen in der Schweiz», sagt Yonas Gebrehiwet vom Eritreischen Medienbund Schweiz. In Eritrea erwarte die Abgewiesenen Gefängnis und Folter; in der Schweiz ein Leben am Rand der Gesellschaft. Der Eritreische Medienbund geht davon aus, dass allein 2018 mehrere hundert Eritreerinnen und Eritreer aus der Schweiz ins Ausland untergetaucht sind. Darunter sind auch Surprise-Verkäufer. «Junge Männer, die gut Deutsch gesprochen haben», sagt Fredi Maurer vom Surprise-Vertrieb in Bern. Im September sei ein junger Eritreer geSurprise 449/19

kommen, der 33 Franken vorbeibrachte, den Einkaufspreis für Surprise-Hefte, die er verkauft habe, erzählt Maurer. «Er wollte seine Schulden begleichen, bevor er geht. Eine hässliche Szene war das.» Wohin er flüchte, habe er nicht gesagt. Nur eines: gegen Norden. Mindestens zwei Surprise-Verkäufer seien im letzten Jahr untergetaucht, so Maurer. Die Asylgesuche sind rekordtief. 2018 haben 15 255 Menschen die Schweiz um Zuflucht und Schutz vor Verfolgung gebeten, so wenig wie seit elf Jahren nicht mehr. Auch die Zahl Geflüchteter aus Eritrea nimmt ab: 2018 waren es fast 500 weniger als im Vorjahr. Doch ihre Chancen auf eine Aufenthaltsbewilligung sinken. Richter haben höhere Schranken geschaffen, rechte Politiker pflegen Feindbilder und fordern Härte. Die neuen Schranken haben bereits dazu geführt, dass das SEM die Aufent11


haltsbewilligung von vorläufig Aufgenommenen neu überprüfte: 20 Eritreerinnen und Eritreern wurde letzten Sommer das Bleiberecht entzogen. Sie müssen gehen, müssten gehen. Die Schweiz kann sie nur in die Nothilfe abschieben. So wie Tes und Sami. Mitte Februar. Der Schnee hat sich an die Alpenhänge verzogen, so wie es Tes lieber ist. Tes ist mit dem Töffli zum Bahnhof gefahren, um mich abzuholen. Die Strecke bis zu ihrer Unterkunft ist aber erfreulich kurz. In anderen Kantonen leben Menschen mit einem Negativentscheid in Bunkern, weitab von allem. Tes’ und Samis Notunterkunft, «Holzhuis» nennt man sie, liegt nah am Ortszentrum und dem von beiden geliebten Seeufer. Es ist ein freistehendes Wohnhaus. Mit wenigen Möbeln, aber wenigstens Charakter. Ein bisschen heruntergekommen, ein

loses Brett verdeckt die tellergrosse Lücke im Parkettboden des Wohnzimmers, aber dafür gibt es eine grosse Terrasse. Ein Dutzend Männer leben hier; Sami und Tes können sich ein Zimmer teilen. Anders als in anderen Kantonen teilen sich nur zwei bis drei Leute ein Zimmer. Anders als in anderen Kantonen wird die Anwesenheit nur einmal pro Woche und nicht zweimal täglich kontrolliert. Sogar die zehn Franken Nothilfe, die sie in Obwalden pro Tag erhalten, sind im Vergleich hoch angesetzt: 8 Franken 50 wären es in Zürich, 7 Franken 50 im Aargau. «Schon wieder hab ich das Papier vergessen», sagt Tes, «ich muss da heute noch vorbei und das zeigen.» Tes und Sami dürfen den kleinen Kanton Obwalden nun nicht mehr verlassen. Deshalb möchte Tes sein nutzlos gewordenes Halbtax-Abo zurückgeben. Aber am Bahnhofschalter glaubten sie ihm nicht: Sie wollen einen schriftlichen Beleg, dass er den Halbkanton nicht mehr verlassen darf. Es ist absurd: Tes muss die eigene Rechtlosigkeit beweisen. «Vor drei Jahren war das noch eine Asylunterkunft, ich habe schon kurz nach meiner Ankunft in der Schweiz hier gelebt, jetzt wieder. Es ist komisch», sagt Tes. Sami deckt den Tisch. Es gibt selbstgemachte Pizza. Während seiner Flucht habe er im Sudan als Pizzaiolo gearbeitet: «Wir haben ja Zeit zum Kochen ...» Dreimal pro Woche essen Tes und Sami jetzt in der Colourbox, einem lokalen Projekt, einmal helfen sie beim Kochen, an den beiden anderen Tagen nähen sie Taschen, die dann am Flüchtlingstag verkauft werden. Tes geht fast jeden Abend ins Fitnesscenter – das Abo hat er sich noch mit dem Lehrlingslohn gekauft. Die beiden bemühen sich um Strukturen, bleiben aktiv im Alltag. «Wir hätten so viel tun können» Langfristig bewahren sie sich je ein Hoffnungsmoment. Tes’ Anwalt will seinen Fall an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiterziehen. Sami setzt auf die Härtefallregelung. In einem Jahr wird er fünf Jahre in der Schweiz sein, dann kann der Kanton Obwalden einen Antrag stellen, dass in Samis Fall «wegen fortgeschrittener Integration ein schwerwiegender Härtefall vorliegt», wie es in der Amtssprache heisst. Sieht es das Staatssekretariat für Migration gleich, würde er doch wieder arbeiten und legal hier leben dürfen. Vier Jahre ist Sami bereits in der Schweiz, hat die Sprache gelernt, Freundschaften aufgebaut, eine Lehrstelle gefunden. Warum hat die Schweiz das zugelassen und sagt ihm jetzt, er soll gehen? Das ist eine Frage, die sich beide stellen. «Wenn du in der Schweiz eine Minute zu spät kommst, werden die Leute wütend.» Wie kann dasselbe Land ihn dann vier Jahre lang auf eine Absage warten lassen? «Es braucht Zeit zu prüfen, aber nicht vier Jahre», findet Sami. Und Tes, energischer: «Das ist mega viel Zeit. Wir hätten so viel tun können in dieser Zeit.» Seit 1. März 2019 sind die Asylverfahren in der ganzen Schweiz neu organisiert: Künftig soll niemand mehr länger als ein Jahr auf die Entscheidung des Staatssekretariats für Migration warten. Für manche bedeutet das wohl nur, dass sie schneller in die Nothilfe abgeschoben werden.

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«Als Richterin kann man nicht wählen, ob man entscheiden will oder nicht» Asyl Die Urteile des Bundesverwaltungsgerichts haben Folgen für geflüchtete Menschen, aktuell etwa aus Eritrea.

Wie kommen diese Entscheide zustande? Ein Gespräch mit Gerichtspräsidentin Marianne Ryter. INTERVIEW BENJAMIN VON WYL

Die Decke in der Wartehalle ist sehr hoch, der gesamte Bau staatstragend. Am Bundesverwaltungsgericht (BVGer) in St. Gallen kann man sich beschweren. Ob es um die Barrierefreiheit von Zügen oder um Prämienverbilligungen geht: Das BVGer urteilt über Beschwerden gegen Entscheide von Bundesbehörden – auch gegen negative Asylentscheide. Das BVGer ist die Letztinstanz – und für viele die letzte Hoffnung auf einen legalen Aufenthalt in der Schweiz. Es fällt aber auch Entscheide, die Folgen für alle künftigen Verfahren aus demselben Land haben, wie vergangenen Sommer letztmals zu Eritrea. Die BVGer-Präsidentin Marianne Ryter, Surprise 449/19

FOTOS DANIEL AMANN

die als Richterin selbst nicht im Asylbereich arbeitet, erklärt im Gespräch mit Surprise, wie die Asyl-Entscheide zustande kommen. Frau Ryter, letzten Sommer veröffentlichte das Bundesverwaltungsgericht BVGer das letzte Mal ein Referenzurteil zu Eritrea. Wie wird ein Urteil zum Referenzurteil? Ein Referenzurteil ist ein länderspezifisch besonders relevanter Entscheid, der über den Einzelfall hinaus für eine Mehrzahl von Beschwerdeverfahren gültig ist. Ein Richtergremium erkennt die Bedeutung des Entscheids und die Präsidien der

Asylabteilungen entscheiden über die Veröffentlichung als Referenzurteil. Das BVGer geht immer von einem Fall aus? Es beobachtet also nicht die politische Entwicklung in einem Land und sagt: Die Situation hat sich verändert, jetzt muss man den Nationaldienst in Eritrea neu beurteilen. Genau, ein Entscheid des Staatssekretariats für Migration wird vor dem BVGer angefochten, das zugeteilte Richtergremium analysiert ihn und stellt fest, dass eine Frage ungeklärt ist oder eine Veränderung stattgefunden hat. Weil sich viele Richterinnen und Richter mit Asylfragen befas13


sen, kennt der Asylbereich zudem das koordinierte Verfahren. Was ist das koordinierte Verfahren? Wenn es in einem Entscheid um Grundsatzfragen geht, die weitere Verfahren betreffen, können die Abteilungspräsidien das koordinierte Verfahren einleiten. Dann beurteilen die 35 Richter eine oder mehrere Rechtsfragen im Grundsatz. Das koordinierte Verfahren stärkt die Legitimität: Es ist ein Entscheid der vereinigten Asylabteilungen. So stärkt es die Bindungswirkung für alle in den Asylabteilungen. Im Urteil steht jeweils drin, ob ein Fall im koordinierten Verfahren beurteilt worden ist. Es tönt gut, dass die 35 Richterinnen und Richter ihre Einschätzungen abgleichen. Sämtliche Urteile basieren aber stark auf den Quellen zur Situation im beurteilten Land. Darunter sind auch Zeitungsartikel oder Reiseberichte. Wieso sind solche Quellen für einen juristischen Entscheid zulässig? In Eritrea ist die Quellenlage schwierig. Klar hat man in Ländern, die unabhängige Medien und NGOs zulassen, eine bessere Quellenlage. Trotzdem stützt sich jedes Urteil auf viele verschiedene Quellen. Die Richterinnen informieren sich selbst, können aber auch unsere Bibliothek und die Dienste von wissenschaftlichen Mitarbeitenden in Anspruch nehmen, etwa den Länderanalysten. Was machen die Länderanalysten am Bundesverwaltungsgericht? Die Länderanalysten recherchieren und validieren sachlich und sorgfältig Informationen über Herkunftsländer. Es sind jedoch die Richter, die die für das Urteil relevanten Quellen auswählen und juristisch interpretieren. Die Länderanalysten prüfen lediglich nach wissenschaftlichen Methoden, ob man die Quellen als solche verwenden kann. Als Journalist weiss ich, wie schnell Artikel geschrieben sind. Wie kann man garantieren, dass diese Quellen verlässlich sind? Das BVGer orientiert sich im Umgang mit Quellen an internationalen, wissenschaftlichen Qualitätsstandards. Die Quellen, die die Länderanalysten der Rechtsprechung vorlegen, sind nach Kriterien wie Verlässlichkeit, Objektivität und Transparenz validiert. Zudem ist der Quellenkontext 14

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«Juristerei ist keine exakte Wissenschaft: Es gibt nicht falsch oder richtig.»

In welchen Fällen verlangt das BVGer einen Kostenvorschuss? Wenn eine Beschwerde im Vornherein als aussichtslos erscheint. Die Bedürftigkeit und die Aussicht auf Erfolg entscheiden, ob man einen Vorschuss verlangt.

MARIANNE RY TER, GERICHTSPR ÄSIDENTIN

Waren Beschwerden gegen einen negativen Asylentscheid trotz Kostenvorschüssen erfolgreich? Das werten wir nicht aus, aber in vielen Fällen verlangen wir gar keinen Kostenvorschuss.

zentral. Die juristische Bewertung und Würdigung der Quellen erfolgt aber durch die Richter: Was hat einen hohen Beweiswert? Was nicht? Als Richterin kann man nicht wählen, ob man entscheiden will oder nicht. Wir müssen über die eingereichten Beschwerden entscheiden. Wenn Sie die Urteile lesen, merken Sie aber, dass diese auf viel Reflexion und Recherche gründen.

Die betreffenden Richter sehen die abgelehnten Asylsuchenden nie. Die Anhörung findet bei der Vorinstanz statt: beim Staatssekretariat für Migration. Das Protokoll des Gesprächs ist Teil der Vorakten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Bundesverwaltungsgericht Beschwerdeführende zu Anhörungen einlädt, aber meistens erhält man die Antworten bereits auf die bestehenden Akten gestützt.

Absolut. Eigentlich interpretieren Sie ein Land. Ja.

Für die meisten dauert es lange vom Interview beim Staatssekretariat für Migration (SEM) und dem Gang vor das BVGer. Manche Asylsuchende wissen beim SEM-Interview wenig über die Schweizer Institutionen; die wenigsten haben bereits einen Anwalt. Hat man am BVGer denn je einen abgelehnten Asylsuchenden zur Anhörung eingeladen? Ich kann das nicht mit absoluter Sicherheit sagen. Wir arbeiten nach der sogenannten Untersuchungsmaxime: Das Gericht muss den Sachverhalt selbst klären. Wenn wir finden, eine Frage sei offen und eine erneute Befragung der Person würde das klären, dann wäre dies möglich.

Das tun wenige Richter. Ein Land als solches zu beurteilen, ist speziell im Asylrecht – und die Asylabteilungen machen es sich überhaupt nicht einfach. Juristerei ist keine exakte Wissenschaft: Es gibt nicht falsch oder richtig, sondern es ist zu gewichten und zu werten. Darum gibt es auch das koordinierte Verfahren, so führen mehrere Auffassungen zu einem gemeinsamen Entscheid. Der Antifolterausschuss der UNO, CAT, hat kürzlich kritisiert, dass abgelehnte Asylsuchende für die Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht einen Kostenvorschuss leisten müssen. Der Gang vors BVGer müsse auch offen sein, wenn man mittellos sei. Hat diese Kritik Folgen für die Praxis des BVGer? Die Rechtsprechung von solchen Organen wird wie diejenige des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in künftigen Entscheiden berücksichtigt. Aber es ist nicht geplant, dass die Beschwerden von abgelehnten Asylsuchenden generell gratis werden? Nein. Das dürften wir auch gar nicht. Es gibt rechtliche Grundlagen und eine Rechtsprechung, an die wir uns halten müssen. Surprise 449/19

Eine Frage, die mir zwei junge Eritreer, die seit Kurzem ausreisepflichtig sind, mitgegeben haben: Warum dauert dieses Verfahren so lange? Die beiden hatten bereits eine Lehre angetreten. Die Dauer hat eben gerade damit zu tun, dass die Richterinnen und Richter ihre Entscheide gestützt auf sorgfältige Abklärungen und Würdigungen fällen. Ich weiss, dass das für Betroffene nicht einfach ist. Die seriöse Klärung von verschiedenen Fragen zu Eritrea braucht aber Zeit. Ein weiterer Grund ist die Arbeitslast. Die hohen Fallzahlen und die unterschiedlichen Fristen im Asylgesetz führen dazu, dass die Asylabteilungen bei der Fallbearbeitung Prioritäten setzen müssen. 15


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Zeit für Entwicklung Eritrea Der plötzliche Frieden mit Äthiopien eröffnet neue Perspektiven. Und wirft die Frage

auf: Öffnet sich nun Gestaltungsspielraum für internationale Akteure wie die Schweiz? TEXT ARMIN KÖHLI

FOTOS MEINRAD SCHADE

ERITREA

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«Im Krieg gibt es keine Entwicklung.» Dies sagt ein eritreischer Geistlicher im Gespräch, und wohl niemand in Eritrea würde ihm widersprechen. Während der letzten zwanzig Jahre habe wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Stillstand geherrscht, ist oft zu hören. 1998 begann der äthiopisch-eritreische Grenzkrieg, in dem innerhalb von zwei Jahren bis zu hunderttausend Menschen starben. Darauf folgte eine lange Periode waffenstarrender Feindschaft. Erst im letzten Sommer beendeten die beiden Regierungen den Krieg offiziell, und zwar völlig überraschend. Egal, wen man fragt: Die Erleichterung über diese Entwicklung ist überall spürbar – ebenso die Erwartungen, die dadurch geweckt werden. «Frieden ist alles», sagen wortwörtlich gleich ein Minister und ein zufällig angetroffener junger Mann in der Hauptstadt Asmara. Und in verschlafenen Provinznestern heisst es vielstimmig: «Wir hoffen auf Entwicklung.» Der zwanzigjährige Stillstand zeigt sich im ganzen Land. In den Dörfern im heissen Tiefland, wo Kleinbauern der Dürre zu trotzen versuchen. Auf den Märkten der Kleinstädte, wo Lebensmittel und Billigstprodukte auf dem Boden oder auf einfachen Holztresen angeboten werden. Auf den Überlandstrassen verkehren vor allem Lastwagen, die Kupfer, Gold, Silber und Zink transportieren. Abgebaut werden diese Rohstoffe in der grossen Mine von Bischa, die von der staatlichen ertireischen Minengesellschaft gemeinsam mit der kanadisch-chinesischen Firma Nevsun betrieben wird. Abgesehen davon sind nur einige Kleinbusse unterwegs, daneben Ziegenherden und Kamelkarawanen. Der Stillstand zeigt sich aber auch in der zweitgrössten Stadt Eritreas, in der Hafenstadt Massawa. Die kleine, einst mondäne orientalische Altstadt wirkt

1 «Frieden ist alles», sagen viele: Kriegsdenkmal am Rande eines Soldatenfriedhofs. 2 Im Grenzkrieg mit Äthiopien zerstört, bis heute eine Ruine: Hotelgebäude in der Stadt Barentu. 3 Zwanzig Jahre Stillstand: Ziegenherde vor Relikten aus dem Unabhängigkeitskrieg.

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verwahrlost und schmutzig. Kriegsruinen stehen neben halbzerfallenen Häusern, und selbst vierzig Jahre alte Schäden aus dem Unabhängigkeitskrieg sind noch nicht behoben. Auch im Hafen ist wenig los, dort stapeln sich fast nur die Container der Mine von Bischa. Und schliesslich zeigt sich der Stillstand auch in der Hauptstadt. Asmara, das von den italienischen Kolonialherren als futuristische Stadt gestaltet wurde, wirkt durch die europäische, teilweise radikal modernistische Architektur zwar wohlhabend. Doch seit den Neunzigerjahren hat sich kaum etwas verändert. Die bemerkenswerten Baudenkmäler, aber auch die gewöhnlichen Häuser, Strassen und Fahrzeuge, wirken einfach noch etwas angestaubter als damals. Am Stadtrand türmen sich auf einem gigantischen Schrottplatz immer noch Panzer, Geschütze und Militärlastwagen, die im jahrzehntelangen Befreiungskrieg zerstört wurden. 1993, vor 26 Jahren, hat sich Eritrea die Unabhängigkeit von Äthiopien erkämpft. Seither wird es von Präsident Isayas Afewerki diktatorisch regiert. Die Logik der Schweizer Parlamentarier Entwicklung in Eritrea – das ist auch im fernen Schweizer Parlament immer wieder Thema. 2006 hatte sich die offizielle Schweiz aus der Entwicklungszusammenarbeit mit dem Land verabschiedet, unter anderem weil die Tätigkeiten von NGOs eingeschränkt und Hilfsgüter konfisziert worden seien. Angesichts der relativ grossen Zahl eritreischer Flüchtlinge in der Schweiz forderten bürgerliche Politiker 2015 jedoch, die Entwicklungszusammenarbeit wieder aufzunehmen – und sie direkt mit dem Ziel zu verknüpfen, mit Eritrea ein «Rückführungsabkommen»

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abzuschliessen. Denn die Regierung in Asmara weigert sich bis heute, zur Rückreise gezwungene Eritreer wieder aufzunehmen. 2017 beugte sich die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) schliesslich der Politik und begann, etwas zögerlich, einzelne Projekte in Eritrea zu fördern. Und von der Schweizer Öffentlichkeit unbemerkt begann das Staatssekretariat für Migration (SEM) schon etwas früher, nämlich ab Ende 2015, unter dem Titel «Hilfe vor Ort» Bildungsprojekte in Eritrea zu unterstützen. Wie sich die Schweizer Politiker die Verbindung von Entwicklung und Migration vorstellen, zeigte sich im Sommer 2016. Ständerat Thomas Minder argumentierte dort so: «Anstatt Jahr für Jahr horrende Kosten von eritreischen Flüchtlingen zu tragen, würden wir diese Gelder viel besser in Eritrea selbst investieren. Herr Bundesrat, ich glaube nicht, dass Herr Afewerki Ihnen die Türe vor dem Kopf

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zuschlägt, wenn Sie mit einem Millionenangebot für Entwicklungshilfe kommen und ihn dafür auffordern, seine Landsleute zurückzunehmen.» Dieses simple Weltbild, demzufolge alles käuflich ist, wird in Eritrea von allen Gesprächspartnern zurückgewiesen. Susan Namondo Ngongi etwa, die residierende Koordinatorin der Uno und Direktorin des Uno-Entwicklungsprogrammes in Asmara, sagt: «Die Ursachen der Migration werden durch Entwicklungszusammenarbeit langfristig angegangen. Aber die direkte Verbindung mit Migration ist sehr kurzsichtig. Die jetzige Regierung ist nicht so leicht mit Geld zu motivieren! Sie wurde schon hart geprüft, sie kann Stress widerstehen. Sie würde einfach sagen: Kein Problem, stoppen Sie Ihr Projekt.» Ein Vertreter einer anderen internationalen Institution sagt: «Entwicklung und Migration – das geht völlig aneinander vorbei. Die Schweiz meint mit ‹über Migration reden›: Wie können wir die Leute zurückschaffen?

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4 Noch ist hier wenig los, doch dem Hafen von Massawa wird grosses wirtschaftliches Potential zugeschrieben. 5 Zeugen von Jahrzehnten des Krieges: Schrottplatz am Stadtrand von Asmara. 6 Selbst vierzig Jahre alte Schäden aus dem Unabhängigkeitskrieg sind noch nicht behoben: Die Altstadt von Massawa mit ihrer arabischen und osmanischen Baukunst.

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Der zwanzigjährige Stillstand zeigt sich im ganzen Land – in Dörfern, auf Märkten, am Hafen.

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«Was nützen ausgebildete Klempner und Elektriker, wenn es dafür keinen Markt gibt?» ANONYMER VERTRE TER EINER INTERNATIONALEN ORGANISATION

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Die Eritreer meinen: Wie können wir die Migration organisieren und erleichtern, wie können wir als Regierung von der Migration profitieren?» Lässt man die Logik der Schweizer Parlamentarier einmal beiseite, stellen sich andere Fragen: Ist die Entwicklungszusammenarbeit mit einer Diktatur wie Eritrea vertretbar? Setzen DEZA und SEM dabei die richtigen Prioritäten? Haben sich die Bedingungen durch den plötzlichen Frieden geändert? Die Gestaltungsmöglichkeiten für ausländische Akteure sind in Eritrea gering. Die Schwerpunkte werden durch die Regierung vorgegeben, sagt Susan Namondo Ngongi. Dabei gelte: «Beginne nichts auf eigene Faust! Denn die Mittel sollten gemäss den Prioritäten der Regierung zugeteilt werden.» Die Regierung versuche, die Entwicklung zu steuern. Das sei aber nicht einfach negativ. «Sie will, dass die Uno mit grundlegenden sozialen Dienstleistungen – wie Wasser, Kanalisation, Erziehung – benachteiligte ländliche Gebiete unterstützt, um dadurch die Ungleichheiten im Land zu reduzieren.» «Immer nur skills, skills, skills» Kritischer sieht das eine eritreische Fachperson, die wie alle skeptischen Stimmen anonym bleiben will. Sowohl Regierung als auch Geldgeber setzten die Prioritäten viel zu einseitig, sagt diese Person. «Immer nur skills, skills, skills, alle suchen nach skills», also nach Anlern- und Berufsbildungsprojekten. Dabei müsse man doch die Gründe angehen, weswegen die Leute das Land verlassen haben. Zuvorderst stehe da der sogenannte Nationaldienst. Diese verhasste Kombination von Militär- und zivilem Dienst, den alle Eritreerinnen und Eritreer leisten müssen, dauert auf dem Papier achtzehn Monate, geht aber in Wahrheit jahrelang – und zwar unbefristet. 20

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Auch SEM und DEZA engagieren sich im Bereich von Erziehung und Berufsbildung. Der oben genannte Vertreter einer internationalen Institution – auch er will anonym bleiben – kritisiert dies explizit. «Warum unterstützt die Schweiz Bildungszentren? Was nützen ausgebildete Klempner und Elektriker, wenn es dafür keinen Markt gibt? Was ist deine Motivation, etwas zu lernen, wenn du danach keinen besseren Lohn erhältst und weiterhin im Nationaldienst arbeiten musst?» Solange es den Nationaldienst in dieser Form gebe, könne Berufsbildung nicht funktionieren. Für erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit brauche es zuallererst einen Privatsektor, Investitionsschutz und ein entsprechendes Wirtschaftsrecht. Uno-Repräsentantin Namondo Ngongi bestätigt, dass der Nationaldienst «ein grosses Problem» sei. «Ein Wandel wird dann eintreten, wenn sich andere wirtschaftliche Möglichkeiten anbieten», sagt sie. «Der Rohstoffabbau kann hoffentlich entwickelt werden. Und ich sehe Potenzial in der Landwirtschaft. Natürlich bräuchte das strukSurprise 449/19


11 7 Billard, Bowling, Schach für Jung und Alt: Freizeitanlage in Asmara. 8 Mühle beim Markt von Asmara, wo die Leute ihr Getreide mahlen lassen. 9 Ein Äthiopier sitzt auf einem mit Getreidesäcken geladenen Lastwagen auf einem riesigen Markt etwas ausserhalb von Asmara. 10 Billige Ware aus Äthiopien hat die Lebenskosten seit dem Friedensschluss stark gesenkt. 11 Auch in Barentu verkaufen Händler aus Äthiopien ihre Waren. 10

turelle Änderungen. Privatwirtschaft müsste möglich sein, egal in welcher Form, zum Beispiel in Kooperativen. Dies könnte viele Leute absorbieren.» Auf Anfrage weist ein DEZA-Sprecher die Kritik an den gesetzten Prioritäten zurück. «In den laufenden Projekten der DEZA sind rund 1200 junge Eritreerinnen und Eritreer in den Genuss einer Berufsbildung gekommen», schreibt er. «Arbeit finden diese Berufsleute in parastaatlichen Betrieben und im Privatsektor; der Privatsektor ist noch sehr wenig entwickelt, mit Ausnahme der vor Ort tätigen Rohstoff-Firmen.» Die Evaluation der Projekte habe jetzt angefangen, voraussichtlich lägen die Resultate im Frühsommer vor. Spätestens im Sommer 2019 würden die Entscheide zum zukünftigen Engagement getroffen. Das SEM sieht sich mit der Unterstützung von Bildungsprojekten derweil auf dem richtigen Weg: Dadurch könne ein wichtiger Beitrag dazu geleistet werden, Alternativen zu «irregulärer Migration» zu schaffen. Und was erwarten die Eritreer und Eritreerinnen, die solche Anlernkurse besuSurprise 449/19

chen? Ein Besuch in einem Zentrum in der Hafenstadt Massawa gibt Anhaltspunkte. Die Angebote in dieser kleinen Institution, die von einigen europäischen Staaten unterstützt wird, richteten sich an Schulabbrecher aus Massawa und dauerten vier bis fünf Monate, erläutert ein Dozent. Derzeit werden etwa 200 junge Leute zwischen 15 und 35 Jahren in Bau- und Sanitärwesen, elementarer Elektrik und Elektronik, Fischerei und Fischverarbeitung unterrichtet. Der Dozent sagt, dass 75 Prozent der rund 300 bisherigen Absolventen eine Stelle gefunden hätten – ausserhalb des Nationaldienstes, bei einer privaten Firma. Die Kursteilnehmer selber geben über ihre Ziele gerne Auskunft: Sie wollen vorab ein Abschlusszeugnis. Und hoffen, dank dem Kurs eine reguläre Stelle zu finden. Dieser Beitrag wurde finanziell unterstützt durch den Medienfonds «real21 – die Welt verstehen». Im Podcast «Surprise Talk» erzählen die Autoren von ihrer Recherche: bit.ly/2Is0E88

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Wo sich die Wut hochschaukelt Kino «En Guerre» und «Nos Batailles»: Zwei frankophone Sozialdramen rücken den Kampf um Arbeitsplätze und die Angst vor Jobverlust in den Mittelpunkt. TEXT MONIKA BETTSCHEN

«Ein Betrieb existiert nicht isoliert.» Damit weist ein Mitglied der Geschäftsleitung des Autozulieferers Perrin Industries auf eine Realität hin, der sich Laurent Amédéo (Vincent Lindon) standhaft verweigert. Er ist der Anführer der Fabrikgewerkschaft, die mit einem Streik gegen die Schliessung des Werks protestiert. Vor zwei Jahren geriet das Unternehmen in eine finanzielle Schieflage, aber mit Sparmassnahmen auf Kosten der Arbeiter konnte das Ende vorerst abgewendet werden. Doch jetzt wurde, trotz Rekordergebnis in der Bilanz, das definitive Aus beschlossen. In solchen Szenen am Verhandlungstisch in Stéphane Brizés zornigem Film «En Guerre» wird offensichtlich, wie sehr die Lesart von Kennzahlen in Bezug auf das Wachstum zwischen der Chefetage und der Belegschaft auseinanderdriften kann. Man lässt die Arbeitervertreter wissen, dass dieser Standort nicht mehr wettbewerbsfähig sei in einem globalisierten Marktumfeld. Eine nüchterne Weitsicht, die sich nur leisten kann, wer nicht um seine Existenz bangen muss. Die Jobs sollen nach Rumänien verlagert werden, wo die Lohnkosten tiefer sind. Auch wenn es aus Sicht der Arbeiter ungerecht erscheint: Die Schliessung ist kein illegaler Akt, sondern geschieht im Rahmen des geltenden Rechts. Aber Recht ist nicht immer gleich Gerechtigkeit: «Solange es legal ist, eine profitable Anlage stillzulegen, sind die Machtverhältnisse vom ersten Moment an asymmetrisch verteilt», lässt sich Regisseur Brizé im Pressedossier zum Film zitieren. Darauf, dass von dieser Schliessung 1100 Stellen in einer wirtschaftlich schwachen Region Frankreichs betroffen sind, können und wollen die Geschäftsführung und der deutsche Mutterkonzern Diemke keine Rücksicht 22

nehmen. Sie verschanzen sich hinter hohlen Phrasen, zögern eine direkte Aussprache mit der Gewerkschaft hinaus und entsenden lange Zeit bloss Vertreterinnen und Vermittler ohne Handlungsbefugnis in die zähen Verhandlungen. Bei Laurent und seinen Gefolgsleuten wächst die Wut und entlädt sich schliesslich mit Gewalt. Dadurch verspielen sie aber Sympathien, die ihnen die Medien und die Öffentlichkeit zuvor entgegengebracht haben. Der innere Zusammenhalt der Gewerkschaft beginnt zu bröckeln. Ein Restgefühl von Geborgenheit Die dokumentarisch anmutende Kamera lässt an eine TV-Reportage denken. Der Film legt ein hohes Tempo vor und gipfelt in einem verstörenden Ende, das klarmacht, wie zutreffend der Titel «En Guerre» (deutsch «im Krieg») tatsächlich ist. Wie schon in «La Loi du Marché» von 2015 vertieft Stéphane Brizé die Schattenseiten der Globalisierung und setzt bei der Hauptrolle einmal mehr auf Vincent Lindon, der die Figur des Laurent mit hitziger Entschlossenheit füllt. Die Themenwahl des französischen Filmemachers erinnert an den britischen Sozialrealisten Ken Loach, jedoch lässt Brizé die Widersprüche der Welt stärker stehen. Er überlässt die Schuldzuweisungen seinen Figuren und bezieht dabei geschickt die Standpunkte aller Akteure mit ein. So werden selbst die Beweggründe des Konzerns – auch wenn man diese nicht gutheissen mag – zumindest unter dem Gesichtspunkt des Shareholder Value nachvollziehbar. Und Laurent ist kein über alle Zweifel erhabener Kämpfer für das Gute, sondern ein Mann voller WiSurprise 449/19


Pragmatische Pracht Buch Das Sachbilderbuch «Die Feder» entfaltet

Links «En Guerre»: Die Logik der Geschäftswelt und die Menschlichkeit stehen im Gegensatz zueinander. Rechts «Nos Batailles»: Elternrollen in der modernen Arbeitswelt.

die ganze Palette der Farben, Formen und Funktionen dieses Wunders der Natur. Federn, schreibt die Illustratorin und Autorin Britta Teckentrup, seien zugleich «zerbrechlich und stark, extravagant und wunderschön». Man kann sie, ohne zu zögern, als eines der vielen Wunder der Natur bezeichnen. Dabei sind sie wie viele andere in erster Linie eine pragmatische Lösung im Überlebenskampf, aber deshalb nicht weniger prachtvoll. Es lohnt sich also, einen genaueren Blick auf dieses Wunder zu werfen, so wie es die Plumologie tut, die Federkunde, ein Teilgebiet der Ornithologie, der Vogelkunde. Und so wie auch Britta Teckentrup, die in ihrem Sachbilderbuch «Die Feder» das Wissen rund um dieses federleichte Etwas in Wort und Bild entfaltet. So erfahren wir viel über Wachstum, Aufbau und Aerodynamik der Federn, über Federtypen und ihre Funktion, über die Vielfalt der Formen und Farben mit all ihren Eigenschaften. Federn haben wirklich viel zu bieten. Wenn man allein bedenkt, wozu sie alles gut sind. Dank ihnen können die meisten Vögel nicht nur fliegen, sondern etliche auch schwimmen. Sie schützen vor Hitze und Kälte, dienen als Kletterhilfe (beim Specht) oder zum Schneeschuhwandern (beim Alpenschneehuhn), ja, selbst als Schall- und Hörtrichter (bei der Eule) oder gar zum Singen – nach dem Prinzip der Geige, wobei hier Federn über Federn streichen. Und nicht zuletzt gehören sie zur Grundausstattung aller «Angeber» in der ganzen Vogelschar, die mit schillernden Federn und Imponiergehabe um die Gunst der Weibchen buhlen. Apropos Fliegen: Auch das entpuppt sich nur als Sammelbegriff einer ganzen Palette von Flugtauglichkeiten. Da gibt es schnelles Abheben und Ausweichen (Fasan, Auerhuhn), Gleiten (Greifvögel, Störche), Hochgeschwindigkeit (Schwalben), langsames Schlagen (Reiher), Schweben (Kolibri), bis hin zum lautlosen Flug der Eule oder schier endlos reglosem Segeln. Der Wanderalbatros etwa schafft Hunderte von Kilometern ohne Flügelschlag und reist mit seiner Spannweite von 3,5 Metern bis zu 15 000 Kilometer übers Meer. Die Vogelwelt spart nicht mit Superlativen. Und hat beim Aufbau des Gefieders, so nebenbei, den Klettverschluss erfunden – lange vor dem Homo sapiens! Kein Wunder, dass diese Geschöpfe, die sich da in den Lüften tummeln, die Menschen stets fasziniert haben. Der Traum vom Fliegen hat nicht nur nach unzähligen Bruchlandungen zum hemmungslosen Flugbetrieb der Neuzeit geführt, die Vögel haben auch viele unserer Märchen und Mythen beflügelt. Davon und von vielem mehr erzählt Britta Teckentrup schlicht und sachlich, klar im Aufbau, anschaulich und leicht verständlich. Mit so zarten wie farbstarken Bildern, die pragmatisch illustrieren, aber deshalb nicht weniger prachtvoll sind. CHRISTOPHER ZIMMER

FOTOS: (1) XENIXFILM, (2) CINEWORX

Stéphane Brizé: «En Guerre», F 2018, 115 Min., mit Vincent Lindon, Mélanie Rover, Jacques Borderie u.a. Guillaume Senez: «Nos Batailles», BEL/F 2018, 98 Min., mit Romain Duris, Laure Calamy, Laetitia Dosch u.a. Beide Filme laufen zurzeit im Kino.

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FOTO: ZVG

dersprüche, der auch mal über das Ziel hinausschiesst. Einen subtileren Zugang zum Thema Arbeitskampf schafft «Nos Batailles», ein Drama des franko-belgischen Regisseurs Guillaume Senez. Während «En Guerre» fast ausschliesslich auf den lauten, öffentlich ausgetragene Kampf um den Erhalt einer Fabrik fokussiert, dient die Arbeitswelt in Senez’ Film als Sprungbrett, um tief in das Privatleben des Gewerkschafters Olivier (Romain Duris) einzutauchen. Er ist Vorarbeiter im Lager eines Versandhauses, und gleich zu Beginn erschüttert der Suizid eines Kollegen, dem altershalber gekündigt worden ist, die Belegschaft. Wenig später ereilt auch Olivier eine persönliche Katastrophe: Ohne ein Wort der Erklärung lässt ihn seine Frau alleine mit den zwei gemeinsamen Kindern sitzen. Die Mehrfachbelastung als Vater, Teamleiter und Gewerkschafter reibt ihn auf und die Anstrengung, die es ihn kostet, seinen Kindern trotz dem Verschwinden der Mutter ein Restgefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln, ist beinahe physisch spürbar. Auch «Nos Batailles» ist in der Hauptrolle stark besetzt. Unter dem Eindruck der teilweise gewalttätigen Gelbwesten-Proteste, die sich in Frankreich seit 2018 entladen, meint man, in beiden Filmen Vorzeichen dafür zu orten. Der Zorn der Gelbwesten richtete sich ursprünglich und vordergründig gegen eine Steuererhöhung auf fossile Brennstoffe. Aber die Heftigkeit, mit der sie ihren Frust auf die Strassen tragen, lässt einen die wahren Ursachen eher dort vermuten, wo die Unsicherheit besonders gross ist: am bedrohten Arbeitsplatz. Stéphane Brizé, der sich für «En Guerre» intensiv mit der Berichterstattung über Arbeitsunruhen auseinandergesetzt hat, sagt im Pressedossier: «Was führt zu plötzlichen Ausbrüchen von Gewalt? Es ist Wut, die sich durch Demütigung und Verzweiflung nährt und sich über Wochen harten Kampfes ausbreitet.»

Britta Teckentrup: Die Feder Prestel 2018 CHF 34.90

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Sind wir kommunikationsgestört? Theater Diskussionskultur, Schamgrenzen, Stille – oder einfach mal den Hammer in die Hand

nehmen. Das Thema des auawirleben Theaterfestivals Bern heisst: «Wir müssen reden». TEXT KATJA ZELLWEGER

Wenn der Titel «Wir müssen reden» heisst, muss man die Festivalleiterin fragen: Sind wir kommunikationsgestört? «Ja», schmunzelt Nicolette Kretz vom Berner Theaterfestival auawirleben, «wir ‹kommunizieren› einander zwar ‹an›, schreiben sehr viel in den sozialen Medien oder via Whatsapp. Aber im realen Raum kommunizieren wir wenig.» Digital sei es viel einfacher, etwas «hinzupfunden», als es zu diskutieren. «Doch wenn Aussagen wie ‹Ich bin kein Rassist, aber› salonfähig werden, dann müssen wir Paroli bieten.» Kretz versteht das Festivalmotto auch als Provokation: «Angesichts der weltweiten Klima-Demos ist es doch auch absurd zu sagen: Wir müssen reden. Vielleicht ist auch mal zu viel ‹gschnurret› und wir müssen handeln!» Darum ist der Festivalauftakt eine reine Handlungsaufforderung. In «Worktable» der neuseeländischen Künstlerin Kate McIntosh kann das Publikum ein Objekt zerstören, ein anderes zerstörtes nach eigenem Gutdünken zusammenbauen und schliesslich ausstellen. Eine Art haptische Einzeltherapie also, die von Handlung lebt. «Yes and No» vom Maxim Gorki Theater Berlin (Regie: Yael Ronen) wiederum ist ein Stück zur #Metoo Debatte. Darin untersuchen Schauspielerinnen und Schauspieler Kommunikation in Bezug auf Sexualität, Begehren, Vergewaltigung, Übergriff oder Geschlechterrollen, kurz: auf Schambehaftetes. #Metoo erweist sich hier als befreiend und anstrengend zugleich. Spielregeln müssen diskutiert werden. Apropos Spielregeln: Auawirleben zeigt auch £¥€$ (ausgesprochen «Lies», also «Lügen») von Ontroerend Goed aus Belgien. In Black-Jack-Anordnung können alle ihren Spiel-Sauhund auspacken und den lauten Börsianer oder den verdeckten Investor 24

einer Bank mimen. Welche Rolle hier Kommunikation, Information und Desinformation spielen, lernt man spielend. Das Festival setzt auch eine Idee aus dem englischen Raum um: relaxed performances. In einem dunklen Raum fallen Leute mit Angst- und Panikstörungen, eigenwilligem Verhalten oder weinenden Babys auf. Jeder kann rein und raus, wann er will. «Wir wollen nicht nur Bühnenformen hinterfragen, sondern auch Zuschauerkonventionen und -strukturen», sagt Nicolette Kretz. Der einzig mögliche Platz ist die Bühne Die Britin Jess Thom zeigt ihr erstes Stand-up-ComedyProgramm «Stand Up, Sit Down, Roll Over», in dem sie selbst ihr sogenannt «auffälliges Verhalten» thematisiert. Thom hat das Tourette-Syndrom und beschloss nach erniedrigenden Erfahrungen als Theaterzuschauerin, «den einzigen Platz im Haus zu kapern, von dem ich nicht verwiesen werden konnte: die Bühne», wie sie in einem TV-Interview sagt. Und auf dieser glänzt sie, deren Körper nervös im Rollstuhl schüttelt, deren Hand auf den Brustkorb schlägt und die über 16 000 Mal täglich «biscuit» sagt. Auch eingeladen ist «Jeden Gest» («eine Geste») vom Nowy Teatr Warschau. Es ist ein Stück über Gebärdensprache, die im sozialistischen Polen verboten war, aber eine eigene internationale Subkultur bildet. Eine Sprachwelt, in der einem das Hören vergeht. auawirleben, Theaterfestival Bern, Mi, 8. bis So, 19. Mai, Dampfzentrale Bern, Tojo Theater, Schlachthaus Theater Bern, Grosse Halle Reitschule. auawirleben.ch

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BILD(1): JAMES LYNDASY, BILD(2): UTE LANGKAFEL, BILD(3): MICHIEL DEVIJVER, BILD(4): KOBAS LAKSA

1 Jess Thom: «Stand Up, Sit Down, Roll Over» 2 Maxim Gorki Theater/ Yael Ronen: «Yes but No» 3 Ontroerend Goed (Gent): «£¥€$» 4 Nowy Teatr (Warschau): «Jeden Gest»


Und dann schreit sie Theater Im Ein-Frau-Stück «Verschtehsch? 1000 und 1 Fall einer Übersetzerin» verarbeitet Dolmetscherin

Zarina Tadjibaeva als Comedian ihre Eindrücke aus zwanzig Jahren Berufserfahrung.

FOTO: FOTOZUG.CH

TEXT MARIA GERHARD

Zarina Tadjibaeva macht aus Tragik Comedy.

Als sie die Bühne betritt, sieht man ihr Gesicht nicht. Zarina Tadjibaeva versteckt es hinter ihrem schwarzen Haar. Dann schaut sie auf, blickt das Publikum an: Olga, die Dolmetscherin mit breitem russischen Akzent ist erwacht. Sie wedelt streng mit dem Zeigefinger: «Man darf fremde Menschen nicht so verwohnen!» Olga hat einen Asylbewerber angestellt, der ihr die grobe Arbeit abnehmen soll. Er ist unpünktlich. «Unglaublich. Mir wurde doch schliesslich auch nichts geschenkt.» Pause. «Ich musste schliesslich auch erst einen reichen Schweizer finden!» Olga ist ein Klischee, aber auch ein Mittel zur Kritik. «Als Übersetzerin darfst du dich nie zu wichtig nehmen», sagt Tadjibaeva später, «es geht um die Aufgabe, nicht um uns als Personen. Wir müssen uns um Neutralität bemühen.» Tadjibaeva ist seit über zwanzig Jahren Dolmetscherin für Russisch und Persisch. Sie ist aber auch ausgebildete Schauspielerin und Sängerin. All das bringt sie in dem Stück «Verschtehsch? 1000 und 1 Fall einer Übersetzerin» ein. Mit dem Titel spielt sie auf «Tausendundeine Nacht» an. Ihr Heimatland Tadschikistan, das einst zu Persien gehörte, hat eine grosse Tradition, was das Erzählen von Geschichten betrifft. Zwar sind die Figuren, die Zarina Tadjibaeva darstellt, fiktional. Aber alles, was sie erzählt, hat sie selbst erlebt. Als Surprise 449/19

Dolmetscherin bei Elterngesprächen, vor Gericht, beim Frauenarzt. Von den Behörden bis zu den Migranten und den Vertretern des Hilfswerks, jeder bekommt sein Fett weg. «Ursprünglich wollte ich nur Geschichten aus dem Migrationsamt nehmen», sagt die 43-Jährige. «Aber dann habe ich gemerkt, es wird sehr schnell schwarzweiss: der arme Flüchtling, die unfaire Behörde, der böse Staat. So ist das aber nicht wahr.» Also öffnete sie ihr Stück für weitere Schauplätze. «Und plötzlich ist da nicht nur Tragik, sondern auch Humor.» Letztlich seien wir alle sehr mit unseren eigenen Problemen beschäftigt. «Aber wenn man lacht, öffnet man sein Herz und die Seele.» Und das ist der Moment, in dem Tadjibaeva mit härterer Kost auffährt. Die Übersetzerin hört hässliche Dinge Dann erzählt die Schauspielerin zum Beispiel von einem Iraner, der in seinem Land gefoltert wurde. Das erste Mal an diesem Abend sind die Frauen und Männer ganz still. «Man hat ihn an den Füssen aufgehängt und mit Elektroschockern drangsaliert.» Die Flucht gelingt, und er kommt in die Schweiz. «Über sein Trauma konnte er nicht reden, er hat eine posttraumatische Belastungsstörung.» Tadjibaevas Blick ist fest, fast kühl. Er ruht auf den Gesichtern der Zuschauer. Der B-Ausweis wird dem

Iraner verweigert, weil den Behörden für ein Asylgesuch schlichtweg die Gründe fehlen. Er fällt in ein noch tieferes Loch, er ist suizidgefährdet. Es sind unter anderem Geschichten wie diese, die ihren Beruf als Übersetzerin nicht immer leicht machen. «Ich bin wie ein Sprachrohr, und manchmal werden durch mich hässliche, verletzende, rassistische Dinge hindurchgelassen.» Dann rumort es in ihr. Und tatsächlich ist einer der stärksten Momente des Stückes jener, in dem sie aus ihrer Rolle ausbricht, aber wie es scheint auch aus sich selbst. «Immer heisst es Neutralität, professionelle Distanz – am Arsch!», schreit sie ihren Frust über die Köpfe hinweg. Ihre Worte hallen im Treppenhaus nach. Tadjibaeva hat es Überwindung gekostet, das Stück zu realisieren. «Ich hatte Angst, ich stand noch nie alleine auf der Bühne», sagt sie im Gespräch nach der Vorstellung. Der Regisseur Andrej Togni, der das Skript geschrieben und mit ihr geprobt hat, beruhigt sie: «Du hast doch deine Rollen, die du verkörperst.» Zarina Tadjibaeva: «Verschtehsch? 1000 und 1 Fall einer Übersetzerin», Do, 9. Mai, ONO Bern, Kramgasse 6; Fr, 10. Mai, MiMos Zürich, Kornhausstrasse 18; weitere Termine ab Herbst in Langnau a.A., Zürich, Bern, Chur. verschtehsch.net

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Zürich «Gottfried Keller – Der träumende Realist», Ausstellung, bis So, 26. Mai, Di bis Fr, 12 bis 18 Uhr, Do 12 bis 22 Uhr, So / So 11 bis 17 Uhr, Strauhof, Augustinergasse 9. strauhof.ch

Der Strauhof zeigt uns noch bis Ende Mai, wie Keller die Realität in Geschichten verwandelte. So macht «Der grüne Heinrich» – einer der bedeutendsten Bildungsromane des 19. Jahrhunderts (mit autobiografischen Zügen) – klar, dass es auch vor 200 Jahren nicht unbedingt einfacher war, seinen Lebensweg zu finden. Keller schrieb über seinen Protagonisten: «Er sieht alles mit offenen klaren Augen an und gerät als ein liebenswürdiger lebensfroher Geselle unter allerlei Leute, schliesst Freundschaften, welche einem Charakterbilde zur Ergänzung dienen, und berechtigt zu grossen Hoffnungen. Als aber die Zeit naht, wo er sich in ein festes geregeltes Handeln, in praktische Tätigkeit und Selbstbeherrschung finden soll, da fehlt ihm dieses alles.» DIF

Zürich «NACH ZÜRICH. Kontroversen zur Stadt – Ein Anarchiv», Ausstellung, bis So, 25. August, Mi bis So 14 bis 18 Uhr, Zentrum Architektur Zürich, Höschgasse 3. zaz-bellerive.ch

Was für eine Rolle spielen Stadt, Raum und Architektur in unserem Leben – jetzt und zukünftig? Das ZAZ Bellerive thematisiert die Stadt als einen Ort, der unser aller Leben prägt und zugleich erst durch unsere Nutzung entsteht. Durch Stadtplanerinnen und Skater genauso wie durch Bauherren und Buschauffeure, Architekten und Schulkinder, Forscherinnen und Stadtwanderer, Hausbesitzerinnen

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wie Hausbesetzer. «Nach Zürich» ist ein Ausgangspunkt für die Diskussion brennender aktueller Fragen, die das ZAZ in wöchentlichen Veranstaltungen aufgreift. Es sind kontroverse Themen, die auch wir wichtig, schön und spannend finden: Wohnungsnot und bezahlbares Wohnen, Lärm und Luftverschmutzung, innerstädtische Wohnquartiere und urbane Qualitäten, Gentrifizierung und Nutzung des öffentlichen Raums. Die nächsten Termine: «Urbane Qualitäten in Neubauquartieren» (7. Mai) und «Urbanität statt Dichtestress» (11. Mai) oder «Die Stadt über dem Bahnhof: Von HB Südwest bis Europaallee» (28. Mai). Weitere Veranstaltungen online. DIF

Langenthal «a curbing wall of debris\ landfilling. Pedro Wirz: Unbehaust. Anja Braun, Leo Hofmann, Daniel V. Keller, Lynne Kouassi, Rebecca Kunz», bis 23. Juni, Kunsthaus Langenthal, Marktgasse 13. kunsthauslangenthal.ch

Themen wie Gastfreundschaft, Migrationsbewegungen und globaler Ressourcenverbrauch finden bei Anja Braun, Leo Hofmann, Daniel V. Keller, Lynne Kouassi und Rebecca Kunz die Metapher eines durchlöcherten Hauses. Es geht um ein Unbehaustsein in vielfältigem Sinn: in der digital veränderten Kommunikation, in der Auflösung von Privatem und Öffentlichem, in der modernen Mobilität. Auch bei Pedro Wirz geht es um Behausungen: Aus Erde, Bienenwachs und Textilien lässt Wirz Eier, Tiere und Behausungen entstehen und Menschengemachtes naturbelassen aussehen. DIF

Doisneau zählt. Weitere grosse Namen in der Ausstellung sind Henri Cartier-Bresson oder René Groebli. Sie alle haben rund um die Welt die Menschen in ihrem Alltag festgehalten und bewiesen, dass Personen ohne Berühmtheit ein Bild mit ihrem Charakter und Dasein zu prägen vermögen. Interessant ist die Kombination von Ausstellungsort und Motiven: Im zugehörigen «Restaurant du Cœur» kochen Leute, die arbeiten möchten, aber aufgrund ihres Aufenthaltsstatus nicht dürfen. Auch sie: Menschen, DIF die oft übersehen werden.

Basel «Die Kunst der Zuneigung – Meilensteine der Sozialfotografie», Ausstellung, bis Di, 18. Juni, Mo bis Fr, 11 bis 15 Uhr oder auf Anmeldung: 061 271 10 14. soupandchill.com, restaurant-du-coeur.ch Das Soup&Chill ist eine soziale Institution, die zur Zeit eine kleine Ausstellung sozial engagierter Fotografie zeigt. So gehört etwa die schweizerisch-französische Fotografin Sabine Weiss zur «école humaniste», zu der auch Robert ANZEIGE

Für Menschen mit Herz und Hirn Die unabhängige Zeitschrift für Religion und Gesellschaft in der Schweiz

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BILD(1): ZENTRALBIBLIOTHEK ZÜRICH, GRAPHISCHE SAMMLUNG, BILD(2): GTA ARCHIV, BILD(3): FRANCESC CATALÀ-ROCA, MUSEO REINA SOFIA

Veranstaltungen


ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT

Agglo-Blues

Folge 32

Der Chef Was bisher geschah: Bei den Ermittlungen im Fall eines ermordeten Ingenieurs erzählt dessen Ehefrau, dass es am Stress im Beruf lag, dass der Gatte den ehelichen Pflichten nicht mehr nachkommen konnte. Am nächsten Morgen rief Brandstetter die Sekretärin Erika Hofmann an, um einen Termin mit dem CEO zu vereinbaren. «Er fliegt heute noch nach Kanada. Seine Mutter hat gesundheitliche Probleme.» Widerwillig rückte Hofmann die Handynummer ihres Vorgesetzten Leon Bloom heraus. «Herr Bloom, ich bin Kriminalpolizistin, ich muss Sie sprechen … Nein, heute noch … Herr Bloom?» Er hatte aufgehängt. Brandstetter schnaubte und rief die Kollegen am Flughafen an. Zwei Stunden später betrat sie ein Verhörzimmer bei der Flughafenpolizei. Ein Uniformierter führte sie hinein und postierte sich neben der Tür. Bloom, der früh Karriere gemacht hatte, war 34 Jahre alt, Brandstetter hätte ihn für einen gepflegten, gutfrisierten Wirtschaftsstudenten in einem edlen Anzug gehalten. Wutentbrannt sprang er auf, als sie das Zimmer betrat. «Das wird Sie teuer zu stehen kommen», schrie er. «Das ist Freiheitsberaubung. Ihren Job sind Sie los, Sie dumme …» Er sprach hochdeutsch mit englischem Akzent. Brandstetter trat dicht vor ihn hin. «Überlegen Sie sich gut, was Sie sagen, Mister Bloom. Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Sie drücken die Polizei nicht weg, wenn Sie um Mithilfe in einem Mordfall gebeten werden, kapiert?» Blooms Lippen zitterten. Es hätte ihr gefallen, wenn er sie angegriffen hätte. Auch sie war wütend. Sie kannte diese eingebildeten Businesstypen, die «Fight Club» geschaut und ein paar Krav-Maga-Kurse besucht hatten. Sie glaubten, unbesiegbar zu sein, und vernachlässigten ihre Deckung. Es hätte ihr Spass gemacht, ihn niederzuschlagen. «Ohne meinen Anwalt sage ich gar nichts.» Bloom setzte sich wieder. «Er sollte jeden Moment hier sein.» «Erzählen Sie mir etwas über das Punktesystem, mit dem Sie die älteren Angestellten der Comartec um ihren Arbeitsplatz kämpfen lassen. Reto Schwander war sehr aufgebracht deswegen. Er wollte damit an die Presse gehen. Haben Sie ihn daran gehindert?» Brandstetter lehnte sich an den Tisch. Blooms Augen verengten sich, er presste die Lippen zusammen. Surprise 449/19

«Schwander war ein Perfektionist, er hat alles genau dokumentiert. Die Sache wird ohnehin ans Licht kommen.» Sie improvisierte, um ihn zu provozieren. «Hier in der Schweiz haben die Angestellten Rechte, es gibt Gewerkschaften, die Leute müssen sich nicht alles bieten lassen.» Sie dachte an ihren Vater, den alten Sozialdemokraten, der sein Leben lang für diese Rechte gekämpft hatte, um dann zuschauen zu müssen, wie sie Stück für Stück abgebaut wurden. «Seit wann ist es verboten, Mitarbeiter an ihrer Leistung zu messen?», explodierte Bloom. «Das Umfeld für die Maschinenindustrie ist schwierig, nur die Besten werden überleben. Es ist meine Pflicht, das Unternehmen fit für den Wettbewerb zu machen.» Angewidert schüttelte er den Kopf. «Ausserdem war Schwander ein guter Mann und überhaupt nicht gefährdet.» «Es gibt also ein Bewertungssystem», triumphierte Brandstetter. Die Tür des Verhörzimmers ging auf. Der Anwalt war da, ein rundlicher Mann mit einer Halbglatze und einem erstaunlich schlechtsitzenden Anzug. Brandstetter hatte einen perfekt zurechtgemachten Dressman erwartet. Ich schaue zu viele Serien, dachte sie. «Sag nichts, Leon. Kein Wort.» Er wedelte mit einem Schriftstück. «Ich verlange, dass mein Klient sofort freigelassen wird. Es ist völlig unverhältnismässig, ihn hier festzuhalten. Ihre Fragen können Sie auch schriftlich stellen. Wenn er seinen Flug verpasst, klagen wir auf Schadenersatz.» Brandstetter zögerte, der Uniformierte mischte sich ein. «Ich weiss nicht, ob ich das riskieren würde. Weisst du, was so ein Erstklassticket kostet?» «Nein, und es ist mir scheissegal.» «Hören Sie auf Ihren Kollegen», riet der Anwalt. «Der Flieger geht in zwanzig Minuten. Wenn Sie meinen Mandanten sofort freilassen, kann er ihn noch erwischen. Sie müssen sich jetzt entscheiden.» Brandstetter sah Bloom in die Augen. «Wir sind noch nicht miteinander fertig, Bürschchen», sagte sie. «Aber von mir aus, gehen Sie.» Sie verliess das Verhörzimmer und den Flughafenposten. In der Bye-Bye-Bar trank sie kurz hintereinander zwei Stangen, ehe sie mit der S-Bahn nach Hause fuhr.

STEPHAN PÖRTNER schreibt und lebt in Zürich. Alle bisher

erschienenen Folgen des Fortsetzungskrimis gibt es zum Nachlesen und -hören unter surprise.ngo/krimi

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

02

Brother (Schweiz) AG, Dättwil

03

Kaiser Software GmbH, Bern

04

Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

05

Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

06

Physiopraxis M. Spring/S. Zeugin, Basel

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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Cantienica AG, Zürich

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Madlen Blösch, Geld & so, Basel

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Schluep & Degen, Rechtsanwälte, Bern

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Ozean Brokerage & Shipping AG, Muttenz

12

Beat Vogel, Fundraising-Datenbanken, Zürich

13

InhouseControl AG, Ettingen

14

Infopower GmbH, Zürich

15

Büro Dudler, Raum- und Verkehrsplanung, Biel

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Hedi Hauswirth Psychiatrie-Spitex, Oetwil a. S.

17

SISA Studio Informatica SA, Aesch

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Stellenwerk AG, Zürich

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grafikZUMGLUECK.CH, Steinmaur

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Waldburger Bauführungen, Brugg

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Volonté Ofenbau, Schwarzbubenland

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CISIS GmbH, Oberwil

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RLC Architekten AG, Winterthur

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Sternenhof, Leben und Wohnen im Alter, Basel

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Praxis für die Frau, Spiez

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Josiane Graner, Juristin, wurde in ihrem Leben von schweren Schicksalsschlägen getroffen. Sie kämpft und steht immer wieder auf. Ein Geschäftsprojekt, das sich zum Flop entwickelte, führte sie 2010 zu Surprise. Ihr Geschäftspartner hatte sich ins Ausland abgesetzt und sie mit dem Schuldenberg allein gelassen. Um ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten, verkauft Josiane Graner in Basel das Strassenmagazin. Zudem ist sie für den Aboversand zuständig. Dank des SurPlus-Programms erhält sie ein ÖVAbonnement und Ferientaggeld. Diese Zusatzunterstützung verschafft der langjährigen Surprise-Verkäuferin etwas mehr Flexibilität im knappen Budget.

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 14 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise #443: Herr Mourad und seine Richter

Strassenmagazin

Stadtrundgang Zürich

«Zwei Seiten»

«Genug Gutes»

Ich schätze Surprise als Stimme für Menschen, denen es wirtschaftlich nicht gut geht und die für ihr Auskommen selber sorgen wollen. Der erwähnte Artikel hat mich seltsam berührt und irritiert. Das Schicksal des Algeriers ist eloquent erzählt, gleichzeitig aber einseitig fokussiert auf die Aussagen des Betroffenen. Für mich hat jede Geschichte zwei Seiten – die Sicht des Betroffenen wie die der Gegenseite. Rachid Mourad heiratete eine Schweizerin. Die Ehe endete bald in einem Streit. Die Gründe hätte ich gerne näher ausgeleuchtet gehabt angesichts der Tatsache, dass der Beschuldigte laufend mit Gesetzen und Vorschriften in Konflikt geriet. Wenn im Artikel Justiz und Strafvollzug heftig angegriffen werden, sollte man auch die Eigenverantwortung des Beschuldigten in unserer Gesellschaft kritisch hinterfragen.

Ich würde mehr Surprise-Ausgaben kaufen, wenn die Artikel etwas aufmunternder wären. Ich fände es schön, wenn mindestens 50 Prozent des Inhalts positiv ausgerichtet wären, zum Beispiel Erfolgsstorys, schöne Geschichten aus dem Leben, auch oder vor allem über Armutsbetroffene. Das würde den Betroffenen Mut machen und vielleicht eine Inspiration sein für Surprise-Kunden, sich noch mehr sozial zu engagieren. Ich glaube, durch einen positiven Fokus wird mehr erreicht und geholfen als durch das alleinige Aufzeigen von Missständen. Es gibt genug Gutes, das passiert, in armen wie in reichen Kreisen, man muss nur die Augen dafür offenhalten.

«Braucht Mut»

B. SCHIRMER, Schinznach-Bad

G. SCHENKEL, Pfäffikon SZ

R. ERROUGHI

#447: Am Ende im Abseits

«Eigenverantwortung» Der Alkohol ist schuld in Ihrer Reportage, an allem Möglichen im Leben des Herrn Spannenberger. Wenn schon mit 29 Jahren die Ehe wegen Alkoholexzessen in die Brüche geht, wie konnte er überhaupt als Lastwagenchauffeur arbeiten? So viel zum Thema Eigenverantwortung. Seine Geschichte sei «sehr deutsch». «Typisch deutsch» und dergleichen: gähn. Das hätte ich von Ihrer Zeitschrift, die ich regelmässig kaufe, nicht erwartet.

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Sara Winter Sayilir (win) Amir Ali (ami), Diana Frei (dif) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Rahel Nicole Eisenring, Georg Gindely, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Semhar Negash, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Daniel Amann, Monika Bettschen, Maria Gerhard, Susanne Keller, Armin Köhli, Sophia Martineck, Meinrad Schade, Benjamin von Wyl, Katja Zellweger Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck AVD Goldach Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach

Der Stadtrundgang mit Stadtführer Daniel Stutz hat alle Teilnehmenden begeistert! Er macht das wirklich sehr gut. Wir waren beeindruckt, wie offen Daniel Stutz von seinem Leben erzählt. Das braucht Mut. Er zeigte sich zudem sehr flexibel und beantwortete alle Fragen. Vielen Dank für dieses tolle Angebot, die ganze Gruppe wird es weiterempfehlen.

R. WIGET, Arztpraxis Kreis 9, Zürich

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name

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FOTO: SUSANNE KELLER

Surprise-Porträt

«Ich will mein Bestes geben» «Ich glaube, ich bleibe bei Surprise, bis ich pensioniert bin. Ich bin so froh, dass ich diese Tätigkeit gefunden habe. Vorher habe ich unzählige Bewerbungen geschrieben und immer nur Absagen erhalten. Ich bin vor fünf Jahren von Vršac, einer Stadt im Nordosten von Serbien nahe der rumänischen Grenze, in die Schweiz gezogen. Mein Lohn reichte je länger, je weniger zum Leben, und überhaupt gab es in Serbien ständig irgendwelche politischen Probleme. Ich habe in meiner Heimat als Finanzökonom in der Buchhaltung gearbeitet. Eine ähnliche Tätigkeit in der Schweiz zu finden ist für mich sehr schwierig. Ich bin zwar seit meiner Ankunft am Deutsch lernen, aber meine Kenntnisse reichen nicht aus, um hier beruflich auf meinem Gebiet anzuknüpfen. Und wenn ich mich bisher auf andere Stellen beworben habe, hiess es immer, ich sei zu alt oder zu unerfahren. Dazu muss ich ehrlicherweise sagen, dass ich handwerklich komplett unbegabt bin. Auch in der Küche oder im Service sehe ich für mich leider keine Möglichkeit. Im Mai vor einem Jahr, nachdem ich immer wieder Leute Surprise verkaufen sah, habe ich mich entschieden, mich beim Büro in Bern zu melden. Nun verkaufe ich fast jeden Tag und bei jedem Wetter ein paar Stunden vor der grossen Coop-Filiale im Zentrum von Langenthal. Wenn ich genug vom Stehen und Verkaufen habe, gehe ich manchmal joggen, Velo fahren oder einfach nur spazieren. Als Finanzökonom finde ich es spannend zu beobachten, wie unterschiedlich die Verkäufe sind. An manchen Tagen hat es ganz viele Leute, aber ich verkaufe wenige Hefte, an anderen Tagen hat es wenig Leute, trotzdem verkaufe ich viel. Man kann es nie voraussagen. In meinem ersten Jahr konnte ich mir eine grosse Stammkundschaft aufbauen. Ich habe schon oft gehört: ‹Ich kaufe das Heft nur wegen Ihnen. Sie sind jeden Tag hier.› Es scheint den Leuten zu gefallen, dass ich so regelmässig verkaufe. Mit vielen Kundinnen und Kunden unterhalte ich mich, manche laden mich sogar im Coop-Restaurant zu einem Kaffee ein. Als Dankeschön und Glücksbringer schenke ich ihnen eine kleine Marienfigur oder den ‹Sveti Anton›, den heiligen Anton, der bekannt ist als Schutzpatron der Kinder. Ich habe übrigens auch zwei Töchter. Sie sind schon 29 und 30 Jahre alt. Eine hat bereits selbst eine kleine Tochter. Sie leben alle in Vršac, und wenn ich es schaffe, genügend Geld für die Reise auf die Seite zu legen, werde ich sie im Sommer besuchen. 30

Nikola Babic, 50, verkauft Surprise im Zentrum von Langenthal. Seine Verkaufszahlen beobachtet er interessiert, denn Zahlen beschäftigten ihn schon in seiner früheren beruflichen Tätigkeit in Serbien täglich.

Dank dem Surprise-Unterstützungsprogramm SurPlus, in das ich kürzlich aufgenommen wurde, werde ich in Zukunft auch während der Ferien Lohn erhalten, und zwar so viel, wie ich in den letzten Monaten im Durchschnitt verdient habe. Unterstützt werde ich auch mit Geld für das ÖV-Monatsabonnement und, falls es einmal nötig sein sollte, mit Krankentaggeld. Ich bin sehr dankbar, dass ich ins Programm aufgenommen wurde. Ich bin wirklich sehr froh, dass ich den Weg zu Surprise gefunden habe – so muss ich mir auch nicht mehr dauernd den Kopf zerbrechen, wie ich mit meiner Qualifikation, meinen Deutschkenntnissen und in meinem Alter eine Arbeit finden könnte. Ich will lieber jeden Tag bis zu meiner Pensionierung mein Bestes geben.»

Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN

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SURPRISE-GYMBAG CHF 20.– (exkl. Versandkosten) 100% Baumwolle, hergestellt in Handarbeit in Griechenland. Erhältlich in rot und schwarz.

SURPRISE-ETUI CHF 27.– (exkl. Versandkosten) Hergestellt von JLTbag in Altdorf, Uri. JLTbag beschäftigt in der Produktion anerkannte Flüchtlinge und fördert damit deren Ausbildung und Integration. Erhältlich in rot und schwarz.

SURPRISE-MÜTZE CHF 35.– (exkl. Versandkosten) 100% Merinowolle, hergestellt in der Schweiz von Urs Landis Strickwaren in fünf unterschiedlichen Farben und in zwei Modellen. Links: Modell Knitwear / Rechts: Modell Klappkapp

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