Surprise Nr. 443

Page 1

Strassenmagazin Nr. 443 1. bis 14. Februar 2019

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass

Rassismus

Zugerichtet

Der Fall eines Algeriers und die Frage: Wie neutral ist die Schweizer Justiz? Seite 8

16

Surprise 443/19


GESCHICHTEN VOM FALLEN UND AUFSTEHEN Kaufen Sie jetzt das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» und unterstützen Sie einen Verkäufer oder eine Verkäuferin mit 10 CHF. «Standort Strasse» erzählt mit den Lebensgeschichten von zwanzig Menschen, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Porträts aus früheren Ausgaben des Surprise Strassenmagazins ergänzen die Texte. Der Blick auf Vergangenheit und Gegenwart zeigt selbstbewusste Menschen, die es geschafft haben, trotz sozialer und wirtschaftlicher Not neue Wege zu gehen und ein Leben abseits staatlicher Hilfe aufzubauen. Surprise hat sie mit einer Bandbreite an Angeboten dabei unterstützt: Der Verkauf des Strassenmagazins gehört ebenso dazu wie der Strassenfussball, der Strassenchor, die Sozialen Stadtrundgänge und eine umfassende Beratung und Begleitung. 156 Seiten, 30 farbige Abbildungen, gebunden, CHF 40 inkl. Versand, ISBN 978-3-85616-679-3 Bestellen bei Verkaufenden oder unter: surprise.ngo/shop Weitere Informationen T +41 61 564 90 90 | info@surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: Surprise NGO INS_Kurzportraet_GzD_Layout 1 09.05.17 15:43 Seite 1 INS_Kurzportraet_GzD_Layout 1 09.05.17 15:43 Seite 1

Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Erlebnis Erlebnis

Expertenrolle Expertenrolle

SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf2die Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen Gesellschaft. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Surprise 443/19


TITELILLUSTRATION: OPAK.CC

Editorial

«Nicht legitim» Ich kenne einen Staatsanwalt. Flüchtig nur, aber als wir uns eines Abends an einer Bar begegneten, war er sehr offen. In ­seinen Fällen, sagte er, habe er es vor allem mit Ausländern zu tun. Sie machten die Schweiz unsicherer und man solle sie hart bestrafen. Ich war verwirrt, denn das ­widersprach allem, was ich wusste und glaubte. Aber ein Staatsanwalt wird doch wissen, wovon er spricht, oder? Unser Reporter Simon Jäggi zitiert in seiner Titelgeschichte zum Thema Rassismus in der Justiz (Seite 8) eine Studie, die der ­Frage nachgeht, ob und wie sich Schweizer Staatsanwälte von «rechtlich nicht ­legi­timen» Faktoren beeinflussen lassen. Die Autorinnen erwähnen einen der 179 ­befragten Staatsanwälte, auch er hatte vom «hohen Ausländeranteil» gesprochen. Die Forscherin begleitete ihn mehrere Tage, und als sie ihn darauf ansprach, dass es sich bei allen Fällen in diesem Zeitraum um

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

Noch zu Gast oder schon zuhause?

6 Challenge League

Nostalgie

7 All inclusive

Bitte lächeln!

8 Rassismus

Wie neutral ist die Schweizer Justiz?

16 Männerhaus

Opfer, Täter, Opfer

«Schweizer ohne Migrationshintergrund» handelte, gab er erstaunt zu, das habe er «nicht gemerkt». Ich finde, diese Anek­ dote bringt das Rassismusproblem der ­Schweizer Justiz ziemlich gut auf den Punkt. Die Faktenlage ist klar: Ausländer sind ­häufiger kriminell. Doch das liegt – auch das ist wissenschaftlich erwiesen – nicht daran, dass sie Ausländer sind. Sondern d ­ aran, dass sie im Schnitt eher männlich und jung sind. Vergleicht man etwa nur die Gruppe der Männer zwischen 15 und 25, macht die Nationalität keinen Unterschied mehr. Wie man sich dazu stellt, hat am Ende viel mit Weltanschauung zu tun. Das ist nur menschlich – aber ein Staatsanwalt ist nicht irgendwer. Er entscheidet über Schicksale. Und ein Staatsanwalt, so viel darf man erwarten, sollte wissen, AMIR ALI wovon er spricht. Redaktor

20 Armut

Vom Leben mit wenig Geld

24 Film

Wo Kunst zur Beute wird

25 Film

Gemeinschaft der Ungleichen

26 Veranstaltungen 27 Agglo-Blues

Das Lieblings­ kaninchen

28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt

«Ja, ich habe Fehler gemacht»

Surprise 443/19

3


News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 34 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

150 Franken für eine Nacht im Freien In Dänemark kann die Polizei seit letztem Jahr Strafen und «Zonenverbote» gegen Menschen aussprechen, die auf der Strasse übernachten. Begründet wird dies damit, dass die Camps von Obdachlosen «Unsicherheit erzeugen» würden. Das neue Gesetz wird rigoros angewandt: Im v ­ ergangenen Oktober wurden zwei Verkäufer des Kopen­ hagener Strassenmagazins Hus Forbi von Polizisten in der Nacht geweckt, mit einer Geldstrafe belegt und für drei Monate aus der Innenstadt vertrieben. Nun sammelt das

990,1 Kilometer Zehn EU-Staaten haben seit 1989 ­ an ihren Grenzen Anti-Flücht­lingsMauern ­errichtet. ­Insge­samt sind diese 990,1 Kilometer lang – und damit bereits heute rund sechsmal so lang wie einst die Berliner Mauer.

BODO, BOCHUM/DORTMUND

4

Strassenmagazin Geld, damit ihre Verkäufer das Bussgeld von 1000 dänischen Kronen (rund 150 Franken) bezahlen können. Der Fonds soll zudem helfen, die Betroffenen juristisch zu unterstützen. Hus Forbi hatte zuvor – als Reaktion auf das Gesetz – auch schon ­Demonstrationen mit bis 1000 Teilnehmenden organisiert.

HUS FORBI, KOPENHAGEN

Mehr obdachlose Frauen In Multnomah County, Oregon werden immer häufiger Frauen obdachlos: ­Innerhalb von acht Jahren hat sich ihre Zahl verdoppelt. 2009 lebten 662 Frauen auf der Strasse, 2015 waren es 1161, 2017 schon 1355. «Ich glaube, dass es für uns Frauen auf der Strasse härter ist», sagt Amy, die seit drei Jahren gemeinsam mit ­ihrem Freund Sean mehrheitlich unter einer ­Brücke lebt. «Ich mag es nicht, wenn ich in der Dunkelheit alleine bin, schaue mich immer gut um.» Doch die Frauen seien auch füreinander da. «Wir gehen beieinander vorbei und fragen, ob alles ok ist», so Amy.

STREET ROOTS, PORTLAND

Surprise 443/19

FOTO(1): METTE KRAMER KRISTENSEN, FOTO(2): HELEN HILL

Aufgelesen


ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Drastisch, aber wirksam

Seit der Einführung der Regierungs­ initiative «Youth of Iceland» im Jahr 1998 konnte Island den Anteil der Jugendlichen, die übermässig viel Alkohol konsumieren, von 42 auf 5 Prozent, den der Raucher von 23 auf 3 Prozent und den der Cannabiskonsumenten von 17 auf 7 Prozent (Stand 2016) senken. ­Erreicht wurde dies durch enge ­soziale Kontrolle, Ausgangssperren für Jugendliche zwischen 13 und 16 Jahren (im Winter ab 22 Uhr, im Sommer ab 24 Uhr), Werbeverbote für Zigaretten und Alkohol ­sowie höhere Altersbeschränkungen beim Erwerb derselben. Zu den Massnahmen – die auch aufgrund der kleinen Einwohnerzahl und starken sozialen Kontrolle in dem Inselstaat so effizient umgesetzt werden können – gehört zudem eine engmaschige Einbindung der ­Jugendlichen in familiäre, sportliche, schulische und sonstige Aktivi­ täten, wodurch die Jugendlichen weniger Stress und Ängsten ­ausgesetzt sein sollen.

STRASSENKREUZER, NÜRNBERG

Wohnraumkrise auf der Insel

Auf rund 320 000 wird die Zahl der Wohnungslosen in Britannien ­geschätzt, das sind vier P ­ rozent mehr als 2017. Die Zahl der Menschen, die zudem unter freiem Himmel schlafen müssen, hat sich seit 2010 fast verdoppelt: Rund 4000 bis 5000 verbringen die Nacht auf der Strasse. Die Obdach­losen bilden nur die Spitze des Eisberges namens ­Wohnungslosigkeit. Ende 2017 ­waren fast 80 000 britische Fami­ lien temporär untergebracht und ohne ­festes ­Zuhause, darunter 120 510 Kinder, Tendenz steigend. Die Dunkelziffer liegt noch weit ­darüber, da all diejenigen, die bei Freunden oder Familienange­ hörigen, im Wald oder ihren Autos unterkommen, nicht e­ rfasst werden.

THE BIG ISSUE, LONDON

Surprise 443/19

Vor Gericht

Noch zu Gast oder schon zuhause? Erinnern Sie sich an die Diskussionen um die migrationspolitischen Vorlagen der SVP? Als das Durchspielen hypothetischer Aus­ schaffungsfälle zum nationalen Denksport wurde? Etwa der verliebte Secon­do, der ­seiner Angebeteten Blumen aus einem fremden Garten pflückte. Weg wäre der, ent­ setzten sich die einen. Andere klagten, nicht mal üble Vergewaltiger könnten umstands­ los ausgeschafft werden. Die rechtsstaat­ liche Behandlung von Ausländern, soviel steht heute fest, ist keine einfache Sache. Aber wie läuft ein solches Ausweisungs­ verfahren im konkreten Fall? Wenn ein heute bald 33-jähriger, seit rund 25 Jahren in der Schweiz lebender mazedonischer Staatsangehöriger wegen Strassenver­ kehrsdelikten das Land verlassen soll. Dann ist er schon mal nicht der aus Gerichts­ berichten bestens bekannte übliche «Be­ schuldigte», sondern der «Beschwerdefüh­ rer», der sich gegen seine Ausweisung wehrt. Die Verhandlung ist kein öffentlicher Prozess, sondern ein Schriftenwechsel. In den Augen der Öffentlichkeit wäre er wohl einer dieser aggressiv-tumben Balkan-­ Machos, die mit ihren getunten Karren durchs Mittelland brettern. Auf jeden Fall drehen sich alle der drohenden Ausweisung zugrunde liegenden Straftatbestände ums Auto. Mit 19 brachen er und zwei Kollegen zahlreiche Fahrzeuge auf, um Autoradios und Benzinkarten zu entwenden. Mit 23 lieferte er sich mit einem Kollegen ein spontanes Wettrennen, nachts, bekifft. Er crashte, der Beifahrer verletzt sich schwer. Trotz Führerausweisentzug stahl der junge Mann kurz danach ein Motorrad und fuhr –

ohne Helm – der Polizei davon. Für all das verhängte das Obergericht Zürich 2012 eine Gesamtstrafe von 23 Monaten bedingt. Mit dieser Strafe über einem Jahr seien die Voraussetzungen für den Widerruf seiner Niederlassungsbewilligung gegeben, liess ihn das Migrationsamt wissen. Sollte sich der Mann jetzt nicht um eine «geordnete L­e­ bensweise» bemühen, würde er des Landes verwiesen. Diese migrationsrechtliche gelbe Karte verstand der Angeschriebene nicht, weder sprachlich noch rechtlich. Entspre­ chend tief sass der Schock, als das Migra­ tionsamt nach zwei kleinen Strassenver­ kehrsdelikten vier Jahre später die rote Karte zückte: Ausreisen, innert drei Monaten! Weder die Rekursabteilung der Zürcher Sicherheitsdirektion noch die nächste In­ stanz, das Verwaltungsgericht, haben Gehör für die Einwände des Mazedoniers: Straffrei seit fast fünf Jahren. Das schwerste Delikt, die schwere Körperverletzung aus der Ra­ serei? Fast zehn Jahre her. Was ist mit Frau und Kind? Sein Problem, sagt der Staat. Die Wegweisung sei verhältnismässig, weil sie «für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, zum Schutze der Gesund­ heit und Moral sowie der Rechte und Frei­ heiten anderer notwendig ist». Es sei im öffentlichen Interesse, dass Ausländer, die ihr Gastrecht in der Schweiz missbrauch­ ten, unser Land verlassen müssen. Doch wie lange kann jemand maximal zu Gast sein? Ab wann festigt sich ein Anwe­ senheitsrecht? Ab welcher Aufenthaltsdauer gilt Heimrecht, auch ohne Pass? Mit diesen Fragen wird sich als Nächstes das Bundes­ gericht auseinandersetzen müssen, an das der Beschwerdeführer seinen Fall weiter­ gezogen hat. Y VONNE KUNZ  ist Gerichtsreporterin

in Zürich 5


FOTO: SEMHAR NEGASH

Challenge League

Nostalgie Nun ist aller Weihnachtsschmuck und alle Weihnachts­ stimmung wieder verschwunden. Schade eigentlich, denn ich mag dieses Fest. Weihnachten war immer einer der besten ­Feiertage meiner Kindheit, weil wir zweimal schulfrei hatten. Einmal am 25. Dezember: Dieses Weihnachten nennen wir in meiner Muttersprache Tigrinia «Lidet Tilyan», was übersetzt «Weihnachten der Italiener» bedeutet. Und das andere Mal am 7. Januar, wenn auch viele andere christlich-orthodoxe Län­ der Weihnachten feiern. Denn Eritrea ist eines der Länder, in dem zwei Kalender verwendet werden. Den einen nennt man Geez-Kalender, er ist eine Variante des koptischen Kalenders und hinkt der Jahreszählung des anderen gregorianischen ­Kalenders sieben Jahre und etwa acht Monate hinterher – obwohl der gregorianische später erfunden wurde. Der gregorianische Kalender kam mit den italienischen Kolonisatoren nach Eritrea. Und obwohl wir «Lidet Tilyan» zuhause nicht feiern, waren wir froh um den zusätzlichen freien Tag. Wir putzten das Haus, wuschen die Wäsche, mahlten Getreide und legten den Schmuck für den Tannenbaum bereit. Meine Geschwister und ich schufen Figuren aus Lehm – Engel, Jesus oder die heilige Maria –, bastelten Weihnachtsschmuck aus Süssigkeiten und farbigem Papier, und meine Mutter pflanzte frisches Gras als Willkommensgeschenk für den heiligen Jesus in eine kleine Schüssel. In meiner Grundschule feierten wir am 6. Januar. Dort schauten wir Theater und sangen geistliche Lieder, und vor allem kam der Weihnachtsmann. Mit grosser Vorfreude warteten meine Klassenkameraden und ich darauf. Sobald wir ihn sahen, schrien wir vor Freude, andere hatten Angst, rannten fort und weinten. Der Weihnachtsmann hielt eine Rede über die ­Bedeutung der Geburt Jesu Christi, lobte jene Klassen, die das letzte Jahr in der Schule besonders gut mitgemacht hatten und kritisierte die anderen. Danach übergab er die lang erwar­ teten Weihnachtsgeschenke an unsere Klassenlehrer. Nach der Schulfeier traf ich mich mit meinem Bruder, der schon auf mich wartete. Zusammen gingen wir Zweige vom Zedern­ baum sammeln, mit denen wir später unseren Weihnachtsbaum bauen würden. Dekoriert wurde mit dem, was wir am «italie­ nischen Weihnachten» gebastelt hatten: Kekse, Bonbons, Post­ karten. Das Gras und die Lehmengel stellten wir drum herum. Um Mitternacht dann ging die ganze Familie in bester Klei­ dung in die Kirche. Am nächsten Tag feierten wir zuhause und überbrachten Glückwünsche an Verwandte und Nachbarn. Erstmals verbrachte ich Weihnachten 2012 ausserhalb meiner Heimat. Schnell stellte ich fest, dass für mich der zentrale Wert solcher Feiertage nicht etwa im Materiellen liegt, sondern in der Tatsache, meine Familie um mich zu haben. Gleichzeitig lebte ich nun in einem Land, in dem es so viel bunte Deko gab, wie ich sie mir als Kind immer gewünscht hatte und wie ich sie bisher nur von Postkarten oder Filmen kannte. Nun wusste ich nicht, was mit dem Tag anfangen: Ich fand es 6

In Eritrea ist zweimal pro Jahr Weihnachten, da zwei verschiedene Kalender verwendet werden: Festtagskarte unserer Kolumnistin.

nostal­gisch, allein zu feiern. Trotzdem beschloss ich, irgendwas zu machen, auch, um meiner Familie daheim zu zeigen, dass alles in Ordnung sei. Also kaufte ich eine Telefonkarte, mit der ich meine ganze Familie anrufen und ihr gratulieren würde, und ich plante in die Kirche zu gehen, um dort mit meinem Bruder und einigen Freunden zu feiern. Als ich am 6. Januar in die Stadt ging, um für das abendliche Essen einzukaufen und die Weihnachtsdekoration zu geniessen, sah ich Leute mit Baumaschinen die grossen Tannenbäume und Leuchtdeko­ rationen abräumen. Und obwohl ich mich in den Wochen zuvor eigentlich schon sattgesehen hatte, war ich doch enttäuscht und fragte mich, ob man hier denn gar nicht wusste, dass wir erst am nächsten Tag feiern. Einen Tag hätten sie schon noch warten können.

SEMHAR NEGASH  ist eigentlich nicht ­ ostalgisch. Die Anthropologin aus Bern war n selbst überrascht über ihren plötzlichen Gefühlsausbruch.

Surprise 443/19


ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

ganz normale Menschen zu zeigen, son­ dern sie implizieren durch die zuge­ hörigen Texte, dass eine Behinderung einzig eine Frage der Einstellung sei. Dazu nochmal Stella Young: «Was mich in meinem Leben am meisten behindert, ist die Gestaltung der Umgebung. Sie gibt mir vor, was ich kann oder nicht kann. Aber wenn ich den klugen Sprüchen glauben soll, muss ich die Treppe nur a ­ nlächeln und sie verwandelt sich auf ­wundersame Weise in eine rollstuhl­ gängige Rampe. Und ich kann barriere­ freie Toiletten aus dem Nichts erscheinen lassen, einfach mit meiner positiven ­Ausstrahlung! Ich bin wirklich eine Opti­ mistin, aber das hat bei mir noch nie funktioniert.»

All Inclusive

Bitte lächeln! Vielleicht haben Sie den Satz auch schon irgendwo gelesen: «The only disability in life is a bad attitude.» Auf deutsch: «Die einzige Behinderung ist eine schlechte Einstellung.» In den sozialen Medien kur­ siert diese Aussage oft in Kombination mit dem Foto eines niedlichen Mädchens, das mit zwei Beinprothesen auf einer Rennbahn rennt. Ein ähnliches Meme ist das Foto eines ebenfalls sehr herzigen Buben, der Rollstuhlbasketball spielt, dazu die Überschrift: «Your excuse is invalid» («Deine Entschuldigung gilt nicht»). Nach der Häufigkeit zu schliessen, mit der diese und ähnliche Bilder in den sozialen Medien geteilt werden, finden viele ­Menschen Gefallen an solchen Darstel­ lungen. Fragt man, warum, lautet die Antwort oft: Diese Kinder lachen trotz ­ihrer Behinderung. Das ist so inspi­ rierend! Die mittlerweile verstorbene australische Behindertenrechtsaktivistin Stella Young hat deshalb vor einigen Jahren für solche Bilder den Begriff «Inspiration Porn» geprägt. Sie erklärte in einem Ted Talk: «Beim ‹Inspiration Porn› werden Menschen mit einer Behinderung gezeigt, oft Kinder, die etwas ganz Normales tun, Surprise 443/19

beispielsweise Spielen, Rennen oder ­Lachen. Diese Darstellungen dienen dazu, dass nichtbehinderte Menschen ihre ­eigenen Sorgen relativieren können. ­Damit sie sich sagen können: Wenn das Kind ohne Beine lachen und eine gute Zeit haben kann, sollte ich mit meinem Leben niemals unzufrieden sein. Nicht­ behinderte können uns ansehen und denken: Es könnte schlimmer sein ... ich könnte diese Person sein.» Wie bei Pornografie geht es nicht darum, was die darstellende Person denkt oder empfindet, sondern um die positiven ­Gefühle, die beim Betrachter ausgelöst werden. Wenn man aber keine Beine oder Arme hat, ist es schlicht vernünftig, ­Prothesen zu tragen oder Bilder mit dem Mund zu malen. Menschen mit einer ­Behinderung benutzen Hilfsmittel oder tun etwas auf eine bestimmte Art und Weise, weil das für sie am praktischsten ist. Und nicht, weil sie besonders stark sind oder um für andere eine Inspiration zu sein. Sie haben Spass an denselben Dingen wie Nichtbehinderte, sie machen sie einfach etwas anders. Doch der Fokus dieser Memes liegt nicht darin, Menschen mit einem Handicap als

Natürlich erscheinen keine Untertitel, wenn eine gehörlose Person den Fern­ seher einfach anlächelt. Ein Buch ­verwandelt sich auch nicht automatisch in Brailleschrift, wenn man es mit der ­richtigen Einstellung betrachtet. «Inspi­ ration Porn» vermittelt nicht nur ein ­einseitiges Bild des Themas Behinderung, sondern auch aller anderen Schwierig­ keiten, die einem im Leben ­begegnen können. Wenn man sich nicht genügend anstrengt – und dabei immer schön ­lächelt –, liegt es halt einfach an einem selbst, dass man überhaupt Probleme hat. Behinderung, Krankheit, Armut und viele andere Probleme sind aber kom­ plexe Sachverhalte, die nicht allein von der Eigenverantwortung der betroffenen Person abhängen. Es so darzustellen, ­beschämt nicht nur die Betroffenen, son­ dern entbindet die ­Gesellschaft von der Verantwortung. Wozu braucht es Bar­ rierefreiheit oder Unterstützungs­ angebote, wenn Betroffene doch einfach nur die richtige Einstellung haben ­müssen?

MARIE BAUMANN  dokumentiert unter ivinfo.wordpress.com seit 2009 das politische Geschehen rund um die Invalidenversicherung.

7



Herr Mourad und seine Richter Rassismus Widrige Haftbedingungen, eine aussergewöhnlich hohe

Strafe und ein abwesender Pflichtverteidiger: Der Fall eines Algeriers wirft die Frage auf, wie neutral die Schweizer Justiz ist. TEXT  SIMON JÄGGI ILLUSTRATIONEN OPAK.CC

Am 16. Oktober 2017 kurz vor Mittag öffnen sich die Gefängnistüren der Justizvollzugs­ anstalt Muttenz vor Rachid Mourad. Ein Mann Ende vierzig, das kurze Haar schloh­ weiss, die Schultern breit. Unter dem Arm ein Paket mit seinen Kleidern, sie sind alles, was er noch hat. Mourad tritt hinaus unter den silberblauen Herbsthimmel. Zum ers­ ten Mal seit drei Jahren ist er in Freiheit. Für wie lange, das weiss er nicht. Rachid Mourad ist in Algerien geboren. Sein richtiger Name soll auf Anraten seines Anwalts ungenannt bleiben. Wer sich mit Mourad verabredet, trifft auf einen freund­ lichen Mann, der mit seinem Schicksal ha­ dert. Er sitzt mit abgewetzter Lederjacke und dunklem Kapuzenpullover in einem Basler Café. Mourad spricht gut deutsch, liest viel, in seiner Freizeit geht er gern schwimmen. «Ich habe mein ganzes Leben versucht, aufrichtig zu leben.» Am liebsten wäre ihm, seine Nationalität bliebe unge­ nannt, damit ihn niemand in die Schublade des kriminellen Algeriers steckt. Neben ihm auf dem Tisch liegt sein Smartphone, der Bildschirm in hundert kleine Stücke zersprungen. 2011 hatte Rachid Mourad in Algerien eine Schweizerin geheiratet und war ihr wenige Monate später nach Basel gefolgt. Die Hälfte der Zeit seither hat er hinter­Git­ tern verbracht. Drei Jahre Gefängnis – das lässt schwerwiegende Taten vermuten. Doch schwere Verbrechen wie Körper­ verletzung oder Raub hat Mourad keine Surprise 443/19

­ egangen. Sein grösstes Vergehen besteht b im Verbrennen seines T-Shirts auf der Toi­ lette einer Gefängniszelle. Rachid Mourad ist in das Café gekom­ men, um von seiner Zeit hinter Gittern zu erzählen. Von den «unmenschlichen» Haftbedingungen, seiner «xenophoben» Staatsanwältin und dem «gleichgültigen» Pflichtverteidiger. Wenn er darüber spricht, wird er laut. «Die haben mich kaputt ge­ macht, verstehen Sie das?!» Mourad sieht sich als Opfer des Systems. Ein Leben gerät aus den Fugen Unzählige Beamte haben sich in den ver­ gangenen Jahren mit Rachid Mourad be­ schäftigt. Justizbehörden, Migrationsämter, Richter. Mehrere Rechtsberater und An­ wälte haben sich für ihn eingesetzt, Frei­ willige ihn im Gefängnis besucht. Sein Fall füllt einen ganzen Bundesordner. Und er wirft Fragen auf: Kann es sein, dass die Schweizer Justitia nicht ganz blind ist? Dass sie einen unangepassten Migranten nicht gleich behandelt wie einen Eingesessenen? Hat die Justiz ein Rassismusproblem? Rachid Mourad ist kein Heiliger. 2007 reiste er erstmals in die Schweiz ein. Seit­ her hat er wiederholt gegen das Gesetz ver­ stossen und wurde dafür bereits früher mehrmals verurteilt. Wegen rechtswidri­ gen Aufenthalts, falscher Anschuldigung, Hausfriedensbruchs und Sachbeschädi­ gung. Er hat unter anderem in einer Asyl­ unterkunft alkoholisiert ein Sofa aus einem

Fenster geworfen. Ausserdem hat er in ei­ ner Unterkunft übernachtet, in der er nicht registriert war. Und er hat einen anderen Asylsuchenden fälschlich beschuldigt, ihn angegriffen zu haben. Mourads Leben ist bereits vor vielen Jahren aus den Fugen geraten. Nach einem Streit mit einem Vorgesetzten verlor er seine Stelle als Polizist bei einer algeri­ schen Sondereinheit. Er musste die Kaserne verlassen, die längst sein Zuhause gewor­ den war. Weil er sich als ehemaliger Polizist in Algerien nicht mehr sicher fühlte, wie er sagt, machte er sich auf den Weg nach Europa. Die Akten über Mourad erzählen eine Geschichte, die mit all ihren Wendungen den Rahmen von ein paar Magazinseiten sprengen würde. Sie zeichnen das Bild ei­ nes Mannes, der aneckt, bisweilen die Fas­ sung verliert. Der auf der Suche nach sei­ nem Glück in den vergangenen zehn Jahren vier Mal in die Schweiz einreiste und ebenso viele Male wieder des Landes ver­ wiesen wurde. Und schliesslich in Algerien eine frühere Bekannte aus der Schweiz ­heiratete. Das war im Herbst 2011. Wenige Monate nach der Heirat folgt Rachid Mourad seiner Frau in die Schweiz. Das Leben zu zweit beginnt verheissungs­ voll. Das Paar bezieht eine gemeinsame Wohnung in der Stadt Basel, kurz darauf findet Mourad eine Anstellung als Zei­ tungsausträger. Doch die Ehe wird bald kompliziert. Ein Sohn aus einer früheren 9


Ehe seiner Frau taucht auf, von dem Mourad nichts wusste. Er fühlt sich belogen, sie sich von ihrem Ehemann eingeengt. So geht es aus den Akten hervor. Nach knapp zwei Jahren endet die Ehe im Streit. Seine Frau meldet die Trennung dem Migra­ tionsamt, woraufhin Mourad sein Aufent­ haltsrecht verliert. Die Behörden fordern ihn auf, die Schweiz zu verlassen. Doch zurück nach Algerien will Mourad um keinen Preis. «Für mein Leben in der Schweiz habe ich alles zurückgelassen. In Algerien hat nichts und niemand mehr auf mich gewartet.» Er be­ fürchtet, wieder auf der Strasse zu landen. «Abgekartertes Spiel» Mourad bleibt in der Schweiz, die Migra­ tionsbehörden schreiben ihn wegen ille­ galen Aufenthaltes zur Festnahme aus. ­Eines Morgens im Herbst 2015 verhaftet ihn die Polizei in der Basler Notschlaf­ stelle. Die Beamten bringen ihn ins Unter­ suchungsgefängnis, am nächsten Tag ins Ausschaffungsgefängnis Bässlergut. Ein von hohen Mauern und Stacheldraht um­ gebener Betonbau am Stadtrand von Basel, keine hundert Meter von der Landesgrenze entfernt. Gegen seinen Willen können die Behörden Mourad nicht in seine Heimat zurückbringen, für solche Ausschaffungen besteht zwischen der Schweiz und Algerien kein Abkommen. Das Leben im Gefängnis setzt Mourad zu. Er hat kaum Möglichkeiten, sich zu beschäftigen, von fünf Uhr am Nachmit­ tag bis zum nächsten Morgen schliessen ihn die Wächter in der Zelle ein. Wenige Monate nach seiner Verhaftung erkrankt er an einer Depression. Er sagt, er leide unter der Trennung von seiner Frau. Droht mit Selbstmord und verweigert das Essen. Die Aufseher verlegen ihn zur Überwa­ chung für mehrere Tage in eine Sicher­ heitszelle. Eine kleine Zelle ohne Fenster, die Gegenstände sind alle im Boden ver­ schraubt. 10

Der Gefangene darf dort keine eigenen Kleider tragen und wird pausenlos per Vi­ deo überwacht. Viermal wird die Haft von Mourad ver­ längert. Er weiss: Das Migrationsamt kann einen wie ihn maximal 18 Monate in Aus­ schaffungshaft behalten. «Danach lassen sie mich wieder frei», denkt Mourad. Doch die Behörden haben einen anderen Plan. Während Mourad auf seine Freilassung wartet, bereitet die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft ein Strafver­ fahren gegen ihn vor. Die Anklage liest sich drastisch: Hausfriedensbruch, Brandstif­ tung, Sachbeschädigung, Nötigung, Miss­ brauch einer Fernmeldeanlage, Unge­horsam gegen amtliche Verfügungen, mehrfache Widerhandlung gegen das ­Ausländergesetz. Die Anklägerin fordert drei Jahre Haft. Was folgt, bezeichnet Mourad als «abgekar­ tetes Spiel». Eines Tages im Juni 2016 kurz nach Mittag führt ein Aufseher Mourad in einen fensterlosen Sitzungsraum im Gefängnis. Mourad weiss nicht, wer auf ihn wartet. Am in den Boden verschraubten Tisch sitzt die Staatsanwältin, die ihn vernehmen will. Der Pflichtverteidiger von Mourad bleibt der Vernehmung fern, ohne dass er seinen Mandanten im Voraus darüber informiert hätte. «Ihr Verteidiger kann heute nicht an­ wesend sein», teilt die Staatsanwältin Mourad mit, das geht aus dem Einvernah­ me­protokoll hervor. Mourad protestiert, beharrt darauf, sei­ nen Anwalt dabeizuhaben. Er habe das Recht zu schweigen, sagt die Staatsanwäl­ tin. Nach der dritten Frage beginnt Mourad zu antworten. Vier Monate später schliesst die Staats­ anwältin die Untersuchung ab. Im Novem­ ber überführen die Behörden Mourad vom Ausschaffungsgefängnis Bässlergut ins Untersuchungsgefängnis Muttenz im Kan­ ton Baselland. Neue Zelle, neues Bett, neuer Ort. Seinen Pflichtverteidiger, so Mourad, habe er während der gesamten Zeit nur ein

einziges Mal gesehen. Den Protokollen ist zu entnehmen, dass der Verteidiger bei al­ len Einvernahmen durch die Staatsanwalt­ schaft fehlte. Auch in den umfassenden Akten findet sich vom Pflichtverteidiger kein einziges Dokument. Mourad fühlt sich ausgeliefert. Anfang Januar soll seine Gerichtsver­ handlung stattfinden. Wenige Wochen vor dem Prozesstag schneidet sich Mourad in Untersuchungshaft mit einer Rasierklinge in den Unterarm. Einem Psychiater sagt er, er wolle nicht weiterleben. Surprise 443/19


Am 5. Januar 2017, dem Tag der Gerichts­ verhandlung, erscheint Rachid Mourad ge­ schwächt und psychisch angeschlagen vor dem Strafgericht Basel-Landschaft. Bis we­ nige Tage vor dem Prozesstag befand er sich nach eigenen Angaben im Hungerstreik. Das Gericht schenkt dem Zustand des An­ geklagten wenig Beachtung und spricht ihn in fünf Punkten schuldig. Wegen Miss­ brauchs einer Fernmeldeanlage: Mourad hatte seine Ex-Partnerin mit Hunderten von SMS und Anrufen belästigt und sich damit über ein Annäherungsverbot hin­ Surprise 443/19

weggesetzt. Wegen mehrfachen Hausfrie­ denbruchs: Er hatte sechs Jahre zuvor er­ neut in einer Asylunterkunft übernachtet, in welcher er nicht registriert war. Wegen Widerhandlung gegen das Ausländer­ gesetz: Er hatte sich wiederholt ohne Auf­ enthaltsbewilligung in der Schweiz aufge­ halten. Wegen Brandstiftung: Er hatte bei einem früheren Aufenthalt in der Schweiz auf einer geschlossenen Gefängnistoilette sein T-Shirt verbrannt. Er habe damit ge­ gen die schlechte Behandlung durch die Aufseher protestiert, sagt Mourad. Ausser

ihm selber kam dabei niemand zu Schaden. Am Ende des Prozesstages verurteilt das Gericht Rachid Mourad zu einer Haftstrafe von zwei Jahren. Unbedingt. Ein exemplarischer Fall Ein krimineller Nordafrikaner, der das Sys­ tem ausnutzt, seine Frau belästigt, keinen Respekt zeigt vor nichts und niemandem? Die Verurteilung von Rachid Mourad bedient eingängige Stereotypen. Zwei Begriffe fal­ len in der Recherche zu diesem Fall immer wieder: Rassismus und Diskriminierung. 11


FOTO: SILVAN PORPIGLIA

Rachid Mourad selber beklagt sich darüber. Aber auch die mit dem Fall vertrauten Ju­ risten äussern den Verdacht, dass Mourad aufgrund seiner Herkunft schlecht vertei­ digt und zu einer überharten Strafe verur­ teilt wurde. Mehrere Monate nach dem Urteil sucht Rachid Mourad Hilfe bei Menschenrechts­ organisationen. David Mühlemann von der Beratungsstelle humanrights.ch wird auf den Fall aufmerksam. «Aus meiner Sicht ist dieses Strafmass unverhältnismässig», sagt er. Das brennende T-Shirt, so Mühle­ mann, sei klar erkennbar gewesen als Pro­ test in einer Ausnahmesituation. «Alles andere waren Bagatelldelikte, die in die­ sem Ausmass in der Regel mit Busse be­ straft werden.» Selbst bei Brandstiftung urteilt die Justiz oft milde. Zum Vergleich: Im selben Jahr stand im Kanton Schwyz ein Mann aus Österreich vor Gericht, der in einer Gefängniszelle eine Matratze samt Bettinhalt angezündet hatte. Das Gericht verurteilte ihn in zweiter Instanz zu gemein­ nütziger Arbeit. Nicht nur die Höhe des Urteils kritisiert Jurist Mühlemann. Er stellt die Recht­ mässigkeit des Verfahrens grundsätzlich infrage. «Ich bezweifle, ob die Gerichts­ verhandlung angesichts von Mourads geis­ tiger Verfassung überhaupt zulässig war.» Auch die Rolle des Pflichtverteidigers sei äusserst fragwürdig: «Indem dieser ohne Absprache mit seinem Mandanten den Einvernahmen fern blieb, hat er möglicher­ weise gegen seine Anwaltspflichten ver­ stossen.» Der Anwaltsverband Baselland will sich zum Fall nicht äussern. Der renom­ mierte Zürcher Anwaltsverband hingegen stützt die Einschätzung. Zudem sei es frag­ lich, ob die Einvernahmen in Abwesenheit des Pflichtverteidigers überhaupt hätten durchgeführt werden dürfen. «Dieser Fall zeigt exemplarisch», so Mühlemann, «wie schlecht sich Personen mit auslän­dischem Hintergrund gegen das Justiz­system weh­ ren können.» 12

«Die Justiz spiegelt lediglich, wie unsere Gesellschaft in der Schweiz insgesamt mit Rassismus umgeht.» TAREK NAGUIB, JURIST UNIVERSITÄT FRIBOURG

Über Rassismus im Schweizer Justizsystem wird kaum öffentlich gesprochen. Dabei zeigte vor fünf Jahren eine Studie der Uni­ versität St. Gallen überraschend deutlich, welche Rolle sogenannt «nicht legitime Einflussfaktoren» in der Justiz spielen. Rund 180 Staatsanwälte beteiligten sich an der Studie. Bis zu 37 Prozent von ihnen gaben an, dass rechtlich nicht legitime Fak­ toren – wie etwa Nationalität oder Ge­ schlecht – ihre eigenen Entscheidungen und auch das Strafmass beeinflussen. Gar jeder zweite der Befragten vermutete, Be­ rufskolleginnen und -kollegen liessen sich durch die Nationalität der Angeklagten be­ einflussen.

Der Jurist Tarek Naguib forscht an der Uni­ versität Fribourg zu Diskriminierung im Recht. Er sagt: «In der Schweizer Justiz fehlt es am Bewusstsein für das Problem.» Sei von Rassismus die Rede, dann sei meis­ tens die bewusste Abwertung von Men­ schen gemeint. Dabei gebe es viele unre­ flektierte Mechanismen, die rassistische Handlungen erzeugten – etwa wenn Rich­ ter der Aussage eines Polizisten eher glau­ ben als einem Schwarzen. «Wir erkennen kein Problem» Naguib sieht die Universitäten und Behör­ den in der Pflicht, es brauche mehr For­ schung und Weiterbildung zum Thema. Und: «Die Justiz spiegelt lediglich, wie un­ sere Gesellschaft in der Schweiz insgesamt mit Rassismus umgeht.» Von «struktureller Diskriminierung» im Schweizer Rechtssystem spricht auch der Zürcher Rechtsanwalt Stephan ­Bernard, der sich in den vergangenen Jahren in mehreren Fachartikeln mit dem Thema Diskriminierung in der Justiz beschäftigt hat. «Diese wirkt subtil, was sie umso heimtückischer macht.» Konkret beobach­ tet Bernard eine zunehmende Verschär­ fung in der Rechtsprechung. Unter wach­ sendem politischem Druck würden Richter immer härtere Urteile fällen. Zudem fehle dem Gerichtspersonal häufig das Verständ­ nis für andere soziale Realitäten. Dabei sei Empathie eine Voraussetzung für eine möglichst gerechte Justiz. Besonders davon betroffen: ökonomisch Unterprivilegierte, Bildungsferne und Migranten. Wenig Verständnis für das Thema zei­ gen die Behörden. Bei der Staatsanwalt­ schaft Zürich heisst es auf die Frage, ob es ausreichend Sensibilität für strukturellen Rassismus gebe: «Wir erkennen kein Pro­ blem und erhalten keine negativen Rück­ meldungen, die darauf hinweisen, dass da eine Problematik besteht.» Dies trotz aktu­ ellem Integrationsprogramm des Kantons Zürich, in welchem eine Weiterbildung der Surprise 443/19


FOTO: ZVG

Justizdirektion zum Thema Diskriminie­ rungsschutz vorgesehen ist. Und angesprochen auf den Fall Mourad, weist das Strafgericht Basel-Landschaft die Kritik zurück. Das Urteil sei «differen­ ziert» und «wohlbegründet». Rachid Mourad macht sich nach dem Urteil keine Hoffnungen mehr auf einen besseren Ausgang, wie er sagt. Seinem Pflichtverteidiger teilt er in einem Brief mit, dass er das Urteil nicht weiterziehen wolle. «Das Einzige, was ich möchte, ist so schnell wie möglich in ein grösseres Ge­ fängnis wechseln», schreibt er auf Fran­ zösisch. Der Pflichtverteidiger zieht den Rekurs umgehend zurück, kurz darauf ver­ legen die Behörden Rachid Mourad tat­ sächlich. Doch anstatt in eine Justizvoll­ zugsanstalt, die für lange Aufenthalte geeignet ist, kommt er ins Bezirksgefäng­ nis Arlesheim, ein vierzigjähriges Gebäude, das der Kanton seit Langem ersetzen will. Die veraltete Haftanstalt ist für Kurz­ strafen bis sechs Monate und Untersu­ chungshaft vorgesehen, so steht es in den Bestimmungen des Kantons. Doch der Bau erfüllt selbst die Anforderungen für kurze Haftstrafen nicht mehr, wie der Kanton be­ reits mehrfach selber bemängelt hat. Die Zellen sind zu klein, es fehlt an Tageslicht, Aufenthaltsräumen und ausreichend fri­ scher Luft. Die meisten Insassen bleiben hier ein paar Wochen. Rachid Mourad sitzt über ein Jahr in Arlesheim. Sein Zustand verschlechtert sich weiter. Psychosomati­ sche Schmerzen, Atemprobleme und Pa­ nikattacken stellen sich ein. Wenige Monate nach dem Gerichtsurteil beginnt Mourad, Briefe an die Justizvollzugsbe­hörden zu schreiben: «Meine Damen und Herren. Meine ­ ünsche ... Arbeiten. Ich Bitte euch. W Ich Möchte Arbeiten. Nicht Ganzen Tag Hocken Im Zimmer. Bitte Helfen Sie mich einfach Arbeit Zu Finden. Besten Danken Für Ihre Helfen.» Surprise 443/19

Ein paar Wochen später: «Sehr geehrte Damen und Herren. Ich Bitte euch Ich Habe eine Schwerik Krankheit Mit Apmen Wege Dem Ich Bitte euch Vegsel GEfängnis Mit Fenster mit Natural Luft ZU Haben. mit Freundlichen Grussen» Der Bund und der Europarat formulieren klare Anforderungen an die Haftbedingun­ gen im Strafvollzug. Das Gefängnis muss zusammen mit den Gefangenen einen in­ dividuellen Vollzugsplan erstellen. Der Ge­ fangene muss sich in Haft weiterbilden können und einer angemessenen Arbeit nachgehen können. Im Fall von Rachid Mourad setzt sich der Kanton Baselland über alle diese Vorschriften hinweg. Mourad hatte keine Möglichkeit zur Weiterbildung, einen Vollzugsplan sah er nie. Die einzige Beschäftigung, der er nach wiederholtem Bitten nachgehen darf, ist das Reinigen der Gefängniskorridore. Widersprüchliche Erklärungen Dann macht Mourad dem Kanton ein An­ gebot. Die Behörden werden es schliesslich gegen ihn verwenden. In einem Brief an das Migrationsamt erklärt er sich nun doch bereit, nach Algerien auszureisen. Unter einer Voraussetzung: Die Behörden sollen ihm einen Lieferwagen finanzieren, in dem er wohnen und mit dem er sich seinen Le­ bensunterhalt verdienen kann. Die Behör­ den treten nicht darauf ein. Seine weiteren Gesuche um Verlegung bleiben ohne Er­ folg. Auf Rat einer Bekannten sucht er An­ fang 2018, ein Jahr nach seiner Verurtei­ lung, Hilfe bei Amnesty International und der Beratungsstelle humanrights.ch. Von nun an kümmern sich Juristen um den Fall. Zuerst David Mühlemann von hu­ manrights.ch, der einige Wochen später eine Anwaltskanzlei mit dem Fall beauf­ tragt. Während mehrerer Monate verlangen

«Die strukturelle Diskriminierung im Justizwesen wirkt subtil, was sie umso heim­tückischer macht.» STEPHAN ­B ERNARD, RECHTSANWALT

die Juristen in einer Reihe von Anträgen die sofortige Verlegung von Mourad in eine geeignete Strafvollzugsanstalt. Sie werfen dem Kanton vor, er verletzte «grund- und menschenrechtliche Schutzpflichten». In einem Brief wendet sich selbst ein leitender Arzt der Psychiatrie Baselland an die Jus­ tizvollzugsbehörden. Er attestiert Mourad eine schwere depressive Erkrankung und bittet ebenfalls um umgehende Verlegung. Doch die Behörden weisen sämtliche Anträge ab. Mourad habe mit «fehlender Kooperationsbereitschaft» eine Verlegung verhindert. Die Logik der Behörde lautet wie folgt: Rachid Mourad habe zuerst einer Rückreise nach Algerien zugestimmt, seine 13



FOTO: ZVG

«Ich bezweifle, ob die Gerichts­verhandlung angesichts von Mourads geistiger Verfassung überhaupt zulässig war.» DAVID MÜHLEMANN, JURIST HUMANRIGHTS.CH

Aussage aber später widerrufen. In der Zwischenzeit habe der Kanton jedoch die Anmeldung bei den Strafvollzugsanstalten bereits annulliert, womit Mourad aus den Wartelisten gefallen sei. Aufgrund der lan­ gen Wartefristen sei eine neue Anmeldung danach aussichtslos gewesen. «Rachid Mourad ist für seine Lage leider grössten­ teils selber verantwortlich», schreibt die ­Justizvollzugsbehörde auf Anfrage. Schriftliche Belege für ihre Aussagen können die Behörden jedoch auch auf Surprise 443/19

Nachfrage keine liefern. Rachid Mourad gibt an, nie einer Rückreise abschliessend zugestimmt zu haben. Auch die Direktio­ nen der zuständigen Strafvollzugsanstal­ ten widersprechen der Darstellung der ­Behörden. Auf Anfrage teilt die Strafvoll­ zugsanstalt Lenzburg mit, dass die War­ tezeiten für die entsprechende Abteilung unter Umständen «allenfalls einige wenige Wochen» betragen. Es sei deshalb äusserst unwahrscheinlich, dass ein Gefangener während mehrerer Monate auf eine Plat­ zierung warten müsse. Ähnlich klingt es auf Anfrage auch bei der Strafvollzugs­ anstalt Bostadel. Kein Happy End «Die Argumente der Vollzugsbehörde wir­ ken vorgeschoben», sagt Jurist David Müh­ lemann von humanrights.ch. «Der Kanton hätte unseren Mandanten so rasch wie möglich in eine Strafvollzugsanstalt ver­ legen müssen. Nach dem Vollzug von zwei Dritteln der Strafe hätte Mourad zudem entlassen werden müssen. So schreibt es das Gesetz vor.» Doch auch den Antrag auf Zweidrittel-Entlassung lehnt die Behörde ab. Weil Mourad ohne gültige Aufenthalts­ bewilligung bei Freilassung in der Schweiz sofort gegen das Ausländergesetz ver­ stosse, müsse er so lange in Haft bleiben, bis er freiwillig einer Rückreise nach Alge­ rien zustimme oder die volle Haftzeit ab­ gesessen habe. Mühlemann bezeichnet die Argumentation als diskriminierend. «Dass eine Person einzig aufgrund des fehlenden Aufenthaltstitels länger in Haft bleiben muss, verstösst gegen das verfassungs­ mässige Diskriminierungsverbot.» Ein fragwürdiges Verfahren, eine auf­ fällig hohe Haftstrafe, problematische Haftbedingungen: Ob und wie oft im Fall von Rachid Mourad die Behörden gegen Recht verstossen haben, wird vermutlich nie abschliessend geklärt werden. Der Auf­ wand, um den Fall erneut aufzurollen, wäre sehr gross, so Jurist Mühlemann. «Das übersteigt unsere Ressourcen.»

Rachid Mourad verbüsst seine Strafe bis zum Schluss. Als er an jenem sonnigen Tag im Oktober 2017 das Gefängnis von Mut­ tenz verlässt, ruft er: «Liberté, liberté», kauft sich am Bahnhof eine Packung Ziga­ retten und fährt mit dem Zug nach Basel. So erzählt es Mourad. Die ersten drei Tage schläft er in einem Park unter einem Baum. Bis er eine ältere Frau antrifft, die er von seiner früheren Arbeit als Zeitungsaus­ träger kennt. Bei ihr lebt er seither, «ein Glücksfall», sagt Mourad. Ein Happy End ist es nicht. Von einem früheren Unfall trägt er eine Metallplatte im Oberschenkel, die sich während seiner Gefangenschaft begonnen hat abzulösen, wie ein Arztbericht bestä­ tigt. Weshalb sich die Vollzugsbehörden nicht darum gekümmert haben, ist offen. Mourads Bein schmerzt, die Platte müsste raus. Doch ohne Aufenthaltsbewilligung und Versicherung hat er kaum Aussicht auf eine Behandlung. Mit Schwarzarbeit ver­ dient er etwas Geld, gerade genug zum Überleben. Wie es mit ihm weitergeht, da­ rüber denkt er so wenig wie möglich nach. Wenn Bekannte auf der Strasse Mourad fragen, wo er die vergangenen drei Jahre war, antwortet er: im Ausland. «Wenn ich sage, im Gefängnis, denken die Menschen, ich sei ein Verbrecher.»

15


Den harten Kerl im Kopf Männerhaus Jedes vierte Opfer von häuslicher Gewalt ist ein Mann. Auch wenn sie nur selten körperlich bedroht werden, brauchen diese Männer einen Rückzugsort. Den bietet das Männerhaus «Zwüschehalt». TEXT UND FOTOS  KLAUS PETRUS

Irgendwann hörte Daniel L. auf, mit seinen Kumpels ­darüber zu reden. Einer sagte bloss: «Sei doch froh, das bedeutet, sie liebt dich noch», der andere scherzte: «Viel­ leicht solltest du ins Männerhaus», ein dritter murrte: «Der würde ich’s aber zeigen!» Auch sein bester Freund wollte ein wenig beschämt von ihm wissen: «Kannst du dich nicht wehren?» Nein, dachte Daniel L., kann ich nicht. Will ich nicht. Oder sollte ich? Daniel L.*, Mitte vierzig, Elektriker von Beruf, ist kein Einzelfall. Zwar wird kaum darüber geredet, doch gemäss Kriminalstatistik war 2017 in der Schweiz von rund 10 000 Betroffenen jedes vierte Opfer häuslicher Gewalt ein Mann. Was die Statistik auch zeigt: Über 70 Prozent der

16

registrierten Fälle zählen als «leichte Gewalt». Darunter fallen vor allem Formen der psychischen Gewalt wie Dro­ hungen oder Beschimpfungen. Dies steht im Gegensatz zur körperlichen «schweren Gewalt», von der viele weib­ liche Opfer betroffen sind. Hier ist der eigene Ehemann oder Partner die grösste Bedrohung, und die Rollen sind in diesen Fällen klarer verteilt: Der Mann schlägt, die Frau wird geschlagen. Männer hingegen, die Opfer werden, sind oft gleich­ zeitig auch Täter: Drei von vier männlichen Opfern kom­ men aus Beziehungen, in denen die Gewalt gegenseitig ist. Ausgelöst wird diese Gewalt häufig durch überstei­ gertes Kontrollverhalten der Ehefrau oder Partnerin – wie im Fall von Daniel L., der dem Psychoterror seiner Frau

Surprise 443/19


ausgesetzt war. Und wie Daniel fühlen sich die betrof­ fenen Männer meist als Versager, weil sie nicht dem Bild entsprechen, das man von einem Mann hat: Seid echte Kerle, die sich wehren, seid keine Memmen, die alles über sich ergehen lassen. Im Schnitt bleiben sie für 57 Nächte Der Mann als Opfer der Frau: Das bricht mit unserem herkömmlichen Rollenverständnis. Männer sind Täter. Opfer sein, das ist primär weiblich. Darin sieht Sieglinde Kliemen eine der Hürden in der Bewältigung dieser Art von häuslicher Gewalt. «Die betroffenen Männer fühlen sich häufig nicht ernstgenommen. Sie trauen sich nicht, ihre Erfahrungen anderen mitzuteilen oder Hilfe zu su­ chen. Sie bleiben allein.» Kliemen, ausgebildete Erwach­ senenbildnerin und Fachfrau für systemische Beratung, ist seit Juli 2017 Leiterin des Männerhauses «Zwüschehalt» in Bern, neben Häusern im Aargau und in Luzern die dritte Institution dieser Art. Das stattliche Gebäude der Gesamt­ kirchgemeinde Bern bietet auf zwei Stockwerken vorü­ bergehend Platz für zwölf gewaltbetroffene Männer, mit eigenen Zimmern, einem Aufenthaltsraum, einer Küche und Garten. Zum Schutz der Betroffenen wird die Adresse geheim gehalten.

Insgesamt 1650 Übernachtungen zählten die drei Häuser im Jahr 2017, verteilt auf 29 Männer, durchschnittlich 57 Nächte pro Mann. Die Betroffenen kommen aus unter­ schiedlichen sozialen Schichten und sind im Schnitt um die 40 Jahre alt. Daniel L. ist einer von ihnen. Er kam Ende 2017 in den «Zwüschehalt» und blieb für einige Wochen dort. Tags­ über ging er zur Arbeit, die Abende verbrachte er im Män­ nerhaus und redete mit Sieglinde Kliemen über seine Situa­tion. Die meiste Zeit aber blieb er auf dem Zimmer und wollte seine Ruhe. «Ich kam hier an, und von mir fiel eine tonnenschwere Last. Als ich mich dann langsam er­ holen konnte, mochte ich nicht immer Probleme wälzen, ich sehnte mich nach Normalität.» Dafür sei der «Zwü­ schehalt» der richtige Ort, sagt Kliemen. Oft seien die Männer, die bei ihr anrufen, einfach erschöpft, sie wüss­ ten nicht mehr weiter. «Es geht zuerst darum, sich wieder in Sicher­heit zu fühlen.» Sicherheit, Ruhe und Anonymität – das sind die Grund­ pfeiler des Männerhauses. Darüber hinaus werden die Betroffenen in ihrem Alltag begleitet und beraten. Je nach Situation müssen die Männer mit Ämtern reden, etwa bei einer Scheidung, was oft viel Papierarbeit erfordert. Oder sie müssen sich, sofern sie Anzeige erstatten, mit den

Von einem Mann erwartet man: Sei keine Memme, sei ein echter Kerl. Betroffene wie Daniel L. fühlen sich deshalb als Versager.

Surprise 443/19

17


«Gewalt provoziert oft Gegengewalt, und das ist immer eine schlechte Lösung.» SIEGLINDE KLIEMEN, LEITERIN MÄNNERHAUS

ANZEIGE RECK FILM PRESENTS

TRUE STORIES OF ETHICAL BUSINESS

nominated 2019

A FILM BY

NINO JACUSSO

www.filmcoopi.ch

PRIX DE SOLEURE Solothurn

AB 14. FEBRUAR IM KINO *FairTraders_InsD_90x118_surprise.indd 1 18

­ ehörden in Verbindung setzen. Nach dem Grad der Be­ B treuung richtet sich auch der Tarif für die Unterkunft im Männerhaus, der zwischen 35 und 120 Franken pro Nacht liegt und den die Betroffenen aus der eigenen Tasche zah­ len. Bei diesem relativ niederschwelligen Angebot ist das Haus für die Kosten von Miete, Unterhalt und Personal auf Spenden angewiesen. Anders als die meisten Frauen­ häuser erhält der Trägerverein «Zwüschehalt» bisher keine öffentlichen Gelder. Manchmal bringen die Männer ihre Kinder mit, dann wird die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde KESB eingeschaltet. Im Gegensatz zu anderen Männerhäusern nimmt der «Zwüschehalt» auch Väter auf, sofern diese das Obhutsrecht für ihre Kinder haben. Auch Daniel L. brachte Tochter Julia* mit. Er fürchtete, seine Frau würde ihr etwas antun. Zweimal habe sie in ihrer Wut gedroht, sich selbst und Julia umzubringen. Weil seine Ehefrau immer mehr Kontrolle über sein Leben hatte – sie über­ wachte sein Handy, seine Mails, sein gesamtes soziales Umfeld –, plante er den Weggang aus der gemeinsamen Wohnung heimlich bis ins letzte Detail. Nachdem er schon wochenlang mit der Dargebotenen Hand, dem Sorgen­ telefon 143, in Verbindung gestanden hatte, kam der Tag, an dem Daniel L. die Koffer packte, mitsamt Reisepässen. Er brachte seine Frau zur Arbeit, danach fuhr er ohne jede weitere Nachricht ins Männerhaus. Dort angekommen, meldete er sich bei seiner Frau, was zu grossem Aufruhr führte. Am Ende war die Polizei involviert, die Opferhilfe, Anwälte – das ganze Programm. Oft sind die Abhängigkeiten zu stark Fast immer reagierten Frauen heftig, wenn ihre Männer im «Zwüschehalt» Schutz suchten, sagt Sieglinde Klie­ men. Was auch damit zu tun habe, dass in gewaltgefähr­ deten Beziehungen häufig starke Abhängigkeiten bestün­ den. «Die Paare kommen kaum voneinander los.» So trenne sich über die Hälfte der gewaltbetroffenen Männer nur vorübergehend von ihren Partnerinnen oder Familien. Für diese wird der «Zwüschehalt» tatsächlich bloss zu einem Zwischenhalt auf ihrem Weg zurück in die Bezie­ hung, im Schnitt bleiben sie zwei Monate. Diese Zeit soll­ ten sie nutzen, um sich mit Mustern auseinanderzusetzen, die in Beziehungen entstehen, sagt Kliemen. Solche Mus­ ter seien bis zu einem gewissen Grad zwar normal, sie könnten aber zu problematischen Ausprägungen führen – und eben auch zu Gewaltausbrüchen, physisch wie psy­ chisch. In diesen Fällen sei Distanz unabdingbar. «Solange

16.01.19 14:17

Surprise 443/19


Eine Nacht im Männerhaus kostet zwischen 35 und 120 Franken. Dafür aufkommen müssen die Betroffenen selbst.

die Betroffenen, ob nun Männer oder Frauen, emotional stark involviert sind, ist es schwierig für sie zu kooperie­ ren. Stattdessen versuchen sie sich abzugrenzen oder zu wehren und geraten so in die alten Muster.» Auch Daniel L. kehrte nach einigen Wochen zu seiner Frau zurück. Sie hätten viel geredet, seien aufeinander eingegangen. Und doch, sagt Daniel rückblickend, sei er skeptisch geblieben und habe immer damit gerechnet, dass sie ins alte Verhalten zurückfallen: seine Frau, die sich in ihre Eifersuchtsattacken hineinsteigert, und er, der sich zurückzieht und alles über sich ergehen lässt. Manchmal macht sich Daniel deswegen Vorwürfe. «Viel­ leicht hätte ich mich mehr wehren müssen.» Schon immer seien die anderen auf ihm herumgetrampelt, erzählt er. In der Schule sei er regelmässig vermöbelt und im Militär mit Maschinenfett eingeschmiert worden. Und seine erste Frau, manisch-depressiv, habe ihn regelrecht geplagt. ­«Irgendwie ziehe ich das an.» Daniel sollte recht behalten. Schon wenige Wochen später fing seine Frau wieder an, seine Mails zu durch­ stöbern und ihn mit ihren stundenlangen Fragen wach zu halten. Als er zu ihr sagte: «Deine Kontrolle zerstört mein Vertrauen, hör auf, sonst bin ich endgültig weg», und sie daraufhin bloss meinte: «Typisch, beim erstbes­ ten Streit suchst du das Weite, du Versager», da schrie er sie an: «Jetzt halt du mal das Maul!» Nein, beteuert Daniel L., zugeschlagen habe er nie. Auf dieses Niveau habe er nicht sinken wollen. «Gewalt provoziert oft Gegengewalt, und das ist immer eine schlechte Lösung», ist Sieglinde Kliemen überzeugt. Surprise 443/19

Dies habe stark mit der Dynamik von Konflikten zu tun. «Viele Gewalthandlungen in Beziehungen entstehen aus dem Affekt, ausgelöst durch gegenseitige Verletzungen oder schlicht, weil einen die Situation überfordert.» Es sei typisch für solche Konflikte, dass sehr oft beide, Män­ ner wie Frauen, ihren Anteil an der Verantwortung hätten. «Alle Beteiligten sind immer beteiligt, und alle Betroffe­ nen immer betroffen.» Das zeige, dass die strikte Unterscheidung zwischen Opfer und Täter zu kurz greife. Zwar arbeiten Verwaltung und Polizei mit diesen Kategorien, weshalb Kliemen nicht in der Betreuung, wohl aber in ihrer administrativen Tätig­ keit gezwungen ist, die betroffenen Menschen entweder in Opfer oder aber in Täter einzuteilen. Die Wirklichkeit aber sei viel komplexer. Kliemen macht die Erfahrung, dass oft erst beidseitiges Verhalten zu Gewalt führt. Des­ halb seien auch Opfer in die Gewaltspirale involviert. «Wenn einer immer passiver wird, sich immer mehr an­ passt, dann gibt er den Aggressionen des anderen immer mehr Raum.» Relativieren wolle sie damit nichts, betont Kliemen. Sie kennt die Statistiken nur zu gut. Er habe es wirklich versucht, sagt Daniel L. Doch seine Frau habe nicht lockergelassen, ihre Eifersucht nicht in den Griff bekommen. Ihm wurde eng auf der Brust, er bekam keine Luft mehr, musste erbrechen, konnte nicht mehr schlafen. Daniel kehrte ins Männerhaus zurück. Für wie lange, das weiss er noch nicht. «Ich liebe meine Frau», sagt er. «Aber nicht dieses Monster in ihr.» *Name geändert 19


Wenn der Schnee noch glitzert Armut Kopfrechnen im Supermarkt, Hängen in der Warteschleife

und eine Flucht nach vorn in die Winterlandschaft: Armutsbetroffene schreiben über ihr Leben mit wenig Geld. ILLUSTRATIONEN  DARIO FORLIN

Der Einkauf TEXT  ANGELA SIRY-ANGELUCCI

Während die Jungs widerwillig für 20 Franken im Quartierladen Bio-Milch-Nachschub besorgen und sich dafür einen Donut gönnen, gehe ich den Rest einkaufen. Das bedeutet für mich, klare Prioritäten zu setzen. Was brauchen wir? Wie dringend brauchen wir es? Und: Kann ich es mir leisten, auf die Herkunft zu achten? Momentan müssen 400 Franken pro Monat reichen. Das heisst, minus 60 Franken für die Milch bleiben 85 Franken pro Woche oder ca. 40 Franken pro Einkauf. Und ja, eine Kuh käme bestimmt billiger. Ich gehe gerne alleine einkaufen, weil ich dann keine Diskussionen mit den Jungs eingehen muss. Es hat bereits 20

etwas Meditatives, wenn ich mich eine Stunde schweigend meinem Tempo widmen kann. Zudem kann ich mich in der Menschenmenge besser abgrenzen, und es verschafft mir die nötige Ruhe, damit ich unter anderem die Lebensmittelpreise im Kopf zusammenrechnen kann. Natürlich könnte ich auch das Strichcode-Lesegerät benutzen, doch das geht in diesem Geschäft nur mit Kartenzahlung, was bei mir manchmal dazu führt, dass ich die Übersicht verliere. Das Kopfrechnen erinnert mich an die Kioskfrauen von früher und wie sie stets die Preise auswendig wussten und ihre Stammkunden beim Namen grüssten. Jetzt muss ich grinsen, ich komme mir so alt vor – als hätte ich die zwei Weltkriege m ­ iterlebt. Da stehe ich also mit der ersten Zwischensumme in meinem Kopf – 21,30 – und beobachte, wie ein kleines Kind erst nach langen Überredungskünsten in den Einkaufswagen sitzt oder wie das Vorschulkind, das bereits zu gross dafür ist, nach längerem Verschwinden mit ­einem Spielzeug, das es unbedingt haben will, wieder auftaucht. ANGEL A SIRY-ANGELUCCI Ich erinnere mich noch gut, wie es bei meinen Kindern dabei scheinbar um Leben und Tod ging. Um dem cholerischen Ausbruch von

Das Kopfrechnen erinnert mich an die Kioskfrauen von früher und wie sie stets die Preise auswendig wussten und ihre Stammkunden beim Namen grüssten.

Surprise 443/19


einem meiner Kleinkinder entgehen zu können, habe ich mich dann immer dafür entschieden, dass es etwas zum Essen nach Wahl statt Spielzeug sein darf, Preislage 3 Franken. Manchmal hat diese klare Ansage keinen Anklang gefunden, und für die darauffolgenden bösen Blicke schafft man sich automatisch eine zweite Haut an. Also, was brauche ich noch? Ach ja. Dazu habe ich meinen Einkaufszettel, der mir hilft, genau das zu kaufen, was ich brauche, und nicht das, worauf ich Lust habe. So sammle ich mich neu, um zur Zwischensumme noch 3,90 hinzuzurechnen. Also kurz alles ausblenden und rechnen. Plus 3 sind 24,30 plus 0,90 sind 25,20. Weil es mich herausfordert, eine Zahl zu behalten und gleichzeitig den nächsten Punkt auf der Einkaufsliste zu erledigen, sage ich die Zahl leise vor mich hin, während ich in die Gemüseabteilung gehe. 25,20. Damit liege ich noch im grünen Bereich. Apropos grün. Muss es schon wieder Gurke sein oder soll ich es riskieren, einen Blattsalat zu kaufen? Ich bleibe bei der Gurke, sonst darf ich den ganzen Salat alleine verzehren und die Jungs haben keine Vitamine gegessen. Also plus zweimal 1,90. Manchmal finde ich es etwas seltsam, dass ich die Preise auswendig weiss und andere Dinge chronisch vergesse. Ab und zu schaue ich, ob der gleiche Artikel in der Bio-Version drinliegt. Natürlich könnte ich die Milch auch auf dem Bauernhof südlich holen, die Snacks im Laden nördlich, die frischen Sachen östlich und die guten Preis-Leistungs-Artikel westlich. Doch diese Gratis-­ Fitness gönne ich mir nur bei schönem Wetter. Wenn ich mit Rucksack und Fahrrad anstelle des Einkaufswagens fahren kann. Dinge wie Eier aus Frankreich, Hasen aus Ungarn oder Erdbeeren im Winter kommen so oder so nie infrage. An der Kasse freue ich mich, wenn ich herausfinde, dass mein Kopf noch richtig rechnen kann, ich alles auf der Liste kaufen konnte und nicht mehr als 40 Franken ausgegeben habe. ANGEL A SIRY-ANGELUCCI  ist eine geschiedene Frau, Mutter von zwei jungen Männern, hat die Ausbildung als Handarbeitslehrerin mit Waldorfpädagogik abgeschlossen, hat viel gelernt fürs Leben, aber wenig mit eidgenössischem Abschluss. Oft macht sie sich Gedanken über die Erziehung und Zukunft der Kinder, kämpft manchmal mit Strukturen. Sie schreibt, seit sie ein Teenager war, und ist 1973 in Horgen geboren.

Surprise 443/19

20 Minuten TEXT  HANSRUEDI MÜLLER

Wie ich das Telefonieren hasse! Wieder Ärger mit der ­Arbeitslosenkasse! Wie lange bleibe ich diesmal in der Telefonwarteschleife? Ich gehe zu einer Kollegin telefonieren, da sie Festnetz hat. Ich kann mir das nicht leisten mit Prepaid. Vor dem Telefonat decke ich mich mit Kaffee ein. Ich wähle die Nummer. Eine Frauenstimme sagt, dass alle Leitungen besetzt sind und dass noch drei Personen in der Warteschleife sind. Meine Hoffnung wächst, dass es heute schneller geht. Komme ich unter 20 Minuten? Automatisch trinke ich den Kaffee schneller, man weiss ja nie. Ich bin jetzt seit fünf Minuten in der Schleife. Die Stimme sagt, dass noch drei Personen vor mir sind. Meine Hoffnung sinkt. Sie könnten ja mal die Musik wechseln, denke ich mir. Zeit für einen weiteren Kaffee. Mein linkes Ohr ist warm und sicher gerötet. Vielleicht sollten sie ein Premium-Warteschleifen-Abo einführen. 20 Franken im Monat, damit man schneller drankommt. Dann auf einmal die Stimme: Nur noch zwei Personen in der Warteschleife. Wie reagiere ich, wenn ich drankomme? Wütend, genervt, freundlich, unterwürfig oder sarkastisch, zynisch? Ich wechsle den Hörer ans andere Ohr. Ich stelle mir vor, wie sie im Büro sitzen und meinen Lohn am Glücksrad auslosen. «Oh, der Müller. Der bekommt diesen Monat nur circa 850 Franken. Er kann ja telefonieren. Schliesslich hat er ja sonst nichts zu tun.» Und jemand anderer 21


sagt: «Ja, und wir schicken die Abrechnung erst auf Freitag, damit sein Wochenende ruiniert ist.» Ich werde aus meiner – zugegeben absurden – Fantasie geweckt, denn die Stimme sagt, dass ich der Erste in der Warteschleife bin. Ich konzentriere mich. So verbleibe ich innerlich angespannt noch ein paar Minuten, bis sich endlich eine Stimme meldet. Jeden Monat dasselbe, denn eigentlich hätte ich Geld. Wenn ich es denn bekomme. Da ich lange krank war und auch jetzt nicht voll arbeiten kann, muss ich jeden Monat ein Arztzeugnis mitliefern. Und jedes Mal bekomme ich einen anderen Lohn ausbezahlt. Diesen Monat bekomme ich aus unerklärlichen Gründen nur 850 Franken. So investiere ich jeden Monat viel Energie in die Ämter. Energie, die ich eigentlich zur Bewältigung meines Traumas brauche. Ausserdem muss ich gute Bewerbungen schreiben, damit ich eine Stelle finde und mich wieder in den Arbeitsprozess integrieren kann. So muss ich aber meine Zeit auf und mit Ämtern verbringen. Und niemand kann helfen. Ausser tröstende Worte bekomme ich keine Hilfe. Ab und zu möchte ich einfach nur weinen. Das Bermudadreieck Arbeitslosenkasse, RAV und Sozialamt hat mich fest im Griff. Zum Glück habe ich keine Kinder oder eine Partnerin, die ich unterstützen muss. Ich muss nur für mich schauen. Ich habe eine Leere in mir, möchte sie mit Glück füllen. Ich schaffe es aber nicht. Das einzige Glück, das ich habe, ist Schokolade, was ein kurzer und trügerischer Glücksmoment ist. Noch bin ich beim RAV, doch schon bald werde ich ausgesteuert. Dann bin ich nur noch beim Sozialamt, bekomme mein Geld, und das pünktlich und ohne Telefonate. Es tönt absurd, aber gerade jetzt sehne ich mich danach. Bis dahin liefere ich mir mit der Arbeitslosenkasse einen Kleinkrieg, den ich sowieso verliere, da sie am längeren Hebel sind. Ich fühle mich hilflos, bin wütend und fühle mich allein. Übrigens : Die Arbeitslosenkasse hat den Fehler gemacht. Anstatt 20 Prozent arbeitsUNFÄHIG hat sie gelesen 20 Prozent arbeitsFÄHIG. Was über 2000 Franken Unterschied für mich bedeutet. Natürlich: Fehler passieren. Doch für mich war’s gravierend. Eine Entschuldigung, finde ich, wäre angebracht gewesen. Ist eine gekommen? Fehlanzeige. Ja, ich schaffte es, unter 20 Minuten in der Warteschleife zu bleiben. Heute wird mein Glückstag. HANSRUEDI MÜLLER,  1965 in Schaffhausen geboren, war

über 20 Jahre lang Bus-Chauffeur. Durch ein Praktikum kam er zu seinem Traumberuf als Betreuer für psychisch beeinträchtigte Menschen. Nach zwei Jahren verlor er wegen eines schweren Traumas seine Stelle. Seither kämpft er mit seiner Krankheit. Er versucht sich zurzeit wieder in den Arbeitsprozess zu integrieren.

22

Die Zukunft verliert sich im Schnee TEXT  URS WEISSKOPF

Auf dem Schnee glitzerten die gefrorenen Tropfen wie Perlen. Die Luft war so rein, dass jeder Atemzug wie ein Wellnesskuss wirkte. Die Woche gegen Ende März in den Bergen fegte allen Stress hinweg. Zumindest, bis das Telefon läutete und die Stimme meines Marketingleiters erklang: «Wir haben morgen eine wichtige Sitzung und Sie müssen auch dabei sein – unbedingt.» – «Nun, wenn es so wichtig ist, dann stehe ich selbstverständlich zur Verfügung», bestätigte ich seinen Wunsch. Die Reise ins Unterland verkürzte ich mit einem Kaffee und einem Stück Bündner Nusstorte im Restaurant des Zuges. Mit raschen Schritten betrat ich den Eingang des Firmensitzes. Es Surprise 443/19


Die Natur nur wenige Meter entfernt, den Lärm hinter mir lassend, begreife ich, dass der plötzliche Ausstieg auch seine guten Seiten hat.

dauerte nicht lange, bis ich ins Büro des Marketing­ leiters gebeten wurde. Kurz nach der Begrüssung schob er mir ein Blatt Papier über den Schreibtisch. «Lesen und unterschreiben», liess URS WEISSKOPF er mich wissen. Es war meine Kündigung. Schockiert überflog ich die Zeilen. «Wollen Sie noch wissen, wie es zu dieser Situa­tion gekommen ist?», fragte der Marketingleiter. «Nein», entgegnete ich. Mich interessierte in diesem Moment nur eines: wieder zurück in die verschneiten Berge – weg von dieser heuchlerischen Inszenierung – weg von den Geschichten, die er mir auftischen wollte. Mit leerem Blick verfolgte ich auf der Rückreise die Landschaft, welche am Fenster vorbeiflog. Die Bündner Nusstorte lag schwer im Magen. Ich war froh, wieder in die Alpenlandschaft zurückzukommen. Doch die Freude über meinen gestrigen Geburtstag verschwand hinter den dunkel verhangenen Bergen. Damit verabschiedete sich meine berufliche Karriere, als ich 52 Jahre alt war. Sie verschwand, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Vergangen sind die Zeiten, in denen ich mit Geldnoten von Giacometti und Taeuber-Arp sorglos umging. Das Resultat ist ein Leben mit wenig Geld. Geblieben ist mir die Helvetia, die mir auf verschiedenen Münzen zuzwinkert. Nach den vielen erfolglosen Bewerbungsschreiben überlegte ich mir eine Überlebensstrategie. Ich entschied mich für ein Leben teils in einer Wohngemeinschaft, teils in einem Wohnwagen, das die existenziellen Sorgen reduzierte. Die Natur nur wenige Meter entfernt, den Lärm hinter mir lassend, begreife ich, dass der plötzliche Ausstieg auch seine guten Seiten hat. Mit kleinen Schritten lernte ich, das Wochenbudget einzuhalten. Die freundliche Dame, welche die Lebensmittel jeweils nach Ablaufdatum aussortiert, lächelt mir zu, wenn ich mich dort bediene. Ein guter Freund, Otto, ist mittlerweile fast schon ein Fami­lienmitglied. Die Preise in seinen Läden sind verlockend. Auf Internetportalen vergleiche ich jeweils die Angebote, um in der Welt der digitalen Unvernunft die günstigsten Entscheide zu treffen. Letztendlich aber bedingt meine Situation eine Veränderung der bisherigen Gewohnheiten. Der wichtigste Schritt mit dem Wohnwagen war getan. Doch folgen in verschiedenen Zeitabständen weitere Surprise 443/19

­ npassungen – manchmal geplant, manchmal ungeA plant. Es ist eine Frage der Einstellung. Brauche ich eine neue Matratze oder tut es die bisherige noch ein Jahr? Kann ich die neue Küche selbst einbauen? Auch die Beschaffung des Wassers ist bis heute nicht einfach. Die Toilettenspülung wird mit gesammeltem Regenwasser versorgt. Während der Winterzeit schleppe ich Liter um Liter vom Hauptgebäude in den Wohnwagen. Wenn sich im Frühjahr die ersten Spitzen der Krokusse durch die Schneedecke kämpfen, dann steigt bei mir jedes Mal erneut die Zuversicht. URS WEISSKOPF,  geboren 1956 in Zürich, absolvierte eine Bank-Anlehre. Sein Herz sehnte sich nach Freiheit, die er in den USA auf der Bühne fand. Zurück in der Schweiz kreativ glücklich in der Werbebranche, bis eine Dame einer Stellenvermittlung sagte: «Sie sind zu alt für die Werbung!» Trotz erfüllter Tage als Ausgesteuerter ist er auf ein Einkommen angewiesen, das er als freier Fotograf und Korrespondent erzielt.

Die drei Texte stammen aus der Schreibwerkstatt «Vom Leben mit wenig Geld» der Caritas Zürich, die die Schriftstellerin Tanja Kummer und die Journalistin Andrea Keller leiten. Weitere Informationen dazu gibt es online, hier kann auch die gesamte Broschüre mit weiteren Texten von Armutsbetroffenen gratis bestellt werden: www.caritas-zuerich.ch/was-wir-sagen/schreibwerkstatt

23


Meister der Selbstver­ marktung: Jeff Koons.

Kritiker der Kunstszene: der US-Künstler Larry Poons.

Wo Kunst zur Beute wird Film Der amerikanische Regisseur Nathaniel Kahn pirscht sich an die Frage nach dem Wert der Kunst heran. In seiner dokumentarischen Reise durch den globalen Kunstmarkt trifft er auf Getriebene. TEXT  MONIKA BETTSCHEN

Geld und Kunst führen seit jeher eine sehr enge Beziehung, wenn auch eine eher einseitige. «Es ist wichtig für gute Kunst, teuer zu sein», sagt Simon de Pury gleich zu Beginn des neuesten Dokumentarfilms über den internationalen Kunstmarkt. Darüber hinaus hält sich der Schweizer Auktionator und Sammler, der wegen seines Auktionsstils gerne als «Mick Jagger des Kunstmarktes» bezeichnet wird, bedeckt. Auch was genau gute Kunst ausmacht, lässt er offen. Im Film von Nathaniel Kahn wird der weltweite Umsatz mit Kunst für 2016 auf 56,6 Milliarden Dollar beziffert. In Anlehnung an Oscar Wildes Zitat: «Heute kennt man von allem den Preis und von nichts den Wert» nennt er seine Dokumentation «The Price of Everything». Kahn rückt auf unterhaltsame Weise die Dynamik des Kunstmarktes ins Zentrum und versucht zu ergründen, warum manche Werke so hoch gehandelt werden und was die an diesem Prozess beteiligten Akteure antreibt. In den Gesprächen, die der Regisseur mit bedeutenden Kunstschaffenden führt, offenbart sich, welche Rolle ihnen in diesem Spiel zukommt: Sie sollen den Rohstoff liefern, aus dem die Träume der hungrigen Käuferschaft gewebt sind, aber bitte nicht im Übermass. Denn nur, was rar ist, wird auch als wertvoll erachtet. Der Künstler soll sich laufend neu erfinden und dabei doch so bleiben, wie er ist. Die Gesetze dieses Marktes sind wahrlich nichts für 24

schwache Nerven. Kunstkritiker Jerry Saltz rät daher inständig von einer Künstlerlaufbahn ab, es sei denn, man habe wirklich keine andere Wahl. Mega-Galerien, Sammler und die grossen Auktionshäuser dominieren heute das Geschäft. Als einer der grössten Kritiker und quasi als argumentatives Gegengewicht zu Sammler de Pury tritt der ameri­ kanische Künstler Larry Poons auf – in den 60er-Jahren eine grosse Nummer. «Es kann nicht sein, dass das Teuerste auch das Beste ist», sagt er, der der Kunstszene in New York den Rücken gekehrt hat und heute in einem Atelier auf dem Land lebt und arbeitet. Auch die Schweiz spielt mit Mega-Galerien, Sammler und die grossen Auktionshäuser dominieren heute das Geschäft. Auch die Schweiz spielt mit der «Art Basel», einflussreichen Sammlern und namhaften Galerien eine wichtige Rolle im internationalen Kunstmarkt. «Seit der Wirtschaftskrise 2008 hat sich der Kunstmarkt stark verändert», sagt Nicolas Galley, Dozent am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich und Studienleiter im Bereich Kunstmarkt, auf Anfrage. Lokale und kleinere Galerien würden in Bedrängnis geraten, ­Käufer aus Asien und dem Mittleren Osten hingegen an Einfluss gewinnen. Für Kunstschaffende aus der Schweiz und der gesamten westlichen Welt erwachsen daraus Surprise 443/19


«Es geht ums Habenwollen»: Sammler Stefan Edlis.

Schwierig­keiten. «Der Markt ist globaler geworden. Viele Käufer, die regelmässig einheimische Künstler unterstützt haben, tun dies nicht mehr», so Galley. «Selbst wenn ein Künstler national bekannt ist, kann er sich nur schwer durchsetzen, wenn er nicht von einer internationalen Galerie repräsentiert wird.» Der besondere Reiz von «The Price of Everything» besteht darin, dass er Einblick in das Leben jener gewährt, die den geldgetriebenen Markt anfeuern: vermögende Kunstsammler wie etwa Stefan Edlis und seine Frau Gael Neeson. In ihrem Appartement im John Hancock Tower in Chicago verkommt die atemberaubende Aussicht auf die «Windy City» beinahe zur Statistin, da sich in den Räumen die Blue Chips des Kunstmarktes ein Stelldichein geben: Andy Warhol, Damien Hirst und natürlich Jeff Koons, der Maestro der Selbstvermarktung, von dem sie Anfang der Neunzigerjahre eine silberne Hasenskulptur für eine knappe Million erwarben. Heute wäre sie 65 Millionen Dollar wert. «Egal, wie teuer, es würde uns gehören, das war das Wichtigste», erinnert sich Gael Neeson und lässt damit durchblicken, was für Menschen aus tieferen Gehaltsklassen schwer nachvollziehbar ist: Beim Sammeln von High-end-Kunst geht es in erster Linie um das Haben­ wollen und Erbeuten um (fast) jeden Preis. Ein bisschen wie bei der Jagd, nur dass dabei kein Blut fliesst. Dafür aber Geld. Und dieses Geld reduziert die Kunst oft auf ihren reinen Anlagewert. Wenn etwa im Auktionshaus ­Sotheby’s in New York endlich der Hammer niedersaust, wird der neue Besitzer eines Werkes, egal, ob er anwesend ist oder anonym mitgeboten hat, gefeiert und beklatscht. Dem erfolgreichen Kunstjäger wird die Anerkennung einer eingeschworenen Gemeinschaft zuteil. «The Price of Everything» – Dokumentarfilm von Nathaniel Kahn, USA 2018, 98 Minuten Ab 7.2. im Kino. Surprise 443/19

Film In «Roma» finden die Dame des Hauses

und ihr Dienstmädchen zusammen.

Die unterschiedlichen Lebensbedingungen verschiedener sozialer Schichten ziehen sich wie ein roter Faden durch die Handlung von «Roma». Und nicht umsonst beginnt Regisseur Alfonso Cuarón seinen persönlichsten Film, basierend auf seinen Kindheitserinnerungen, mit der Arbeit der sehr jungen Hausmädchen im Hause seiner Eltern im Jahr 1970. Cleo schrubbt den Boden, während sich ein Flugzeug, das gerade über das Haus fliegt, in der Wasserlache spiegelt – als Sinnbild eines Lebens, das sie nie haben wird. Später begegnen wir Cleo immer wieder in ihrem kargen Bett über der Garage, das sie mit der anderen Hausangestellten teilt, oder wir sehen ihr zu, wie sie die Scheisse des Familienhundes vom Boden kratzt. Aber auch die Mutter der Familie hat es nicht leicht, denn ihr Mann betrügt sie und verlässt die Familie, ohne für deren Unterhalt zu sorgen. Als dann Cleo auch noch ungewollt schwanger und von ihrem Freund verlassen wird, bilden die beiden Frauen eine Notgemeinschaft. Cuarón wollte den drei Dingen, die ihn am meisten geprägt haben, ein Denkmal setzen: seinem Heimatland, den Frauen und seiner ­Familie. Entstanden ist ein liebevolles Sittenporträt einer Gesellschaft in Aufruhr, das Cuarón auch mittels des Corpus-Christi-­ Massakers darstellt – eines Studentenprotestes, der von der Geheimpolizei gewalttätig niedergeschlagen wurde. Umso mehr zeichnet sich im Vergleich dazu die Stärke der Mutter und die liebevolle Sanftmut von Cleo ab, die die Kinder in einer heilen Blase aufwachsen lassen. Das in Schwarz-Weiss verfilmte Werk betört mit langen Einstellungen. Diese entwickeln eine Sogwirkung, die den Zuschauer in ihren Bann zieht, weil man sich in dieser Welt mit ihren vielen kleinen Details verlieren kann. Völlig zu Recht wird der Film deshalb zu einem der besten des letzten Jahres erklärt und ist mit zehn Nominierungen Favorit bei den diesjährigen Oscars.

MURIÈLE WEBER FOTO: ZVG

FOTOS: ZVG

Gemeinschaft der Ungleichen

«Roma», von Alfonso Cuarón, Mexiko/USA 2018, 135 min, derzeit im Kino und auf Netflix. 25


Luzern «Unfrisiert Festival – Kultur inklusiv», Mo, 4. Februar bis So, 10. Februar, diverse Uhrzeiten, Kleintheater/Stattkino. www.kleintheater.ch

Tatorts. Die ursprüngliche Form behalten sie bei: 14 Lieder werden mit kabarettistischen Dialogen aufgelockert. Dabei soll nicht nur die Auflösung des Falles wichtig sein, ebenso werden allgemeine Betrachtungen über das Genre des Krimis angestellt – nicht immer todernst. EBA

Winterthur «Times of Waste», Ausstellung, bis 17. März, Di bis So 10 bis 17 Uhr, Do 10 bis 20 Uhr, Gewerb­emuseum, Kirchplatz 14. www.gewerbemuseum.ch

Das neue Winterfestival «Unfrisiert» will jeweils während einer Woche ein gesellschaftsrelevantes Thema in den Mittelpunkt rücken – echt, nahbar, ganz ohne (Fein-)Tuning. Unfrisiert eben. Um kulturelle Teilhabe zu fördern, wurde mit der Pro Infirmis eine mehrjährige Partnerschaft eingegangen. In der ersten Ausgabe geht es um die Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigungen. Auf dem Programm stehen Projekte für, mit oder von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen aus diversen Bereichen: Film, Theater, Podien und Slams. Beispielsweise wird der Film «Das Gehörlosendorf» gezeigt und anschliessend mit dem Regisseur diskutiert, oder es treten Künstler mit Beeinträchtigung auf wie die Kompanie Affenherz oder das Zürcher Theater Hora. Zum vielfältigen Programm gehören auch ein Crash-Kurs in Gebärdensprache, ein Bilingue Slam (Gehörlose Slam-Poeten treten gegen lautsprachliche Wortakrobaten an) sowie eine barrierefreie Party. EBA

St. Gallen «Saddest Songs in the World», DJ-Sets, Sa, 2. Februar, 21 Uhr (Eintritt frei), Palace, Blume­nbergplatz. www.palace.sg Die Reihe «Saddest Songs in the World» sondiert ein weiteres Mal das heulende Elend aus Beziehungsstress, Einsamkeit, Armut und dem einen oder anderen Klumpen Moll – auf der Suche nach den allertraurigsten Popsongs. An kleinen Tischen sitzend, wie damals in den Fünfzigern in der Datingbar, begleiten die Zuhörerinnen und Zuhörer schwelgend die DJs hinter ihrem nahe am Wasser gebauten Pult und verstehen vielleicht nicht immer auf Anhieb die Schwermut jedes Tracks: Die Traurigkeit ist nämlich ein listiges Vieh und legt nicht jede mit der gleichen Zeile, jeden mit dem gleichen Akkord lahm. Wer seinen Wunden Punkt zelebrieren will, geht in diesen Club der Melancholiker und Melancholikerinnen! EBA

26

Bern «Kriminalgschicht», Musiktheater, Mi, 6. Februar bis Sa, 9. Februar, jeweils 20 Uhr, So, 10. Februar, 17 Uhr, Theater Matte, Mattenenge 1. www.theatermatte.ch «Kriminalgschicht» ist ein Gemeinschaftswerk der Berner Troubadours Mani Matter, Jacob Stickelberger und Fritz Widmer. Als Mani Matter im Februar 1972 allzu früh starb, war das Werk noch nicht ganz fertiggestellt: Zwei Lieder und die Auflösung der «Kriminaloper» (wie das Werk ursprünglich betitelt war) fehlten noch. Widmer und Stickelberger schrieben die Geschichte zu Ende und führten sie in der Folge weit über 100 Mal auf. Zum letzten Mal spielten die beiden Troubadours die Kriminalgeschichte im Jahr 2002 anlässlich des «Matter-Herbst» in Bern. Heute freuen sich Hank Shizzoe, Markus Maria Enggist, Christine Lauterburg und Michel Poffet auf das gemeinsame Betreten des

Abfall verschwindet nie vollständig und hinterlässt immer Spuren. Dies ist eindrücklich in «Times of Waste – Was übrig bleibt» zu sehen. Im Zentrum steht das Leben eines Smartphones: Die Ausstellung verfolgt seine Transportwege und Recyclingrouten sowie die seiner Bestandteile. Diese führen zu ­Deponien und Schreddern, in Reparaturwerkstätten, Forschungs­ labors und zu verschiedenen Ma­ terialien und Menschen. Die dabei aufgezeigten lokalen wie globalen Herausforderungen evozieren Fragen nach Handlungsmöglichkeiten in Zeiten des Elektroschrotts. Die multimediale Ausstellung ist aus einem Forschungsprojekt entstanden und vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert. Gleichzeitig werden während der Ausstellungsdauer im «Material-­Archiv» fünf Sendungen zum Thema Recyc­ling aus «Die Sendung mit der Maus» gezeigt. EBA

Der Franzose Jacques Tardi ist einer der bedeutendsten Comiczeichner weltweit. Er arbeitet vornehmlich mit historischen Themen und befasst sich intensiv mit dem Krieg. So auch in seinem jüngsten Werk, einer Trilogie zur Odyssee seines Vaters im Zweiten Weltkrieg. Der französische Panzerfahrer René Tardi wurde 1940 in Loth­ ringen gefangengenommen und im «Stalag IIB» in Hinterpommern im heutigen Polen interniert. Dort wartete er mit hunderten Leidensgenossen auf das Kriegsende. Der dritte und letzte Band beschreibt die Heimkehr des traumatisierten und verbitterten Vaters und die schwierigen Jahre nach Kriegsende. Tardi zeichnet sich selbst als kleinen Jungen, der einen imaginierten Dialog mit seinem Vater führt, obwohl er diese Nähe zu seinem verschwiegenen Vater in Wirklichkeit nie hatte. Zur Vernissage am 9. Februar laden Tardi, seine Frau Dominique Grange, der Comic-Historiker und Journalist Ariel Herbez sowie Anette Gehrig, Kuratorin und Direktorin des ­Cartoonmuseums Basel. EBA

Zürich «Auf Augenhöhe mit Geflüchteten?», Vortrag, Mi, 6. Februar, 19 Uhr (Eintritt frei), Stauffacherstrasse 8. www.solinetz-zh.ch Basel «Ich, René Tardi, Kriegs­ gefangener im Stalag IIB», Buchvernissage, Sa, 9. Februar, 16 Uhr; parallel dazu läuft die Ausstellung «Le Monde de Tardi» noch bis zum 24. März, Di bis So 11 bis 17 Uhr, Cartoonmuseum,­­ St. Alban-Vorstadt 28. www.cartoonmuseum.ch

Viele Menschen möchten Geflüchteten helfen und tragen so zu einer solidarischen Gesellschaft bei. Gleichzeitig kann zwischen Helfern und Hilfe-Empfängern eine Beziehung der Abhängigkeit entstehen. Im Vortrag «Auf Augenhöhe mit Geflüchteten?» spricht die Soziologin und Aktivistin («Wir alle sind Bern») Sarah Schilliger über die Herausforderungen des Helfens, über mögliche Probleme genauso wie über Lösungen. EBA

Surprise 443/19

BILD(1): ZVG, BILD(2): MICHAEL LIO BILD(3): TARDI/CASTERMAN

Veranstaltungen


ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT

Agglo-Blues

Folge 26

Das Lieblingskaninchen Was bisher geschah: Vera Brandstetter taucht tiefer in die virtuelle Vergangenheit des Joggers ein, der beim Schnabelweiher erschlagen wurde. Neben Szenen einer glücklichen Ehe stösst sie auch auf eher unschöne Ausfälle gegenüber Andersdenkenden. Zurück in ihrem Büro googelte Brandstetter das Unternehmen, für das sich Schwander interessiert hatte. Weit oben erschien eine Meldung der Handelszeitung. Der amerikanische Mischkonzern Palladium Inc. hatte vor gut einem Jahr die Comartec in H ­ ölzlingen übernommen. Die Firma, in der der Tote gearbeitet hatte. «Warum sagt mir das niemand?», schimpfte sie und wählte die Büronummer von Erika Hofmann, der Chefsekretärin der Comartec. «Ah, Frau Brandstetter, haben Sie Neuigkeiten? Wissen Sie, wer Reto Schwander umgebracht hat?» «Leider nein. Aber ich würde gerne etwas über die neuen Besitzer der Comartec erfahren», antwortete Brandstetter. «Oje», entfuhr es Erika Hofmann. «Haben Sie Zeit? Darf ich heute Nachmittag vorbeikommen?» «Ich würde das lieber nicht im Büro besprechen. Besuchen Sie mich doch am Feierabend zuhause.» Brandstetter zögerte einen Moment, es war Thorstens freier Abend. Meist gingen sie Essen oder ins Kino und sie übernachtete bei ihm. Erika Hofmann wohnte in Hölzlingen, es würde sich nicht lohnen, danach in die Stadt zurückzufahren. Sie sagte zu und rief Thorsten an. «Warum gehen wir nicht Mittagessen? Ich lade dich ein», schlug er vor. Sie war froh, dass er es nicht persönlich nahm, wenn sie keine Zeit für ihn hatte. Das war nicht selbstverständlich. Ihr Ex hatte jeweils geschmollt wie ein vernachlässigtes Kind, wenn sie ihn versetzen musste. Weil bis zum Mittag noch etwas Zeit blieb, recherchierte sie weiter über die beiden Unternehmen. Auf der Homepage der ­Comartec gab es ein Kapitel «History», das auch in der deutschsprachigen Version so hiess. Der Wandel vom Familienbetrieb zur Aktiengesellschaft und schliesslich die Übernahme durch einen internationalen Konzern wurden als natürliche Entwicklung dargestellt. Der Hauptsitz war erst vor ein paar Jahren an den Standort Hölzlingen verlegt worden. Über das Palladium-­ Surprise 443/19

Konglomerat selber war nicht viel zu erfahren. Der Internetauftritt war ausschliesslich englisch, das Kerngeschäft bestand in der Herstellung von Präzisionsmaschinen, dazu kamen Engagements in Industriezweigen, von denen Brandstetter nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gab. Es waren Unternehmen, die Produkte herstellten, mit denen Produkte hergestellt wurden. Um halb eins traf sie Thorsten in einem Restaurant, das nicht weit von der Hauptwache entfernt lag. Sie freute sich, ihn zu ­sehen, und bereute bereits, den Abend der Arbeit geopfert zu haben. Die jungen Wirte waren Bekannte von Thorsten, sie kamen an den Tisch, um Hallo zu sagen. Sie wussten nicht, dass sie Polizis­tin war. Hier wurde Wert auf Bio, lokale Küche und fairen Handel gelegt. Es gab eine grosse Auswahl an vegetarischen Gerichten. Brandstetter war im Alter von zehn Jahren Vegetarierin geworden. Ihr Vater hatte im Hinterhof Kaninchen gezüchtet. Eines Abends begriff sie, dass das, was auf dem Teller lag, ihr Lieblingsküngel war. «Das esse ich nicht», hatte sie gesagt. «Was glaubst du, woher Fleisch kommt? Von Tieren», hatte ihr älterer Bruder gespottet. «Dann esse ich kein Fleisch mehr.» Sie hatte das Besteck neben den Teller gelegt und die Arme verschränkt. Der Vater wurde laut, sie blieb stur und bekam eine Ohrfeige. Er zwang sie, am Tisch sitzen zu bleiben, bis sie aufgegessen hätte. Als die Mutter am Morgen in die Küche kam, schlief Vera sitzend am Tisch, den Kopf auf die Arme gebettet. Das Fleisch war unangetastet. Die Mutter schickte sie unter die Dusche. Vera hörte, wie die Eltern stritten. Danach wurde ihr kein Fleisch mehr geschöpft. Der Menüplan änderte sich nicht. Bei Brandstetters gab es keine Extrawurst und auch nicht extra keine Wurst. Von da an ass sie Beilagen. Der Vater glaubte, sie würde schon wieder zur Vernunft kommen. Sie war im Wachstum, musste im Haushalt helfen und trieb viel Sport. Er war überzeugt, dass sie ohne Fleisch innert kurzer Zeit zusammenbrechen würde. Sie brach nicht zusammen und hatte seither keinen Bissen Fleisch gegessen. Und selten nachgegeben. Nach einem Espresso gingen sie zu Thorsten. Sie erwachte erst um halb fünf wieder, duschte, zog sich an und geriet auf dem Weg zur Wohnung von Erika Hofmann in einen fürchterlichen Stau. STEPHAN PÖRTNER  schreibt und lebt in Zürich. Alle bisher

erschienenen Folgen des Fortsetzungskrimis gibt es zum Nachlesen und -hören unter www.surprise.ngo/krimi 27


IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Infopower GmbH, Zürich

02

Büro Dudler, Raum- und Verkehrsplanung, Biel

03

Hedi Hauswirth Psychiatrie-Spitex, Oetwil a. S.

04

SISA Studio Informatica SA, Aesch

05

Stellenwerk AG, Zürich

06

grafikZUMGLUECK.CH, Steinmaur

07

Waldburger Bauführungen, Brugg

08

Volonté Ofenbau, Schwarzbubenland

09

CISIS GmbH, Oberwil

10

RLC Architekten AG, Winterthur

11

Sternenhof, Leben und Wohnen im Alter, Basel

12

Praxis für die Frau, Spiez

13

Fontarocca Brunnen + Naturstein, Liestal

14

OpenTrack Railway Technology GmbH, Zürich

15

Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

16

Brother (Schweiz) AG, Dättwil

17

Proitera, Betriebliche Sozialberatung, Basel

18

Freunde der PH Zürich

19

Osteopathie Martin Lieb, Bern

20

Kaiser Software GmbH, Bern

21

Humania Care AG, Zürich

22

Olivier Gerig, Hypnose-Punkt.ch

23

Barth Real AG, Zürich

24

Girsberger Holding AG, Bützberg

25

TopPharm Apotheke Paradeplatz, Zürich

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Der Weg in die Armut führte für Daniel Stutz über die Sucht. Als Jugendlicher rutschte der heute 44-Jährige in die Spielsucht und später in den Konsum harter Drogen. Dank einer Therapie schaffte er vor 7 Jahren den Ausstieg. Geblieben ist dem Zürcher Surprise-Verkäufer und -Stadtführer ein Schuldenberg. «Den Weg aus der Sucht habe ich hinter mir, der Weg aus der Armut liegt noch vor mir», beschreibt Daniel seine Situation. SurPlus gibt ihm dabei Rückenwind: «Es ermöglicht mir hin und wieder Ferien. Ausserdem bedeutet es, auch einmal krank sein zu dürfen – ohne gleich Angst haben zu müssen, die Miete oder Krankenkasse nicht zahlen zu können.»

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 14 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise Sozialer Stadtrundgang Basel

#441: Momente des Scheiterns

«Der Druck ist weg»

«Grosses Kompliment» Kürzlich war ich auf dem Frauenstadtrundgang in Basel: ein sehr spannender, beeindruckender und horizonterweiternder Rundgang, geleitet von zwei tollen und ­selbstbewussten Frauen, die berührend ihre Geschichten erzählen und einem eine ganz andere Sicht auf die Stadt geben. Und auch einen Einblick gewähren, was es heisst, als Frau auf der Gasse überleben zu müssen. Ein grosses Kompliment an die beiden. Ich bin schon gespannt auf weitere Rundgänge, war sicherlich nicht mein letzter. G. BURGHARTZ,  Basel

Sozialer Stadtrundgang Zürich

#439: Abschalten!

«Dankbar sein»

«Bösartige Hässlichkeit»

Mit grossem Interesse durfte ich den Stadt­ rundgang «Überleben auf der Gasse» mit Hans Rhyner mitverfolgen. Die Führung war toll, Hans hat die dunkle Seite der Stadt Zürich sehr gut aufgezeigt. Mich hat die Geschichte der Armut (seine Geschichte) unheimlich berührt. Ich habe viel gelernt, kann einiges mitnehmen und dankbar sein für mein Leben, so wie es ist.

Ich schätze das Magazin sehr und lese die Artikel mit grossem Interesse. Das Cover von Ausgabe 439 ist aber von einer derart bösartigen Hässlichkeit, dass ich in Zukunft auch ästhetische Ansprüche an das Cover anmelde, damit ich das Heft kaufe.

N. NOT TER,  Remetschwil

K. BURRI,  Basel

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion
 Verantwortlich für diese Ausgabe: Amir Ali (ami) Sara Winter Sayilir (win), Andres Eberhard (eba) Reporter: Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99
 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

Surprise 443/19

Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Georg Gindely, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Hansruedi Müller, opak.cc, Klaus Petrus, Angela Siry-­ Angelucci, Urs Weisskopf

ANONYM,  Thun

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse

Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

PLZ, Ort

Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik

Vorname, Name

Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage  27 700 Abonnemente  CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:
PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Mit Spannung habe ich den Beitrag über die Eingliederung von IV-Bezügern ge­lesen. Ich habe aus psychischen Gründen eine IV erhalten. Ich war froh darum. Ich weiss nicht, ob ich ohne IV überlebt hätte. Alle zwei Jahre gab es eine Überprüfung mit Besuch beim Psychiater der IV. Ich wurde dann zu einem Teil s­ elbständig erwerbend. Es war alles in Ordnung und lief. Was aber dauernd mitschwang, war dieser Druck: Komme ich weiter? Wird die IV wieder gesprochen? Wenn ja, wie viel? Durch diesen Druck habe ich einen Teil meiner Energie verbraucht. Ich fühlte mich verwaltet und stand dem ohnmächtig gegenüber. Ich weiss aber auch nicht, wie das Ganze anders angegangen werden könnte. Ich bin überaus zufrieden damit, wie alles gelaufen ist, und jetzt aber froh, dass ich pensioniert bin. Nach meiner Pensionierung dauerte es sehr lange, bis mir wirklich bewusst war, dass der Druck jetzt weg ist. Für mich war dieser das Schwierigste.

Rechnungsadresse:

Strasse PLZ, Ort Telefon E-Mail Datum, Unterschrift 443/19

Bitte heraustrennen und schicken an: Surprise, Münzgasse 16, CH-4051 Basel, info@surprise.ngo

29


FOTO: BODARA

Surprise-Porträt

«Ja, ich habe Fehler gemacht» «Vor Kurzem ist ein Buch erschienen, in dem auch meine Geschichte erzählt wird. Es heisst ‹Der Fehler, der mein Leben veränderte›. Autorin Gina Bucher ­porträtiert Menschen, die scheiterten: eine Ärztin, die bei der Behandlung einer Patientin einen fatalen ­Fehlgriff machte, ein Mann, der seine Frau umbrachte. Oder einer, der sich immer wieder verschuldete – das bin ich. Ich bin mir gar nicht sicher, was mein grösster Fehler war. Wahrscheinlich, dass ich als Selbständiger darauf verzichtet hatte, eine Taggeldversicherung abzu­ schliessen. Das rächte sich 2004, als ich mit Freunden in der Dominikanischen Republik in den Ferien war und mit dem Motorroller verunfallte: Jochbeinbruch, Schädel-Hirn-Trauma, mehrere Monate Pause. Die ­Arztkosten waren gedeckt, aber nicht der Verdienst­ ausfall. Ich musste die Reinigungsfirma auflösen, die ich sechs Jahre lang geführt hatte, und begann mich zu verschulden. Das kannte ich schon. Als ich zehn Jahre zuvor als ­Wachmann gearbeitet hatte, pumpte mich ein Arbeits­ kollege an. Er brauchte 30 000 Franken und bot mir sein H ­ äuschen in Italien als Sicherheit an. Doch das Haus war bereits an seine Schwester überschrieben, und als er mir das Geld nicht zurückzahlen konnte, musste ich Privatkonkurs anmelden. Mein Chef erfuhr davon und entliess mich. Ich war unglaublich ent­ täuscht von meinem damaligen Kollegen und bin es heute noch. Wenn du in die Schuldenfalle gerätst, kommst du fast nicht mehr raus. Ein Dreivierteljahr nach dem Unfall in der Domini­ kanischen Republik begann ich beim Wurststand ­Calypso im Niederdorf zu arbeiten. Dort lernte ich Ruedi kennen, der jeden Tag vorbeikam und heute mein bester Freund ist. Er sagte zu mir: ‹Du bist ein fauler Siech, du arbeitest ja nur am Abend.› Ich solle tagsüber Surprise ­verkaufen wie er. Das ver­ suchte ich, und es wurde vier Jahre lang meine Haupt­ erwerbsquelle. Dann fand ich eine Stelle beim ­Migros-­Take-away am HB. Das Vorstellungsgespräch lief sehr gut, bis es um meine Finanzen ging. Ich sagte meinem Chef, dass ich Schulden hätte und mein Lohn gepfändet würde. Er sagte, dann könne er mich nicht einstellen. Das Risiko, dass jemand in mei­ ner ­Situation in die Kasse greifen würde, sei zu gross. Ich wollte mich schon verabschieden, da sagte er, meine Offenheit habe ihn beeindruckt, er wolle mal etwas probieren, ich würde von ihm hören. 30

Peter Conrath, 54, verkauft das Strassenmagazin am Zürcher Hauptbahnhof und ist Surprise-Stadtführer. Seine Geschichte ist jetzt auch in einem Buch nachzulesen.

Einige Tage später hatte ich die Zusage. Ich arbeitete nicht an der Kasse, sondern hinten in der Sandwich­ produktion, aber ich hatte einen Job. Daneben verkaufte ich weiter Surprise und begann als Stadtführer für ­Surprise zu arbeiten. Ich zeige den Menschen die Stadt aus der Sicht eines Verschuldeten und erzähle meine Geschichte. Verschuldet bin ich heute noch, aber nicht mehr lange. Surprise hat mit mir eine Schulden­ sanierung gemacht, und ich habe fast alle ausstehen­ den Rechnungen beglichen. Es fehlt nur noch ein ­kleines bisschen. Diesen Herbst habe ich eine neue Stelle gefunden, ich verkaufe Marroni am Bahnhof Zug. Mir gefällt es, ­wieder direkt mit den Menschen zu tun zu haben. Des­ halb mag ich auch meine Arbeit als Stadtführer und als Surprise-Verkäufer so. Am 1. März wage ich noch et­ was Neues. Ich werde täglich an der Schmiede Wiedikon vor einem Restaurant Würste grillieren und verkaufen. Was mir noch fehlt, ist ein Zelt als Sonnen- und Regen­ schutz. Das kann ich mir im Moment nicht leisten, aber ich bin zuversichtlich, dass es noch klappt. Ich freue mich auf die neue Herausforderung, und ich kann ­sagen: Ja, ich habe Fehler gemacht, die mein Leben ver­ änderten. Aber ich bin zufrieden, wie es heute ist.» Aufgezeichnet von GEORG GINDELY Surprise 443/19


GESUCHT: DER FAN-SCHAL FÜR DIE NATI 2019! Die Strassenfussball-Nationalmannschaft nimmt im Sommer 2019 am Homeless World Cup in Cardiff (Wales) teil – mit Ihrem Schal im Gepäck? Wie in den Jahren zuvor überreichen unsere Spieler auch in diesem Jahr ihren Gegnern zum Handshake handgemachte Fanschals. Machen Sie mit! Der Schal sollte zirka 16 cm breit und 140 cm lang sein, Fransen haben und – Sie hätten es erraten - in Rot und Weiss gehalten sein. Gestrickt, gehäkelt, genäht: alles geht! Die Spieler unserer Nati werden den schönsten Schal küren – der Gewinnerin oder dem Gewinner winkt ein attraktiver Überraschungspreis!

Bitte schicken Sie den Schal bis spätestens 28. Juni 2019 an: Surprise | Strassenfussball | Münzgasse 16 | CH-4051 Basel

ACHTUNG, FERTIG, STRICKEN!


insp.ngo insp.ngo

/inspstreetpapers @_INSP @_INSP /inspstreetpapers

Wir Wir sind sind stolz stolz aufauf unsere unsere

9000 9000 Straßenmagazin-Verkäufer Straßenmagazin-Verkäufer

35 35Ländern! Ländern!

in in

#VendorWeek #VendorWeek 20 ar192019 bru Fe0bru Fear 4-104-1

32

Surprise 443/19


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.