Surprise Nr. 442

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Strassenmagazin Nr. 442 18. bis 31. Januar 2019

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Tierwohl

Arme Sau? Eine Veganerin und ein Schweinezüchter diskutieren Seite 8

Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass


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Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Expertenrolle Expertenrolle

SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Erlebnis Erlebnis


TITELBILD: KLAUS PETRUS

Editorial

Was sollen wir wollen dürfen? Du bist, was du isst – selten passt so viel Wahrheit in so wenige Wörter. Ich beobachte darum gerne andere Menschen beim Einkaufen oder besser gesagt: deren Warenkörbe. Dabei lege ich mir Klischees zurecht und freue ich mich, wenn die Leute diese mit ihrem Griff ins Regal widerlegen. Wenn die Rollator-Rentnerin eine grosse Dose Bier in den Korb legt, zum Beispiel. Wenn die kopftuchtragende Migrantin im abgetragenen Mantel zum Bio-Poulet greift. Und wenn sich der Herr im schicken Anzug und den rahmengenähten Schuhen freudig das Billig-Schweinsfilet angelt. Vom letzten Typus dürfte es mehr geben, als mir lieb ist. Menschen, die sich nicht darum kümmern, woher ihr Essen kommt und unter welchen Bedingungen es hergestellt wurde – obwohl sie es sich offensichtlich leisten könnten, für Qualität und Nachhaltigkeit etwas mehr zu bezahlen. Die Schweiz muss voll sein von solchen Menschen. Denn es wird viel mehr Fleisch tierwohlgerecht produziert, als die Konsumenten überhaupt kaufen wollen, wie unser Reporter Andres Eberhard herausge­funden hat (Seite 8).

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

Dicke Post 6 Moumouni …

... und der Mann im Park 7 Die Sozialzahl

Wer zahlt, befiehlt?

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8 Tierwohl

Massentierhaltung – muss das sein? 16 Migration

Europas Insel des Elends

Für seine Reportage haben wir einen Schweinezüchter mit einer Veganerin zusammengeführt, die mit der Initi­ative «Gegen Massentierhaltung» die Min­ deststandards in der Schweizer Fleischproduktion generell auf Bio-Niveau anheben will. Das soll das Klima und die Tiere retten. Nach dem Gespräch mit dem Bauern räumt sie ein: Die Initiative, für die zurzeit Unterschriften gesammelt werden, zielt genauso auf unser Konsumverhalten ab wie auf die Arbeit der Landwirte. Kommt die Initiative zustande, führt sie zur Frage: Was sollen wir wollen dürfen? Ich verstehe und befürworte grundsätzlich, dass man Vorschriften und Verboten kritisch gegenübersteht. Doch Freiheit geht immer mit Verantwortung einher. Wer seine Verantwortung an der Migros-Kasse nicht wahrnimmt, der sollte sich nicht wundern, wenn ihm die Freiheit eines Tages an der Urne genommen wird.

AMIR ALI

Redaktor

20 Film

Zwingli und der neue Blick auf die Armut 24 Film

Transzendenz im Kino 26 Veranstaltungen 27 Agglo-Blues

Die Bücher

28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt international

«Mein Enkel war die Rettungsleine»

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Aufgelesen

FOTO: DELPHINE TOMES

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 34 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Rassismus in Mexiko «Wer durch die politisch inkorrekten Strassen von Mexiko-City schlendert, kann eine Nazi-Armbinde oder einen Pin sehen, die an Kriege erinnern, die nichts mit uns zu tun und in denen wir kaum eine Rolle gespielt haben. Als Europäer durchquert man die Stadt irritiert und fragt sich: Wissen diese Mexikaner eigentlich, dass Hitler sich ihrer ohne mit der Wimper zu zucken entledigt hätte? Anscheinend hat uns diese Info nicht erreicht. Sonst hätten wir wohl ein besseres historisches Verständnis von Rassismus, und auf dem obigen Ladenschild stünde 4

stattdessen: ‹Der Afromexikaner, Motorcraft, Originalteile›. Wenn wir uns ernsthafter und eingehender mit den antirassistischen Ideen und Methoden auseinandergesetzt hätten, die in anderen Ländern zirkulieren, dann hätten wir auch mehr Augen für den tiefsitzenden Rassismus in Mexiko, und auch erniedrigende Ausdrücke für Indigene wären weniger normal.»

MI VALEDOR, MEXICO CITY

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In Hamburg müssen obdachlose EU-Bürger mit Abschiebung rechnen. Dieser geht häufig eine Haft voraus. Seit vergangenem Mai aber hat Hamburg diese Abschiebungen ausgesetzt, da es den Betroffenen «an genereller Haft- und Verwahrfähigkeit» mangle. Die Ausländerbehörde sieht sie als zu krank oder ver­ elendet an. Trotz des vorläufigen Abschiebungsstopps hat dieselbe Behörde von Januar bis November 2018 219 Obdachlosen ihr Frei­ zügigkeitsrecht aberkannt und sie zur Ausreise aufgefordert. Seit März 2017 versucht die Hansestadt mit diesen Massnahmen, der steigenden Zahl von Osteuropäern auf ihren Strassen entgegenzuwirken. HINZ & KUNZT, HAMBURG

Obdachlosigkeit bei Tieren

FOTO: BRAYDON MOLONEY

Mehr als 400 Affenwaisen leben in Nyaru Menteng, einer Dschungelschule für heimatlose Orang-Utans auf der Insel Borneo. Sie haben ihren natürlichen Lebensraum an die Abholzung verloren. In der Dschungelschule lernen die Kleinen – deren DNA zu 98 Prozent mit der menschlichen übereinstimmt – all die Fähigkeiten, die ihnen unter normalen Umständen in den ersten sieben Jahren ihres Lebens ihre Mütter vermitteln würden, wie das Öffnen von Kokosnüssen und den Bau eines Nestes. Experten zufolge werden Orang-Utans in 10 bis 20 Jahren nicht mehr in der Wildnis anzutreffen sein, geht die Zerstörung des Regenwaldes in Indonesien und Malaysia so weiter wie bisher.

BIG ISSUE AUSTRALIA, MELBOURNE

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Zu krank für den Knast

Vor Gericht

Dicke Post Mit 28 ungefähr, da hatte Boris B.* das Gefühl, sein Leben sei der grosse Glücksgriff. Zwei Jahre später hätte er sich am liebsten eine Pistole an den Kopf gesetzt und abgedrückt. Dazwischen liegen Pech, Unvernunft, Ignoranz. «Und Schicksal», sagt Boris vor Gericht. Seine Verlobte war mit einem anderen durchgebrannt. Die Wohnungsmiete lag vier Monate im Rückstand. Sein Business für Fitnessfood lief mehr schlecht als recht, die Schulden häuften sich. «Mach dir keine Sorgen», hatte der Kollege vom Sportstudio zu ihm gesagt, als er zwischen Hanteln und Sandsäcken sein Leid klagte. «Ich gebe dir Geld, und du tust mir einen winzigen Gefallen.» Alle paar Wochen läutete daraufhin der Pöstler an Boris’ Tür und händigte ihm ein Paket aus. Den Inhalt lagerte er in Dosen für Nahrungsergänzungsmittel. Ab und an schaute der Trainingskollege vorbei, drückte Boris ein paar Tausender in die Hand und nahm die Behälter mit. Anderthalb Jahre später flog die Bande auf. Der Kollege soll insgesamt 21 Kilogramm Amphetamine und vier Kilogramm Marihuana aus den Niederlanden in die Schweiz eingeschleust und hier verkauft haben. Sein dortiger Geschäftspartner wurde jedoch observiert, und so kam die Polizei auf die Zürcher Spur. Kurz vor Weihnachten 2017 klingelte es um 6 Uhr früh an Boris’ Wohnungstür. Sieben Polizeibeamte und ein Schäferhund begehrten Einlass. Sie fanden, was sie suchten: zwei Päckchen Amphetamingemisch à je 740 Gramm sowie ein Kilogramm Marihuana, beides versteckt in grossen Dosen, die mit «Optimum Nutrition 100% Molke-Eiweiss» beschriftet waren. «Die Nachbarn haben den ganzen Polizei-Auflauf mitbekommen», erzählt Boris

im Gerichtssaal. Er kam sieben Wochen in Untersuchungshaft. Da habe er fast täglich geweint. Er ist blass, die Ringe unter den Augen sind dunkel. In jener hässlichen Zeit vorher habe er dermassen unter finanziellem Druck gestanden, dass er sogar Haarausfall bekommen habe. Deshalb sei er bereit gewesen, die Drogenpakete entgegenzunehmen und zu lagern. Mit dem Verkauf habe er jedoch nichts zu tun gehabt. Für Boris spricht, dass er bislang nicht vorbestraft war und wieder einen geordneten Lebenswandel führt. Er arbeitet als Camionfahrer. In den Publikumsrängen sitzt seine neue Freundin. «Es ist die Frau, die ich liebe», stellt der Angeklagte sie dem Gericht vor, die Frau, die er heiraten wolle, sobald «die Sache abgeschlossen ist». Sie wirft ihm aufmunternde Blicke zu. Sein Verteidiger wirbt für eine Bewährungsstrafe von eineinhalb Jahren, sechs Monate weniger als die Staatsanwältin. Herr B. habe sich naiv auf diesen Deal eingelassen, sei aber von Beginn weg geständig gewesen und habe aus seiner «dummen» Tat gelernt. Der Richter wertet des Angeklagten Schuld als nicht gering. Er sei jung, gesund und stark und hätte kurzzeitig auch einen zweiten Job annehmen können, bis seine Finanzen wieder im Lot gewesen wären. «Das ist verdammt gefährlich, was Sie gemacht haben», sagt er zu Boris. Er verurteilt ihn schliesslich zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und zehn Monaten. Der Angeklagte solle die Chance zur Bewährung nutzen. * persönliche Angaben geändert

ISABELL A SEEMANN   ist Gerichts­reporterin

in Zürich. 5


ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

schon lang aufgehört, Avancen abzu­ weisen, indem ich auf meinen Freund verweise, und so ist die freundliche Art oft anstrengender und langwieriger. Der Typ war nicht sonderlich gross, und ich stellte mir kurz vor, dass ich bei einem allfälligen Gerangel nicht unbe­ dingt unterlegen wäre – ich hatte erst kürzlich wieder mit Kampfsport be­ gonnen und trug in meinem Kopf immer mal fiktionale Kämpfe aus, die ich mit meinem neu erlangten Kämpferinnen­ herz natürlich alle gewann. Und trotz­ dem fühlte ich mich jetzt nicht ganz wohl, weil der Mann mir zu nah war und offenbar unter Drogen stand. Und die Wunde sah aus, als wäre mein Gegenüber an diesem Tag schon einmal recht risi­ kofreudig gewesen.

Moumouni …

… und der Mann im Park Dies ist eigentlich eine Spätsommerge­ schichte. Doch sie hat mich bis in den Winter verfolgt, und deshalb erzähle ich sie jetzt hier. Ich sass auf der Wiese der Bäckeranlage, einem der wenigen Parks im Zürcher Kreis 4, weil ich mir wie alle anderen mit offener Jacke Herumlungernden einbil­ dete, die «letzten Sonnenstrahlen noch nutzen» zu müssen. Ich hatte aber auch Arbeit dabei und mich deshalb mit ablenkungsvorbeugenden Kopfhörern im Ohr und Computer auf die Wiese ge­ pflanzt. Plötzlich kam ein Typ von hinten ange­ schlichen. Als er ganz nah war und ich ihn bemerkte, fragte ich mich kurz, ob es wohl jemand ist, den ich kenne und der mich nur zum Spass erschrecken wollte. Ich kannte ihn nicht und erschreckte 6

mich ein wenig. In Nullkommanix lag er – ein bisschen zu nah – seitlich neben mir. «Hallo!», sagte er herausfordernd. Leicht wirrer Blick, zittriges Lächeln. «Was machst du?» Ich, immer noch mit Kopfhörern in den Ohren, zeigte auf den Laptop und sagte, dass ich arbeite. «Das ist Bullshit», sagte er mit verwe­ genem Blick. «Ja, vielleicht», antwortete ich. Und er startete erneut: «Du hast sehr schöne Augen.» Ich verdrehte eben­ diese. Auf seinem Kopf klebte ein Pflaster, das eine blutende Wunde nicht ganz abdeckte. Er sah mich wieder heraus­ fordernd, aber freundlich an, ich bedankte mich müde. Ich fragte mich, ob ich wohl Angst vor ihm haben müsste und wie ich ihn loswürde. Wer weiss, wie er mit einer Abfuhr umgehen würde oder wie fest er auf einem Flirt bestehen würde, wenn ich auf freundliche Weise versuchte, ihn abzuwimmeln. Ich habe

In all diese Risikoberechnungen hinein sagte er plötzlich: «Ok, wenn du nicht willst ...», stand auf und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ich wünschte ihm einen schönen Tag und war verwirrt. Es passiert wirklich selten, dass Männer, die mich ansprechen, um mir zu erzählen, wie schön meine Augen seien, so schnell wieder von mir ablassen. Kurz fragte ich mich, ob ich seine Kontaktaufnahme falsch eingeschätzt hatte und ob meine Vorurteile mit mir durchgegangen waren. Schon möglich, aber sein seltsames Anschleichen hatte ich mir ja nicht ein­ gebildet. Im Nachhinein schockierte mich vor allem, dass ich es nicht gewöhnt bin, dass meine Signale des Desinteresses respek­ tiert werden. Und mehr noch, dass die Risi­koberechnung, die ich innerlich gemacht hatte, während ich überlegte, wie ich ihn abwimmeln sollte, inklusive der Einschätzung der konkreten physi­ schen Bedrohung zu meinem Alltag als Frau gehören. Heute bin ich dem jungen Herrn auf absurde Art dankbar: Dafür, dass er anständig war. Wenn ich ihn mal wiedertreffe, lade ich ihn auf einen Kaffee ein. Selbstverständlich anständig.

FATIMA MOUMOUNI  hat wirklich schöne Augen. Viele Leute glauben der Zürcher Slampoetin und Autorin nicht, dass auch ein bisschen Grün darin ist, aber es stimmt.

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INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: AVENIR SUISSE (2017): GEMEINSAM GEZAHLT IST NICHT BILLIGER, BUNDESRAT (2018): MEDIENMITTEILUNG VOM 6.12.18

Die Sozialzahl

auf 57 Millionen zurückgefahren wurde. Insgesamt zeigt sich, dass sich das Gewicht der Kantone gegenüber dem Bund bei der Finanzierung der IPV deutlich verschoben hat. So steuerten alle Kantone zusammen 2010 noch rund 50 Prozent zur IPV bei. 2016 betrug der Anteil hingegen nur noch 42 Prozent.

Wer zahlt, befiehlt? Die Prämien für die Krankenversicherung richten sich in der Schweiz nicht nach dem Einkommen, sondern nach dem Wohnort und den Anbietern. Als sozialer Ausgleich ist die individuelle Prämienverbilligung (IPV) gedacht, die Personen mit niedrigen Einkommen beim Bezahlen der Krankenkassenprämien entlasten soll. 2016 standen dafür 4,3 Milliarden Franken zur Verfügung. Doch woher kommt eigentlich das Geld? Die individuelle Prämienverbilligung wird von den Kantonen ausbezahlt, aber durch Bund und Kantone gemeinsam finanziert. Mit dem neuen Finanzausgleich (NFA) wurden 2008 die aktuell gültigen Regeln festgeschrieben. Der Bund wurde verpflichtet, jedes Jahr 7,5 Prozent der Bruttokosten der obligatorischen Krankenversicherung an die Kantone entsprechend ihrer Einwohnerzahl auszurichten. Weitere Kriterien wie zum Beispiel die Sozialhilfequote oder die Altersverteilung in den Kantonen wurden nicht berücksichtigt. Erstaunlicherweise wurden den Kantonen kaum Auflagen gemacht, was sie zur IPV beizusteuern haben. Einzig bei der IPV für Kinder und Jugendliche gibt es verbindliche Auflagen. Hier müssen sie die Prämie für untere und mittlere Einkommen um mindestens 50 Prozent verbilligen.

Es überrascht kaum, dass der Bund im Rahmen der Revision des NFA eine Änderung dieses Regimes fordert. Dabei schlägt er den Kantonen folgenden Deal vor: Der Bund übernimmt die EL, die IPV geht vollständig zu den Kantonen. Unterstützt wird die Idee von Vertretern der reinen neoliberalen Lehre, ganz gemäss dem Motto: «Wer zahlt, befiehlt». Dabei geht vergessen, dass auch der Bund massgeblich die Kostenentwicklung im Gesundheitswesen beeinflusst und damit die Prämienentwicklung vorantreibt. Zudem zeigen die Erfahrungen mit der Sozialhilfe und eben auch mit der IPV, dass die Standards der Kantone dann weit auseinandergehen. Das Prinzip, dass alle gleich behandelt werden, unabhängig vom Wohnort, verliert dann massiv an Geltung. Sinnvoller ist es, an der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen festzuhalten, die Regeln für die Kantone aber verbindlicher zu definieren. Dies sieht eine geplante Initiative der SP vor, die den Kantonen eine Belastungsgrenze vorschreiben will: Kein Haushalt soll mehr als zehn Prozent seines verfüg­ baren Einkommens für die Krankenversicherung aufwenden müssen. Ich persönlich würde die Grenze sogar bei acht Prozent ziehen.

Dieser Mechanismus, der den Bund sehr viel stärker in die Pflicht nimmt als die Kantone, zeigte rasch Wirkung. Während sich der Beitrag des Bundes analog zu den steigenden Kosten in der Krankenversicherung von Jahr zu Jahr erhöhte, folgten die Kantone sehr unterschiedlichen Pfaden. So stieg zum Beispiel der kantonale Beitrag in Basel-Stadt von 75 Millionen im Jahr 2008 auf 122 Millionen im Jahr 2016, während im gleichen Zeitraum im Kanton Bern der Beitrag von 239 Millionen

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL  ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

IPV-Beiträge von Bund und Kantonen, in Mio. Franken 2500

Beitrag des Bundes

Beitrag aller Kantone

2000

1500

1000

500

0

2008

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2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

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Veganerin trifft Schweinezüchter Tierwohl Meret Schneider isst vegan und möchte die Massentierhaltung abschaffen.

Urs Haslebacher hält auf seinem Hof 500 Schweine. Eine Begegnung, die zeigt: Auch hier ist die Welt etwas komplizierter, als es zunächst scheint. TEXT  ANDRES EBERHARD FOTOS  KLAUS PETRUS

Politaktivistin Meret Schneider, 25, möchte von der Zürcher Agglomeration aus die Klimaerwärmung stoppen. Bauer Urs Haslebacher, 43, züchtet im Berner Mittelland Schweine. An einem sonnigen Herbstnachmittag treffen sich die beiden auf dem Hof des Landwirts, um über die Volksinitiative «Gegen Massentierhaltung» zu sprechen, die Schneider vergangenes Jahr mitinitiiert hat. Schnell ist man per Du, doch bis das Misstrauen überwunden ist, dauert es länger. Denn hier prallen Weltbilder aufeinander. Auf der einen Seite Schneider, die junge Grünen-Politikerin, die auf einem veganen Bauernhof aushilft und dort Patin eines Huhnes namens Wanda ist, das weder geschlachtet wird noch Eier legen muss. Auf der anderen Seite Haslebacher, Sektionsvorstand des Schweinezüchter-Verbandes Suisseporcs, der in den letzten 20 Jahren den elterlichen Bauernhof zu einem Grossbetrieb mit 500 Tieren ausgebaut hat und der sagt: «Schweine sind Nutztiere. Essen wir kein Fleisch, würden sie nicht leben.» Nach einem kurzen Rundgang über seinen Hof bittet Urs Haslebacher nach drinnen an den Familientisch. Seine Frau und die Kinder sagen Hallo, Haslebacher kocht Wasser auf und stellt dann eine Kanne voll auf den Tisch, zusammen mit einer Dose Instantkaffee und zwei Sorten Tee. Haslebacher rührt sich Kaffee an, Schneider wählt Hagebuttentee. Schneider: «Ein vorbildlicher Stall. Leider sind nicht alle Betriebe wie dieser hier.» Haslebacher: «Aber mit deiner Initiative würde ich ein Problem bekommen.» Schneider: «Ja. Sämtliche Schweine bräuchten Auslauf. Und wahrscheinlich etwas mehr Wühlstroh.» Haslebacher: «Für mich ginge es ja noch. Ich könnte die Ställe umbauen. Aber hier im Mittelland gibt es viele Bauern, bei denen ständiger Auslauf nicht machbar wäre. Sie haben keinen Platz dafür, auch wegen gesetzlicher Vorschriften. Zum Beispiel verlangt die Luftreinhalteverordnung einen Mindestabstand zu den umliegenden Wohnhäusern, damit die Nachbarn nicht vom Geruch der Tiere gestört werden. Wenn die Schweine aber nicht mehr im Stall, sondern draussen sind, wird das zum Problem.» Heile Welt und Heidi-Bilder Für die Volksinitiative «Gegen Massentierhaltung» werden derzeit Unterschriften gesammelt (siehe Zusatztext Seite 15). Die Initiative will in der Verfassung festschreiben, dass für die landwirtschaftliche Haltung von Tieren mindestens die Schweizer Bio-Richtlinien gelten. Hinter der Initiative steckt die kleine Organisation «Sentience Politics», deren Geschäftsführerin Schneider ist. Bauer Haslebacher produziert anhand der Kriterien von Surprise 442/19

Coop Naturafarm – einem von mehreren Labels der Detailhändler, die weniger streng sind als das Schweizer Bio-Label, aber über die Vorschriften des Tierschutzgesetzes hinausgehen (siehe Kasten Seite 14). Mit am Tisch sitzt auch Andreas Wyss, 40, Geschäftsführer des Berner Bauernverbandes. Er versteht es als Aufgabe der Bauern, den Konsumenten die Realität zu zeigen. «Wir Bauern haben zu lange das Bild einer Heile-Welt-Landwirtschaft gepflegt, das in Form von Heidi-Fernsehwerbung über die Bildschirme flackerte.» Die vielen politischen Vorstösse, mit welchen sich die Landwirtschaft derzeit konfrontiert sieht, betrachtet er als Quittung für diese Beschönigungen. Die Volksinitiativen zu Fair Food, Ernährungssouveränität und Hornkühen konnten im letzten Jahr abgewendet werden, doch weitere folgen: noch vor der Massentierhaltung kommen die Initiativen zum Pestizid-Verbot und für sauberes Trinkwasser vors Volk. Wyss, studierter Agronom und selbst auf einem Bauernhof aufgewachsen, ist überzeugt, dass die Produktionsbedingungen auf Schweizer Höfen nicht so schlecht sind wie von den Initianten der Initiative «Gegen Massentierhaltung» dargestellt. Tee oder Kaffee lehnt er am Familien­ tisch bei Haslebachers dankend ab. Wyss: «Wir haben eines der strengsten Tierschutzgesetze der Welt. Heute gibt es in der Schweiz nichts, was das Wort Massentierhaltung rechtfertigt.» Schneider: «Natürlich gibt es das. Zum Beispiel bei den Hühnern. Heute kann ich 27 000 Masthühner auf einer Fläche halten, davon 17 auf einem Quadratmeter. Wenn das nicht Massentierhaltung ist ...» Wyss (unterbricht): «Auf einem Ameisenhaufen sind viel mehr Tiere auf viel weniger Fläche. Freiwillig. In einem Bienenstock auch. Ist das auch Massentierhaltung?» Schneider: «Ich komme ja gar nicht zum Ausreden hier.» Wyss: «Ja, ich weiss. Aber es gruselt mich, wenn du so etwas sagst. Beim Tierwohl geht es ja nicht um die Anzahl Tiere pro Quadratmeter, sondern darum, was dem Tier am nächsten ist. Der Bio-Standard, dessen flächendeckende Einführung ihr mit der Initiative fordert, sieht beispielsweise bei den Hühnern ein Maximum von 2000 Hühnern pro Stall vor. Ein Huhn ist aber bereits mit 50 Gspänli überfordert. Für das Huhn spielt es keine Rolle, ob es mit 2000 oder 20 000 anderen im Stall lebt.» Urs Haslebacher: «Das ist bei den Schweinen auch so. Sie kennen 20 oder 30, den Rest kennen sie nicht. Und überhaupt, wer bestimmt denn, wann es Tieren gut geht? Sagen wir, Hunden geht es gut. Heisst das, dass wir ab sofort dreimal täglich mit den Schweinen raus müssen?» 9


Schneider: «Lasst mich doch ausreden. Es geht nicht alleine um die Anzahl Tiere. Sondern darum, dass das Tierwohl leidet, wenn man möglichst effizient tierische Produkte herstellt. Ich spreche von Hochleistungsrassen, die so lange gezüchtet werden, bis die Tiere kaum mehr gehen können, Rückenleiden bekommen oder gar sterben. Noch einmal: Dieser Stall hier ist vorbildlich, ich würde nicht von Massentierhaltung sprechen. Aber auch hier sterben zu viele Ferkel.» Beim kurzen Rundgang über seinen Hof hatte Bauer Urs Haslebacher seine Gäste unter anderem in den Stall neben dem Wohnhaus geführt, wo 20 Mutterschweine mit ihren rund zwei Wochen alten Ferkeln leben. Rund 10 bis 15 Jungtiere befinden sich in je 7,5 Quadratmeter grossen und mit Wärmequelle ausgestatteten Abteilen. Diese sind durch Kunststoff-Wände voneinander getrennt, auf dem Betonboden liegt eine dünne Schicht Stroh. Die Tiere auf Haslebachers Hof sind gut dokumentiert: Gewicht, Krankheiten, Behandlung, Geburtsdatum, Anzahl der Ferkel. «Ich habe das grösste Interesse daran, dass meine Tiere gesund sind», sagte Haslebacher. «Nur dann bringen sie Leistung.» Buch geführt wird auch darüber, wie viele Ferkel sterben – im Schnitt 15 Prozent oder jedes siebte Jungtier. Die Quote ist deswegen so hoch, weil die auf Leistung gezüchteten Schweinerassen sehr viele Jungtiere gebären. Dies erhöht das Risiko, dass manche von ihnen von der eigenen Mutter zerquetscht werden. Die Abteile zu vergrössern, würde daran nichts ändern, da sich die Jungen ohnehin stets um die Mutter versammeln. Schneider: «Ich finde es schockierend, dass manche Schweine nie Tageslicht sehen, nur damit es mehr Spare Ribs gibt.» Wyss: «Das gibt es heute nicht mehr. Licht ist in jedem Stall. In jedem! Den Stall, so wie du ihn beschreibst, gibt es nicht in der Schweiz.» Schneider: «Okay, okay. Ich meinte nicht Tageslicht, sondern Auslauf. Freiluft, den Himmel sehen.» Wyss: «Das ist ein grosser Unterschied.» Schneider: «Noch schlimmer ist es bei den Hühnern. Ein Bekannter hat mir erzählt, dass er einmal pro Tag tote Tiere aus dem Stall holt.» Wyss: «Das ist eine Realität. In einem Stall mit 50 Hühnern sterben aber relativ gesehen gleich viele wie in einem mit 20 000.» Schneider: «Nicht wenn du auf Rassen verzichtest, die auf Hochleistung gezüchtet sind.» Abstimmen oder einkaufen? Es gibt einen Dokumentarfilm über Schneider. Er heisst «Meret Schneider rettet die Welt». Der Beitrag des Schweizer Fernsehens zeigt, wie sich die Lokalpolitikerin der Grünen aus Uster dem nachhaltigen Leben verschrieben hat. Sie fliegt nicht, ernährt sich vegan und verwertet Essensreste von Restaurants. In einer Szene ist zu sehen, wie Schneider eine Packung Peperoni aus dem Müllcontainer eines Grossverteilers fischt und das Gemüse danach fürs Abendessen zubereitet. Mit ihrer Initiative gegen Massentierhaltung geht es der jungen Frau ums Tierwohl, aber nicht nur. Auch die Klimaerwärmung will sie damit aufhalten. So schätzt die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), dass die Milch- und Fleischproduktion für 14,5 Prozent der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich ist – was in etwa gleich viel 10

«Wir sollten nicht fliegen, nicht auf Kreuzfahrt und weniger Fleisch essen. Die Realität der Bevölkerung ist eine andere.» URS HASLEBACHER, L ANDWIRT


«Ihr sagt immer, das geht nicht, dort gibt es Probleme. Dabei ist allen klar, dass der Status quo keine Option ist.» MERE T SCHNEIDER, INITIANTIN

«Ich habe ein Problem mit eurer Initiative, denn eigentlich wollt ihr das Konsumverhalten verändern.» ANDREAS W YSS, BAUERNVERBAND

«Ein vorbildlicher Stall», lobt Veganerin Schneider Bauer Haslebacher. Doch auch hier werden Ferkel von ihren auf Leistung gezüchteten Müttern zerquetscht.




ist wie der Ausstoss des weltweiten Verkehrs. Kommt hinzu, dass die Viehhaltung sowie der Anbau von Futtermitteln hauptverantwortlich sind für die Abholzung des Regenwalds im Amazonasgebiet. Auch Schweizer Bauern importieren Kraftfutter – jährlich 1,2 Millionen Tonnen, hauptsächlich Soja. Schneider: «Heute haben wir in der Schweiz fast nur noch Hochleistungskühe, bei denen es ohne Soja aus Brasilien gar nicht mehr geht. Warum stellen wir die Kühe nicht auf Wiesen und lassen sie grasen?» Wyss: «Ich kann dir sagen, warum. Wir sind acht Millionen Schweizer, die jeden Tag etwas essen möchten. Wir haben zwei Möglichkeiten: Entweder wir importieren die Rohstoffe, also Futtermittel, oder wir importieren Fleisch und Milch. Und wenn wir nicht mit Hochleistungskühen züchten, brauchen wir zweieinhalb Mal so viel Soja aus Brasilien, weil andere Rassen viel weniger effizient sind. Dann haben wir also einen Zielkonflikt.» Schneider (überlegt): «Wir müssen natürlich auch weniger Fleisch konsumieren. Kürzlich zeigte eine Studie, dass der Konsum ab über 30 Kilo Fleisch pro Kopf und Jahr gesundheitlich bedenklich ist. Der Durchschnitt in der Schweiz beträgt aber etwa 50 Kilo. Wir könnten also leicht um einen Drittel reduzieren.» Haslebacher: «Wir sollten nicht fliegen, nicht auf Kreuzfahrt und weniger Fleisch essen. Die Realität der Bevölkerung ist eine andere.»

Schneider: «Manchmal braucht es eine politische Regelung, um Türen zu öffnen.» Haslebacher: «Ihr wollt uns einschränken.» Schneider: «Ja! Ihr sagt immer, das geht nicht, dort gibt es Probleme. Dabei ist allen klar, dass der Status quo keine Option ist. Wir haben einen Planetenverbrauch, der selbst dann nicht ausreicht, wenn wir bald den Mars besiedeln. Wir müssen unser Verhalten anpassen.» Wyss: «Genau deswegen habe ich ein Problem mit eurer Initiative. Eigentlich wollt ihr nämlich das Konsumverhalten der Menchen verändern. Dann ist es aber nicht fair, wenn ihr auf die Landwirtschaft zielt. Ihr könntet ja genauso gut sagen: Lasst uns den jährlich erlaubten Fleischkonsum auf 30 Kilo pro Jahr reduzieren.» Schneider: «Aber wie das Fleisch produziert wird, ist auch wichtig. Wenn wir kommunizieren können, dass es unseren Tieren gut geht, wird das zur Folge haben, dass die Schweizer Bevölkerung bereit ist, mehr für Fleisch zu bezahlen.» Haslebacher (energisch): «Das stimmt nicht. Heute werden in der Schweiz 65 Prozent des Schweinefleisches unter besonders tierfreundlichen Bedingungen produziert. Aber nur etwa 30 Prozent können wir im Laden dann auch zum entsprechenden Mehrpreis verkaufen. Wir produzieren also deutlich mehr tierfreundlich erzeugtes Schweinefleisch, als die Konsumenten überhaupt zu zahlen bereit sind.»

Welche Labels soll man kaufen? Labels für tierfreundlich produzierte Lebensmittel haben seit den Neunzigerjahren stetigen Zuwachs erfahren. Als sich erste Erfolge abzeichneten, begannen die grossen Detailhändler Coop und Migros mit dem Aufbau eigener Labels und sorgten damit für den Durchbruch von tierwohlgerecht

Ausgezeichnet

produzierten Lebensmitteln. Heute beträgt der Umsatz mit Labelprodukten je nach Fleischart und Händler zwischen 20 und 65 Prozent. Allerdings könnte das Ende des Höhenflugs erreicht sein: So wird heute in manchen Bereichen mehr tierwohlgerecht produziertes Fleisch produziert, als von den

Sehr empfehlenswert

Coop-Biolinie eigenständiges Label

Konsumenten zum Mehrpreis gekauft wird. Als Folge davon teilte der Detailhändler Coop kürzlich mit, dass er künftig 30 Prozent weniger Schweinefleisch mit dem Label Naturafarm produzieren lassen wird. Bei den Kälbern soll das Label gar ganz verschwinden.

Empfehlenswert eigenständiges Label, integrierte Produktion

eigenständiges Tierwohllabel

Bedingt empfehlenswert Spar-Biolabel

eigenständiges Label biodynamische Landwirtschaft Manor

Migros

Label des Schweizer Dachverbandes

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eigenständiges Label französisches Bio-Label

Aldi Suisse Tierwohllabel Fleisch aus integrierter Produktion, v.a. Volg

eigenständiges Label Migros-Label, integrierte Produktion

EU-Biolabel Coop-Tierwohllabel

Migros

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Dieser Punkt ist Bauer Urs Haslebacher wichtig, er äussert ihn schon zum zweiten Mal. Kaum hatte er seine Gäste auf dem Hof begrüsst, hatte er darauf aufmerksam gemacht, dass wir Schweizer ja heute schon die Möglichkeit hätten, etwas fürs Tierwohl zu tun – an der Supermarkt-Kasse, nicht an der Urne. Dass weniger entsprechend gekennzeichnetes Fleisch verkauft als produziert wird, sieht er als Beweis dafür, dass die Bevölkerung nicht zu mehr Investitionen ins Tierwohl bereit ist. Danach ging Haslebacher auf den Auslauf zu, wo zwei trächtige Mutterschweine auf einem Stück Betonboden lagen, und sagte: «Das sieht zum Beispiel ungemütlich aus. Aber schlecht haben es diese Schweine nicht.» Und er zeigte auf einen nur wenige Meter entfernten, von Stroh umgebenen Unterstand. «Keine Ahnung, warum sie nicht rübergehen.» Wyss: «In den letzten Jahrzehnten hat sich sehr viel getan. Treiber hinter dieser positiven Entwicklung war stets der Markt. Doch dieser wird einfach ausgeschaltet, wenn man politisch etwas vorschreibt.» Schneider: «Damit der Markt funktioniert, brauchen wir vollständige Information. Beim Fleisch aber werden wir getäuscht. Heute kaufe ich Poulet, sehe vorn auf der Verpackung das Schweizerkreuz und ein Huhn auf einer Wiese und denke: Denen geht es gut. Daneben steht ‹Hergestellt in der Schweiz›. Auf der Rückseite aber lese ich: ‹Mit Fleisch aus Brasilien, Ungarn, Deutschland›.» Haslebacher: «Beim Schweinefleisch ist das anders. Wo das Schweizerkreuz drauf ist, kommt das Fleisch auch aus der Schweiz. Wir Bauern waren schon immer dafür, dass genau deklariert wird, was aus der Schweiz kommt und was aus dem Ausland.» Schneider: «Man müsste aber zusätzlich schreiben: Von Schweinen aus der Schweiz ohne Auslauf, oder eben mit Auslauf.» Haslebacher: «Jeder ist mündig genug, in den jeweiligen Richtlinien nachzulesen, die sind ja publik. Und Negativ-Deklarationen gibt es nie.» Schneider: «Es ist eine neutrale Deklaration, eine Tatsache.» Wyss: «Bei den Tomaten schreibst du ja auch nicht: ‹Von Sklaven geerntet›, oder bei Kleidern: ‹Von Kindern genäht›.» Schneider: «Nein. Aber ich wäre dafür.» Alle lachen. Ihre anfängliche Skepsis haben beide Seiten abgelegt, die Stimmung ist lockerer geworden. Zu Beginn hatte man hatte sich in Monologen verloren, sich mitten im Satz unterbrochen. Nach mehr als zwei Stunden lässt man sich ausreden, interessiert sich mehr für die Beweggründe des anderen. Als Haslebacher die Tassen vom Familientisch räumt, finden die Gesprächspartner den bisher grössten gemeinsamen Nenner: Die Schweizer sollten – auch wenn sie darin bereits internationaler Spitzenreiter sind – noch mehr fürs Tierwohl tun. Man ist nur uneins, wie das geschehen soll.

Alles bio, oder was? Volksinitiative Tierschützer wollen ein Verbot der Massentierhaltung in die Verfassung schreiben. Im Juni 2018 wurde die Volksinitiative «Gegen Massentierhaltung» lanciert. Tierschützer wollen damit ein Verbot der Massentierhaltung in der Bundesverfassung festschreiben. Definiert wird Massentierhaltung als «industrielle Tierhaltung zur möglichst effizienten Gewinnung tierischer Erzeugnisse, bei der das Tierwohl systematisch verletzt wird». Laut Initiativtext verletze die Massentierhaltung nicht nur die Würde der Tiere, sie treibe zudem die Klimaerwärmung voran und verschärfe den Welthunger sowie die Wasserknappheit. Zudem sei der Konsum von zu vielen tierischen Nahrungsmitteln ungesund – auch wegen des nach wie vor verbreiteten Einsatzes von Antibiotika. Konkret soll der Bund allgemeingültige Kriterien für die Haltungsbedingungen von Nutztieren aufstellen, wie Unterbringung, Zugang ins Freie, Schlachtung und maximale Gruppengrösse. Der Bund soll sich dabei mindestens an die aktuellen Richtlinien von Bio-Suisse halten. Die Vorschriften sollen auch für den Import von tierischen Produkten gelten. Die Initiative sieht Übergangsfristen von maximal 25 Jahren vor. Hinter der Volksinitiative steht die Organisation «Sentience Politics», deren Geschäftsführerin die 25-jährige Ustermer Lokalpolitikerin Meret Schneider ist. Unterstützt wird das Anliegen von Organisationen wie Greenpeace, Fondation Franz Weber und Vier Pfoten. Damit die Initiative vors Volk kommt, müssen die Initianten bis im kommenden November 100 000 Unterschriften gesammelt haben. Die Gegner – allen voran landwirtschaftliche Kreise – halten das jetzige Tierschutzgesetz, das als eines der strengsten weltweit gilt, für genügend. Es sieht als Höchstgrenzen pro Mastbetrieb 300 Kälber, 1500 Schweine oder 27 000 Hühner vor. Neben verpflichtenden Vorschriften fördert der Bund im Rahmen seiner Agrarpolitik tierfreundliche Programme wie BTS («Besonders tierfreundliche Stallhaltungssysteme») oder RAUS («Regelmässiger AUSlauf im Freien»). EBA

Schneider: «Schuld sind die Konsumenten, die Billig-Fleisch einkaufen, obwohl sie sich auch solches mit Label leisten könnten.» Haslebacher: «Ich wäre wirklich sehr froh, wenn die Konsumenten entscheiden, wie produziert wird. Aber nicht beim Abstimmen, sondern beim Einkaufen.» Schneider: «Am besten beides.»

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Winter auf Lesbos Migration Trotz internationaler Kritik an den unhaltbaren Zuständen stecken Tausende Geflüchtete

auf der Insel fest. Eine Gruppe Frauen versucht, der Misere davonzurennen. TEXT UND FOTOS  FRANZISKA GRILLMEIER

GRIECHENLAND

Lesbos TÜRKEI

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In Äthiopien trainierte sie nur mit Männern. Damit lief sie den anderen Langstreckenläuferinnen bei den Wettkämpfen davon. Hier, auf der griechischen Insel Lesbos, bleibt die 24-jährige Nyala Agiba* unter Frauen. Kongolesinnen, Afghaninnen und Uganderinnen, mit denen sie zweimal in der Woche joggen geht. Wie Tausende andere Geflüchtete stecken die Frauen auf Lesbos fest. «Hauptsache laufen», sagt Agiba. Gerade nach einer Nacht wie dieser. In den Olivenhainen hängt noch der Nebel des letzten Regens, der über die Insel hinwegzog und den Menschen im Auffanglager von Moria erneut eine kalte Nacht beschert hat. Die meisten Frauen der Laufgruppe sind erkältet. Die einen haben Asthma, die anderen keine Sportschuhe. Nushin Karim* aus Afghanistan besitzt nur ein paar pinke Crocs. Agiba hat sie trotzdem von ihren Isomatten an die frische Luft geholt. Ein paar der Frauen leben auf dem ehemaligen Militärgelände von Moria in alten Containern, dünnen Zelten und unter Plastikplanen, andere schlafen in Zelten zwischen den angrenzenden Olivenbaumfeldern. Ursprünglich für 2300 Menschen ausgelegt, ist Moria mit derzeit mindestens 4600 Geflüchteten zweifach überbelegt. Im benachbarten Familiencamp Kara Tepe leben noch einmal rund 1150 Menschen, 545 weitere, besonders Schutzbedürftige sind in Unterkünften des UNHCR auf der Insel verteilt. Vor dem EU-Türkei-Abkommen von März 2016 wurden die Ankommenden hier nur registriert und dann weitergeschickt. Die meisten reisten weiter über den Balkan nach Norden. Nun müssen Asylsuchende so lange auf der Insel bleiben, bis ihr Asylverfahren abgeschlossen ist. Erst dann können sie auf das griechische Festland übersetzen. Vor allem die langwierige Bürokratie hat dazu beigetragen, Lesbos zu dem zu machen, was es heute ist:

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ein überfülltes Freiluftgefängnis. Oft dauert es mehrere Monate, bis sich die Geflüchteten mit einem der überlasteten Asylbeamten treffen können, um zu erfahren, wie es weitergehen kann. Die Langstreckenläufern Agiba wartet schon seit über zwei Jahren auf ihren Bescheid. «Das fühlt sich an, als hätte ich keine Beine mehr», sagt Agiba. Auch deshalb läuft sie: Um zu spüren, dass ihre Beine doch noch da sind. Armeschwingend geht die Laufgruppe an der Feldklinik der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) vorbei, vor der sich um acht Uhr morgens schon eine lange Schlange gebildet hat. Väter wischen ihren Kindern die Nase, schwangere Mütter halten sich am Maschendrahtzaun fest. Ein kleiner Junge spielt Schiffe versenken gegen sich selbst auf einem durchweichten Papier, das er gegen seinen Oberschenkel drückt, um die Kreuzchen machen zu können. MSF führt an diesem Tag eine Gruppenimpfung gegen Hepatitis B für 3000 Kinder und Jugendliche durch. Ein paar der Läuferinnen winken Freundinnen in der Schlange zu, die freudig in die Hände klatschen. Permanente Kurzschlussgefahr Laut MSF litten im Dezember 2018 über die Hälfte der Kinder in Moria an einem starken grippalen Infekt. Ein Grossteil der Menschen im Camp ist auf medizinische Versorgung angewiesen, doch nur wenige können versorgt werden. Der Dauerregen lässt die Kleider nicht mehr trocken werden. Im Winter kann dies vor allem für Neugeborene und ältere Menschen lebensgefährlich werden. Immer wieder entzünden die Menschen wegen des andauernden Regens in ihren Zelten Feuer, um sich aufzuwärmen. In den vergangenen Wintern starben in Moria mindestens drei Menschen an Rauchvergiftung. Immer wieder schliessen die Menschen Heizstrahler an Verlängerungskabel an, die im Schlamm liegen – es herrscht permanente Kurzschlussgefahr. Chrysoula Botsi, wissenschaftliche Leiterin der staatlichen griechischen Gesundheitsbehörde, bezeichnet die hygienische und sanitäre Lage im Lager als inakzeptabel. Jeden Monat würden die Hebammen im städtischen Krankenhaus von Mytilene 35 Moria-Kindern auf die Welt helfen. Anschliessend müssten Mütter und Neugeborene wieder zurück ins Camp. «Auch bei Minusgraden.» Die meisten der engstehenden Zelte sind für den nassen ägäischen Winter ungeeignet. Einige Familien haben die Löcher im dünnen Nylon mit schwarzer Drahtwolle gestopft und die Seitenplanen so tief es geht in den Boden gegraben, um den Zeltboden vor Wasser und Kälte zu schützen. Doch vielerorts hat sich der Matsch in das Zelt­ innere gefressen. Die Feuerplätze vor den Zelten sind aufgeweicht. Müll schwimmt in kleinen Rinnsalen an den Füssen der Zeltbewohner vorbei, von denen viele nur in Flipflops stecken. Seit das EU-Türkei-Abkommen in Kraft ist, haben sich immer mehr humanitäre Organisationen, Ärzte und Hebammen aus Protest aus dem Lager zurückgezogen, hunderte Journalisten kamen und gingen, sprachen von einem «Schandfleck Europas». Auch die griechischen Gesundheitsinspektoren befanden den Zustand schon kurz vor 17


«Es fühlt sich an, als hätte ich keine Beine mehr.» NAYL A AGIBA

«Gefährlich für die öffentliche Gesundheit und die Umwelt»: Die griechischen Gesundheitsinspektoren über das Lager von Moria.

dem Wintereinbruch als «gefährlich für die öffentliche Gesundheit und die Umwelt». Bereits vor einem Jahr rief der Bürgermeister der Insel Lesbos, Spyros Galinos, einen Generalstreik aus. Er forderte Athen auf, die Geflüchteten aufs Festland zu bringen. Es half alles nichts. Auch im letzten Winter steckten 8000 Menschen auf der Insel fest. Und bis heute kommen jeden Tag weitere an den Küsten an, trotz stürmischem Wetter und hohen Wellen. Im vergangenen Juli kündigte der griechische Migrationsminister Dimitris Vitsas zwar nach andauernden Protesten von Geflüchteten, Einwohnern und Beamten auf Lesbos an, die Zahl der Menschen auf den Ägäischen Inseln bis zum Ende des Jahres zu halbieren. Anfang Oktober begannen die griechischen Behörden damit, besonders schutzbedürftige Flüchtlinge, zum Beispiel Kranke und Minderjährige, mit der Fähre auf das Festland 18

überzusetzen. Rund 3000 Menschen wurden so von Lesbos auf verschiedene Lager auf dem Festland verteilt. Doch jede Nacht kommen neue Menschen an – manchmal bis zu hundert auf einmal. Im Dezember waren es 28 Boote mit 1076 Menschen darauf, obwohl die Überfahrten im Winter stark abnehmen. Noch immer teilen sich in Moria 80 Menschen eine Dusche, aus der nur kaltes Wasser tröpfelt. Die meisten Toiletten haben keine Dächer, in den zerbrochenen Kloschüsseln sammelt sich das Regenwasser. Wo ist das Geld aus Brüssel? Seit 2015 hat die EU 1,6 Milliarden Euro für die Unterstützung der Geflüchteten in Griechenland gesprochen. Doch ein Teil des Geldes hat Griechenland noch nicht erreicht, da die Regierung in Athen die geforderte Strategieplanung Surprise 442/19


Migrationsminister Dimitris Vitsas begründet die Verzögerungen in den Asylverfahren mit den griechischen Sparmassnahmen, die zu drastischen Kürzungen im öffentlichen Dienst führten. Es fehle an Richtern, um Rekurse anzuhören, an Ärztinnen und Psychologen, die Asylsuchende beurteilen könnten. Auch Korruptionsvorwürfe werden laut. Das Europäische Amt für Betrugsbekämpfung hat eine Untersuchung wegen angeblicher «Unregelmässigkeiten in Bezug auf die Bestimmungen der EU-finanzierten Lebensmittel für Flüchtlinge» eingeleitet. In Mytilene schiebt Marios Androitis seine Pilotenbrille auf die Halbglatze und beugt sich vor: «Ich hoffe nicht, dass Europa diese Insel benutzt, um die Menschen von der Überfahrt nach Europa abzuschrecken. Denn sie kommen trotzdem.» Nicht nur Androitis, auch viele humanitäre Organisationen und zivile Helfer vor Ort vermuten hinter den katastrophalen Bedingungen Absicht. Wie sonst soll es möglich sein, dass sich an den Zuständen in Moria auch zweieinhalb Jahre nach dem sogenannten Flüchtlingsdeal mit der Türkei nichts geändert hat?

«Ich hoffe nicht, dass Europa diese Insel benutzt, um die Menschen von der Überfahrt nach Europa abzuschrecken. Denn sie kommen trotzdem.» MARIOS ANDROITIS, BER ATER DES BÜRGERMEISTERS

nie abgeschlossen hat. Zudem seien mindestens 554 Millionen Euro von der griechischen Regierung nie ausgegeben worden. Aber wo ist das Geld, das die EU bereits überwiesen hat? «Das würde ich auch gerne wissen», sagt Marios Androitis, politischer Berater des Bürgermeisters der Insel. Er sitzt in seinem kleinen Büro in der Hafenstadt Mytilini, etwa zehn Fahrminuten vom Auffanglager entfernt. Dass Griechenland das nicht stemmen würde, hätten die Europäer auch schon 2015 gewusst. «Griechenland hatte inmitten der Finanzkrise doch gar nicht die strategischen Mittel, um auf die humanitäre Krise zu reagieren», sagt Androitis. «Zu dem Zeitpunkt hatten wir noch nicht einmal ein eigenes Migrationsministerium. Und was tut unsere Regierung? Die Verantwortung von einem zum nächsten schieben.» Surprise 442/19

Endlich irgendwo ankommen Die Laufgruppe um Nyala Agiba ist ausserhalb der Sichtweite des grossen Lagerkomplexes angekommen. «Ich will von niemandem abhängig sein. Mein eigenes Leben in die Hand nehmen», sagt Agiba, die an der Spitze läuft. Am liebsten würde sie wieder professionell trainieren, an Wettkämpfen teilnehmen. Aber das gehe nur, wenn sie endlich irgendwo ankommen könne. Ihr Traum: London. «Ich glaube, ich könnte meine verlorenen zwei Jahre in einem europäischen Team schnell aufholen», sagt sie. In Äthiopien sei sie einmal gegen einen schwedischen Leichtathleten angetreten. Die Höhenmeter hätten ihm zu schaffen gemacht, sagt sie lächelnd. «Das könnte in Europa mein Vorteil sein», sagt sie. Sie biegt in eine kleine Strassenbucht ein und wartet auf den Rest der Gruppe. «Endlich keine Männer mehr», sagt Fatima Diwabe* aus der Demokratischen Republik Kongo, als sie Agiba einholt. Sie beugt sich schnaufend zu ihren neuen Sportschuhen hinunter, die sie am Wochenende in der Hafenstadt gekauft hat. Doch Agiba kennt kein Erbarmen. «Weiter aufwärmen, Ladies!», ruft sie. Vor der Leitplanke schwingen Arme in die Höhe, Knie gehen in die Tiefe. «Bald sehen wir so aus», sagt Diwabe und deutet lachend auf den vorbeifahrenden Linienbus, auf dem Sarah Jessica Parker mit aufgeknöpfter Bluse für eine Unterwäschewerbung posiert. Auch diejenigen, die eigentlich kein Englisch verstehen, lachen herzlich. «Let’s fight!», ruft Agiba und macht einen Kicksprung in die Luft. «Denkt an all jene, die euch den Mut nehmen wollen!» Ein paar Frauen schauen sich mit einer Mischung aus Scham und Belustigung an. Die Afghanin Nushin Karim zieht ihre Crocs aus. Einen Moment später kicken 20 Sportschuhe und ein Paar Socken kraftvoll in die Luft.

* Namen aller Geflüchteten geändert 19


«Zwingli hat den Armutsbegriff umgedeutet» Film Armut galt vor 500 Jahren als Tugend: eine der Tatsachen, die Drehbuchautorin Simone Schmid für «Zwingli» recherchiert hat. Der Film zeigt, wie eine Gesellschaft verändert werden kann. INTERVIEW  MONIKA BETTSCHEN

Wir wissen viel über den Reformator, aber wenig über den Menschen Zwingli. Wie sind Sie zu ihm vorgedrungen? Tatsächlich war es eine Herausforderung, den Menschen Zwingli zu fassen. Er war gleichzeitig Lebemann und bibeltreuer Priester. Es ist interessant, dass sich heute sowohl linke wie auch rechte Kreise auf Zwingli berufen. Befreiungstheologen, die sich als Stimme der Armen verstehen, benutzen sein Werk genauso für ihre Zwecke wie Nationalkonservative. Beide finden sich offenbar in seiner Gedankenwelt wieder. Er war eine widersprüchliche Figur, mochte die Künste, besonders die Musik, verbannte aber die Orgeln aus den Kirchen. Er war ein feinsinniger Geistlicher, aber als Sohn eines Toggenburger Bauern auch volksnah. In seinen Texten drückte er sich sehr pointiert und kämpferisch aus. Und er hatte Humor! Ein Beispiel? Er hatte kreative Schimpfwörter für seine Gegner: Die Klöster nannte er Kotzhäuser, 20

die Mönche Kuttenschleicher. Luther war für ihn ein Menschenfresser, weil dieser daran festhielt, dass man beim Abendmahl tatsächlich das Fleisch von Christus esse. Warum hat sich dennoch der Begriff «zwinglianisch» für strenge Arbeitsmoral, Fleiss und Lustfeindlichkeit etabliert? Die meisten dieser Klischees sind erst in den Jahrhunderten nach Zwingli entstanden. Aber was die Arbeitsmoral betrifft, hat Zwingli tatsächlich einen Paradigmenwechsel herbeigeführt, indem er Arbeit als «Gottesdienst» aufgewertet hat. In jener Zeit war das keine übliche Haltung. Arbeit galt vor der Reformation als etwas Minderwertiges, hingegen genoss die Beschäftigung der Geistlichen mit Glaubensfragen höchste Anerkennung. Heute definieren wir uns ganz selbstverständlich über unsere Arbeit. Dieses Denken geht nicht zuletzt auf die Reformation zurück. Durch Zwinglis Arbeitsethos wandelte sich damals auch der Blick der Gesellschaft auf die Armut.

Inwiefern? In der vorreformatorischen Gedankenwelt war Armut positiv konnotiert. Der Verzicht auf irdische Güter, wie in den Klöstern, galt als Dienst an Gott. In Zürich aber wurde das wachsende Heer von Bettlern zu einem Problem. Zwingli wies darauf hin, dass diese Menschen das Leben im Elend nicht gewählt haben, sondern dass es ihnen nicht gut gehe und man ihnen helfen müsse. Der politische Wille der aufstrebenden Handelsmacht Zürich, etwas dagegen zu unternehmen, war vorhanden. Zwingli hatte damit den Begriff der Armut umgedeutet: Man verstand Armut neu als ein soziales Problem, das bekämpft werden musste. 1525 wurde von der Stadt Zürich die erste Almosenordnung eingeführt. Zwingli als Begründer der modernen Fürsorge? Das kann man so sagen. Im Gegensatz zur Kirche, die einfach Almosen gab, begann man nun nach den Ursachen zu fragen, warum jemand arm war. Das ist der moSurprise 442/19


FOTOS: ASCOTELITE FOTO: LIGHTPLAY

Simone Schmid

Simone Schmid arbeitete acht Jahre als Journalistin, bevor sie professionelle Drehbuchautorin wurde. Für ihr Drehbuch «Goodluck» erhielt sie am Filmfest München den «Script Talent»-Preis. Unter dem Titel «Im Nirgendwo» wurde dieses Drehbuch für das Fernsehen verfilmt. Für die SRF-Erfolgsserie «Der Bestatter» schrieb Schmid mehrere Episoden. Mit «Zwingli» und «Der Manager» ist sie 2019 mit zwei Filmen in den Kinos.

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derne Ansatz: Wir helfen dir, aber nicht in jedem Fall. Man begann hinzuschauen, ob jemand unverschuldet in eine missliche Lage geraten war. Müssiggänger wollte man nicht unterstützen. Haben Sie noch andere Facetten von Zwingli entdeckt, die Sie speziell beeindruckt haben? Während der Recherche stiess ich auf eine humanistische Seite, die Zwingli auch hatte. Als er 1519 als Priester nach Zürich geholt wurde, war er beeinflusst vom Menschenbild eines Erasmus von Rotterdam oder des Conte della Mirandola, eines italienischen Philosophen. Für Zwingli war ein Mensch im Kloster nicht mehr wert als ein einfacher Arbeiter. In seinen Werken spürte ich dieses Element des Egalitären ganz stark. Zudem gefällt mir an ihm, dass er anerkennt, dass niemand unfehlbar ist, auch er selbst nicht. Natürlich war er ein ethischer Mann, der klar sagte, man solle nach einem gottgefälligen Leben streben, aber er wusste, dass kein Mensch perfekt

ist. Er selbst hatte wohl, bevor er nach Zürich kam, ein uneheliches Kind und liess die Mutter damit alleine. Zwingli setzte sich bekanntlich auch gegen das Zölibat ein. Er argumentierte in der Sache sogar mit seiner eigenen Lust. Wenn der Mensch nicht ausleben darf, was in seiner Natur angelegt ist, dann ist das System falsch. Er ging nicht davon aus, dass er selbst falsch liegen könnte, dass seine Lust etwas Verwerfliches ist, sondern davon, dass die Kirche falsch lag. Dieses Denken ist bezeichnend für ihn. Im Film ist auch die Idee präsent, dass man als selbständig denkender Mensch lernen muss, die Unsicherheit und Interpretationsspielräume auszuhalten. Ist dies das versteckte Thema von «Zwingli»? Ja, denn genau das ist für mich das Erbe der Reformation, das schwierige Geschenk, das sie uns gemacht hat. Es gibt 21


«Zwingli» – der Film Als der junge Priester Huldrych Zwingli (Max Simonischek) 1519 nach Zürich kommt, grassiert dort neben Armut und der Angst vor dem Fegefeuer bald auch eine Peste­pi­demie, die Zwingli selbst nur knapp überlebt. Schon vor seiner Erkrankung prangert er lautstark die Missstände in der katholischen Kirche an. Wieder genesen, verfolgt er seine Pläne, die Kirche von Grund auf zu reformieren, mit neuer Entschlossenheit. Durch die Augen der jungen Witwe Anna Reinhardt (Sarah Sophia Meyer), die sich kurz nach seiner Ankunft in ihn verliebt, wird ein fassbarer, menschlicher Zwingli gezeigt: ein Mann, der liebt, kämpft, zweifelt und ob der Opfer, die er für seine Sache bringen muss, auch mal verzweifelt. Mit einem für die Schweiz beachtlichen Budget von fast sechs Millionen Franken liessen die Filme­ macher die Schauplätze des spätmittelalter­ lichen Zürich auferstehen. Gedreht wurde in Zürich und Stein am Rhein. MBE

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keine vorgegebenen Wahrheiten mehr, sondern alle Erkenntnisse müssen Prüfungen unterzogen werden. Freiheit führt zu Individualismus und den damit verbundenen Schwierigkeiten. Sie bringt Verantwortung mit sich.

in der Stadt ein Klima der Intellektualität und wollte übrigens auch, dass Frauen lesen können. Er begann mit einer Gruppe von Leuten, öffentlich die Bibel ins Deutsche zu übersetzen. Daraus ging 1525 der Vorläufer der heutigen Universität hervor.

500 Jahre Reformation, 2019 ist das Zwingli-Jahr. Doch was macht Zwingli zu einem zeitgemässen Kinostoff? Ich musste etwa bei den Ausschreitungen rund um den G20-Gipfel in Hamburg an unseren Film denken, und allgemein bei der heutigen Kapitalismuskritik. Wie weit soll man gehen, wenn man ein System kritisieren und etwas grundlegend verändern will? Braucht es am Ende immer Gewalt, um alte Denkmuster nachhaltig aufzubrechen? Und wenn man das Alte abgeschafft hat – wer definiert, wie das Neue aussehen soll?

Pfarrer Ernst Sieber war ein bekennender Bewunderer von Zwingli. Das Gedankengut von Zwingli wird durch solche Menschen weitergetragen. Sieber imponierte, dass Zwingli den Glauben, den er predigte, auch lebte und ein Herz für die Randständigen hatte. Es ist schade, dass er so kurz vor dem Zwingli-Jahr gestorben ist.

Gibt es weitere Brücken in die Gegenwart? Die Wurzeln der Universität Zürich liegen in der Reformationszeit. Zwingli förderte

Die Verfilmung von historischem Stoff birgt immer die Gefahr, dass sich ein Film wie eine Geschichtslehrstunde anfühlt. Wie haben Sie auf Drehbuchebene die Weichen gestellt, um dies zu verhindern? Insgesamt haben wir 15 verschiedene Fassungen des Drehbuchs geschrieben, es stecken dreieinhalb Jahre intensive Arbeit Surprise 442/19


Reformation konkret: Zwinglis Frau Anna Reinhardt (Sarah Sophia Meyer) überwindet im Laufe des Films ihre Angst vor dem Fegefeuer.

«Wie weit soll man gehen, wenn man ein System kritisieren und etwas grundlegend verändern will?»

darin. Ich habe von Anfang an einen humanistischen Zwingli zeigen wollen und mich nach der Recherche sehr stark auf die Figuren konzentriert: Sie sollten sich wie echte Menschen mit einer Persönlichkeit anfühlen, nicht wie Platzhalter für historische Fakten. Ein Drehbuch über einen historischen Stoff bedeutet immer auch, sich von den reinen Fakten zu emanzipieren, damit eine gute Geschichte reifen kann – eine schwierige Gratwanderung. Im Film nimmt die Beziehung zwischen Zwingli und Anna Reinhardt viel Raum ein. Man begegnet der Haupfigur durch die Augen der Frau. Haben Sie diese Perspektive gewählt, um den Menschen hinter dem Prediger Zwingli zeigen zu können? Das war mit ein Grund, aber nicht der einzige. Mich berührte auch Anna Reinhardts eigenes Schicksal. Ihr erster Mann wurde enterbt, weil er sie geheiratet hatte, und er starb als Söldner im Krieg. Sie blieb alleine mit drei Kindern zurück und dachte, dass

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Gott sie auf diese Weise bestrafen wolle. Dann lernte sie den Querdenker Zwingli kennen, wurde von ihm schwanger und heiratete ihn in aller Öffentlichkeit. Anna ist zu Beginn eine Frau, die sich vor dem Fegefeuer fürchtet. Im Laufe der Geschichte schafft sie es, sich von dieser Angst zu lösen. Anhand dieses Wandels, den Anna durchläuft, konnte ich veranschaulichen, was die Reformation konkret bedeutet. Zwingli zeigt ihr auf, dass Gott nicht straft, sondern dass er die Menschen auch dann mag, wenn sie Fehler machen – vorausgesetzt, sie glauben an ihn. Seelenheil lässt sich nicht verdienen. Erst dieser Paradigmenwechsel in Bezug darauf, welches Bild wir von Gott haben, hat den Weg für viele politische, soziale und wirtschaftliche Veränderungen geebnet. Die Reformation ermächtigte die Menschen, selbst zu denken, sodass sie nicht mehr länger von einem dekadenten Machtsystem missbraucht werden konnten. 23


Grosse Fragen, ganz klein Film Im Programm der 54. Solothurner Filmtage finden sich auffallend viele

Werke, die sich mit Sinnsuche und Spiritualität auseinandersetzen. TEXT  NORA ZUKKER

Wie möchten wir zusammenleben? Wie können wir der Natur Sorge tragen, woran wollen wir heute überhaupt noch glauben? Mit diesen Fragen eröffnen die Solothurner Filmtage am 24. Januar das neue Filmjahr. Die Fragen sind nicht neu, im Gegenteil. Neu ist aber, dass sie heute nicht in erster Linie ideologisch gefärbt gestellt werden, sondern aus einer persönlichen Warte heraus. Seraina Rohrer, die seit 2011 die Solothurner Filmtage leitet, sagt: «Die Sechziger- und die Achtzigerjahre waren überladen von Ideologien. Heute beobachte ich, dass sich Filmschaffende zwar wieder die grossen existenziellen Fragen stellen, aber im Zentrum der filmischen Auseinandersetzung stehen Individuen wie du und ich. Menschen, die ihr Handeln verändern und so als Vorbilder agieren.» Die Filmschaffenden wählten persönliche Zugänge und gäben nicht vor, wie die Welt auszusehen habe. Vielmehr werden Handlungsräume im Kleinen bespielt, die zeigen, dass wir etwas verändern können. Das Herz des Festivals ist «Panorama», die Werkschau des Schweizer Films. «Die Filme sind immer auch eine Art Seismograph und halten der Schweiz den Spiegel vor», sagt Rohrer. Die grossen Themen sind: Freiheit, Ideale, Spiritualität.

In seinem Debüt «Alexia, Kevin und Romain» begleitet der Bieler Adrien Bordone drei Jugendliche, die bald 18 werden, auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben. Freiheit und Selbständigkeit werden für sie aber etwas anderes bedeuten als für die meisten Menschen: Die drei haben ein geistiges Handicap und sind in einem Heim aufgewachsen. Sie träumen von einem freien Leben und ringen heftig damit, für sich selbst einzustehen. Bordones Dokumentarfilm ist für den «Prix de Soleure» nominiert, den thematischen Wettbewerb, der gesellschaftliche Fragen rund um das Zusammenleben der Menschen in den Mittelpunkt stellt. Gesamthaft fällt auf: Es sind viele Erstlingswerke im diesjährigen Programm – und damit Fragen, die sich eine jüngere Generation stellt. Das Gespür fürs Formale Aber auch der gestandene Filmemacher Christoph Schaub («Sternenberg», «Giulias Verschwinden») fragt sich in seinem Dokumentarfilm «Architektur der Unendlichkeit», wie wir Sinn finden – und zwar in sakralen Bauten. Für Seraina Rohrer ist dieser Essay eine Entdeckung: «Ich bin keine Architektin, und so öffnet sich für mich eine ganz

Nicht allen Sakralbauten aus «Architektur der Unendlichkeit» ist Tranzendenz gegeben. «Alexia, Kevin und Romain» wollen frei sein, wie nicht-handicapierte Teenies auch.

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BILDER: ZVG

neue Welt. Licht, Proportion und Mass schaffen in religiösen und spirituellen Räumen ein Gefühl von Transzendenz.» Auch Stefan Haupt verhandelt in seiner Spielfilm-Grossproduktion «Zwingli» die Rolle der Kirche (siehe Interview S. 20-23), und Rohrer spitzt zu: «Das Kino ersetzt heute für manche den Kirchenbesuch. Auch hier setzt man sich während rund 90 Minuten mit einem Thema auseinander.» Aber fallen die Antworten auf die grossen Fragen auch formal überraschend aus? Rohrer gesteht, dass ein Film nur dann gelingen könne, wenn das Thema filmisch gut umsetzbar sei. Dies gelinge aber immer wieder auch in experimentelleren Streifen wie etwa «Becoming Animal» von Emma Davie und dem Schweiz-Kanadier Peter Mettler. Der mythische Essay, der seit letztem Jahr im Kino läuft und nun auch in Solothurn zu sehen sein wird, lässt uns die Natur neu wahrnehmen und begreifen. Der Film beweist Mut, und genau dafür spricht sich auch Seraina Rohrer aus. In Solothurn zeige man einen umstrittenen Film lieber, als ihn dem Publikum vorzuenthalten. Die Solothurner Filmtage sind nebst den Filmvorführungen ein Treffpunkt, um das Schweizer Filmschaffen zu diskutieren. Bei «Film-Brunch: Pro Short» wird darüber gesprochen, wie der Kurzfilm als Kunstform gestärkt werden kann, auch wenn er in der klassischen Auswertung aufgrund seiner Kürze einen schweren Stand hat. Bei «Scre­­amwriters» reden Drehbuchautorinnen und -autoren (darunter «Zwingli»-Autorin Simone Schmid, siehe Seite 22) über ihre Arbeit und eine mögliche Nachwuchsförderung. Und was müsste sich ändern, damit Schweizer Spielfilme auch in den ausländischen Kinoprogrammen gezeigt werden? Hofft man auf die jüngeren Generationen, fehlt es an Geld? Darüber diskutieren Filmkritikerinnen und -kritiker am Podium «Der Schweizer Spielfilm: Sorgenkind oder Hoffnungsträger?»

Surprise-Verkaufende als Protagonisten In der Sektion «Panorama Dokumentarfilme» läuft Matthias Affolters «Im Spiegel»: Menschen, die obdachlos sind oder waren, wagen im mobilen Coiffeursalon von Anna Tschannen buchstäblich einen Blick in den Spiegel und begegnen so ihrem Selbstbild. Die Basler Surprise-Stadtführerin Lilian Senn und der Basler Surprise-Verkäufer Urs Saurer (Bild) sind zwei von ihnen. Während Anna Tschannen das Gesicht der Personen auf ihrem Coiffeurstuhl zur Geltung bringt, erzählen jene von ihrem Leben auf dem schmalen Grat zwischen Selbstaufgabe und Selbstachtung. Sie lassen sich von der Kamera durch ihre Tage und Nächte begleiten und zeigen, wie sie um Autonomie und Würde kämpfen. Crew und Protagonisten werden an den Vorstellungen in Solothurn anwesend sein. Der reguläre Filmstart im Kino ist für Herbst/Winter 2019 geplant.

Matthias Affolter: «Im Spiegel», CH 2018, 83 Min., Dokumentarfilm; Vorstellungen Solothurner Filmtage: Fr, 25. Januar, 12.15 Uhr, Landhaus; Do, 31. Januar, 12.15 Uhr, Palace

Wie viel Tier steckt in uns? «Becoming Animal» macht es sichtbar. Surprise 442/19

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Basel «Otto», Musiktheater (Cello und Elektronik), Mi, 30. Januar, 20 Uhr, Gare du Nord, Schwarzwaldallee 200 (im Badischen Bahnhof). garedunord.ch

In einer «Oper ohne Sänger» fragen die Cellistin/Performerin Céline Papion und die Regisseurin Anna Drescher nach der Rolle der Kunst in Krisenzeiten. Auf der Suche nach dem Kern der menschlichen Existenz, der perfekten Ausdrucksform und dem besonderen Instrument wird ein junger Mann auf seiner emotionalen Reise durch den Ersten Weltkrieg begleitet. Mit der Instrumentalskulptur «Otto» – inspiriert von Trench-Art-Instrumenten, die von Soldaten im Schützengraben aus Müll gebaut wurden – erweckt sie den Soldaten Otto zum Leben. Ein internationales Team junger Komponistinnen und Komponisten hat für «Otto» Musik geschrieben. Die live-elektronischen Kompositionen von Oliver S. Frick bilden dazu einen spannungsgeladenen Gegenpol. Im Anschluss an das Theaterstück diskutiert der Musikwissenschaftler Roman Brotbeck in der Bar bei Suppe und Wein Fragen und Eindrücke dieser musiktheatralischen Form. EBA

Luzern und Umgebung «Luzern der Film_KOPF oder ZAHL – Wie viel Steuer­wettbewerb können wir uns leisten?», 22. Januar bis 21. Februar, verschiedene Spielorte im Kanton Luzern, Eintritt frei, im Anschluss findet jeweils eine Podiumsdiskussion statt, Spieldaten und Anmeldung: luzern-derfilm.ch Die tiefsten Unternehmenssteuern der Schweiz: Mit diesem Alleinstellungsmerkmal versucht der Kanton Luzern seit 2012 neue Firmen anzulocken. Das heisst aber, es müssten so viele neue Firmen dazukommen, dass aus weniger Ertrag pro Firma mehr Steuereinnahmen generiert würden. Noch ist diese Rechnung im Kanton Luzern nicht aufgegangen. Die Politik der knappen Kasse dient in der Folge

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dazu, die Leistungen und Strukturen des Kantons nach Sparpotenzial zu durchkämmen. Gespart wird bei den Löhnen der Lehrerinnen und Staatsangestellten, bei der Polizei, der Prämienverbilligung der Krankenkasse, den Sozialausgaben, den Stipendien, der Kultur etc. In «Luzern der Film_KOPF oder ZAHL» hinterfragen Menschen aus Politik und Wirtschaft diese Strategie. Manche geben mit kreativen Aktionen ihrem Unmut Ausdruck. Damit macht der Film deutlich, auf Kosten wovon gespart wird, wer davon profitiert und wie es vielleicht auch anders ginge. EBA

Zürich «Der Mensch isst, was er ist – Witiker Gespräche», Vorträge und Diskussion, Mi, 23. Januar und Mi, 30. Januar, jeweils 19.30 Uhr, Saal der Katholischen Kirchgemeinde Maria Krönung (früher Paulus Akademie), Carl-Spitteler-Strasse 44. paulusakademie.ch Slow Food, Fair Trade, vegetarisch, vegan – wir kaufen nicht bloss ein, um unseren Hunger zu stillen. Längst ist Ernährung identitätsstiftend geworden. Darum gilt der bekannte Ausspruch des Philosophen Ludwig Feuerbach noch immer: «Der Mensch ist, was er isst.» Was macht der Glaube, sich gesund ernähren zu müssen, mit uns? Wie weit prägen religiöse Vorstellungen unsere Esskultur? Sind daraus pseudoreligiöse Überzeugungen geworden? Solchen Fragen widmen sich die Witiker Gespräche 2019. Am 23. Januar sprechen die Religionswissenschaftlerin Hélène Coste sowie der Rabbiner Ruven Bar Ephraim über das Thema. EBA

aufzuführen. Nun hat die Jury getagt und sieben performative Stücke ausgewählt, die am 18. und 19. Januar auf die Bühne des Fabrik­ theaters kommen. Die Themen bei der vierten Austragung des «Inkubators» sind genauso wild, schräg und unberechenbar durcheinandergewirbelt, wie es wohl auch die Auftritte der Künstlergruppen sein werden: Von der «Soloperformance über mannmännliche Sexarbeit» über die «Erforschung von verschiedenen Formen der Müdigkeit» bis hin zu einer «Performance um die Tagebücher unseres Grossvaters» ist alles dabei. EBA

St. Gallen «Erfreuliche Universität – Dieser Betrieb gehört den Arbeitenden», Podium über Selbstverwaltung und Demokratie am Arbeitsplatz, Di, 22. Januar, 20.15 Uhr, Palace, Blumenbergplatz. palace.sg Wie geht es zu in Betrieben, die sich selbst verwalten, in denen die Arbeitenden die wichtigen Fragen möglichst demokratisch entscheiden? Sind das kleine Paradiese, wo es sichere Arbeitsplätze, gute Löhne und viel Spass gibt? Oder stehen sich in der Chefetage alle bloss auf den Füssen rum? Kommt man überhaupt vorwärts? In der Gesprächsreihe der Erfreulichen Universität werden diese Fragen zum Jahresauftakt mit Exponentinnen und Exponenten aus selbstverwalteten Betrieben wie Intercomestibles Zürich, WOZ Die Wochenzeitung und anderen diskutiert. EBA Bern «me, myself and I», Ausstellung, bis 26. Januar, Mi bis Fr 14 bis 18 Uhr, Sa 12 bis 16 Uhr, Stadtgalerie Bern, Waisenhaus­platz 30. cantonale.ch

Zürich «Inkubator 19 – Plattform für Kurzstücke», Theater, Fr, 18. Januar und Sa, 19. Januar, jeweils 19.30 Uhr, Fabriktheater, Rote Fabrik. fabriktheater.ch Bühnenschaffende aus allen Sparten – sowohl Grünhörner als auch etablierte Gruppen – haben im Dezember 2018 die Möglichkeit erhalten, ein maximal zwölfminütiges, bühnenreifes Kurzstück zu erarbeiten und erstmalig vor Publikum

Eine Weihnachtsausstellung, für die es noch nicht zu spät ist. Unter dem Titel «me, myself and I» versammelt die Stadtgalerie Werke, die sich mit dem Ich beschäftigen. Dabei sind wir mit Grenzen der Intimität konfrontiert, welche Nähe und Distanz sowie das Ich und Du neu verhandeln. Die Ausstellung wurde von bernischen und jurassischen Kunstinstitutionen gemeinsam organisiert und präsentiert eine Vielfalt zeitgenössischer Kunstproduktion aus den Regionen. EBA

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BILD(1+3): ZVG; BILD (2): MESSE STUTTGART THOMAS BOROWSKI/SLOW FOOD MARKET

Veranstaltungen


ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT

Agglo-Blues

Folge 25

Die Bücher Was bisher geschah: Kriminalpolizistin Vera Brandstetters Ermittlungen im Fall eines ermordeten Joggers bringen sie auf die Spur eines Fitnesstrainers. Und sie erhält Einblick in die elektronische Bibliothek des Opfers. Am nächsten Morgen parkte Brandstetter ihren Wagen bereits um neun Uhr im Hof der Hauptwache. Kellerhals war nicht im Büro, dafür fand sie in ihrer Inbox eine Nachricht des Kollegen von der Abteilung Cyber-Kriminalität, der den Usernamen angelegt hatte, mit dem sie in das Forum gelangt war. Die Abteilung, die aus allen Nähten platzte, war in drei Büros im zweiten Stock zusammengepfercht. Sie hatte einen jungen Nerd erwartet, keinen Endvierziger mit grauem Kinn- und Oberlippenbart, Brille, Sweatshirt und Jeans. Auf dem Schreibtisch standen Fotos seiner Familie und seiner Harley. «Ich bin der Andi, ich habe den digitalen Footprint des Opfers rekonstruiert.» Die elektronischen Geräte von Reto Schwander standen auf einem kleinen Möbel mit Rollen. «Das Firmen-Notebook ist professionell gesichert, wir haben die Zugangsdaten noch nicht bekommen. Das hier», er nahm das Tablet zur Hand, «konnten wir anschauen. Auf der Reader-App sind rund 200 E-Bücher gespeichert, teils auf Englisch. Das meiste sind Sachbücher zu Finanzthemen, wobei ihn Goldman-Sachs besonders interessiert hat, zum Judentum und etwas Esoterik. Dazu Bestseller wie ‹Beuteland› von Udo Ulfkotte, ‹Böse Gutmenschen› von Bernd Höcker, ‹Das Medienkartell› von Eva Hermann, alles von Thilo Sarrazin, aber auch ‹Die Weisen von Zion› und Hitlers ‹Mein Kampf› auf Deutsch, gekauft bei Amazon.com für 3 Dollar und 37 Cent.» Brandstetter wurde plötzlich klar, warum die Wohnung der Schwanders so unpersönlich wirkte. Die Bücher. Es gab keine. Nicht, dass sie selber viele besessen hätte. Ein paar Romane, Ratgeber, Bildbände und Kochbücher fanden sich aber schon in ihrer Wohnung. Neben dem Bett lag ein Buch von Elena Ferrante, das ihr eine Freundin geliehen hatte. Seit Wochen wollte sie damit beginnen, doch bisher hatten stets die Serien gesiegt. «Er hat sein Facebook-Konto deaktiviert, aber nicht gelöscht, wir konnten seine Aktivitäten rekonstruieren. Bevor er es deaktiviert hat, ist sein Konto zweimal gesperrt worden, weil er beleidigende Aussagen gemacht hat. Einmal gegen Asylbewerber, einmal gegen eine grüne Politikerin.» Surprise 442/19

Brandstetter war erstaunt. «Nicht gegen die Juden?» «Nein, da hielt er sich zurück. Auf Facebook war er mit Nationalrat Glarner befreundet, der eine Zeitlang so stark gehetzt hat, dass seine politischen Ämter in Gefahr gerieten. Erst eine PR-Kampagne in der Ringier-Presse, die ihn mit Flüchtlingskindern im ‹Blick› und mit seiner Tochter in der ‹Schweizer Illustrierten› präsentierte, glättete die Wogen. Einmal ist Schwander bei einer Diskussion auf der Seite dieses Nationalrats so ausfällig geworden, dass der Eintrag gelöscht und sein Konto gesperrt wurde. Wenn er nicht diskutierte, veröffentlichte er Fotos seiner Frau, schau hier.» Andi klickte an seinem Computer herum, auf dem Bildschirm wechselten in rascher Abfolge Bilder von Olena. Von hinten im Bikini, bis zu den Knien in einem See, im Badeanzug auf einem Liegestuhl, im engen T-Shirt an einem Strohhalm saugend, in einem Café irgendwo im Süden, in einem kurzen Rock an ein Brückengeländer gelehnt. «Was hast du sonst noch gefunden?», unterbrach Brandstetter, die wusste, wie Olena aussah. Andi, der gebannt auf den Bildschirm gestarrt hatte, beendete hastig das Programm. «Er hat viel gespielt, Online-Poker und Multiplayer Shooter Games. Geballer mehr oder weniger. Pornos scheinen ihn dagegen nicht interessiert zu haben, das ist aussergewöhnlich. Die finden wir eigentlich immer. Andererseits auch kein Wunder bei der Frau. Was soll er auswärts Hamburger essen, wenn es zuhause Filet gibt?» Andi schnalzte genüsslich mit der Zunge. Brandstetter atmete tief durch. «Sonst noch etwas?» «Er hat sich sehr für ein amerikanisches Unternehmen namens Palladium Inc. interessiert.» «Was hat es damit auf sich?» «Das habe ich noch nicht überprüft, glaubst du, es ist wichtig?» Brandstetter, die sich fragte, wie viel Zeit er mit dem Betrachten, Sammeln und Aufbereiten von Olenas Bildern verbracht hatte, schüttelte den Kopf und verabschiedete sich.

STEPHAN PÖRTNER  schreibt und lebt in Zürich. Alle bisher erschienenen Folgen des Fortsetzungskrimis gibt es zum Nachlesen und -hören unter surprise.ngo/krimi

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

grafikZUMGLUECK.CH, Steinmaur

02

Waldburger Bauführungen, Brugg

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Volonté Ofenbau, Schwarzbubenland

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CISIS GmbH, Oberwil

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RLC Architekten AG, Winterthur

06

Sternenhof, Leben und Wohnen im Alter, Basel

07

Praxis für die Frau, Spiez

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Fontarocca Brunnen + Naturstein, Liestal

09

OpenTrack Railway Technology GmbH, Zürich

10

Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

11

Brother (Schweiz) AG, Dättwil

12

Proitera, Betriebliche Sozialberatung, Basel

13

Freunde der PH Zürich

14

Osteopathie Martin Lieb, Bern

15

Kaiser Software GmbH, Bern

16

Humania Care AG, Zürich

17

Olivier Gerig, Hypnose-Punkt.ch

18

Barth Real AG, Zürich

19

Girsberger Holding AG, Bützberg

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TopPharm Apotheke Paradeplatz, Zürich

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Naef Landschaftsarchitekten GmbH, Brugg

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VXL gestaltung und werbung AG, Binningen

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Steuerexperte Peter von Burg, Zürich

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Burckhardt & Partner AG, Basel

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freigutpartners IP Law Firm, Zürich

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Der Weg in die Armut führte für Daniel Stutz über die Sucht. Als Jugendlicher rutschte der heute 44-Jährige in die Spielsucht und später in den Konsum harter Drogen. Dank einer Therapie schaffte er vor 7 Jahren den Ausstieg. Geblieben ist dem Zürcher Surprise-Verkäufer und -Stadtführer ein Schuldenberg. «Den Weg aus der Sucht habe ich hinter mir, der Weg aus der Armut liegt noch vor mir», beschreibt Daniel seine Situation. SurPlus gibt ihm dabei Rückenwind: «Es ermöglicht mir hin und wieder Ferien. Ausserdem bedeutet es, auch einmal krank sein zu dürfen – ohne gleich Angst haben zu müssen, die Miete oder Krankenkasse nicht zahlen zu können.»

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 14 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise Surprise-Verkäufer

«Gibt sein Bestes» Gewisse Menschen verdienen Aner­ken­ nung. Am Basler Bahnhof SBB verkauft Radomir immer motiviert und fröhlich eure Zeitungen. Er hat eine positive Ausstrahlung, und ich bin mir sicher, dass er nicht nur mir, sondern auch hunderten, wenn nicht tausenden Menschen ein Stück Positivität am Morgen mitgibt. Radomir nimmt seine Arbeit mit Spass und scheint meiner Meinung nach immer sein Bestes zu geben. Er könnte sicherlich viel mehr als das, aber die Dinge sind nun mal so, wie sie sind. In meinen 17 Jahren in der Schweiz (in BL/BS) ist er mit Abstand der beste Surprise-Verkäufer, den ich bisher gesehen habe. V. SAL A Z AR, Basel

#437: Die arme alte Frau

«Missverständnis» Sollte die Rente, inklusive Ergänzungsleistungen, der «armen alten Frau» tatsächlich so niedrig sein, dass sie betteln gehen muss, dann stimmt etwas mit diesen Ergänzungsleistungen nicht und jemand sollte mal die Sozialbehörde ihrer Gemeinde darauf aufmerksam machen. Ergänzungsleistungen müssen so bemessen sein, dass sie alten Menschen ein würdiges Altern in bescheidenem Wohlstand ermöglichen. Alles andere wäre in meinen Augen unrechtmässig. Ich bin überzeugt, da liegt ein Missverständnis vor. M. ARNOLD,  Hitzkirch

Antwort der Redaktion

Die Anzahl der Reaktionen auf diesen Artikel zeigt, dass das Thema Altersarmut viele Leute bewegt. Das Porträt ist auf Basis mehrerer Gespräche zwischen dem Autor und der Betroffenen unter der Zusicherung der Anonymität entstanden. Weitere Nachforschungen sind uns daher nur in beschränktem Rahmen möglich. Wie Mitarbeitende von Pro Senectute dem Autor des Artikels bestätigten, ist Lottis Geschichte kein Einzelfall. Zwar liegt der monatlich vorgesehene EL-Betrag für alleinlebende ältere Personen deutlich über dem Betrag, der alleinlebenden Personen in der Sozialhilfe zusteht. Häufig kommen im Einzelfall jedoch noch weitere, von der EL nicht gedeckte Kosten dazu, zum Beispiel Tiere, Schuldzinsen oder ähnliches. Manchmal sind auch die Beiträge an die Wohnungsmiete sehr tief, mancherorts zu tief. Es könnte also sein, dass die Miete der Betroffenen höher ist als der Beitrag, der bei der EL vorgesehen ist. Zudem ist möglich, dass sie eine teure Krankenversicherung hat, eventuell noch eine Zusatzversicherung, und deshalb der Betrag zur Deckung der Krankenversicherung nicht ausreicht. Auch andere sozialpsychologische Gründe können eine Rolle spielen.

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion
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Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Georg Gindely, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Franziska Grillmeier, Klaus Petrus, Nora Zukker Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage  27 500 Abonnemente  CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:
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FOTO: JAMES BRAUND

Surprise-Porträt international

«Mein Enkel war die Rettungsleine» Zum ersten Mal stand ich mit 15 auf der Strasse. Nach dem Tod meiner Mutter zog mein Vater aus und liess mich allein. Ich konnte mir die Wohnung nicht leisten und begann, bei Freundinnen und Freunden zu übernachten. Ich wollte unbedingt die Schule abschliessen und an die Uni gehen. Das hatte sich meine Mutter für mich erträumt. Aber ich fühlte mich unendlich traurig und einsam. Um das ertragen zu können, begann ich zu trinken. Mit 17 wurde ich schwanger und musste die Schule verlassen, mit 21 bekam ich das zweite Kind. Ich war entschlossen, meinen beiden Söhnen ein stabiles Umfeld zu bieten. Das gelang mir einige Jahre lang ziemlich gut. Doch als ich Mitte 30 war, heiratete ich – und fand dann heraus, dass mein Mann ein Junkie war. Aus Dummheit begann ich, ebenfalls Heroin zu nehmen. Mein Mann war gewalttätig und schlug mich und meine Söhne. Wir zogen aus. Nachdem die Buben ausgeflogen waren, heiratete ich wieder – erneut einen Heroinabhängigen. Einige Jahre lang ging es gut, dann nahm uns unsere Sucht alles, was wir hatten. Wenn du süchtig bist, beginnt sich eine Spirale zu drehen. Du gehst nicht mehr ins Kino, triffst dich nicht mehr mit Freunden. Du kaufst kein Essen und zahlst keine Rechnungen mehr. Du zahlst auch die Miete nicht mehr – und verlierst deine Wohnung. Zuerst schliefen wir im Auto, das nach einem halben Jahr kaputtging. Danach begannen wir, draussen zu übernachten. Es ist anstrengend, auf der Strasse zu leben: Alle Kleider, Decken und den wenigen Besitz, den wir noch hatten, mussten wir überallhin mitnehmen und ständig drauf aufpassen. Obdachlos und heroinabhängig zu sein, bedeutet zudem, dass man sich sehr schlecht ernährt. Wir assen Glacé zum Frühstück, zum Mittag und zum Abendessen. Es kostete umgerechnet nur 35 Rappen. Zehn Jahre lang war ich obdachlos. In dieser Zeit lebte ich in acht Wohnheimen, zwei Kriseninterventionszentren und einem Frauenhaus. Ich hatte insofern Glück, als ich nur zwei Mal längere Zeit ohne meinen damaligen Mann leben musste. Das erste Mal war in einem Wohnheim, wo ich mehr als umgerechnet 140 Franken in der Woche für ein Zimmer bezahlte, das gerade gross genug war für ein Bett und einen kleinen Schrank. Es war sehr schmutzig, und ich war die einzige Frau im Haus zwischen vier Männern. Sie feierten die ganze Zeit Partys, und ich hatte die ganze Zeit Angst. Es gingen Leute ein und aus, die ich nicht kannte. Meine Sachen verschwanden. Einmal packte mich ein Mann am Hals und warf mich zu Boden, weil ich vor ihm fürs Essen angestanden war. Derselbe Mann zerstörte bald darauf in der Nacht mit einer Axt alle Türen. 30

Cheryl, 62, verkauft The Big Issue Australia in Melbourne. Sie arbeitet zudem für ein Projekt der Strassenzeitung, das sich speziell an Frauen richtet. Für «The Big Issue Classroom» erzählt sie Schulklassen aus ihrem Leben.

Ein noch schlimmeres Erlebnis hatte ich in einem anderen Wohnheim, in dem mitten in der Nacht der Feueralarm losging. Der Gang war voller Rauch und es war stockdunkel, die Notausgangszeichen leuchteten nicht. Ich rief die Feuerwehr an, die mir den Rat gab, feuchte Tücher an die Tür zu legen und mich im Badezimmer unter ein nasses Badetuch zu legen. Die Minuten, die ich so verbrachte, bis die Feuerwehr kam, waren die längsten meines Lebens. Drei Mal hab ich versucht, vom Heroin wegzukommen. Die ersten beiden Male wurde ich nach ein paar Monaten rückfällig. Dann teilte mir mein älterer Sohn mit, dass ich Grossmutter würde. Mein Enkel war die Rettungsleine, die ich brauchte. Ich bin mittlerweile seit 13 Jahren clean, lebe mit meiner Katze in einer Sozialwohnung und blicke äusserst optimistisch in die Zukunft.»

Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von THE BIG ISSUE, AUSTR ALIA

Geschrieben von CHERYL Übersetzt von GEORG GINDELY Surprise 442/19


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SURPRISE-GYMBAG CHF 20.– (exkl. Versandkosten) 100% Baumwolle, hergestellt in Handarbeit in Griechenland. Erhältlich in rot und schwarz.

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Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren. BETEILIGTE CAFÉS IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstrasse 18 | Bäckerei KULT «Elsi», Elsässerstrasse 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Café Bohemia, Dornacherstr. 255 Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 | Kiosk Amann, Claragraben 101 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Badischer Bahnhof | Rest. Manger & Boire, Gerbergasse 81 | Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 | Café Spalentor, Missionstrasse 1 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4Markt Baselstrasse, Baselstr. 66 | Restaurant Quai4, Alpenquai 4 | Quai4-Markt Alpenquai, Alpenquai 4 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbad Volière, Inseli Park | Restaurant Brünig, Industriestrasse 3 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN BERN Café Kairo, Dammweg 43 | Café MARTA, Kramgasse 8 | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa Lorraineladen, Lorrainestr. 23 | Luna Llena Gelateria Rest. Bar, Scheibenstr. 39 | Rest. Genossenschaft Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Rest. Löscher, Viktoriastr. 70 | Rest. Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestrasse 20 IN BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Quartiertreff Enge, Gablerstrasse 20 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestrasse 47 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise


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