Surprise Nr. 432

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Strassenmagazin Nr. 432 24. Aug. bis 6. Sep. 2018

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass

Griechenland

Heldin Von Europa alleingelassen, finden Flüchtende trotzdem ihren Weg Seite 12


GESCHICHTEN VOM FALLEN UND AUFSTEHEN

Porträts der Surprise Verkaufenden in Buchform

Kaufen Sie jetzt das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» und unterstützen Sie einen Verkäufer oder eine Verkäuferin mit 10 CHF. «Standort Strasse» erzählt mit den Lebensgeschichten von zwanzig Menschen, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Porträts aus früheren Ausgaben des Surprise Strassenmagazins ergänzen die Texte. Der Blick auf Vergangenheit und Gegenwart zeigt selbstbewusste Menschen, die es geschafft haben, trotz sozialer und wirtschaftlicher Not neue Wege zu gehen und ein Leben abseits staatlicher Hilfe aufzubauen. Surprise hat sie mit einer Bandbreite an Angeboten dabei unterstützt: Der Verkauf des Strassenmagazins gehört ebenso dazu wie der Strassenfussball, der Strassenchor, die Sozialen Stadtrundgänge und eine umfassende Beratung und Begleitung.

156 Seiten, 30 farbige Abbildungen, gebunden, CHF 40 inkl. Versand, ISBN 978-3-85616-679-3 Bestellen bei Verkaufenden oder unter: surprise.ngo/shop Weitere Informationen T +41 61 564 90 90 | info@surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: Surprise NGO


TITELBILD: MYRTO PAPADOPOULOS

Editorial

Moderne Odyssee Sitzen eine Syrerin, eine Schweizerin und eine Kamerunerin auf einem Sofa in Athen: Was anfängt wie ein Witz, ist keiner. Es ist die Geschichte von drei Menschen, die in den Flüchtlingswirren der letzten Jahre zusammengefunden haben. Ruha Said, die auf unserem Titelbild zu sehen ist, flüchtete vor dem Krieg in Syrien nach Griechenland. Dort traf sie auf die Schweizerin Raquel Herzog, die als freiwillige Helferin im Einsatz war und später eine NGO für Frauen auf der Flucht gründete. Lafortune aus Kamerun fand Unterschlupf und Unterstützung in einem der mittlerweile zwei Tageszentren, die Raquels Organisation aufbaute. Die drei Frauen wehren sich gegen ein Europa, in dem Helferinnen und Helfer zusehends kriminalisiert werden und die Flüchtenden sowieso. Yvonne Kunz hat Ruha, Raquel und Lafortune auf dem Sofa in Athen getroffen, ihre Geschichte lesen Sie ab Seite 12.

4 Aufgelesen

Ruha, Raquel und Lafortune

Schwedenkuss für die Ehefrau

Ein Job ist nicht genug

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67 Veranstaltungen 28 SurPlus Positive Firmen

20 Internet

Gegen das digitale Vergessen

6 Moumouni …

7 Die Sozialzahl

Das Internet vergisst nicht, heisst es. Doch die Aussage ist falsch: Viele Webseiten werden überschrieben oder sind aus anderen Gründen nicht mehr zugänglich. Erst langsam setzt sich die Überzeugung durch, dass man sie erhalten sollte. Stefan Michel schildert, wie Aktivisten und Aktivistinnen versuchen, das Internet zu archivieren und auf welche Probleme sie dabei stossen, GEORG GINDELY ab Seite 20. Redaktor

12 Flucht

5 Vor Gericht

... und der wurstige Eidgenuss

Unser dienstältester Verkäufer Urs Saurer will nach Kamerun auswandern. Meine Kollegin Sara Winter Sayilir erzählt im zweiten Teil der Serie über Urs’ Abenteuer, was er beim Probebesuch in seinem Sehnsuchtsland erlebt – und weshalb er nach seiner Rückkehr in der Schweiz im Spital landet, ab Seite 8. Der dritte und letzte Teil folgt im nächsten Heft.

8 Rückkehr

Von einem, der auswandern will

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

24 Freiräume

Erkämpft, etabliert, von der Stadt serviert

30 Internationales Verkäuferinnen-Porträt

«Ich werde nicht als traurige Frau sterben»

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Aufgelesen

BILDER: BÉNÉDICTE DESRUS

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 34 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Im Altersheim für Sexarbeiterinnen Prostituierten in Mexico-City droht im Alter oft die Obdachlosigkeit. Sie verdienen im Lauf der Jahre immer weniger Geld, werden von ihren Familien verstossen und von der Gesellschaft stigmatisiert. Nach jahrelangem Ringen stellten die Behörden den Frauen vor Kurzem ein Haus zur Verfügung, in dem ein Altersheim eingerichtet werden konnte. Die Casa Xochiquétzal ist viel mehr als nur ein Ort zum Schlafen und Essen: Es gibt medizini4

sche Betreuung, Sitzungen mit Therapeutinnen, und es herrscht ein sehr enger Zusammenhalt. «Wir sind wie Schwestern», sagt Amalia (im Bild unten links). Namensgeberin Xochiquétzal ist die aztekische Göttin der weiblichen Sexualität, Schönheit und Fruchtbarkeit.

MI VALEDOR, MEXICO-CITY

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Tiere helfen Jugendlichen

Viele obdachlose Jugendliche in Montréal bekämpfen ihre Einsamkeit mit einem Haustier, doch nur eine einzige Notunterkunft der Stadt nimmt Bedürftige mit Tieren auf. Das sorgt für Kritik. Denn eine Studie zeigt, dass obdachlose Jugendliche mit Haustieren dreimal seltener depressiv sind als solche ohne Tiere. Zudem werden weniger von ihnen kriminell oder nehmen harte Drogen. Es sei deshalb völlig kontraproduktiv, wenn Notunterkünfte Menschen mit Tieren abweisen, sagt Studienleiterin Michelle Lem vom Ontario Veterinary College an der Universität Guelph.

Vor Gericht

Schwedenkuss für die Ehefrau

L’ITINÉRAIRE, MONTRÉAL

Oft kein Geld für Essen

Ein Drittel der erwerbslosen Menschen in Deutschland hat Mühe, jeden zweiten Tag eine vollwertige Mahlzeit zu bezahlen. Das sind 837 000 Menschen, wie das Statistische Bundesamt mitteilt. Erwerbslose leiden an weiteren Einschränkungen: 519 000 Menschen (das sind 18, 1 Prozent) gaben an, zu wenig Geld zu haben, um die Wohnung angemessen zu heizen.

FIFTYFIFTY, DÜSSELDORF

Luxusgut Sport

Eine aktuelle deutsche Studie zeigt: Männer mit höherem Einkommen leben elf Jahre länger als jene mit niedrigem. Bei den Frauen sind es acht Jahre. Zu diesem enormen Unterschied bei der Lebenserwartung trägt bei, dass ärmere Menschen weniger Sport treiben, weil sie ihn sich nicht leisten können. Dresden steuert nun dagegen: Jeder Hartz-4-Empfänger kann günstiger ins Schwimmbad oder aufs Eisfeld. Zudem bietet die Stadt kostenlose Fitnesskurse an.

DROBS, DRESDEN

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Da wird der Gerichtssaal zum Theater, die Zuschauerränge sind besetzt mit Studenten. «Die Schattenseiten des Sonnyboys» heisst das Stück. Auf der Bühne steht Ramón*, ein gut aussehender junger Mann mit dunklem Teint, weissem Traineranzug, schauspielerischem Talent und lebensfremden Zukunftsträumen, der gerne karibischer Musikstar geworden wäre und nun Sandwiches verkauft bei einem Schweizer Grossverteiler. «Ich weiss überhaupt nicht, was das Ganze hier soll», ruft er theatralisch aus. «No hay problema» mit seiner Frau und dem gemeinsamen zweijährigen Töchterchen. Ramón lernte Lea beim Merengue-Tanzen in der Dominikanischen Republik kennen, heiratete sie und zog zu ihr nach Zürich. Von Stund an war der Hotelanimator ein anderer. So schildert es die Opferanwältin. Er war ständig gereizt, rastete immerzu aus. Er ging keiner geregelten Arbeit nach, zog nächtelang herum, verkehrte im Milieu. «Meine Mandantin und ihre Familie haben alles versucht, um ihn zu integrieren», so die Anwältin. Es gab Probleme. «Die Frauen machen immer Probleme», sagt Ramón und heischt um die Solidarität des Richters. Er erzählt von Dramaszenen in Clubs, wenn seine Frau wieder zu viel getrunken und gekifft habe. «Keine Ahnung, warum sie mich angezeigt hat.» Schliesslich sei er ihretwegen in die kalte Schweiz gekommen: Wenn das kein Liebesbeweis sei? Und schliesslich sei seine Frau schuld, dass ihm damals die Hand ausgerutscht sei. «Sie hat mich provoziert.»

Eines Abends kam er vom Einkaufen nach Hause. Die Ehefrau hatte ihn mittags losgeschickt mit 100 Franken, einem Posti-Zettel und der Auflage, nur das zu kaufen, was auf der Liste steht, und mindestens 50 Franken zurückzubringen. Er brachte nichts zurück, mit dem ganzen Betrag hatte er Kokain erstanden. Sie wollte reden. Er wollte nicht reden. «Sie machte mich verrückt mit ihrem Gekeife», sagt er, «und dann passierte es halt.» Die Ohrfeige war so heftig, dass Lea umkippte, auf dem Boden aufschlug und kurz das Bewusstsein verlor. Der Arzt diagnostizierte einen Riss im Trommelfell. Kein halbes Jahr später kam es zu einem weiteren Vorfall. Der Haussegen hing schon wieder schief, und doch gingen sie trotzdem zusammen an ein Salsa-Festival. Sie tanzte mit einem anderen, zu erotisch in Ramóns Augen. Unvermittelt verpasste ihr der Ehemann einen «Schwedenkuss», also einen Schlag auf ihren Kopf mit seinem Kopf, der nur deshalb glimpflich ablief, weil sie sich just in dem Moment abgewendet hatte. Stimme nicht, sagt Ramón, er habe nur den Nebenbuhler weggeschubst. Für den Richter gibt es nichts zu deuteln: «Es ist klar, dass der Schwedenkuss stattgefunden hat.» Die Aussagen der Ehefrau und der Zeugen seien «sehr detailliert und glaubwürdig». Das heisst für Ramón: zehn Monate bedingt wegen einfacher Körperverletzung sowie Tätlichkeiten. Plus Verfahrenskosten, plus Genugtuung an die Noch-Ehefrau von 1500 Franken. «Wozu das denn?», fragt er verwirrt. «Sie ist immer noch meine Frau.» Ramóns zuvor so entspannte No-Problema-Haltung schwindet, seine Miene wirbt um Mitleid im Publikum. * persönliche Angaben geändert

ISABELL A SEEMANN ist Gerichtsreporterin in Zürich.

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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

rative ja häufig so amüsant – wenn man mal davon absieht, dass sie dazu dienen, Menschen auszuschliessen oder gar umzubringen. Während die Geschichte Deutschlands beispielsweise relativ wenig amüsanten Stoff hergibt, berufen sich Leute in Lesotho (wie die Schweiz ein kleines Land mit vielen Bergen) auf einen Gründervater, der sich durch intelligente Diplomatie und Kriegsführung hervortat. Dieser verfasste einst nach einem erfolgreichen Aufstand ein Lobgedicht, in dem er sich selbst als Messer beschrieb, das den Bart des Widersachers abrasierte. Er benannte sich sogar nach dem Geräusch, das ein Rasiermesser macht («shwe-shwe»): König Moshweshwe. Wie kreativ!

Moumouni …

… und der wurstige Eidgenuss Manchmal wache ich schweissgebadet auf, weil ich träume, in einem Cervelat eingesperrt zu sein. Ich habe Angst, dass die Schweiz mir zu klein wird, wenn mir tatsächlich mal danach ist, mich einbürgern zu lassen, um meinem Wirtschaftsmigrantinnen-Dasein ein wenig mehr Sicherheit zu verleihen. Dabei geht es mir nicht darum, dass die Schweiz geografisch gesehen tatsächlich sehr, sehr klein ist – so klein, dass sie verschwindet, wenn man auf der Weltkarte mit dem Finger darauf zeigt. Es geht mir mehr um den Nationalismus, der auf so penible Art auf Schweizer Kleinheit besteht. Nehmen wir zum Beispiel diese verdammte Cervelat-Debatte, die SVP-Nationalrat Andreas Glarner im Juli losgetreten hat: Ist es nicht verrückt, dass Nationalisten das Konzept der Zugehörigkeit zur Schweiz in ein mit 6

Fleischresten gefülltes, circa zwölf Zentimeter langes Stück Darm zwängen wollen? Das wird mir zu eng. Erzählt mir meinetwegen eure Märchen von Armbrüsten und Äpfeln und davon, dass Fussballspieler keine Doppelstaatsbürgerschaft mehr haben sollten, weil … (Ja, warum denn eigentlich?) Aber WURST?! Ist das etwa einer dieser dubiosen Werte, die das sogenannte christliche Abendland verteidigen muss? Was kommt als Nächstes? Einbürgerungstests, bei denen Cervelat-Einschneidefertigkeiten getestet werden? Ich verstehe, wie Nationalismus und nationalistische Narrative funktionieren: Irgendetwas muss man sich ja erzählen, um sich miteinander identifizieren zu können, und gerade bei einer Willensnation muss man ganz schön einfallsreich sein. Gleichzeitig macht dies Nationalnar-

Auch die Schweiz gibt einiges an interessanten Narrativen her. Das mit der Neutralität zum Beispiel. Viel sympathischer als irgendwelche Eroberungsgeschichten. Obwohl ich nicht weiss, was neutral daran sein soll, wirtschaftlich zu profitieren, wenn Unrecht geschieht. Aber Nationalnarrative sind ja häufig problematisch – ich zum Beispiel habe in der Schule gelernt, dass Deutschland nach dem Krieg von deutschen Witwen, den sogenannten Trümmerfrauen, aufgebaut wurde – nicht etwa von Gastarbeitern. Und siehe da: Bis heute fragen sich immer noch Leute in Deutschland, warum es dort so viele Türkeistämmige gibt und ob die wirklich dazugehören. Irgendwann glaubt man wohl, was man sich immer wieder erzählt. Es ist also nicht ganz wurst, welche Nationalmärchen man sich schafft! (Denkt an die vegetarischen Eidgenossen!) Demokratie dagegen ist ein relativ cooles Narrativ. Ein Land macht sich gegenüber undemokratischen Prozessen verantwortlich, wenn es sich Demokratie auf die Fahne schreibt. Das gibt im besten Fall Platz für alle verschiedenen Stimmen innerhalb eines Landes. Im Gegensatz zu einem Stück (häufig brasilianischen) Rinderdarms.

FATIMA MOUMOUNI benennt sich nach ihrer Einbürgerung nach dem Geräusch, das ein Poulet-Cervelat macht, der auf dem Grill verkohlt: Brutzel.

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INFOGRAFIK: BODARA GMBH, QUELLEN: BUNDESAMT FÜR STATISTIK (2018): SCHWEIZERISCHE ARBEITSKRÄFTEERHEBUNG (SAKE)

Die Sozialzahl

Ein Job ist nicht genug Im Jahr 2017 gingen 7,6 Prozent der Erwerbstätigen in der Schweiz mehr als einer Beschäftigung nach. Vor 25 Jahren lag die Quote noch bei 4, im Jahr 2000 bei 6 Prozent. Die meisten der rund 352000 Mehrfacherwerbstätigen haben eine Haupterwerbs- und eine Nebenerwerbsstelle. 41 000 Arbeitskräfte haben drei und 14 000 vier und mehr Beschäftigungen. Interessant ist, dass sich die Muster der Mehrfachbeschäftigung der Frauen deutlich von jenen der Männer unterscheiden. Der Anteil der Frauen, die an mehr als einer Stelle arbeiten, ist mit 10 Prozent fast doppelt so hoch wie jener der Männer, bei denen die Quote bei 5,5 Prozent liegt. Bei den Frauen spielt das Bildungsniveau kaum eine Rolle. Bei den Männern zeigt sich hingegen ein steigender Anteil, je höher der Bildungsabschluss ist. Männer mit einer Grundschulausbildung arbeiten nur zu rund 3 Prozent als Mehrfachbeschäftige, Männer mit einem Hochschul- oder universitären Abschluss hingegen zu rund 7 Prozent an mehr als einer Stelle. Ungleich ist auch der zeitliche Aufwand. Mehrfacherwerbstätige Frauen arbeiten rund 30 Stunden in der Woche, Männer hingegen fast 43 Stunden. Damit wenden die Frauen praktisch gleich viel Zeit für ihre Mehrfacherwerbstätigkeit auf wie Frauen mit einer einzigen Beschäftigung. Anders bei den Männern. Hier arbeiten mehrfacherwerbstätige Männer pro Woche rund drei Stunden mehr als Männer mit einer Beschäftigung. Die wöchentliche Normalarbeitszeit im Nebenerwerb entspricht im Durchschnitt knapp einer Viertelstelle.

Wirtschaftszweige: Allein auf die fünf Branchen «Erziehung und Unterricht», «Gesundheits- und Sozialwesen», «private Haushalte», «Handel, Reparaturgewerbe» sowie «Erbringung von sonstigen Dienstleistungen» konzentriert sich die Hälfte aller zusätzlichen Erwerbstätigkeiten. Diese Branchen weisen auch einen hohen Anteil von Teilzeitstellen auf. Die Beweggründe für eine Mehrfacherwerbstätigkeit sind nicht leicht zu eruieren. Nur ein Zehntel dieser Erwerbstätigen gibt an, mehrfacherwerbstätig zu sein, weil keine Vollzeitstelle gefunden werden konnte. Mehr als ein Viertel dieser Gruppe würde gerne noch mehr arbeiten. Hier steht denn auch der Wunsch nach einem höheren Lohneinkommen im Vordergrund. Oft kommt es auch zu einem Mix von Anstellung und Selbständigkeit. Rund 8 Prozent der Mehrfacherwerbstätigen sind im Haupterwerb selbständig, fast ein Fünftel im Nebenerwerb. Die häufige Kombination von Selbständigkeit und Anstellung weist darauf hin, dass manche ein sicheres «Grundeinkommen» anstreben, um daneben ein eigenes Geschäft aufbauen zu können. Frauen geben zudem an, dass sie aus familiären Gründen keine Vollzeitbeschäftigung suchen. Sie ziehen offenbar die Flexibilität einer Mehrfacherwerbstätigkeit einer 100-Prozent-Anstellung vor. Die Mehrfacherwerbstätigkeit ist unter anderem Ausdruck einer Dienstleistungsökonomie, die durch ein hohes Mass an Teilzeitstellen geprägt ist. Dabei arbeiten Mehrfachbeschäftigte häufig in typischen Tieflohnbranchen. Darum gilt für zahlreiche Mehrfacherwerbstätige: Ein Job ist nicht genug.

Die Mehrfacherwerbstätigkeit findet sich in allen Branchen. Dabei wird die Nebenbeschäftigung in drei Viertel der Fälle in einer anderen Branche als jener des Haupterwerbs ausgeübt. Allerdings dominieren bei der Nebenbeschäftigung bestimmte

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Anteil Erwerbstätige mit mehreren Arbeitsstellen, nach Geschlecht und Bildung, in Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung, 2017. Männer Frauen

Sekundarstufe I

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Sekundarstufe II

Tertiärstufe

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Teil II

Von einem, der auswandern will Rückkehr Urs Saurer ist dienstältester Surprise-Verkäufer in Basel. Weil er in der Schweiz von seiner AHV kaum leben können wird, plant er, nach Kamerun auszuwandern. Doch schon beim ersten Besuch erwischt ihn die Malaria. TEXT SARA WINTER SAYILIR

ILLLUSTRATION BIRGIT LANG

KAMERUN

Vorgeschichte: Der stadtbekannte Basler Surprise-Verkäufer Urs Saurer fasst den Entschluss, nach Kamerun auszuwandern. Er ist auf der Suche nach einem Alterssitz, wo er mit seiner mageren AHV leben kann und auch eine Aufgabe hat. Nachdem Urs die Reisevorbereitungen und den Flug trotz allerlei Widrigkeiten hinter sich gebracht hat, erreicht er im Spätherbst 2017 Yaoundé, wo er drei Wochen verbringen möchte, um sich ein Bild von seinem potenziellen neuen Wohnort zu machen. Dort empfangen ihn Kathrin Witschi und Carole Erlemann Mengue, die Urs aus Basel kennen und vor Ort verschiedene Austauschprojekte zwischen Kamerun und der Schweiz verwirklichen. «Urs ist angekommen.» So lautet die SMS, die Kathrin ihrer Mutter Susanne in der Nacht von Sonntag auf Montag schickt. Endlich, hätte sie noch hinzufügen können. Urs hatte beim Umsteigen in Istanbul seinen Weiterflug nach Yaoundé verpasst. Kathrin Witschi und ihre Freundin Carole Erlemann Mengue hatten am Donnerstagabend Surprise 432/18

vergeblich auf ihn gewartet. Enttäuscht standen sie am Flughafen und machten sich Sorgen, was wohl passiert sein könnte. Erst später erfuhren sie von dem Malheur mit dem verpassten Anschluss. Kathrin mag diese Fahrten in die Stadt nicht, so viel Zeit, die sie im Dorf lieber mit sinnvoller Arbeit verbracht hätte, und so viel Stress mit dem Verkehr der hektischen Metropole. Als Urs dann aber Sonntagnacht am Flughafen ins Freie tritt, ist das schnell vergessen. Er fühlt sich sichtlich wohler, der Flughafen von Yaoundé ist klein. Kein Vergleich mit «dem schrecklichen Istanbul». Es kostet den 60-Jährigen aber zwei ganze Tage, bis er den Stress mit dem verpassten Flug richtig hinter sich lassen kann. Im Dorf Afambassi nahe der Kleinstadt Obala, etwa 40 Kilometer nördlich von Yaoundé, lebt er sich schnell ein. Anfangs sind die Gastgeberinnen von ihrem Besuch noch sehr gefordert: Urs spricht nur sehr rudimentär Französisch und hat eine Frage nach der anderen. Also übersetzen Kathrin und 9


Carole bei Gesprächen, sie erklären, führen herum. Urs knüpft schnell eigene Kontakte. Die jungen Leute dort lernen schneller Deutsch als er Französisch, stellt er dabei fest. Und er macht sich sofort nützlich, indem er Lehm vom Fluss holt, um undichte Fenster zu kitten. Schnell wird er selbständiger, manchmal müssen Kathrin und Carole ihren Besuch suchen, bis sie ihn zufrieden in irgendeiner Palmweinbar oder auf der Plantage wiederfinden. Urs liebt die Arbeit auf dem Feld, es kommt der Gartenarbeit am Nächsten, die er auch in Basel schon gern gemacht hat. Zudem findet er es spannend, die ganzen neuen Gewächse und ihre Eigenheiten kennenzuler-

Akutes Leber- und Nierenversagen, zehn Tage Koma, zwei Wochen Intensivstation und drei blaue Zehen. nen. Nun weiss er, dass Yams in Kamerun Igname heisst und eine wichtige Rolle in der lokalen Ernährung spielt. Mit der Machete erntet er Bananen, auf grossen Decken hilft er, Kakaobohnen in der Sonne zum Trocknen auszubreiten. Die Ernte ist die Haupteinnahmequelle des Vereins CDAS-BC, der auf verschiedenen Ebenen den schweizerisch-kamerunischen Austausch fördert. Einmal die Woche fährt jemand auf den Markt, von den Einnahmen können sie dann eine Zeit lang leben. So gefällt Urs das Leben. Drei Wochen vergehen wie im Flug Bald verbringt Urs die Nächte statt in seinem Zimmer lieber in der Küche, wo Caroles ältere Schwester Esswaren vorbereitet, die sie am nächsten Tag verkaufen wird. Er ist fasziniert von ihr und schaut ihr zu, wie sie geschickt Teig in Blätter rollt und mit Bindfaden gürtet. «Mein Kirchen-Schätzeli» nennt er sie, weil sie jeden Sonntag in die Kirche geht und er sie wohl liebgewonnen hat in den gemeinsam verbrachten Nächten. Verständigen können sie sich zwar nur mit Hand und Fuss, der gegenseitigen Zuneigung aber steht das nicht im Weg. Carole und Kath10

rin freuen sich im Stillen, dass Urs sich offenbar wohl fühlt, und sie können sich gut vorstellen, dass er für immer bleibt und mit ihnen zusammenarbeitet. Urs sprudelt förmlich über vor neuen Ideen wie einer Honigbienenzucht oder dem Brennen von Mangoschnaps. Die drei Wochen Probezeit in Kamerun verfliegen. Mitte Dezember reist Urs wieder zurück in die Schweiz, ganz ohne Zwischenfälle. Direkt nach seiner Rückkehr geht Urs ins Tropeninstitut. Er hatte seine Malaria-Prophylaxe-Tabletten bei der Abreise zuhause vergessen und, weil Kathrin auch nicht regelmässig welche nahm, beschlossen, dass er auch ohne zurechtkäme. Nun sind seine Arme übersät von Mückenstichen. Die Gegend, wo er war, ist Hochrisikogebiet, auch Kathrin hat die Malaria schon mal schwer erwischt. 30 Franken kostet ihn die Untersuchung im Tropeninstitut. Man nimmt ihm aber kein Blut ab, fragt nur Symptome ab. Fieber hat er keines, müde fühlt er sich auch nicht. Alles tipptopp. Zwei Wochen später, am 3. Januar, liegt der sonst unermüdlich arbeitende Urs plötzlich bei seinem angestammten Arbeitgeber, dem Arbeitsintegrationsprojekt Overall, mit einer Decke auf dem Boden und ist zu erschöpft zum Aufstehen. Das sieht Urs gar nicht ähnlich, das Team ist alarmiert. Hinsetzen will er sich nicht, Wasser nimmt er erst nach zweimaligem Nachfragen an. Ein Kollege bringt ihn mit dem Tram ins Unispital, Urs kann kaum noch laufen. Noch zwei, drei Stunden länger, und Urs hätte es nicht überlebt, sagt der Arzt im Spital. Akutes Leber- und Nierenversagen, eine häufige Komplikation bei Malaria tropica, der schwersten Form der Krankheit. Zehn Tage Koma, zwei Wochen Intensivstation. Eine Folge des Organversagens: Die Zehen am einen Fuss laufen blau an und drohen abzusterben. Urs ist zäh, er erholt sich, wenn auch langsam. Einen Monat liegt er im Unispital. Am 9. Februar feiert er auf der Spitalterrasse seinen Geburtstag, zahlreiche Freunde, Kollegen und Mitarbeitende von Surprise, vom Schwarzen Peter, dem Basler Verein für Gassenarbeit, und von Overall kommen ihn besuchen. Man sorgt sich um ihn, verfolgt seine Genesung. Erfolgreich hat er sich gegen die Amputation der blauen Zehen gewehrt, aus Angst, er könne danach nie wieder laufen. Tatsächlich gibt es eine Chance auf Erholung, wenn man den Fuss regelmässig desinfiziert und feucht verbindet. Und weil Urs’ langsame WundSurprise 432/18


heilung für eine OP ein gewisses Risiko darstellt, halten auch die Ärzte inzwischen eine Amputation nicht mehr für die beste Lösung. Urs hängt nicht nur an seinen Zehen: Er hat von einem auf den anderen Tag aufgehört, Alkohol zu trinken. Das knappe Vorbeischrammen am Tod hat ihn mitgenommen und er will seine ohnehin angegriffene Leber nicht mehr weiter belasten. Wie soll es nun weitergehen? Nach einer Weile wechselt er zur Reha ins Felix-Platter-Spital. Als er Ende Februar von dort entlassen wird, ist er nur noch ein Schatten seiner selbst. Zwar ist die Malaria nicht mehr akut, aber er sieht um Jahre gealtert aus, braucht nun einen Rollator zum Laufen. Übergangsweise kommt er bei einem Kollegen von Surprise unter, eine Notlösung, bis er wieder einen eigenen Plan hat. Urs hat Mühe, wieder zurückzufinden in sein hiesiges Leben. Viel lieber wäre er in Kamerun. Aber eine weitere Malaria würde er nicht überleben, das hat der Arzt ihm eingebläut. Nun muss Urs sich überlegen, wie es weitergehen soll, und eine IV-Rente beantragen, denn arbeiten kann er erstmal nicht. Nein, er will nicht ins Männerwohnheim, viel zu teuer, und zu seinen Geschwistern ins Berner Oberland möchte er auch nicht. Denn dort in Sigriswil wohnt man zu weit ab von allem, man braucht ein eigenes Auto oder ist immer angewiesen auf andere. Kein Laden im Dorf, kein Arzt, keine Arbeit. Urs möchte lieber eine eigene Wohnung in Basel. Aber hier ist günstiger Wohnraum notorisch knapp, und wer vermietet schon an jemanden, der auch mal wegen seiner Betreibungen gesessen hat und dessen momentane Einkommensquelle das Sozialamt ist? Die Unsicherheit, die unbequeme Wohnsituation auf Zeit, die Abhängigkeit von anderen zehrt an Urs und seinen Nerven. Als er am 13. März bei Surprise sitzt und Kaffee trinkt, hängt er buchstäblich in den Seilen. Er spricht noch langsamer als sonst, klagt über extreme Müdigkeit seit einer Woche. Die Mitarbeitenden machen sich Sorgen. Ob er lieber ins Spital gehen und abklären wolle, ob alles in Ordnung sei? Mit ein wenig Mühe lässt Urs sich überzeugen. Das Spital behält ihn gleich da: Die Malaria ist zurück. Mit einer losen Abfolge besonderer Geschichten feiert das Strassenmagazin das 20-jährige Bestehen von Surprise. Lesen Sie den ersten Teil dieser Geschichte nach unter surprise.ngo/urs_bricht_auf

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Raquel Herzog will nicht die Welt retten, sondern im Kleinen etwas richtig machen..


Ruha, Raquel und Lafortune Flucht Europas Versagen, die Migration zu ordnen, zwingt die Zivilgesellschaft zum Handeln.

Zum Beispiel im Amina House in Athen, wo sich die Lebenswege dreier Frauen kreuzen. TEXT YVONNE KUNZ

FOTOS MYRTO PAPADOPOULOS

Athen

GRIECHENLA A ND

Damaskus, Juli 2014. Eigentlich hatte die damals 21-jährige Ruha Said keinen Kopf für Dinge wie Krieg oder Flucht. Aus Prinzip. Aus Trotz. Als Überlebensstrategie. Sie schrieb an ihrer Drittjahr-Abschlussarbeit in Englischer Literatur an der Universität von Damaskus. Prosa-Übersetzung, Arthur Miller. Da rief ihr Vater an. Ruha wusste: Er macht sich Sorgen, immer wieder bittet er sie, nach Hause zu kommen, in den Nordosten Syriens. Aber Ruha wollte kein Studienjahr verlieren. Sie hörte ihn schon sagen: «Das Studium ist nicht alles!» Doch diesmal rief er aus Schweden an. Dorthin hatte er sich abgesetzt, um für die – ahnungslose – Familie Asyl zu beantragen. «Jetzt bist du die Älteste. Du trägst die Verantwortung», sagte er. Sie spreche ja Englisch, sie sei weltgewandt. Und: «Geht! Die Islamisten sind schon fast in al-Hasakeh.» Alles musste schnell gehen. Wenige Wochen später war die Familie in der Türkei. Sie hatten alles verkauft, um die Flucht zu finanzieren. Das Haus, die Aluminium-Werkstatt und, was Ruha besonders schmerzte, ihren Laptop. Die Mutter und die minderjährigen Geschwister konnten schon bald weiter nach Schweden reisen. Nicht aber Ruha, ihre zwei ebenfalls volljährigen Schwestern und die Grossmutter, Amina. Ein wenig aussichtsreicher Rekurs war hängig. Ruha und ihre beiden Schwestern fanden Arbeit. Nähten Kinderkleider und Schuhe, zwölf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche, für 130 Euro im Monat, ein Jahr lang. In der Textilfabrik fand Ruha einen Freund. Ohne ihn hätte sie es nicht ausgehalten. Dann rief wieder der Vater an: «Geht! Europa schliesst die Grenzen!» Ruha wusste, an welcher Strasse sie die Schlepper findet. Alle wissen das in Izmir. Flucht ist hier ein Business, einzelne Geschäfte in den Märkten leuchten im Knallorange der Rettungswesten. 1500 Euro zahlte sie pro Person für die Überfahrt. Die Referenzen der Schlepper waren gut. Kein Zurück Der Anruf kommt am 8. März 2016. Es geht los, übers Meer nach Lesbos. Hastig verpackt Ruha ihre Sachen in Plastiksäcke. Geld, Zeugnisse, ein paar Kleider und den Plüschesel – ein Geschenk ihrer besten Freundin in SySurprise 432/18

rien. Als sie am frühen Nachmittag mit den Schwestern und der Grossmutter an einem abgelegenen Stand eineinhalb Stunden ausserhalb der Stadt steht, ist Ruha ausser sich. Die Schlepper hatten ein solides Boot mit acht Personen an Bord versprochen. Nun sind da 20 andere Flüchtende, und vor ihnen im Wasser schaukelt ein kleines Hartplastik-Boot. «No way!», sagt sie. «Meine Grossmutter ist 93!» Zu spät: Der Wagen, der sie hergebracht hatte, ist weg. Es gibt kein Zurück. Der Grossmutter scheint die Überfahrt am wenigsten auszumachen. Die Stunden auf hoher See sind für sie wie ein schöner Bootsausflug mit ihren Enkelinnen. Die unbekümmerte Plauderei mit der Grossmutter besänftigt Ruhas inneren Aufruhr. Schon zum zweiten Mal ist der Motor ausgestiegen. Seit Minuten scrollen die Steuermänner auf ihren Handys nach Ratschlägen, wie er wieder anspringen könnte. Es beginnt zu dämmern, noch ist Lesbos nicht in Sicht. Nur noch vorwärts Würenlos, September 2015. Eigentlich wollte die damals 50-jährige Raquel Herzog Hausaufgaben für ihre Weiterbildung machen. Stattdessen klickte sich die freischaffende Medien- und Opernproduzentin unmotiviert durch die News. Dann sah sie das Bild von Alan Kurdi, dem toten Jungen in kurzen blauen Hosen und rotem T-Shirt, angespült an einem türkischen Strand. Neben dem Computer stand ein Bild von Raquels Sohn, als er etwa im gleichen Alter war. Ein paar Minuten sass sie da, gelähmt von Trauer und der bohrenden Frage: «Klappe ich jetzt einfach den Laptop zu, hab’s zur Kenntnis genommen, mich empört? – Oder mache ich etwas?» Es war noch dunkel auf Lesbos, als sie zwei Monate später selbst am Strand stand und versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen. Ankünfte in der Dunkelheit sind weit weniger dramatisch, verlaufen kontrollierter als jene bei Tageslicht. Aber das wusste sie noch nicht, als sie mit anderen Helfern zum ersten Mal ein Boot in Empfang nahm. Die Menschen, denen sie an Land half, blieben gesichtslos. Sie hätte nachher nicht mal sagen können, ob Kinder oder Frauen darunter waren. Das nächste Boot 13


kam gegen acht. An Bord viele durchnässte Kinder, die Lippen blau. Alles musste schnell gehen. Einem Kind nach dem anderen schränzte sie die Kleider vom Leib und packte es in trockene Sachen. Übergriffig fühlte sich das an. Am schlimmsten aber war der leere Blick der Kinder, als sie dann in der Morgensonne sassen und Getreideriegel kauten. Professionell improvisiert Die Nothelfenden auf den griechischen Inseln halten über soziale Netzwerke Kontakt zu den Überfahrtswilligen in der Türkei. Sie werden aus allen Ecken Europas in ihrer Sprache betreut. Welche Schwimmwesten sie nicht kaufen sollen (viele sind nur mit Heu oder Plastiksäcken gefüllt), wann die Küstenwache alarmiert wird, oder wie man einen abgesoffenen Motor wieder zum Laufen bringt. Sobald ein Boot griechisches Gewässer erreicht, bekommt es einen WhatsApp-Chat und einen Ortungspin. Alle zwei Minuten folgt ein Update mit den neuesten Koordinaten. So wissen die Helfenden ungefähr, wann und wo es landen wird. Am 8. März 2016 verfolgt Raquel, inzwischen auf ihrem vierten Hilfseinsatz, wie ein Boot immer weiter vom üblichen Kurs wegdriftet. Dann bricht der Kontakt ab. Ist das Boot gesunken? Oder nur ins kommunikatorische Bermudadreieck zwischen den Mobilfunknetzen der Länder getrieben? Fieberhaft suchen Raquel und ihr Rettungspartner mit ihrem Van die Küsten ab, wo das Boot gelandet sein könnte. Stundenlang fahren sie auf ungeteerten, holprigen Strassen durch Olivenhaine. An jedem Strand steigen sie aus, rufen, ob jemand da ist. In einem winzigen Fischerdorf entdecken sie schliesslich Menschen. Von Weitem sieht Raquel eine Frau hemmungslos heulend am Meer stehen. Der Anblick ist ihr inzwischen allzu vertraut. Kaum angehalten, erscheint am Fenster ihres Fahrzeugs ein junges Gesicht. Ruha Said sei ihr Name, ob man helfen könne. Nicht weit von ihr sieht Raquel eine Hochbetagte. «Wo sollen wir die nur unterbringen? Moria ist kein Ort für sie», fährt es Raquel durch den Kopf. Flüchtende nennen das berüchtigte Camp Moria auch «Guantanamo». Genau dort landet die Familie Said, samt der Grossmutter, eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Ruha und Raquel halten die ganze Nacht über Kontakt. Am nächsten Tag hatte Raquel Ruha überzeugt, dass die Grossmutter die geplante Reise über die Balkanroute nicht überleben würde. Und eine Wohnung für die Said-Frauen gemietet. Ruha besteht darauf, dass Raquel auch dort wohnt. Fünf Monate hausen sie gemeinsam, loten die Optionen aus. Die jungen Frauen konnten sich ein Leben fern der Familie vorstellen, das kannten sie ja schon aus Damaskus. Doch was wird aus der Grossmutter, die kein Leben ausserhalb der Familie kennt? Sie versuchen, für Amina ein humanitäres Visum zu bekommen. Vergeblich.

Flucht ist auch die Reise in ein neues Selbst: Ruha Said vor der Akropolis.

Frauen in Fluchtsituationen sind besonders verletzlich. Sexuelle Übergriffe sind an der Tagesordnung.

Geschichten auf dem Sofa Athen, Juni 2018. Die Mittagshitze beginnt durch die Fenster zu drücken. Ruhas und Raquels Stimmen hallen durch 14

den frisch getünchten, hohen Raum. Gut zwei Jahre sind vergangen, seit sie sich begegnet sind. Nun sitzen die beiden Frauen in zarter Verbundenheit auf einem Sofa und berichten von ihrem Weg mitten ins Chaos einer Flüchtlingskrise, die inzwischen zur Zerreissprobe für Europa geworden ist. Ruha ist aus Schweden angereist. Als es keinen legalen Weg zur Weiterreise gab, besorgten sich die Said-Frauen gefälschte Pässe – in Griechenland bekommt man sie an jeder Ecke. Der Vater nahm dazu bei der Bank ein Darlehen über 8000 Euro auf, offiziell für Möbel. Es klappte im ersten Anlauf – am Flughafen in Athen wollte keiner Papiere sehen. Zu abwegig, dass eine alte Grossmutter geschmuggelt werden könnte. Das war Mitte Juli 2016, Ruha erinnert sich, dass es brütend heiss war. Und wie Grossmutter Amina trotzdem schlotterte: Für den Flug hatte sie ihr traditionelles kurdisches Kopftuch abgelegt, das Surprise 432/18


Anstossen auf die Eröffnung des Amina House, ein Tageszentrum für Frauen in Athen.

erste Mal seit ihrem zwölften Lebensjahr. Als sie dann in Stockholm nach langer Zeit ihren Lieblingsenkel an sich drückte, brach sie zusammen – wie so viele, wenn der Druck weg ist. Ruha hingegen weiss noch, wie es in ihrem tiefsten Innern immerfort raunte: Ohhhhhh yeahhhhh. Jetzt ist Ruha wieder am Büffeln, für die schwedische Matura. So ganz passt es ihr nicht, dass sie auf ihrem Bildungsweg eine Ehrenrunde drehen muss. Sie hat sich auch eingestehen müssen, dass ihr üblicher Vollgas-Ansatz im Moment nicht der richtige ist. «Ich habe in den zwei Jahren auf der Flucht doch sehr viel erlebt», sagt sie. Erst habe sie wie eine Verrückte jeden Kurs, den sie finden konnte, besucht. Jetzt lässt sie es etwas ruhiger angehen. Raquel ist von Lesbos gekommen. Sie hat sich mit einer eigenen Organisation auf die Unterstützung von Frauen auf der Flucht spezialisiert. Die Nichtregierungsorganisation heisst SAO, nach der Schutzherrin der sicheSurprise 432/18

ren Überfahrt und der Seerettung in den altgriechischen Mythen. Dass Frauen in Fluchtsituationen besonders verletzlich sind, kann man nur schon aus den Inventarlisten des Verbrauchsmaterials des Flüchtlingslagers von Moria lesen: Der Verschleiss an Erwachsenenwindeln ist enorm. Weil die Frauen sich nachts nicht auf die Toilette wagen. Die sanitären Anlagen sind nicht getrennt, die Stimmung im völlig überfüllten Lager ist gewalttätig, sexuelle Übergriffe sind an der Tagesordnung. Deshalb betreibt SAO in Mitillini, acht Kilometer von Moria, seit gut einem Jahr das Bashira Centre. Dort finden Frauen auf der Flucht private Waschräume, jemanden zum Reden, juristischen Beistand, Empowerment-Kurse oder auch einfach nur ihre Ruhe. Kaum eröffnet, tauchte hier Lafortune auf. Eine grossgewachsene, kräftige, damals 17-jährige Kamerunerin. Mit vielen Fragen – kann sie jetzt als Mann leben? – und 15


Bildung gegen Isolation: Sprachunterricht hat Priorität im Tageszentrum in Athen.

Tereza Lyssiotis hat keine Zeit für Flüchtende, die nur arabisch sprechen wollen.

Frauen für Frauen Die «SAO Association – Frauen für Frauen auf der Flucht» betreibt zwei Tageszentren, «Bashira» auf Lesbos und «Amina» in Athen, und baut einen Studienfonds für Frauen auf, die wegen der Flucht ihre Ausbildung unterbrechen mussten («Back on Track»). Die NGO wurde 2016 von Raquel Herzog gegründet. Der Schweizer Vorstand mit acht Berufs- und Geschäftsfrauen arbeitet ehrenamtlich. www.sao.ngo

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noch mehr Problemen. Die Behörden hatten ihr einen roten Stempel in die Papiere gedrückt. Sie brauchte aber einen blauen, um nach Athen zu gelangen. Die Willkür des Chaos: Weil die EU in ihrem Deal mit der Türkei keine Visumspflicht für Menschen aus Kamerun festgelegt hat, war es ein Leichtes für Lafortune, die EU-Aussengrenze zu passieren. Doch wer aus Kamerun kommt, hat nach derzeitiger EU-Praxis keine Chance zu bleiben. Nur waren im Türkei-Deal Beamte versprochen, die nie gekommen sind – nun werden die bereits von Flüchtenden aus dem Osten überlasteten griechischen Behörden auch noch zugedeckt mit hoffnungslosen Fällen aus Westafrika. Eine Lafortune geht in der Masse verloren. Und sie war vorher schon ziemlich verloren. Bis zum Tod ihrer Mutter (sie starb 2016 an Krebs) war ihr Leben in der Hauptstadt Yaoundé unauffällig. Ihre sexuelle Orientierung bescherte Lafortune nicht mehr als die üblichen Probleme. Sie hatte sogar eine Freundin. Doch kaum war die Mutter unter der Erde, packten ihr Stiefvater und zwei Nachbarn ihre Freundin, verprügelten und vergewaltigten sie. Vor ihren Augen. Eine «Korrekturvergewaltigung». Die Frauen sollen aufhören, mit Frauen zu schlafen. Lafortune selbst wurde verschont. Aber der Stiefvater warf sie raus. Sie war auf sich gestellt. In Kamerun reicht ein von einem Nachbarn geäusserter Verdacht auf Homosexualität, um für Jahre im Gefängnis zu verschwinden. Lafortune kennt solche Fälle. Die heute 19-Jährige kam mit den Füssen voran auf die Welt. Diese Kinder, sagt man in Kamerun, seien allein schwieriger als Zwillinge. Lafortune fand Unterschlumpf bei einer Freundin der Mutter in Yaoundé. Die lieh ihr auch das Geld für den Flug in die Türkei und die Schlepper nach Griechenland. Sie ist nicht aus wirtschaftlichen Gründen gekommen. Sondern wegen ihrer sexuellen Identität. Um frei zu sein. Und landete schon kurz nach ihrer Ankunft in der Türkei in Haft. Ihre ganze Gruppe wurde entdeckt, als sie in einem Waldstück in der Nähe des Strands auf die Schlepper wartete. Sie hatten sich zu sehr bewegt, wegen der Kälte. Im Gefängnis sagt man ihr, sie werde drei Jahre eingesperrt bleiben. Sie bittet um Rückschaffung nach Kamerun. Vergeblich. Sie heult nur noch. Ein Wärter bringt ihr heimlich ihr Handy und die Nummer einer Anwältin. Nach 40 Tagen kommt sie frei und schafft es im zweiten Anlauf bis Lesbos. Ein Jahr später reist sie mithilfe von SAO legal nach Athen.

Europa löst sich auf im toxischen Gemisch aus Unmenschlichkeit, Dauerwahlkampf, Vetternwirtschaft und Unfähigkeit.

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Gestern habe sie nun den griechischen Pass bekommen, erzählt sie als Erstes, als sie auf dem Sofa Platz nimmt, auf dem schon Ruha und Raquel ihre Geschichten erzählt haben. Neben ihr auf dem Boden der schwarze Löwenrucksack, den sie vor zwei Jahren in Yaoundé geschultert hatte. Jetzt ist alles schnell gegangen, und Lafortune will auch schnell weiter. Nach Paris, wo sie sich in ihrer Muttersprache verständigen kann. Sie schätzt, dort bessere Chancen auf eine Ausbildung zu haben. Als KFZ-Mechatronikerin, das ist ihr Ziel. Allerdings: Wenn sie das Land wechselt, verliert sie jegliches Anrecht auf Unterstützung. Sie ist jetzt zwar EU-Bürgerin, hat aber noch den Flüchtlingspass. Ihr Status befreit sie zwar von der Steuerpflicht, aber Zugang zu Sozialhilfe erhält sie nur im Ausstellungsland. Lafortune lässt die Sofa-Runde Jujube testen, getrocknete Steinfrüchte. Erst schmecken sie beim Kauen holzig-neutral – erst nach einer Weile verbreitet sich explosionsartig eine prickelnde Frische im Mund. Die junge Frau wiegt sich vergnügt lachend hin und her, entzückt ob der gelungenen Überraschung. Die Stimmung ist freudig angeregt. Wie Ruha und Raquel und auch das Team vom Bashira Centre ist Lafortune heute hergekommen, um die Eröffnung des zweiten Hauses von SAO zu feiern: das Amina House, benannt nach Ruhas Grossmutter. Ihr Fall hatte Raquel die Augen geöffnet: Es braucht eine spezielle Infrastruktur für Frauen. Effiziente Menschlichkeit Die Atmosphäre des Hauses unweit des Zentrums zwingt einen fast zum Ausatmen. Ein schattiger Schoss inmitten der heissen Hektik Athens. Oder «eine schöne Pause von der Realität», wie Tereza Lyssiotis sagt, die Leiterin des Amina House. «Colours!», ruft sie in den lauschigen Innenhof. Farbige Papierblumen sind an die Bäume geheftet, in den Töpfen blüht echter Lavendel. Einige Frauen hängen lange Ketten mit Papierfähnlein auf, andere sitzen an einem Tisch und fädeln bunte Holzperlen und Plastik-Würfelchen mit Buchstaben auf Nylonfäden. Save, Assist, Outreach, heisst es auf den Armbändern. SAO ist jetzt auch ein Akronym für das Programm: Rettung, Unterstützung, Kontaktaufnahme. Tereza ist die Personifizierung der grossen griechischen Leidenschaft für Politik. Stimmt, grinst sie, da werde schnell rumgezetert. Sie selbst hat gerade innert Minuten – zwar mit rauchig-ruhiger Stimme, aber in schnellen, scharfen Worten – die gesamte westliche Flüchtlingspolitik zur Farce erklärt: «Europa löst sich auf.» In einem toxischen Gemisch aus Unmenschlichkeit, Dauerwahlkampf, Vetternwirtschaft, Hyperpopulismus und schierer Unfähigkeit. Die totale Krise. Dass Migration ein geordneter Prozess sein könnte, scheint weit jenseits der allgemeinen Vorstellungskraft zu liegen. Aber die krisenerprobte Griechin ist den Wahnsinn gewohnt. Die studierte Politologin wollte ursprünglich Journalistin werden – machte dann aber Karriere als PRund Kommunikationsprofi für Banken und Unternehmensberatungen. Als 2008 die Wirtschaft zusammenbrach, wurden auch in ihrem Umfeld viele arbeitslos, sie hielt sich mit Freelance-Jobs über Wasser. 17


Stolz auf der Pride: Lafortune auf dem Syntagma-Platz.

In den Jahren der rigorosen Sparpolitik schlitterte die gesamte griechische Gesellschaft in eine kollektive Paralyse. Das Erwachen kam mit den Flüchtenden. 2015 wurde die Lage kritisch und 2016, als Europa dichtmachte, dramatisch. Tereza begann Freiwilligenarbeit zu leisten. Wie viele andere auch. Sie war verblüfft: «Die Gesellschaft mobilisierte sich weit mehr, als ich es erwartet hatte. Jetzt ist Athen voller Initiativen.» Ideologinnen findet man bei SAO nicht. Die Frauen der NGO sind radikale Pragmatikerinnen. Das Ziel der EU, die Ankunftszahlen zu reduzieren, finden sie legitim. «Ich bin auch nicht dafür, dass jeder, der sich ein bisschen unwohl fühlt in seiner Heimat, nach Europa kommt», stellt Raquel klar. «Logisch können nicht alle kommen.» Sie sollten nicht kommen müssen. Fluchtursachen reduzieren, ja sicher, sagt sie. Aber doch nicht mit KriegsmaterialExporten nach Syrien oder Freihandelsabkommen mit 18

Ländern in Westafrika. Verzweifelte Menschen werden immer verzweifelte Wege einschlagen, so die einfache Erfahrung. «Wir kennen doch die Bilder aus Syrien», sagt Raquel. Die Frauen stellen sich gegen ein System, das Familien auseinanderreisst, sie zwingt, gefälschte Pässe zu beschaffen, um in den Norden zu gelangen. «Ertrinkende sind zu retten, Punkt. Unabhängig davon, weshalb sie in dieser Situation sind», sagt Raquel. Stattdessen würden die Helfer zusehends kriminalisiert. Und die Flüchtenden sowieso – an die Genfer Flüchtlingskonvention scheint sich gerade niemand zu erinnern. Reise in ein neues Selbst Auch dass sich Geflüchtete aktiv um ihr neues Leben bemühen sollen, stellt hier niemand infrage. Tereza ist da resolut: «Jemand will nur arabisch sprechen? Okay. Für Surprise 432/18


«Ertrinkende sind zu retten, unabhängig davon, wie sie in diese Situation gekommen sind.» R AQUEL HER ZOG

diese Person habe ich aber keine Zeit.» Im Amina House haben Griechisch- und Englischkurse Priorität. Daneben bietet man den Frauen Waschmaschinen, beschäftigt sie in Nähprojekten, es gibt auch Yoga und Tanz. «Wir wollen die Leute anspornen, die nächsten Schritte zu machen», sagt Tereza. «Wir begleiten sie, wir schreiben mit ihnen ihre Lebensläufe.» Sie tun, was das bürokratisch-politische Europa unterlässt: Sie arbeiten effizient mit Migration. Das kostet, aber Nichtstun kommt am Schluss teurer, da ist sich Tereza sicher. Und Zäune und Armeen sind auch nicht gratis, wirft die Psychologin des Hauses ein, die Italienerin Vittoria. Die Grenzsicherung kostete seit 2011 mindestens zwei Milliarden Euro. 700 Millionen gab man in der gleichen Zeit für das Ankunftsmanagement aus. Aber dort müsste man investieren, um zu verstehen, was zu tun ist, sagt Vittoria. Westliche Vorstellungen von Trauma zum Beispiel würden nur bedingt weiterhelfen. Surprise 432/18

Menschen mit Fluchtgeschichten, sagt sie, seien meist sehr zäh. Viel entscheidender sei, was nach der Ankunft passiere, in der vermeintlichen Sicherheit. Wenn das bisherige Selbstverständnis zerschellt. Sie sagt: «Das Ankommen an einem neuen Ort ist auch die Reise in ein neues Selbst.» Wenn Ruha von ihrem Leben vor der Flucht erzählt, sagt sie nichts von den Bomben, oder von Angst. Sondern sie erzählt von der Mühsal des Kriegsalltags. Wegen all der Checkpoints dauerte die Busreise aus Nordsyrien nach Damaskus nicht mehr acht, sondern 23 Stunden. Wenn du überhaupt ankommst, sagt sie. Sie kannte Studierende, die enthauptet wurden. Das Schlimmste war: ihre Gefühle, Meinungen und sich selbst ignorieren zu müssen, um zu überleben. Das hiess: weinende Mädchen im Schlafsaal an der Universität nicht zu trösten, deren Eltern in einem Widerstandsnest gerade von Assads Armee weggebombt wurden. Denn in Damaskus musste man pro-Assad sein. Das hiess auch: zuckersüss flirten mit den Soldaten an den Checkpoints. Obwohl sie jeden einzelnen lieber angeschrien hätte: Woher nimmst du dir das Recht, so ein Arschloch zu sein? Ruha sagt: «Du ziehst Linien zwischen dem, was du bist, und dem, was du sein musst, die du nie übertrittst.» Sie ist bis heute ungeheuer beherrscht. Auch bei Lafortune schiebt sich die feste Klarheit ihrer Worte, mit denen sie Teile ihrer Geschichte, ihre Gefühle preisgibt, wie Panzerglas vor ihre Verletzlichkeit. Ihr Weg, sagt sie, sei noch nicht zu Ende. Sie habe noch viel zu lernen von dieser Welt – und die Welt von ihr. Noch immer geht sie mit den Füssen voran durchs Leben, wie seit ihrer Geburt. Sie hat einen Gang wie auf Schienen. Trotz aller Bedenken – die Angst vor dem Stiefvater in Yaoundé sitzt tief – kommt sie mit an die Athen’s Pride, das internationale LGBT-Festival, um sich für diese Reportage fotografieren zu lassen. Aus den Lautsprechern brettern die internationalen Hymnen der Community: «Born This Way» von Lady Gaga, «Vogue» von Madonna. Nackte Körper als Transparente für die Message: «Free Yourself!» «No Hate!» Das Regierungsgebäude am Syntagmaplatz erstrahlt in dieser Nacht in den Regenbogenfarben. Die Menge fächelt sich mit Fächern mit der Aufschrift «Don’t be shy» Luft zu, eine griechische Popsängerin hüpft zu knatternden Beats über die Bühne. Lafortune sitzt im Gras und beobachtet das Geschehen. Beginnt im Takt zu wippen. Hebt zwei Daumen hoch. Lacht bis zu den Ohren. Gerade will sie gar nicht mehr weg. Es ist alles irgendwie zu gut, um wahr zu sein. 19



Gegen das digitale Vergessen Internet Web-Inhalte werden laufend durch Neues überschrieben und verschwinden so im digitalen Nirvana. Dagegen wehren sich Archivarinnen und Aktivisten. Sie wollen Websites als Zeugnisse unserer Kultur und Geschichte erhalten. TEXT STEFAN MICHEL

ILLUSTRATIONEN CHRISTINA BAERISWYL

In den Wochen vor Donald Trumps Amtseinführung im Januar 2017 brach in Teilen der Netzgemeinde Alarmstimmung aus. Es galt, die online verfügbaren Daten der amerikanischen Umweltbehörde EPA vor Trumps Regierung zu retten. Vorausgegangen war das Gerücht, Trumps Klimawandelskeptikertruppe könnte die umfangreichen statistischen Datensätze zur globalen Erwärmung unzugänglich machen. Die Aktivisten organisierten sich an mehreren amerikanischen Universitäten und kopierten alles, was sie abrufen konnten. Genauer: Sie nutzten Computerprogramme, die Online-Inhalte kopieren, auf Server speichern und zugänglich halten. Einen grossen Teil der Seiten schickten die Aktivisten an das «Internet Archive», die Instanz schlechthin, wenn es um das Archivieren von Websites geht. «Das Internet vergisst nicht», heisst es oft mahnend. Gemeint ist, dass Bilder, Kommentare oder Einkäufe und Suchanfragen wieder auf die Bildschirme zurückgeholt werden können, auch wenn sie eigentlich gelöscht wurden. Dies, weil gerade Aufsehenerregendes von vielen kopiert und weiterverbreitet wird. Sobald Kopien im Umlauf sind, nützt es nichts mehr, das Original zum Verschwinden zu bringen. Einen gigantischen, öffentlich zugänglichen Kurzzeitspeicher betreibt Google mit Google Cache. Dort bleiben auch ältere Versionen von Websites – und damit vielleicht der kompromittierende Social-MediaKommentar – zwischen ein paar Tagen bis zu mehreren Wochen aufrufbar. Menschen vergessen. Würde das Gehirn nicht laufend weniger Wichtiges aussortieren, würden wir den Überblick Surprise 432/18

verlieren. Im Internet spielt es im Prinzip keine Rolle, wie viele Inhalte gespeichert sind. Dank Suchmaschinen finden wir, was wir suchen – oder was die Suchmaschinenprogrammierer als für uns relevant erachten (aber das ist eine andere Geschichte). Inhalte können sehr wohl gespeichert und über die richtige Adresse zugänglich sein. Aber wenn diese Adresse niemandem bekannt ist, wird der Inhalt nicht gefunden. Und wenn nur schon ein Dokument von einem Ordner auf dem Server in einen anderen verschoben wird, ohne dass der Link entsprechend angepasst wird, ist ein Text, ein Bild oder eine ganze Website nicht mehr zugänglich. Der tote Link, die gekappte Verbindung ist der erste Schritt, um digital in Vergessenheit zu geraten. Das Internet lebt in der Gegenwart. Websites verändern sich, aufgerufen wird – von Ausnahmen abgesehen – immer nur die aktuelle Version. Wie sah die Website des Tages-Anzeigers vor zehn Jahren aus? Wie vor 20 Jahren? Ziemlich sicher schlummern die alten Layouts noch auf einem Server. Hervorholen kann sie von da nur noch die Person, welche über die nötigen Server-Zugänge verfügt. Das Neue verdrängt das Alte – und nirgends läuft dieser permanente Häutungsprozess schneller als im World Wide Web. «Geistiges Kulturgut der Schweiz» Das Erstaunliche dabei: Gedrucktes wird seit Jahrhunderten archiviert. Auch bei Bildern und Filmen ist man sich einig, dass die Menschen sie weiterhin sehen können sollen. Es verbindet sie mit der Vergangenheit, mit ihrer Herkunft. Texte, Fotos, Filme füttern unser kollektives Gedächtnis. Zu 21


diesem zählen auch Websites. Doch erst langsam setzt sich die Überzeugung durch, dass man sie ebenfalls erhalten sollte, bevor sie durch Neues überschrieben oder vom Netz genommen werden. In der Schweiz beginnt die Zeitrechnung des Internets 2007. Aus jenem Jahr stammen die ältesten Websites, welche die Schweizerische Nationalbibliothek im «Webarchiv» abgelegt hat. Ziel dieses Archivs ist es, «eine Sammlung von landeskundlich relevanten Websites der Schweiz aufzubauen und somit das geistige Kulturgut der Schweiz langfristig zu erhalten und zur Verfügung zu stellen». Vollständigkeit strebe man nicht an, heisst es auf der Website der Nationalbibliothek. Zu begrenzt sind die Ressourcen. Die erhaltenswerten Inhalte zu finden, zu speichern und korrekt abzulegen ist Aufgabe der Kantonsbibliotheken. Ihre Mitarbeiter speisen die Inhalte in das Webarchiv des Bundes ein. Wer eine der zehn Jahre alten Websites aufrufen will, muss eine der teilnehmenden Bibliotheken besuchen. Aus Gründen des Urheberrechts dürfe man die Inhalte nur begrenzt zur Verfügung stellen, erklärt man dort auf Anfrage. Da ist das in San Francisco betriebene «Internet Archive» um einiges offener und ambitionierter. 1996 begann der Informatiker Brewster Kahle, Schnappschüsse von Websites zu archivieren. In der «Wayback Machine» können alte Versionen und längst abgeschaltete Webpages auf den Bildschirm geholt werden. Hier findet sich beispielsweise die Online-Ausgabe des Blick vom 30. November 1996. 22 Jahre später

verzeichnet das Internet Archive nach eigener Angabe 322 Milliarden Internetseiten. Die Kopierarbeit führen Computerprogramme aus. Hunderte Freiwillige bereinigen die Ablage oder suchen selber nach Inhalten, die noch nicht für die Nachwelt festgehalten wurden. Betreiber von Websites können ihre Daten auch gleich von sich aus an das Internet Archive übermitteln. Wer nun denkt, das alte Zeug interessiere doch niemanden, liegt falsch. Die Website des Internet Archive gehört zu den 300 meistbesuchen Adressen des Internets überhaupt. Seitenhieb gegen Google «Wir wollen alles, das ganze verdammte Ding», wird Kahle in der Süddeutschen Zeitung zitiert. Das ist auch ein Seitenhieb gegen Google und dessen übermächtigen Suchalgorithmus. Dieser zeigt nur die Resultate an, die als relevant eingestuft werden. Dies aufgrund hunderter Kriterien, die ständig ändern. Dagegen liefert das Internet Archive beziehungsweise dessen Suchmaschine – die Wayback Machine – möglichst ungefiltert die Treffer, die den Suchbegriff enthalten. «Das ganze verdammte Ding» besitzt das gigantische Archiv dennoch nicht. Denn von den meisten Seiten wird alle zwei Monate ein Schnappschuss erstellt und abgelegt. Ein Inhalt, der nur dazwischen online war, erscheint nicht. Doch auch mit diesem grobmaschigen Suchraster gelingen mitunter spektakuläre Treffer: beispielsweise der Post eines pro-russischen Separatistenführers in der Ukraine, in dem dieser den Abschuss eines ukrainischen Transportfluges mit Foto und Videoclip mitteilt. Keine halbe Stunde später war der Post gelöscht. In der Zwischenzeit war bekannt geworden, dass an dem Ort ein Passagierflugzeug der Malaysia Airlines mit 298 Personen an Bord abgeschossen worden war. Genau im rechten Moment hatte ein Kopierprogramm im Auftrag des Internet Archive die Website mit dem Beitrag kopiert. Oder die US-amerikanische TV-Moderatorin Joy Reid, die bestritt, jemals homophobe Äusse-

Texte, Fotos, Filme füttern unser kollektives Gedächtnis. Zu diesem zählen auch Websites. 22

rungen gemacht zu haben. Die Wayback Machine brachte längst gelöschte Beiträge in Joy Reids persönlichem Blog ans Licht, die zeigten, dass sie gelogen hatte. Sie zweifelte darauf die Echtheit des Archivmaterials an. Das könne ja nachträglich verändert worden sein. Später liessen Reid und ein von ihr engagierter Experte diesen Verdacht fallen. Lücken im Archiv Ein Schnappschuss alle zwei Monate ist natürlich weit entfernt von einer lückenlosen Dokumentation. Noch löchriger sind die Archivbestände, wenn sie von Websites stammen, deren Inhalte erst durch Suchabfragen des Besuchers erscheinen, also zum Beispiel Online-Shops oder die Klima-Datenbank der amerikanischen Umweltbehörde. Hartwig Thomas ist ein in der Schweiz tätiger Software-Entwickler, der sich zur Internetthematik gerne öffentlich zu Wort meldet und über lange Erfahrung im Bereich der digitalen Archivierung verfügt. Er meint: «Sobald eine Website nicht einfach statisch Inhalte präsentiert, sondern auf die Besucher reagiert, haben es die Crawler schwer.» Crawler heissen die Programme, die selbständig den Inhalt von Websites untersuchen und, wenn sie Archiv-Crawler sind, kopieren und in einem Verzeichnis ablegen. Als Beispiel für Websites, die von Kopierprogrammen nur unvollständig erfasst werden, nennt Thomas die Seiten der Bundesverwaltung oder der Stadt Zürich. «Das Computerprogramm müsste Suchabfragen durchführen, damit es an den Inhalt herankäme, den es archivieren soll.» Auch die Klima-Datenbank der amerikanischen Umweltbehörde gehört in diese Kategorie. Für diesen Fall gibt es Programme, die nicht nur kopieren, was auf einer Website angezeigt wird, sondern auch die Suchabfragen der Besucher festhalten. Das Speichern der Suchabfragen verletzt jedoch die Privatsphäre der Internetnutzer. Sinnvoller wäre es deshalb laut Thomas, Inhalte in dem Moment zu archivieren, in dem sie online gestellt werden. «Die grössten Archivbestände hat wohl sowieso die NSA», vermutet Hernani Marques von der Netzaktivistengruppe Chaos Computer Club Schweiz. Er ist naturgeSurprise 432/18


mäss gegen das Speichern von Nutzerdaten. Gegen das Archivieren und zur Verfügung stellen alter Websites hat Marques hingegen nichts. «Es muss sich aber um Inhalte handeln, die für die Publikation bestimmt waren. Zudem sollten die archivierten Inhalte öffentlich zugänglich sein.» Die Eingreiftruppe Manchmal muss es schnell gehen. Dann, wenn die Schliessung einer Website droht oder ihr Inhalt aus anderen Gründen gefährdet ist. Das ist besonders unerfreulich, wenn es sich um eine Plattform handelt, auf der Nutzer ihre Bilder, Texte oder andere persönliche Werke präsentieren. In solchen Surprise 432/18

Fällen ist weniger das kollektive Gedächtnis in Gefahr als vielmehr die persönliche Erinnerung. Solches zu verhindern hat sich das US-amerikanische «Archive Team» zur Aufgabe gemacht. Dessen Freiwillige verstehen sich als rebellische Eingreiftruppe und retten Daten, ob die Betreiber einer Website dies wünschen oder nicht. So hatte Nintendo vor einigen Jahren ein eigenes soziales Netzwerk namens MiiVerse geschaffen. Dort luden Spieler Bildschirmfotos und selbstgemachte Bilder hoch und tauschten sich aus. Im August 2017 kündete der japanische Spielehersteller an, dass MiiVerse im November geschlossen würde. Das Archive Team und seine Software kopierten

17 Terabytes Daten und setzten eine Archivseite auf, wo die Beiträge weiterhin angeschaut werden können. Ist das wichtig? Für Einzelne bestimmt. Im Fall der statistischen Daten der amerikanischen Umweltbehörde definitiv. Sie wurden letztlich nicht von der EPA-Website entfernt. Sie wurden nur verschoben: dahin, wo man sie nicht mehr so leicht findet. Und für alle Fälle bleiben die Daten ausserhalb der Regierungsserver gespeichert und zugänglich. Weniger bekannte Seiten brauchen da schon mehr Glück, dass sie von einem Crawler besucht werden oder von einem Menschen vor der digitalen Apokalypse bewahrt werden. 23


Erkämpft, etabliert, von der Stadt serviert Videobuch In der interaktiven Publikation «Freiraum in Basel seit 1968» kann

der Geschichte der Um- und Zwischennutzungen im Grossraum Basel anhand zahlreicher Original-Videos eindrucksvoll nachgegangen werden. TEXT JOËLLE JOBIN

Freiräume, Kunsträume, Lebensräume: Sie entstanden in leerstehenden, heute vergessenen Abbruchvillen sowie an Orten, die in die Basler Stadtgeschichte eingingen und deren Name heute für eine bestimmte Ära steht. Die alte Stadtgärtnerei, der Werkraum Schlotterbeck, die Kaserne oder das nt/areal – der ehemalige Güterbahnhof gehörte sogar zu den grössten Zwischennutzungen Europas. «Freiräume reissen ein Loch in das organisierte Netz einer Stadt», sagt der Basler Kurator und Historiker Benedikt Wyss, Initiator und Mitherausgeber des Buches «Freiraum in Basel seit 1968». In einem Freiraum, der für jeden offen und zugänglich ist, könne vieles wachsen – die Natur und die Kultur. «Hier entsteht, was unter den Logiken des Marktes nicht gedeihen könnte», so Wyss. Der erste Freiraum, den er selbst bewusst erlebt hat, war die Schreinerei in Münchenstein. Ein leerstehender Ort, der besetzt wurde und den zuerst nicht die Öffentlichkeit, sondern ein grösserer Freundeskreis nutzte. Die Unsicherheit, ob jemand kommt und einen rauswirft, ist für Freiräume, vor allem auch politisch besetzte, prägend. Der Gedanke, sich in Städten Freiraum zu erobern, entstand in den Sechzigerjahren. Zeitgleich kamen trag24

bare Videokameras auf den Markt, die für Privatleute technisch bedienbar und finanziell erschwinglich waren. So war es für Wyss naheliegend, das Thema Freiraum anhand von Videos zu erkunden und die Archive von SRF, Lokalsendern oder auch der Kantonspolizei, die Videos von Demos zu Schulungszwecken anfertigte, zu durchforsten. Hinzu kamen zahlreiche Aufnahmen von Privaten. Technisch raffiniert Das Projektteam sichtete Hunderte von Stunden Bewegtbild-Material, um eine Auswahl zu treffen. Entstanden ist ein eindrücklicher interaktiver Reiseführer, der umfassende Einblicke in die erkämpften, sich verwandelnden, wieder verlorenen oder etablierten Freiräume von Stadt und Region gibt. Die im Buch abgedruckten Videostills können mit einer zugehörigen App gescannt werden, um die über 70 Videodokumente von 1968 bis heute auf dem Handy anzuschauen. Eine technische Raffinesse, die Wyss in einem Kunstbuch des Grafikers Philippe Karrer entdeckte und für diese Publikation adaptierte. Ausgangspunkt bildet das geschichtsträchtige Jahr 1968. Das Bedürfnis nach politischen und künstlerischen Freiräu-

men war damals auch in Basel gross. Die Freigeister, die aktiv nach Räumen suchten, die sie gestalten können, wurden jedoch nicht gern als Mietende angenommen – Gebäude und Areale mussten besetzt werden, so etwa das Autonome Jugendzentrum (AJZ) am Claragraben. Auch die Vorherrschaft des motorisierten Verkehrs und die Dominanz von Parkhäusern und Autostrassen im Stadtbild stiessen auf Unmut. Im Kleinbasel entstand daher auf Initiative der Anwohner im Jahr 1977 die erste Wohnstrasse. Fussgängerinnen und Fussgänger hatten auf der Bärenfelserstrasse plötzlich Vortritt, Autos fuhren Schritttempo. Der Lärm spielender Kinder als Alternative zum Autolärm sei aber auch auf Ablehnung gestossen, erinnert sich ein Anwohner anlässlich des Festes zum 40-jährigen Bestehen der Strasse im letzten Jahr. Im Buch finden sich auch Trouvaillen wie das Zitat von Bundespräsident Hans Hürlimann, der 1979 den Kulturschaffenden gratulierte, die das alte Postgebäude in Liestal, das Palazzo, gemietet hatten: «Die von Ihnen so initiativ in die Wege geleitete Neubelebung eines ehrwürdigen und erhaltenswerten Gebäudes erscheint mir vorbildlich und beachtenswert.» Surprise 432/18

BILD(1): CREATIVE COMMONS, BILD(2): LUKAS GLOOR, BILD(3): CLAUDE GAÇON UND STEFAN SCHWIETERT/SRG

Filmstills aus dem Buch: Die Basler AJZ-Jugend mit Hommagen an die Berliner Kommune 1 (links) und an die italienischen «Indiani metropolitani» (unten). An der Elsässerstrasse wehrt man sich gegen die Gentrifizierung (ganz links).


Das Jahr 1988 ist für Basel eine wichtige Chiffre und unweigerlich verknüpft mit der Räumung des besetzten Kulturareals Alte Stadtgärtnerei, eines der letzten Beispiele für eine breit wahrgenommene und unterstützte Freiraumerkämpfung «von unten». Nur wenig später setzte eine Transformation im Alternativmilieu ein, und ehemalige Industrie- und Gewerbeareale wurden ab den Neunzigern legal für Um- oder Zwischennutzungen vermietet. Sie sind, wie etwa die Kulturwerkstatt Kaserne oder der Werkraum Warteck pp, spätestens seit Beginn der Jahrtausendwende fester Bestandteil des etablierten Kulturund Nachtlebens. Heute wird der Freiraum von der Stadt bewusst zur Zwischennutzung ausgeschrieben. Das Beispiel des Klybeck-Areals am Hafen zeigt, dass Zwischennutzungen zum Planungsinstrument und Standortfaktor geworden sind. «Wenn die Stadt Räume explizit zur Verfügung stellt, werden Nutzungen in der Aussenwahrnehmung natürlich ihres kritischen und revolutionären Moments beraubt», so Wyss. Nicht zuletzt lässt sich das Gespenst der

Gentrifizierung, das der Markt- und Verwertungslogik folgend durch die Städte trollt, oftmals genau dort nieder, wo urbane Freiräume einst erkämpft wurden. Hier, wo sich Künstlerinnen und Aktivisten ansiedelten und ein bestimmtes Flair durch die Gassen, Industriebauten oder über die Brachfläche weht, verwandeln sich improvisierte Begegnungsorte mit der Zeit zu etablierten Spots – spätestens dann sind die Investoren angelockt und der Freiraum ist bedroht. Entdeckungsreise im Buch Ob ein Raum tatsächlich frei ist, hält Wyss ohnehin für eine sehr persönliche Frage. Denn: «Den einzigen Freiraum finden wir in uns selbst», sagt er. Als freischaffender Kurator, der an keine Institution, sprich keinen geografischen Raum gebunden ist, hat sich Wyss in den letzten Jahren mit flüchtigen Freiraumnutzungen einen Namen gemacht: «Es fasziniert mich, unbekannte Orte und Situationen zu betreten, zu entdecken und zu schauen, was entsteht. An diesen Orten führe ich Leute über Kunst zusammen, und es kommt zur ge-

meinsamen Entdeckungsreise.» Auf eine spannende Entdeckungsreise kann man sich auch im Buch machen. Neben den zahlreichen Videodokumenten wurden fünf Gesprächsrunden initiiert, in denen verschiedene Generationen von Freiraum-Nutzerinnen und -Nutzern aufeinandertreffen. Filmemacher Gregor Brändli hat die Gespräche mit einer 360-Grad-Kamera gefilmt, die es der Zuschauerin ermöglicht, den Blickwinkel der Kamera beim Betrachten des Videos selbst zu wählen – man kann so beispielsweise vom Wortführer wegscrollen und die anderen Zuhörenden in der Runde betrachten. Auch eine Art Freiraum.

BILD: ZVG

Freiraum in Basel seit 1968 — Menschen und Orte in Bewegung, Claudio Miozzari, Dominique Rudin, Benedikt Wyss (Hg.) Christoph Merian Verlag, CHF 29.00 Mit der kostenlosen App «68-88-18» werden Filmstills aus dem Buch als Video direkt auf das Smartphone gestreamt.

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Surprise wird 20 Jahre alt und hat seit Mitte Juli ein neues Zuhause mitten in Basel. Das feiern wir mit einem Tag der offenen Tür, der ab 9.30 Uhr in und vor unserem neuen Daheim am Rümelinsplatz stattfindet. Gerne stellen Ihnen unsere Verkaufenden, Stadtführerinnen und Chorsänger ihre Arbeit vor und zeigen, was sie können. Von 15 bis 15.30 Uhr tritt der Surprise Strassenchor auf, ab 15.30 Uhr lesen wir eine Stunde lang Surprise-Texte vor, und in den Abend begleitet uns das Acoustic Jazz Trio. Dazu GG gibt es Speis und Trank. Feiern Sie mit uns! an die sie geraten, auf die sie stossen und wegen denen sie fallen und stürzen. Auftreten und zu Wort kommen werden auch die «Gestürzten» unserer Zeit, darunter Stadtführerinnen und Stadtführer von Surprise. GG

Basel «Glaube Liebe Hoffnung», frei nach dem gleichnamigen Stück von Ödön von Horvath, Theatergruppe Das Hellraumprojekt, Fr und Sa, 24. und 25. August, Di bis Do, 28. bis 30. August, jeweils 19.30 Uhr, Walzwerk, Tramstrasse 66, 4142 Münchenstein. Die freie Basler Theatergruppe Das Hellraumprojekt bringt das Stück «Glaube Liebe Hoffnung – ein Totentanz in fünf Bildern» von Ödön von Horvath auf die Bühne. Der Autor legt darin den Blick frei auf eine entsolidarisierte Welt. Und er schildert, wie leicht es ist, in ihr durch sämtliche Maschen zu fallen. Der Stoff ist so aktuell wie zu Horvaths Zeit, zeigt er doch die Auswirkungen von Macht, Obrigkeitsgläubigkeit, Egoismus und «der Logik des Geldes» auf den einzelnen Menschen. Die Schauspielerinnen und Schauspieler treten in präparierten und ausstaffierten Kleiderschränken auf, welche die Enge und die Schranken aufzeigen,

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Thun «Thun Thun Thun», Klangspaziergang von Julian Sartorius, Startschuss Mi, 5. September, 18.15 Uhr, Kunstmuseum Thun; im Rahmen der Ausstellung zum 70-Jahr-Jubiläum, bis So, 18. November, Di bis So 10 bis 17 Uhr, Mi 10 bis 19 Uhr; freier Eintritt jeden ersten Samstag im Monat, Kunstmuseum Thun, Thunerhof, Hofstettenstrasse 14. kunstmuseumthun.ch Eine Stadt klingt – und sie hört sich ganz spezifisch an, jede auf ihre eigene Weise. Das macht der international bekannte Thuner Musiker und Klangkünstler Julian Sartorius erfahrbar: Zum 70-JahrJubiläum des Kunstmuseums Thun hat er einen akustischen Rundgang entwickelt. In seinem Klangwerk mit dem Titel «Thun Thun Thun» greift Sartorius die Verbindung des Museums mit dem Ort auf. Über den Frühling hinweg hat der Musiker die Innenstadt nach Klängen abgesucht, wobei ihn besonders die unterschiedlichen Materialien und deren Beschaffenheit interessierten, die bei blosser Betrachtung

Juergen Teller ist der Mann, der Charlotte Rampling nackt ins Museum stellt und Kim Kardashian einen Erdhügel raufkraxeln lässt und damit ihren Hintern noch ein bisschen extremer in Szene setzt, als man sich das überhaupt noch vorstellen konnte. Kurz: Teller macht so schräge Mode- und Peoplefotografie, dass sie im Museum landet, und lässt Glitter und Glamour so trashig aussehen, dass schon wieder etwas authentisch Hippes dabei rauskommt. Er macht Stars zu Individuen, denn der schüchterne Fotograf, der wilde Bilder macht, findet: «Was mich letztlich einzig und allein interessiert, ist die Interaktion zwischen zwei Menschen. Einer von denen bin ich, der Fotograf. Und wenn mich diese Begegnungen berühren, dann ist es gut.» Der 1964 geborene Teller studierte an der Bayrischen Staatslehranstalt für Photographie in München und zog 1986 nach London, wo er für Modeund Musikmagazine fotografierte. Bekannt wurde er 1991, als er die Band Nirvana begleitete und seine Fotos von Kurt Cobain veröffentlicht wurden. DIF

Winterthur «Juergen Teller – Enjoy your Life!», bis So, 7. Oktober, Di bis So 11 bis 18 Uhr, Mi 11 bis 20 Uhr, Fotomuseum Winterthur, Grüzenstrasse 44 + 45. fotomuseum.ch ANZEIGEN

Nach

LES FEMMES DU 6e ÉTAGE und MOLIÈRE À BICYCLETTE

FRANÇOIS CLUZET

TOBY JONES

FRANÇOIS-XAVIER DEMAISON

EiN FILM von

PHILIPPE LE GUAY

PHOTOS : SÉVERINE BRIGEOT. IMPRESSION SONIS RC EVRY 302 607 502

Basel Einweihungsparty Surprise, Sa, 1. September, ab 9.30 Uhr, Münzgasse 16. surprise.ngo

© 2017 - LES FILMS DES TOURNELLES – SND – FRANCE 2 CINÉMA – ACAJOU PRODUCTIONS – MANDARIN CRÉATION GRAPHIQUE : © 2017, SND, TOUS DROITS RÉSERVÉS.

Feiern Sie mit uns!

meist unerkannt bleiben. Ein jeweils drei Minuten langer Track lädt zum Innehalten ein. Der Weg führt an zehn Orte und ist Teil der Jubiläumsausstellung, die Beziehungsnetzwerke, Verflechtungen sowie Freundschaften rund um das Kunstmuseum Thun und seine Sammlung aufgreift: Das Kunstmuseum ist eine Art visuelles Gedächtnis der Region. In Bild – und DIF nun auch in Ton.

«Eine Komödie mit sozialkritischem Hintergrund in der Tradition von ‹The Full Monty›.» 20 minutes

Arthur Dupont

Grégory Gadebois

Vincent Regan

Philippe Rebbot

Patrick d’Assumçao

Julie-Anne Roth

Ab 30. August im Kino Surprise 432/18

BILD (1): FRANZISKA WÜSTEN, BILD (2): © 2018 JUERGEN TELLER

Veranstaltungen


ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT

Agglo-Blues

Folge 15

Der Buchhalter Was bisher geschah: Im Hinterzimmer eines Bordells trifft Vera Brandstetter, die die Ermittlungen im Fall eines ermordeten, biederen Ingenieurs leitet, auf eine Pokerrunde. Das Opfer hatte jeden Donnerstag an ihr teilgenommen und viel Geld gewonnen. «Der Buchhalter? Umgebracht?» Der dicke Junge fand als Erster die Sprache wieder. «Wir haben uns schon gefragt, warum er heute nicht da ist.» Das war der Rock’n’Roller. «Er kommt sonst jeden Donnerstag», sagte das Lacoste-Shirt. «Wir haben bei ihm über 20 000 Franken gefunden, die er hier gewonnen hat. Ihr braucht mir also nicht vorzumachen, dass ihr ihn vermisst», versuchte es Brandstetter. «Verdammt gut war er, das stimmt schon», gab der Maler zu. «Er hat sehr systematisch gespielt, analytisch. Darum nannten wir ihn den Buchhalter», erklärte der mit dem Lacoste-Shirt. «Wem hat er am meisten abgenommen?», fragte Brandstetter. «Er hat nicht spektakulär gewonnen, sondern stetig, immer ein bisschen. Das hier ist eine Cash-Runde, kein Turnier. Wir sind alles geübte Spieler. Grosse Pots sind eher die Ausnahme.» «Ausser, wenn ein Gast oder ein Anfänger dabei ist. Die wollen zeigen, dass sie Eier haben, und bluffen sich ins Elend», grinste der Maler. «Der Buchhalter war eiskalt, fast wie ein Computer. Sie haben schon recht, ich vermisse ihn nicht. Also rein als Mitspieler.» Der dicke Bub hob die Hände. «Und als Mensch?», fragte Brandstetter. «Ich bin mir nicht sicher, ob er einer war.» Mister Rock’n’Roll musste über seinen Witz lachen. «Es war mir nie ganz klar, warum er überhaupt herkam. Er war für mich eigentlich der typische Online-Spieler.» «Wahrscheinlich genoss er es einfach, dem Gegner direkt ins Auge zu schauen und seine Überlegenheit zu spüren. Er war schon irgendwie arrogant», sagte der dicke Bub. «Seien wir ehrlich, er war kein angenehmer Typ, hat nie etwas getrunken oder ist mal noch länger geblieben. Punkt halb zwölf ist er ausgestiegen und heimgegangen.» Die Stimme des Lacoste-Shirts klang verächtlich. «Er war ein Arschloch, aber deswegen wird man nicht umgebracht. Sonst wäre die Erde wüst und leer.» Wieder lachte der Rock’n’Roller, der sich wohl für einen grossen Zyniker hielt. Surprise 432/18

Brandstetter fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Die heisse Spur, die sie hierher geführt hatte, war erkaltet. Diese Männer waren keine gefährlichen Unterweltstypen, sondern Durchschnittsbürger mit einem etwas anrüchigen Hobby, Freizeit-Outlaws, wie so viele. «Was habt ihr hier für einen Deal mit Jackie?», fragte sie. «Wir zahlen einen Monatsbeitrag und er verkauft uns die Chips mit Aufpreis.» «Und wir bekommen Rabatt fürs F …», begann der Dicke. «Halt’s Maul», unterbrach ihn das Lacoste T-Shirt. «Ich werde Sie alle auf den Posten bitten müssen, um Ihre Aussagen aufzunehmen.» Ein Stöhnen ging durch die Runde. «Aber nicht am Morgen früh, ich stehe erst um halb elf auf», meckerte der Rock’n’Roller. «Extra in die Stadt fahren ... können wir das nicht hier machen?», maulte der Bub. «Die Teilnahme an solchen Runden ist nicht verboten», dozierte Lacoste. «Nur die Organisation ist strafbar. Halten Sie sich an Jackie.» «Ich arbeite auf einer Bank, es wäre mir lieber, die würden das nicht erfahren», murrte der Maler, der also Banker war. Brandstetter wollte sie nicht wirklich vorladen, sie hatte nur die Reaktion der Männer sehen wollen. Ausser dem Banker hatte keiner Angst davor, dass seine Teilnahme an einer illegalen Pokerrunde bekannt würde – und selbst der Bankangestellte schien nicht allzu besorgt. Sie war fast hundertprozentig sicher, dass der Mörder nicht in diesem Raum sass. «Warum haben Sie versucht zu fliehen, wenn hier alles seine Ordnung hat?» «Jackie hat angerufen und gesagt, wir sollen sofort verschwinden.» Nachdem sie die Personalien aller Anwesenden aufgenommen hatte, drohte sie noch einmal mit dem Posten und liess die Männer dann laufen. «Können wir unsere Chips noch einlösen?», fragte der Banker. «Heute nicht mehr. Verschwinden Sie und suchen Sie sich ein anderes Hobby. Hier wird nicht mehr gezockt. Verstanden?» Die Männer zogen ihre Jacken an und verliessen das Zimmer durch den Notausgang. Plötzlich fiel Brandstetter etwas ein. Sie öffnete die Tür zum Salon und grinste. Sie hatte sich richtig erinnert. STEPHAN PÖRTNER schreibt Romane und Theaterstücke. Wer eine oder mehrere Folgen seines Krimis «Agglo-Blues» verpasst hat, kann sie auf unserer Webseite nachlesen und auch hören: www.surprise.ngo/krimi

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten 01

Hervorragend AG, Bern

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Praxis Colibri, Murten

03

Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

04

SBB Angebotsgestaltung Langstrasse, Zürich

05

Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

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Anyweb AG, Zürich

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Leadership LP3 AG, Biel

08

Echtzeit Verlag, Basel

09

Maya-Recordings, Oberstammheim

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Gemeinnütziger Frauenverein, Nidau

11

Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Madlen Blösch, GELD & SO, Basel

13

Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

14

Lotte’s Fussstube, Winterthur

15

Cantienica AG, Zürich

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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

17

Brother (Schweiz) AG, Dättwil

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Coop Genossenschaft, Basel

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Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

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Proitera betriebliche Sozialberatung, Basel

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Praxis PD Dr. med. Uwe Ebeling, Bern

23

VXL gestaltung und werbung AG, Binningen

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Burckhardt & Partner AG, Basel

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Schluep & Degen Rechtsanwälte, Bern

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

Ricardo Da Costa verliess 2003 GuineaBissau, wo seine Familie immer noch lebt. Der Mechaniker arbeitete zuerst als Bauarbeiter in Portugal und Italien. 2013 kam er in die Schweiz. Wenige Tage nach seiner Ankunft wurden ihm alle Wertsachen gestohlen und er stand er ohne Papiere da. Auf der Gasse lernte er einen Strassenmagazin-Verkäufer kennen und verkauft seither auch. «Ich bin froh, bei Surprise zu sein», erzählt Ricardo. «Manchmal komme ich traurig ins Büro und gehe mit einem Lächeln auf dem Gesicht wieder raus.» SurPlus ist für ihn eine grosse Unterstützung: Das ÖV-Abo ermöglicht Mobilität beim Heftverkauf und bei Schwierigkeiten stehen ihm die Mitarbeitenden mit Rat und Tat bei.

Weitere SurPlus-Geschichten lesen sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 14 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise Sozialer Stadtrundgang

«Viel Stärke»

«Humorvoll»

Der Rundgang mit Dani Stutz war für mich sehr interessant. Er zeigt, wie schnell man von Drogen abhängig werden kann und wie lange es braucht, um davon wegzukommen. Herr Stutz hat eine Menge aus seinem Leben erzählt. Dies jede Woche vor Unbekannten zu machen, braucht viel Stärke, und das finde ich bewundernswert. Dieser Rundgang könnte viele Jugendliche davon abhalten, Drogen zu nehmen.

Bei unserem diesjährigen Personalausflug durfte ich bei Tour 1 mitlaufen, geführt von Heiko Schmitz. Ich war sehr gerührt von seiner Geschichte und finde es sehr gross von ihm, dass er uns diese anvertraut hat. Man konnte Fragen stellen und er hat sie mit Geduld beantwortet. Die Art, wie er die Tour durchgeführt hat, war genau richtig: ernst, aufrichtig und doch humorvoll. Diese Tour durch Basel hat mir die Augen geöffnet, und ich werde sie auf jeden Fall weiterempfehlen.

D. PITOULI, Schüler Biptech, Oerlikon

A . BORGHET TI, Stiftung Pro Juventute, Zürich

#427: Vermintes Land

«Nicht verkaufsfördernd»

«Unverzichtbar»

Meiner Meinung nach ist das Titelblatt der Ausgabe weit verfehlt. Solche Bilder tragen nicht zur Verkaufsförderung des Surprise und damit zur Existenz der Verkäuferinnen und Verkäufer bei. Ein solches Heft anzubieten, fällt sicher nicht leicht. Mit Positivem bewegt man viel mehr.

Ich bin stets beeindruckt, wie sich das Magazin, das Projekt und die Menschen dahinter entwickeln und bewegen – finde das ganze Projekt unverzichtbar und dachte immer wieder daran, meinen Komplimenten Ausdruck zu verleihen – heute tue ich es. Die aktuelle Ausgabe ist aus meiner Sicht absolut grandios. Die beiden Hauptthemen Bosnien und auch das ältere Paar sind berührend, packend geschrieben und eigentlich wert, dass es viele Menschen mehr lesen.

P. FLÜCKIGER, Stetten

M. SOKOLL, Lenzburg

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Georg Gindely (gg) Diana Frei (dif), Sara Winter Sayilir (win) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

Surprise 432/18

Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Khusraw Mostafanejad, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Christina Baeriswyl, Ranya Forgotson, Joëlle Jobin, Yvonne Kunz, Birgit Lang, Stefan Michel, Myrto Papadoupoulos Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name

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Rechnungsadresse: Vorname, Name

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Druck AVD Goldach PLZ, Ort

Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage 23 100 Abonnemente CHF 189, 25 Ex./Jahr

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Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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FOTO: RANYA FORGOTSON

Internationales Verkäuferinnen-Porträt

«Ich werde nicht als traurige Frau sterben» «Ich wurde in Texarcana, Arkansas, geboren. Mein Vater war Bauarbeiter, meine Mutter Hausfrau, wir waren arm. Die Eltern wollten nicht, dass meine Brüder und ich das zu spüren bekamen, aber uns war klar, dass wir uns vieles nicht leisten konnten. Wenn mich mein Vater zum Einkaufen in den Laden mitnahm, war das für mich etwas ganz Besonderes. Er kaufte mir dann immer Schokolade. Die Schule hasste ich. Ich war dünn, trug altmodische Kleider und hatte kaputte Zähne, weil mein Bruder auf ein Glas geschlagen hatte, als ich daraus trank. Wir haben sie nie repariert, weil wir kein Geld dafür hatten. Ich war bis heute nie bei einem Zahnarzt. Nach der High School begann ich einem Büro zu arbeiten und bekam meinen Sohn Chad, von dessen Vater ich mich aber schnell wieder trennte. Kurz darauf lernte ich einen Freund meines älteren Bruders kennen. Er war charmant und witzig, und wir heirateten. Bald zeigte er ein anderes Gesicht. Eines Abends kam er heim und schmiss die Pfanne mit dem Abendessen durchs Wohnzimmer. Er schrie: «Solches Essen will ich nicht in meinem Haus haben!» Ich hatte Bohnen mit Speck gekocht, ein Arme-Leute-Gericht. Er packte mich an den Haaren und zwang mich, alles aufzuputzen. Die Misshandlungen wurden immer schlimmer. Er erlaubte mir nicht, Schokolade im Haus zu haben. Als sein Vater starb, brachte jemand Schokoladenkuchen vorbei, den ich ass. Mein Mann prügelte mich ins Badezimmer und drückte mein Gesicht in die WC-Schüssel. Wenn er zur Arbeit ging, nahm er das Telefon mit, damit ich mit niemandem sprechen konnte. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus und verliess ihn. Ich war 22.

Rhonda, 59, verkauft das Strassenmagazin The Curbside Chronicle in Oklahoma City. Sie verliess ihren zweiten Mann, der sie immer wieder misshandelte, und landete auf der Strasse.

Kurze Zeit später begann ich eine Brieffreundschaft mit einem Bekannten meiner besten Freundin, die nach Oklahoma City gezogen war. Zuerst schrieben wir uns hin und her, dann begannen wir täglich zu telefonieren. Nach einem Jahr fragte er mich, ob ich zu ihm kommen wollte. Ich packte Chad und fuhr los. Auf der Busfahrt war ich so nervös, dass ich nicht sprechen konnte. Als ich ausstieg, erwartete uns mein Brieffreund und gab uns Geschenke. Es war, als würden wir uns schon ewig kennen. Ich sagte zu ihm: «Wenn wir jetzt nicht gleich heiraten, dann werden wir kein Paar.» Wir sind direkt ins Rathaus spaziert. Wir hatten kein einziges Date vorher und blieben 30 Jahre lang verheiratet.

Zuerst musste ich genug Geld sparen, um mir ein Zimmer in einem Motel leisten zu können. Das kostet 60 Dollar pro Nacht, viel Geld. Um es zusammenzukriegen, begann ich zu betteln. Ich hasste es und dachte: Wie komme ich da je wieder raus? Nach zwei Jahren entschied ich, den Curbside Chronicle zu verkaufen, das Strassenmagazin von Oklahoma City. Das gab mir meine Würde zurück. Heute kann ich mit hocherhobenem Kopf durch die Strassen gehen. Es gibt zwar immer noch Leute, die sagen: «Such dir eine Arbeit», aber das ist okay. Sie verstehen einfach nicht, dass ich eine Arbeit habe. Dank der Vermittlung des Strassenmagazins habe ich auch eine Wohnung. Manchmal kann ich es fast nicht glauben. Ich bin jetzt 59 und noch lange nicht zu alt für ein besseres Leben. Ich werde nicht als einsame, traurige und misshandelte Frau sterben.»

Gerne würde ich nun erzählen, wie glücklich die Ehe war. Aber das war sie nicht. Nach einigen Monaten begann mein Mann mich fertigzumachen. Er wusste genau, was er sagen und tun musste, um mich tief zu verletzen. Ich sagte so oft: «Hör auf!», aber er hörte nicht auf. Eines Abends würgte er mich. Ich dachte, ich sterbe. Da begann ich zu Gott zu beten und gelobte: Wenn 30

du mich das überleben lässt, verlasse ich ihn. Als mein Mann in dieser Nacht schlief, packte ich meinen Rucksack und ging. So wurde ich obdachlos. Mit 56.

Von R ANYA FORGOTSON Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von THE CURBSIDE CHRONICLE, OKL AHOMA CIT Y Übersetzt und bearbeitet von GEORG GINDELY

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Kultur

Solidaritätsgeste

STRASSENCHOR

CAFÉ SURPRISE

Lebensfreude

Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

Unterstützung

Job

STRASSENMAGAZIN Information

Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten

STRASSENFUSSBALL

Erlebnis

Expertenrolle

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE Perspektivenwechsel

SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Helfen tut gut. Zeit, zuzuhören. Zeit, abzuwarten. Zeit für Rückschläge. Zeit, zu helfen. All das gibt es in der Sozialberatung und -begleitung, die Surprise an seinen drei Standorten in Basel, Bern und Zürich anbietet. Die Verkaufenden des Strassenmagazins sowie die Stadtführer, die Strassenfussballer und die Chorsängerinnen erhalten hier nicht nur ihre Hefte, gratis Kaffee oder Internetzugang, sondern wenden sich mit ihren Sorgen und Fragen an die Surprise-Mitarbeitenden.

Ob bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, bei Schulden, beim Umgang mit Behörden und administrativer Korrespondenz, bei familiären Krisen oder Suchtproblemen – für rund 400 armutsbetroffene Menschen ist diese umfassende und niederschwellige Begleitung eine unentbehrliche Stütze im Alltag. Surprise hilft individuell und niederschwellig. Spenden Sie heute. Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden Surprise 423/18

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Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren. BETEILIGTE CAFÉS IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstrasse 18 | Bäckerei KULT «Elsi», Elsässerstrasse 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Café Bohemia, Dornacherstr. 255 Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 | Kiosk Amann, Claragraben 101 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Badischer Bahnhof | Restaurant Manger et Boire, Gerbergasse 81 | Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4-Markt Baselstrasse, Baselstr. 66 | Restaurant Quai4, Alpenquai 4 | Quai4-Markt Alpenquai, Alpenquai 4 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 Sommerbar Volière, Inseli Park IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN BERN Café Kairo, Dammweg 43 | Café Marta, Kramgasse 8 | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa Lorraineladen, Lorrainestr. 23 | Luna Llena Gelateria Restaurant Bar, Scheibenstr. 39 | Restaurant Genossenschaft Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Restaurant Löscher, Viktoriastr. 70 | Restaurant Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestrasse 20 IN BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestrasse 47

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise


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