Surprise Nr. 474

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Strassenmagazin Nr. 474 30. April bis 14. Mai 2020

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass

CoronaKrise Gratis lesen – solidarisch spenden

Strasse

Aussen vor

Menschen ohne Bleibe, Abhängige und Sexarbeiterinnen sind von Corona besonders betroffen. Eine Reportage von der Strasse. Seite 8


BETEILIGTE CAFÉS

Die Corona-Krise trifft die Kleinen hart. Zeigen Sie Solidarität mit den Café Surprise.

IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstrasse 18 | Bäckerei KULT «Elsi», Elsässerstrasse 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Café Bohemia, Dornacherstr. 255 | Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 | Kiosk Amann, Claragraben 101 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Badischer Bahnhof | Rest. Manger & Boire, Gerbergasse 81 | Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 | Café Spalentor, Missionstrasse 1 | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | Treffpunkt Breite, Zürcherstrasse 149 IN LENZBURG feines Kleines, Rathausgasse 18 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4-Markt Baselstrasse, Baselstr. 66 | Restaurant Quai4, Alpenquai 4 | Quai4-Markt Alpenquai, Alpenquai 4 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbad Volière, Inseli Park | Restaurant Brünig, Industriestrasse 3 | Arlecchino, Habsburgerstrasse 23 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN BERN Café Kairo, Dammweg 43 | Café MARTA, Kramgasse 8 | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa Lorraineladen, Lorrainestr. 23 | Luna Llena Gelateria Rest. Bar, Scheibenstr. 39 | Rest. Genossenschaft Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Rest. Löscher, Viktoriastr. 70 | Rest. Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestrasse 20 | Becanto GmbH, Bethlehemstrasse 183 | Phil’s Coffee to go, Standstrasse 34 IN BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Quartiertreff Enge, Gablerstrasse 20 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 | Kafi Freud, Schaffhauserstrasse 118 | Kumo6, Bucheggplatz 4a | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistrasse 76 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestrasse 47 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11 IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique & café, Bernstrasse 2 IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstrasse 3a

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise

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Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Expertenrolle Expertenrolle

SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Erlebnis Erlebnis


TITELBILD: KLAUS PETRUS

Editorial

Ausgeschlossen Surprise schaut das ganze Jahr über an die Ränder der Gesellschaft – dorthin, wo es oft dunkel und düster ist und wo es wehtut. Doch gerade jetzt ist dieser Blick so wichtig. Man sagt, ­Corona kann uns alle treffen. Das stimmt, nur: Manche trifft es besonders hart. Vielleicht nicht so sehr das Virus selbst, sondern eher die Massnahmen des Bundes. Wir sollen zuhause bleiben, heisst es. Doch wenn man kein Zuhause hat, was dann? Auch sollen wir Distanz wahren. Was aber, wenn man auf Orte angewiesen ist, wo Leute auf engem Raum zusammenkommen: Notschlaf­stellen, Wohnheime, Gassenküchen, Kneipen, das Auto eines Freiers? Man bleibt aussen vor, ist ausgeschlossen. Da kommen einem die eigenen Sorgen plötzlich klein und nichtig vor. Uns fehlt der Coiffeur, der Ausgang, der Fussball, ein feines Glas Rotwein in der Lieblingsbeiz.

zurückgeworfen, einige kämpfen sogar um ihre Existenz. Wir denken darüber nach, was uns wichtig ist, ob uns die Arbeit erfüllt, wie viel uns an Freundschaften liegt, an unserem Planeten und wie viel am lieben Geld. Corona hat uns entschleunigt – vielleicht macht uns dieser Ausnahmezustand auch weicher und grosszügiger. Von Solidarität ist derzeit jedenfalls viel die Rede, gerade auch mit jenen am Rande der Gesellschaft. Es gibt Gabenzäune in vielen Städten, man spendet an Sozialwerke, man kümmert sich. Das ist nicht selbstverständlich – auch weil es nicht jeden Tag passiert. Wird es dieses Mal anhalten? Oder wie Thömu, 38, obdachlos und seit zwanzig Jahren süchtig, mich fragte: «Werdet ihr noch an uns denken, wenn alles wieder normal ist?»

Doch ist es wirklich so schwarz-weiss? Auch viele von uns – aus der Mitte der Gesellschaft, wie man so sagt – sind derzeit auf Grundsätzliches

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

Ein Sieg fürs Klima 6 Moumouni …

... geht in die Geschichte ein 7 Die Sozialzahl

Die AHV und die Finanzmärkte

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8 Strasse

Ausgeschlossen in Zeiten der Corona 14 Haftbedingungen

Leiden statt zahlen 18 Arbeit

Wie wichtig ist uns die Arbeit?

KL AUS PETRUS

Redaktor

24 Filmstreaming

28 SurPlus

26 Veranstaltungen

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

Arthouse vom Sofa aus Positive Firmen

27 Tour de Suisse

Pörtner am Bahnhof Stadelhofen, Zürich

30 Surprise-Porträt

«Ich stehe ganz am Anfang»

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Aufgelesen

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

BILDER (1+2): DEREK GUNDY, BILD (2): JON WILLIAMS

Bilder gegen Vorurteile Seit 2012 haben verschiedene Künstler Porträts von Obdachlosen in Seattle gemalt. Jetzt wurden die Werke zusammengetragen und in einer Ausstellung unter dem Motto «Hier sind sie willkommen» gezeigt. Die Gemälde sind so vielfältig wie die Menschen und wollen festgefahrene Bilder und Vorurteile über Armut, Ausgrenzung und Obdachlosigkeit infrage stellen.

REAL CHANGE, SEAT TLE

BILD: WIKIMEDIA COMMONS

Auf Distanz halten Soziale Distanz wahren, Schutzmasken tragen – das werden wir noch lange mit der Corona-Pandemie ­verknüpfen. Neu sind diese Strategien, Grenzen zu ziehen, keineswegs. Und schon immer haben Kleidungsstücke dabei eine wichtige Rolle gespielt. Während der Beulenpest trugen die Ärzte spitze, vogelartige Masken und die Menschen, die daran erkrankt waren, ein Hemd mit einem Herzen darauf. Auch dem Reifrock – in Mode im 19. Jahrhundert – sagt man nach, er habe wegen seines grossen Durchmessers dazu bei­ getragen, dass sich Pocken und Cholera weniger rasch ausbreiteten. Die ursprüngliche Funktion des opulenten Rockes war freilich eine andere: Er sollte den Frauen die Freier und Spanner vom Leibe halten.

THE BIG ISSUE, LONDON

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Im Hotel schlafen

Das Hamburger Strassenmagazin Hinz&Kunzt holt zusammen mit Organisationen wie Caritas, Diakonie und Alimaus immer mehr ­Menschen von der Strasse und bringt sie in Hotels unter. Dort können sie in Ein­zelzimmern übernachten und so die Weisungen des Social Distancing einhalten. Doch nicht allen passt das. Die Hamburger ­Sozialhilfe hat offenbar Vorbehalte, dass die in Hotels untergebrachten ­Obdachlosen ausreichend betreut werden. Bei der Caritas stossen ­solche Aussagen auf Unverständnis: «Es kann keine Rede davon sein, dass diese Menschen nicht beraten oder gar begleitet werden», sagt ­Julien Thiele, Strassensozialarbeiter der Caritas. «Alle obdachlosen ­Menschen, die in einem Hotel unter­ gebracht werden, sind einem ­Strassensozialarbeiter zugeordnet.» HINZ & KUNZT, HAMBURG

Gutscheine und Jugendherberge

In Dänemark sind die Coronavirus-­ Fälle im Vergleich zu anderen europäischen Ländern noch relativ niedrig. Trotzdem sind die Verkaufenden der Strassenzeitung Hus Forbi betroffen, denn die Menschen gehen deutlich auf Distanz zu ihnen. Nun hat die dänische Sozialministerin öffentlich gesagt, es sei nicht ­gefährlich, Strassenmagazine zu kaufen, vorausgesetzt, man halte sich an die Vorsichtsmassnahmen. Zudem konnte Hus Forbi dank einer ­Spendensammlung Gutscheine für Supermärkte und Medikamente kostenlos an Bedürftige verteilen sowie Obdachlose in Jugendher­ bergen unterbringen. In Dänemark leben obdachlose und sozial aus­ gegrenzte Menschen übrigens im Schnitt neunzehn Jahre weniger lang als andere Bürger.

HUS FORBI, VANLØSE

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Vor Gericht

Ein Sieg fürs Klima Leere Autobahnen, gedrosselte Kraftwerke, geparkte Flugzeuge. Der Natur tut die Covid-19-Pandemie gut. Am Zürcher Bellevue riecht es nach Frühling statt nach Abgas und auf der Golden Gate Bridge in San Francisco sonnen sich die Kojoten. Deutschland wird laut Hochrechnungen aufgrund des Corona-Effekts sein Klimaziel 2020 nun doch erreichen: minus vierzig Prozent bei den Treibhausgasen. Das Virus schafft innert Wochen, was zuvor nicht machbar schien: den globalen CO2-Ausstoss drastisch zu reduzieren. Ganz wie es sich die Weltgemeinschaft wiederholt vorgenommen hat, zuletzt 2015 im Pariser Klimaabkommen. Darin verpflichteten sich fast alle Staaten der Erde, die Klimaerwärmung auf maximal 1,5 Grad zu begrenzen. Alle fünf Jahre wollten sie ein national festgelegtes CO2-Reduktionsziel festlegen. Mit der Umsetzung aber hapert es. Nur drei Länder hielten sich dieses Jahr an die Frist zur Einreichung ihrer «Ziele 2030»: die Marshallinseln, Surinam und Norwegen. Die meisten Regierungen betrachten das Abkommen eher als Inspiration denn als rechtlich bindend – weshalb sie es nach Lust und Laune ignorieren. Das könnte sich nun ändern. In einem wegweisenden Urteil haben britische Richter diesen Februar Pläne für den Ausbau des Londoner Flughafens Heathrow aufgrund des Pariser Abkommens gestoppt. Schon heute ist Heathrow mit achtzig Millionen Passagieren jährlich einer der grössten Flughäfen der Welt. Mit der geplanten Vergrösserung wären täglich weitere 700 Starts und

Landungen hinzugekommen – was dem CO2-Ausstoss eines kleinen Landes entspricht. Das, so entschied der Court of Appeal, sei unvereinbar mit den Klimazielen. Gerichtspräsident Lord Lindblom: «Die Regierung hat bei der Erteilung der Baubewilligung das Pariser Abkommen zu wenig gewichtet.» Indem einzelne Regierungen das internationale Abkommen ratifizierten, erklärten sie dessen Bestimmungen zur offiziellen Politik des Landes. Was das Gericht nun sagt, ist an sich banal: Die Regierungen müssen sich an ihre eigene Politik halten. Geklagt hatten mehrere Stadtbezirke, Umweltorganisationen und Londons Bürgermeister Sadiq Khan, der das Urteil als «Sieg für künftige Generationen» feierte. Für die Gegnerinnen war es ein Wagnis. Bisher wurden Einsprachen gegen solche Grossprojekte stets lokal begründet. Oder mit hohen Kosten für die Allgemeinheit. Zwar wurden auch solche Einwände erhoben, doch ihnen gab das Gericht nicht statt – nur jenem des Klimaschutzes. In einem Interview verglich Anwalt Tim Crosland das Urteil mit jenem historischen Gerichtsbeschluss, der in den USA die Segregation der Schulen als verfassungswidrig eingestufte. Als nicht vereinbar mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung aller vor dem Gesetz. Sobald das einmal festgestellt sei, gebe es kein Zurück mehr. Hier nun dasselbe: Ist einmal gesagt, dass eine Regierung die Klimaziele einhalten muss, um die Sicherheit der Bürgerinnen zu garantieren, muss sie sich diesen Aspekt künftig bei allen grossen Entscheidungen zu Herzen nehmen.

Y VONNE KUNZ  ist Gerichtsreporterin

in Zürich. 5


ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

weil auf den Plänen (die ich natürlich alle als wertvolle Dokumente aufhebe) steht, ich hätte drei neue Sprachen (dar­ unter eine Programmiersprache) und Stricken gelernt, statt auf Veranstaltungen und im Kino herumzuhängen. Ich ver­ folge täglich das Ranking der schlechtes­ ten Länder in den Zeiten der Krise. Hopp Schwiiz! Ich sauge alles auf, was in ein paar Jahrzehnten noch spannend sein könnte, weil ich das Gefühl habe, die­ ser Moment jetzt hat die grösste Wahr­ scheinlichkeit, in die Geschichte einzu­ gehen. Die Generationen nach uns werden über die Pest lernen, «Die Liebe in Zeiten der Cholera» lesen und vom «Social Distancing in Zeiten von Corona» hören wollen.

Moumouni …

… geht in die Geschichte ein Manchmal frage ich mich, welche Events meiner Zeit tatsächlich in die Geschichts­ bücher eingehen werden. Wird es diese Kolumne sein, die wie ein genuschelter Bob-Dylan-Song die Welt verändert? Sind Poetry Slams das neue Woodstock? Ich bereite mich schon auf die Fragen meiner Enkelkinder vor, habe ein schlech­ tes Gewissen, dass ich nicht dabei war bei der grossen «Wir sind mehr»-Demo, bei der «wir» Party gegen rassistische Anschläge gemacht haben. Was waren «wir» laut damals! Oder kann ja sein, dass ich mal Zeitzeugin in irgendeiner Doku sein muss. Wär’ peinlich, wenn ich dann sag’: «Es muss Montag oder Dienstag ­gewesen sein, oder ein anderer Tag, ich weiss es ganz genau, un­gefähr!» Ich frage mich, wie die Leute in Dokus sich so gut an Geschehnisse und Daten er­ innern können und lade mir eine Gehirn­ jogging-App herunter. 6

An jetzt werde ich mich wohl erinnern können. Die Welt ist im Chaos wegen der Grippe (inklusive Lungenkollaps), die umgeht. Man darf sich nicht mehr an­ fassen und kann sogar beim Desinfekti­ onsmittel einkaufen krank werden. Wenn meine Kinder Fieber haben werden, werde ich ihnen sagen, nichts sei so schlimm wie das Coronavirus damals, das ich, mit meinen anderen Gspändli aus der «Generation Why», besiegt habe. Die aus der Boomer-Generation waren auch ganz ok, aber die haben nicht so viel Online-Content geliefert, um uns vor dem Tod durch Langeweile zu bewahren. Ich mache mir genaue Pläne und To-doListen, hauptsächlich, damit ich der Welt in ein paar Jahrzehnten genau erzählen kann, was ich so den ganzen Tag zuhause hätte treiben wollen. Vielleicht habe ich sogar tatsächlich mit 77 das Gefühl, 2020 sei mein produktivstes Jahr gewesen,

Und wenn mich wer fragt, werde ich ­sagen: «Ja, ich erinnere mich gut. Der Re­ genwald war gerade an der einen Stelle abgebrannt, an der anderen fast gänzlich abgeholzt worden – da kam plötzlich die Frage auf: Dürfen wir, jetzt wo Corona, denn überhaupt noch Regenwälder ­abholzen und abbrennen? Kann da der Sicherheitsabstand noch ­gewahrt werden? Und als alle zuhause bleiben mussten, fragten wir uns, ob man dann nicht doch kurz raus kann, jetzt wo ja sonst n ­ iemand auf den Strassen war. Und als j­ emand die ältere Dame feucht anschrie, weil sie draussen war, wusste niemand, ob das jetzt ok ist, so aus Solidarität. Eine Zeit voller Dilemmas! Das mit den Flüchtlingen war auch ziemlich schlimm. Ir­ gendwann war Corona sogar im g ­ rössten Flüchtlings­lager der Welt angekommen, von dem wir gar nichts wussten. Aber ich war ja als Kunst- und Kulturschaffende die am stärksten betroffene Gruppe und habe deshalb alle Kanäle mit meinem Corona-Content verstopft. Und was h ­ aben wir gelitten! Und was haben wir Lives­ treams geguckt!»

FATIMA MOUMOUNI  hockt sich jetzt vor die Glotze und wartet auf die Chinesen. Ausserdem denkt sie darüber nach, dass wahrscheinlich nicht nur weisse Männer Heulsusen sind.

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INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BUNDESAMT FÜR SOZIALVERSICHERUNGEN (2019): SCHWEIZERISCHE SOZIALVERSICHERUNGSSTATISTIK 2019. BERN.

Die Sozialzahl

Die AHV und die Finanzmärkte Die AHV basiert auf dem Umlageverfahren. Was die erste Säule der Altersvorsorge an Einnahmen erzielt, wird sofort wieder als Renten und andere Unterstützungsleistungen ausgezahlt. Für das Jahr 2018 liegen aktuelle Zahlen zur finanziellen Lage der AHV vor: Die Einnahmen betrugen 41 835 Millionen Franken, die Ausgaben 44 055 Millionen Franken. Das Betriebsergebnis ­verzeichnete ein Defizit von 2220 Millionen Franken. Wie kam dieses Defizit zustande? Und wie wurde es ausgeglichen? Beginnen wir mit der zweiten Frage. Zwischen den Einnahmen und Ausgaben der AHV sorgt der AHV-Ausgleichsfonds für die Liquidität und den Ausgleich der Schwankungen zwischen den Finanzflüssen. Verwaltet wird dieser Fonds von compen­ swiss, einer öffentlich-rechtlichen Anstalt des Bundes. Gemäss AHV-Gesetz sollte der AHV-Fonds eine Reserve in Höhe einer Jahresausgabe haben. 2018 lagen dort aber nur 43 535 Millionen Franken, was 98,8 ­Prozent der Jahresausgaben entspricht. ­Damit fiel die Kapitalreserve der AHV das erste Mal seit 2005 wieder unter diese rechtlich g ­ esetzte Grenze.

Die Schwankungen beim Anlageergebnis des AHV-Fonds sind gross und machen von Jahr zu Jahr enorme Sprünge. So belief sich das Anlageergebnis 2015 auf 20 Millionen, ein Jahr später erreichte es einen Wert von 1205 Millionen, wieder ein Jahr später sogar einen Ertrag von 2125 Millionen Franken, bevor dann 2018 der erwähnte Absturz erfolgte. Schätzungen für 2019 zeigen nun wieder einen positiven Wert an, der sogar den AHV-Fonds über die vorgegebene Limite von 100 Prozent der Jahresausgabe heben könnte. Inzwischen haben sich die finanziellen Aussichten bei der ersten Säule der Altersvorsorge für die kommenden Jahre etwas ­entspannt. Der AHV fliessen nach dem positiven Ausgang der Abstimmung 2019 über die STAF (Steuerreform und AHV-Finanzierung) mehr Mittel zu. Der Beitragssatz der Arbeitgebenden und Arbeitnehmenden wird um je 0,15 Prozentpunkte erhöht. Das Demografieprozent der Mehrwertsteuer, das seit 1999 ­erhoben wird, wird nun vollständig der AHV zugewiesen – bisher flossen lediglich 83 Prozent. Ferner wird der Bundesbeitrag an die AHV von 19,55 auf 20,2 Prozent der AHV-Ausgaben erhöht. Damit kann die drohende Finanzierungslücke bei der AHV für die kommende Dekade markant verringert werden. Doch die AHV ist damit noch nicht aus dem Schneider. Bereits jetzt wird über eine weitere Reform der ersten Säule diskutiert. Im Zentrum steht die Angleichung des Rentenalters der Frauen an jenes der Männer. Darüber wird noch heftig zu streiten sein.

Und damit zur ersten Frage. Das Defizit der AHV-Rechnung für das Jahr 2018 hat wesentlich mit einer Fehleinschätzung der Entwicklung auf den Finanzmärkten zu tun. Das Kapital, welches im AHV-Fonds liegt, wird nicht einfach ge­bunkert, sondern angelegt. Für das Jahr 2018 erwartete ­compenswiss gemäss Bud­ get einen positiven Ertrag von rund einer Milliarde Franken – heraus kam aber ein Anlageverlust von -1181 Millionen Franken. Die Differenz zwischen budgetiertem Ertrag und ein­gefahrenem Verlust belief sich also auf über 2 Milliarden Franken.

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL  ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Entwicklung des Anlageergebnisses des AHV-Fonds (in Millionen Franken)

2500 2000

2126

2027 1205

1500 1000 500

20

0 -500

-1181

-1000 -1500

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2014

2015

2016

2017

2018

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«Spricht mein Kopf: ‹Ich will Drogen›, so sagt mein Körper: ‹Dann muss ich halt durch›.» Thömu, 38, seit 20 Jahren süchtig. 8

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«Und schon zeigen sie wieder mit dem Finger auf uns» Strasse Menschen ohne Bleibe, Abhängige, Sexarbeiterinnen – sie alle sind von Corona

besonders betroffen. Doch die Angst um die Gesundheit ist ihr kleinstes Problem. TEXT UND FOTOS  KLAUS PETRUS

In Bern ist es jeden Tag Nacht. Besonders jetzt. Leer sind die Strassen, die Brunnen, die Hotels, leer die Hosentaschen. Ein Halleluja für einen Zwanziger, ein Zehner tut’s auch. Wir kommen von der Hodlerstrasse bei der Lorrainebrücke, wir stapfen durch die Neuengasse, wir huschen über den Waisenhausplatz die Zeughausgasse hinunter, bei jedem zweiten Schritt ein Blick zurück und ein Knurren und Murren, viel redet er nicht, der Thomas*, ein schwarzer, schmaler Strich in der Berner Altstadt. Es ist neun am Abend und Thomas «Thömu» L., Jahrgang 1982, aufgewachsen in Thun, der Vater ein Trinker, die Mutter geduldig, ist seit zwanzig Jahren süchtig, ziemlich sehr sogar, er hat keinen Job, keine Wohnung, keinen Stutz, zwei drei Freunde vielleicht. In der Predigergasse gibt es Spritzen aus dem Automaten, eine für einen Franken, zwei für zwei, Thömu braucht ein Surprise 474/20

Doppelpack mit dünnen Nadeln, so muss er nicht ewig rumstochern auf der Suche nach einer Vene. Wird er trotzdem, eine Stunde später unter der Kornhausbrücke: erst die linke Hand, dann beide Arme, der Hals, die dünnen Beine, wenn jetzt bloss kein Blut in die Pumpe rinnt, und dann wieder alles von vorne, Thömu, sage ich, lass gut sein für heute. Wir hocken an einer Mauer, hier pissen die Leute nach dem Ausgang hin, und Thömu ist schon wieder am Besteck richten und den Sugar sortieren und ich am Fotografieren. Irgendwann sagt er: «Der Körper kann nicht, er muss», und ich, eher fragend: «Hmm», und er: «Spricht mein Kopf: ‹Ich will Drogen›, so sagt mein Körper: ‹Dann muss ich halt durch›.» So ist das auch mit anderen Dingen im Leben, denke ich mir. Und dann schwärmen wir vom Glücksgefühl beim Anblick der Raben, in dieser einen Sekunde, bevor sie weg-

fliegen. Und dass sie gewiss schon da waren, bevor es uns Menschen gab, und dass jetzt wieder so viele Raben in der Stadt sind, Polizisten und Raben, die krächzen. Eine Viertelstunde später, die Tupfer voller Blut, hält Thömu die Spritze noch einmal gegen das Licht, «mach mich glücklich, nur ein bisschen, nur ein Tröpfchen», dann trifft er doch noch und sagt leise: «Klause, du wärst jetzt mause. Für mich ist das Nasenwasser.» Für sie ist Corona überall Mitte April ist es und Corona seit einem Monat. Weh denen, die jetzt noch auf der Gasse sind! 400 sind es angeblich allein in der Stadt Bern, wie viele in der gesamten Schweiz, das weiss niemand so genau. Menschen ohne feste Bleibe, Abhängige, Sexarbeiterinnen, sie alle sind betroffen – weniger vom Virus, sagen sie, als von den Massnahmen, die der Bund bis auf Weite9


res verhängt hat. Manche können nicht daheimbleiben, auch wenn sie es möchten, denn sie haben kein Zuhause. Weil alles zu hat und niemand unterwegs ist, fehlt vielen der Puder, das Geld, die Freier. Für sie ist Corona überall. La Prairie, geschichtsträchtiger Begegnungsort der Dreifaltigkeitspfarrei Bern mit einem Mittagstisch für Bedürftige: geschlossen wegen der Covid-19-Verordnung. Die Tafel «Tischlein deck dich»: eingestellt. Das Casa Marcello, stadtbekannte Beiz aller Junkies: chiuso. Die Bänke unterm Baldachin am Berner Bahnhof: weggeräumt oder eingezäunt. Die Drogenanlaufstelle an der Hodlerstrasse bei der Lorrainebrücke: eine Warteschlange, Stress pur. Und so fort. Vom Betteln nicht zu reden. «Hängst dich für ein paar Stunden rein», rechnet Thömu vor, «kommst du auf 100, 120 Franken am Tag. Jetzt, da alle zuhause hocken, sind es noch 40.»

Die sozialen Kontakte werden rar und beschränken sich aufs Mischen und Mauscheln auf der Gasse.

Und mit dem schwindenden Angebot bricht den Leuten die Tagesstruktur weg, der soziale Kontakt wird rar und beschränkt sich aufs Mischen und Mauscheln auf der Gasse. «Die Stunden werden noch länger, ich hocke rum oder fahre Tram, schaue raus, lese im Gratisblatt.» Manchmal geht Thömu in die Notschlafstelle Sleeper an der Neubrückstras­ ­s e 19, dort gibt es einen währschaften Znacht für fünf Franken und für einen zweiten Fünfliber kriegt er eine Matratze in einem Mehrbettzimmer. Doch nun wird es auch im Sleeper knapp. Wegen der Abstandregeln musste der Platz für insgesamt zwanzig Leute halbiert werden. «Wer schon drinnen ist, darf auch die nächsten Nächte bleiben. Wir anderen sind draussen.» Draussen, das heisst: in 10

Oben: N., 36, seit zwanzig Jahren süchtig, obdachlos. Links unten: L., 53, geboren in Frankreich, seit fünfunddreissig Jahren süchtig, obdachlos. Rechts unten: Thömus Schlafplatz unter der Brücke: «Besser das als nichts.» Surprise 474/20


einem Park zwischen Stuhl und Bank, vor einer Garage, auf einer Treppe, im Gebüsch, unter der Kornhausbrücke. Dort, am Pfeiler, wird sich Thömu auch diese Nacht in ein pinkes Fleece einwickeln, «isch emu gäng öppis», kichert er, der keine fünfzig Kilo mehr wiegt, besser als nichts also, und auf hundert besser als in der Stadt, wo ihn die Polizisten zweimal die Nacht aufwecken und fortschicken. «Vorher waren wir unsichtbar. Jetzt, da die Strassen leerer sind, sieht man uns überall. Und schon zeigen sie mit den Fingern auf uns: Schau nur, die da.» Mit «sie» meint Thömu uns, die anderen, die aus der Mitte der Gesellschaft sozusagen. Und die jetzt, in Zeiten der Pandemie, plötzlich über Dinge sinnieren, die sie ansonsten für selbstverständlich halten: der Zapfen am Ende des Monats, das Training im Gym, ein feines Essen in der Beiz, Reisen, an Konzerte gehen. «Die Krise aushalten? Für mich heisst das: durchhalten, davor, jetzt, immer», sagt Thömu. Dass sich viele solidarisch zeigen, dass sie Hemden und Schuhe und Bananen an Gabenzäune binden mit bunten Kärtchen dazu, dass sie spenden an Organisationen, die Tag und Nacht für ihn und die vielen anderen da sind, das nimmt Thömu, der zwei Lappen fünfzig braucht pro Tag für Heroin, Kokain und ein paar Zigaretten, als aufrichtige, als ausserordentliche Geste. Und doch, fragt er mich: «Wenn für euch wieder alles normal ist, werdet ihr dann noch an uns denken: an all die Junkies, Bettler, Nutten?» «Wir haben immer eine Wahl» Irgendwie gleichgültig ist Thömus Stimme geworden und weit weg. Und vielleicht ist jetzt nicht die Zeit zum Philosophieren, er mit einem mittleren Flash im Kopf, ich mit einem Gala-Apfel in der Hand. Es geht um Klischees, Vorurteile, ums Verurteilen. «Auch wenn es stimmen mag, was man von uns denkt: dass wir jeden anpumpen, rumpöbeln, wir allen ungefragt unsere Story auftischen und schmutzig sind vom Scheitel bis zu den zerlöcherten Schuhen – wir sind mehr als das», sagt Thömu. «Das ist bei mir so, bei dir, bei einem Banker, so einfach ist das.» Thömu, der Denker und Drücker. Wie recht er hat, kommt mir noch viele Male in den Sinn, als ich ihnen begegne: Beni, 48, der sich in diesen Zeiten vor allem nach einem sehnt: dass die Berner Young Boys, gelb-schwarz forever, endlich wieder spieSurprise 474/20

Hilfe für Sozialwerke Strassenarbeit Die C ­ orona-Massnahmen haben

für Menschen auf der Gasse drastische Folgen. Das vom Bund per Mitte März 2020 verordnete Social Distancing hat auch für jene, die am Rand der Gesellschaft leben, erhebliche Konsequenzen. Um die Abstandsregeln des Bundes einzuhalten, mussten z. B. die Notschlafstellen in verschiedenen Schweizer Städten ihre Plätze minimieren. In 4-Bett-Zimmern darf jetzt nur noch eine Person schlafen, in 6-Bett-Zimmern sind es deren zwei. Entsprechend müssen Betroffene abgewiesen werden, eine für diese Institutionen unhaltbare Situation. Hilfe kommt von unterschiedlicher Seite. So stellte die Christoph Merian Stiftung 300 000 Franken zur Verfügung, um in Basel Menschen ohne festen Wohnsitz während der Corona-Krise ein Hotel zur Verfügung zu stellen. In Biel hat die Stadt ein Pfadfinderlager gemietet, um das reduzierte Angebot der Notschlafstelle zu kompensieren. In Bern dagegen ist der Sleeper bisher mehr oder weniger auf sich selbst gestellt; seine Einnahmen kommen eigentlich aus der dazugehörigen Bar «Dead End», die jedoch schliessen musste, weswegen ein Crowdfunding gestartet wurde. Um den Sleeper sowie das Passantenheim der Heilsarmee zu entlasten – sie bieten insgesamt 70 Schlafplätze an –, hat die Stadt Bern inzwischen in einem Gebäude 29 Einzelzimmer zur Verfügung gestellt. Auch die Essensversorgung wurde aufgrund der Covid-19-Verordnung des Bundes eingeschränkt. So musste die Tafel «Tischlein deck dich», von der in der Schweiz jede Woche 20 000 Personen profitieren, eingestellt werden, weil der Sicherheitsabstand bei der Essensausgabe nicht eingehalten werden kann und viele Freiwillige aufgrund ihres Alters zur Risikogruppe gehören. Organisationen aus der Zivilgesellschaft versuchen diese Lücken zu füllen – in Bern etwa die Kirchliche Gassenarbeit oder das Kollektiv Medina, indem Essen in öffentlich zugänglichen Kühlschränken gelagert oder an öffentlichen Plätzen verteilt wird. Diese Hilfe, soll sie unkompliziert und direkt erfolgen, ist nur mit finanzieller Unterstützung möglich. Eine wohl beispiellose Aktion lancierte Ende März die Katholische Kirche Region Bern: Innert kurzer Zeit beschloss sie eine Soforthilfe in Höhe von einer Million Franken. Ein Grossteil des Geldes kommt sozialen Institutionen zugute, die sich für Armutsbetroffene und andere Personen am Rande der Gesellschaft einsetzen, 200 000 Franken wurden in Migros-Einkaufsgutscheine umgewandelt. KP 11


len können und er im Stadion sitzt und jubelt – und der ohne Job ist und seit 25 Jahren süchtig; Luca, 35, der von grossen Wundern träumt, die anderntags wieder verflogen sind – und der seit zehn Jahren abhängig ist, obdachlos und jeden Tag am Schnorren; Noemi*, 31, die das erste Drittel des «Grafen von Monte Christo» hinter sich hat und sich mächtig darauf freut, wie Edmond Dantès sich rächen wird an allen Halunken – und ein Kind hat und seit sieben Jahren auf dem Strich ist; Stef*, 50, der es gerade jetzt mit seiner Frau so

«Kaum stieg ich aus dem Auto eines Freiers, musste ich mich übergeben. Irgendwann habe ich mich daran gewöhnt und dachte nur noch ans Geld.» SÄNDY, 46

gut hat wie noch nie und sich ständig fragt, warum wohl – und der süchtig ist schon sein halbes Leben lang und angeblich den besten Stoff vertickt weit und breit; und Sändy*, die am liebsten orientalische Märchen hört und dazu eine Dose Quöllfrisch naturtrüb trinkt und so wunderbare Sätze sagt wie: «Über dem Kopf ist immer unter dem Himmel» oder auch «Wenn du im Seich bist, betest sowieso, egal an was du glaubst». Im Seich war sie nämlich schon oft, Sandra «Sändy» N., 46, geboren in einer Pflegefamilie, Mutter von zwei Söhnen und abhängig seit über zwanzig Jahren. Kerle waren früh ein Problem, zuhause (worüber Sändy nicht reden mag) und dann mit dreissig, als sie zum ersten Mal auf den Strich ging. «Kaum stieg ich aus dem Auto eines Freiers, musste ich mich erbrechen, immer wieder.» Irgendwann habe sie sich daran gewöhnt, sie habe nur noch ans Geld gedacht und daran, dass es meistens schnell geht und von hinten. «So musste ich die Typen wenigstens nicht anschauen.» Beziehungsunfähig sei sie dadurch geworden, keine Frage. Doch die 12

Gabenzäune und Spenden – die Solidarität mit Menschen am Rande unserer Gesellschaft ist in Zeiten wie diesen gross. Wird sie auch nach der Krise noch bestehen?

Würde habe sie sich bewahrt, sagt Sändy. Und schüttelt den Kopf, wenn sie von Mädchen hört, die es jetzt für 30 machen und ohne Kondom. «Es gibt immer solche, die noch tiefer fallen als du. Dann weisst du: Dort will ich niemals hin! Klingt brutal, ist aber so.» Als Opfer will sich Sändy nicht sehen, auch das, sagt sie, gehöre zum Klischee von «Randständigen». «Wir haben immer eine Wahl, wir alle können dieses tun und jenes lassen. Ich sitze hier, rede mit dir, ich nehme meinen Stoff, ich weiss noch nicht, wo ich heute Nacht schlafen werde. Dabei könnte alles auch anders sein. Und doch hat alles seinen Sinn.» Aufhören mit den Drogen? Nein, es sei gerade gut, wie es ist.

Später kommt ein Mann vorbei, erzählt ein Kapitel aus seinem früheren Leben als erfolgreicher Geschäftsmann, er gibt Sändy eine Zehnernote und verabschiedet sich mit einem «Bleib gesund». Das würde reichen für ein Abendessen plus Übernachtung im Sleeper. Oder für fünf Dosen Bier. Eine kleine Pfeife Kokain. Etwas Warmes zu essen. Sändy will es sich noch überlegen. * Name geändert

SurpriseTalk Der Surprise-Redaktor Klaus Petrus hat mit dem Radiomacher Simon Berginz über die Hintergründe seiner Reportage geredet. Surprise 474/20


«Mehr Hektik als sonst» Suchthilfe Der Druck unter Süchtigen nehme zu, eine offene D ­ rogenszene sei aber nicht zu befürchten, sagt Rahel Gall von der Suchthilfe Contact. Frau Gall, der Stress unter den Drogensüchtigen bei der Berner Anlaufstelle steigt. Teilen Sie diesen Eindruck? Ja. Wir mussten infolge der Covid-19-Verordnung des Bundes unser Angebot einschränken. Konkret konnten wir in der Anlaufstelle an der Hodlerstrasse in Bern nur noch 11 von 22 Plätzen aufs Mal besetzen. Was dazu geführt hat, dass die Betroffenen draussen auf dem Trottoir in einem Zwei-Meter-Abstand warten mussten. Manche hatten Mühe damit, sie benötigen dringend ihren Stoff, was mehr Hektik erzeugt hat als sonst. Was haben Sie dagegen unternommen? Wir konnten in Zusammenarbeit mit der Stadt im Hof der Anlaufstelle einen Container mit 12 zusätzlichen Plätzen aufstellen. Jetzt sollte sich die Lage wieder beruhigen, weil wir damit wieder die ursprüngliche Anzahl Plätze haben. Doch der Druck unter den Betroffenen hat noch andere Gründe. Welche? Viele gehören zur Risikogruppe, nicht so sehr aufgrund des Alters, sondern wegen ihrer angeschlagenen Gesundheit. Auch rechnen wir damit, dass weniger Drogen im Umlauf sein werden, sollte der Lockdown weiter anhalten. Sind Drogen knapp, werden sie eher gestreckt, und das kann fatale gesundheitliche Folgen haben – im schlimmsten Fall den Tod durch Überdosis.

Als Folge der Corona-Pandemie wurde auch in der Schweiz die Sexarbeit von einem Tag auf den anderen verboten. Während einige Betreiber von Etablissements Kurzarbeit beantragt haben, warten selbständige Sexarbeiterinnen noch immer auf Unterstützung. Andernfalls bleibt nur der Gang aufs Sozialamt; allerdings befürchteten nicht wenige, dass ihre Aufenthaltsbewilligung dann nicht erneuert würde. Manche Frauen bieten weiterhin ihre Dienste an, auch auf der Strasse. «Wenn Sexarbeiterinnen keine finanzielle Hilfe bekommen, sind sie gezwungen zu arbeiten – trotz Verbot», sagt Christa Ammann von der Berner Fachstelle für Sexarbeit XENIA. Das Bundesamt für Gesundheit BAG hat inzwischen eine Stelle für das neue Netzwerk Prokore (Prostitution, Kollektiv, Reflexion) finanziert, welches für Sexarbeitende eine unkomplizierte, effektive Unterstützung durch Nothilfe oder Sozialhilfe aufbauen will. KP Surprise 474/20

Die Strassen sind leerer als sonst, die Drogensüchtigen werden dadurch sichtbarer. Manche von ihnen fürchten sich vor ­V­orurteilen, die jetzt wieder stärker werden könnten. Ich kann das verstehen. Auf der anderen Seite ist die Solidarität, die die Stiftung Contact als Organisation gerade in diesen Wochen spürt, sehr gross. Ich wünsche mir, dass sie auch nach der Krise noch bestehen bleibt. KL AUS PETRUS (INTERVIEW)

FOTO: KLAUS PETRUS

Leere Betten

Man sieht in diesen Wochen wieder mehr Leute auf der Gasse konsumieren. Muss man sich vor dem Schreck­gespenst der 1990er-Jahre fürchten, einer offenen Drogenszene? Nein, ich denke nicht. Das wäre vielleicht dann der Fall, wenn Contact die Anlaufstelle schliessen müsste. Doch daran hat niemand ein Interesse, im Gegenteil. Wir setzen alles daran, den Betrieb aufrechtzuerhalten. Fakt ist: Nur dank der Anlaufstelle und der Zusammenarbeit von Contact mit der Stadt, der Polizei und anderen Organisationen gibt es hierzulande keine offene Drogenszene mehr.

Die Baslerin Rahel Gall Azmat, 48, ist Sozial­­ arbeiterin und hat 2016 als erste Frau die ­Geschäftsleitung der Stiftung für Suchthilfe Contact übernommen.

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«Wenn es ums Geld geht, blocken viele Häftlinge ab», sagt Hans Wolff, Präsident der Konferenz Schweizerischer Gefängnisärzte. 14

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Lieber leiden statt zahlen Haftbedingungen Im Gefängnis verbreiten sich ansteckende Krankheiten wie das

Coronavirus besonders schnell. Trotzdem lehnen viele kranke Häftlinge Arztbesuche ab, denn neuerdings müssen sie ihre Rechnungen selber bezahlen. TEXT  ANDRES EBERHARD FOTOS  PETER SCHULTHESS

«Was kostet es?», fragt der Mann, der mit Schmerzen im Unterbauch zu Bidisha Chatterjee kommt. Die Gefängnisärztin vermutet einen Leistenbruch, schlägt einen Ultraschall sowie eine gründliche Untersuchung im Labor vor. Das ist dem Mann, der im Kanton Solothurn inhaftiert ist, zu teuer. «Und wenn Sie nur den einen Labortest machen?» Weil die Ärztin das nicht auswendig weiss, klärt sie den Betrag ab und meldet sich einige Tage später wieder. Daraufhin sagt der Patient die geplante Untersuchung ab. Es bleiben: eine Rechnung für die Konsultation von 60 Franken – und die Schmerzen. Nicht erst seit der Coronakrise sind Gefängnisse ein besonders gefährlicher Ort für die Ausbreitung ansteckender Krankheiten. Ein Grund dafür ist, dass viele Gefangene, die krank werden, auf eine Arztvisite verzichten. Sie tun dies aus Angst vor negativen Konsequenzen, wie Studien zeigen. Drohende Kosten stellen eine zusätzliche Hürde dar. Hans Wolff, Präsident der Konferenz Schweizerischer Gefängnisärzte, sagt: «Wenn es ums Geld geht, blocken viele Häftlinge sofort ab.» Anders gesagt: Lieber ertragen sie den Schmerz, als dass sie Geld ausgeben. Auch die einflussreiche Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) warnte kürzlich in einer Stellungnahme davor, dass kranke Häftlinge auf notwendige Behandlungen verzichten könnten, wenn von ihnen Kostenbeiträge verlangt werden. Bis vor nicht allzu langer Zeit war es hauptsächlich der Staat, der für die Arztkosten von Gefangenen aufkam. Diese wurden als Nebenkosten des Vollzugs behandelt. Heute werden vermehrt die Häftlinge zur Kasse gebeten. Nur falls ihnen für eine Behandlung das Geld fehlt, können sie bei den Sozialdiensten ein Gesuch um Kostenübernahme einreichen. Verschiedene Organisationen kritisieren diese Entwicklung. Neben der SAMW fordern auch die vom Bund eingesetzte Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) sowie die «Mandela Rules» der UNO, dass die medizinische Versorgung von Inhaftierten «grundsätzlich kostenlos» sein sollte. Auslöser für den Paradigmenwechsel war eine Publikation mit dem Titel «Schlussbericht Schnittstelle Justizvollzug – Sozialhilfe» aus dem Jahr 2016. Herausgeber sind drei interkantonale Organisationen: die Konferenzen der Justiz- und PolizeidirektorInnen (KKJPD), der SozialdirektorInnen (SODK) und der Sozialhilfe (SKOS). Der Bericht der Kantone enthält Empfehlungen über Zuständigkeiten, vor allem was die Kosten des Vollzugs angeht. Warum die Schraube bei den Gesundheitskosten angezogen wurde, erklärt Patrick Cotti, Direktor des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Justizvollzug (SKJV): «Die Kantone gehen von einem Normalisierungsgrundsatz aus, der verlangt, dass wie in Freiheit gewisse Gesundheitskosten selber getragen werden müssen.» Aufgrund dieser Empfehlung erstellten die für den Surprise 474/20

Strafvollzug zuständigen Konkordate neue Richtlinien. Schliesslich stellten die meisten Gefängnisse in den letzten Jahren auf eine restriktivere Praxis um. Vermehrt wird nur noch bezahlt, was wirklich nötig ist. Schmerzt beispielsweise ein Zahn, wird er entfernt, nicht aber ersetzt. Ein Grund für die breite Forderung nach kostenlosen Arztbesuchen sind die bescheidenen finanziellen Verhältnisse der meisten Häftlinge. Gefängnisarzt Hans Wolff sagt: «Wenn mal jemand Vermögen hat, hat das fast schon anekdotischen Charakter.» Patrick Cotti vom Kompetenzzentrum SKJV bestätigt: «Inhaftierte Personen sind meist praktisch mittellos.» Häftlinge leben in der Regel vom Lohn, den sie für ihre Arbeit in Haft bekommen – rund 20 Franken pro Tag oder 400 bis 500 Franken im Monat. Davon steht ihnen rund die Hälfte als Taschengeld zur Verfügung. Vom Rest landet wiederum die Hälfte auf einem blockierten Konto; der Betrag wird den Gefangenen nach Entlassung ausbezahlt. Was übrig bleibt, ist für diverse Kosten reserviert, die während der Haft anfallen – Justizkosten beispielsweise oder Entschädigungen für Opfer. Dass Häftlinge auch dringend notwendige medizinische Eingriffe ablehnen, wenn damit Kosten verbunden sind, zeigt der Fall eines 61-jährigen, der sich vor drei Jahren in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies in Zürich ereignete. Der Mann litt an einer Harn­ inkontinenz und musste bis zu zehn Mal pro Nacht auf die Toilette. Er zog sich deswegen auch Windeln und Einlagen an. Mit einer Operation der Prostata hätte sein Leiden ein Ende gehabt. Doch die Sozialbehörde knüpfte ihre Kostengutsprache an die Bedingung, dass sich der Häftling mit einigen Hundert Franken beteiligt. Sie wusste dabei von den finanziellen Möglichkeiten des Insassen, da sie dessen Konten verwaltete. Trotzdem lehnte der kranke Häftling ab. Zwei Jahre später wurde er entlassen. Man kann man aufgrund solcher Fälle zur Meinung kommen, dass Häftlinge selbst die Verantwortung für ihre Gesundheit tragen sollten. Die Ethikkommission der SAMW ist anderer Auffassung: Der Staat trage die Verantwortung für Leben und Gesundheit der Betroffenen, weil er ihnen die Freiheit entziehe. Hürden in Form von Kosten seien darum grundsätzlich nicht angebracht. Gefängnisarzt Wolff ergänzt, dass der Gesundheitszustand von Inhaftierten nicht allein eine persönliche Angelegenheit sei. «Personen in Haft leiden viel häufiger als die Allgemeinbevölkerung an Tuberkulose, HIV oder Hepatitis C.» Die Coronakrise zeige auf, dass es im Interesse der Gesellschaft sei, dass sich solche Infektionskrankheiten nicht ausbreiten. Einige Kantone gehen bei der Umsetzung der Kostenregelung sehr rigide vor. Ärzte, die meist aus humanitären Gründen im Gefängnis tätig sind, seien deswegen verärgert, sagt Wolff, der in Genf seit vielen Jahren selbst Inhaftierte untersucht und be15


«Es würde Sinn machen, Personen in Haft gleich zu versichern wie Asyl­bewerber», ist der Zürcher Gefängnisarzt Niklaus Brand überzeugt.

handelt. Grund dafür ist die zunehmende Bürokratie. «Ärzte müssen immer mehr Zeit und Energie in Kostenübernahmegesuche und Verhandlungen mit Behörden stecken.» So weisen heute einige Kantone die Ärzte an, ihre Rechnungen direkt den Häftlingen statt wie bis anhin der Behörde zuzustellen – egal, ob diese zahlungsfähig sind oder nicht. Mancherorts müssen Ärzte gar drei dokumentierte Mahnungen vorweisen, ehe sie die unbezahlte Rechnung an die Behörde weiterleiten können. «Der Aufwand ist wegen des administrativen Aufwands für Ärzte oft grösser als ihr Honorar», sagt Wolff. Oft gehe es um kleine Beträge zwischen 50 und 100 Franken. Die neue Bürokratie betrifft aber auch die Behörden selbst. Schliesslich müssen diese in jedem Einzelfall über eine angemessene Kostenbeteiligung entscheiden. Die Lösung könnte eine Krankenversicherungspflicht für alle Personen in Haft sein. Denn damit wäre gesetzlich geregelt, was bezahlt wird und was nicht. Fälle wie jener aus Zürich, wo Behördenmitarbeiter und damit medizinische Laien über die Notwendigkeit eines Eingriffs entschieden, würden der Vergangenheit angehören. Zudem wäre eine der Hauptforderungen erfüllt, welche die Kritiker der aktuellen Praxis geltend machen: dass Menschen in Haft medizinisch gleich gut versorgt werden wie 16

solche in Freiheit. Derzeit sind nämlich mehrere Tausend Häftlinge – jene ohne festen Wohnsitz in der Schweiz – nicht krankenversichert und haben nur Anspruch auf medizinische Nothilfe. Die Krankenversicherungspflicht für alle Häftlinge einzuführen, wäre eigentlich keine grosse Sache. Die Lösung ist naheliegend, Niklaus Brand, Gefängnisarzt in Zürich, spricht sie aus: «Es würde Sinn machen, Personen in Haft gleich zu versichern wie Asylbewerber.» Dass es dennoch seit vielen Jahren nicht vorwärtsgeht, hat damit zu tun, dass die Kantone für den Strafvollzug zuständig sind. Entsprechend vage äussert sich das Bundesamt für Gesundheit. Man prüfe derzeit, «wie die Gesundheitsverordnung und insbesondere deren Finanzierung für diese Personengruppe verbessert werden könnte», heisst es auf Anfrage. Bei den Kantonen werde die Frage diskutiert, ob das jetzige System eine adäquate Behandlung verhindern könnte, so Cotti vom Kompetenzzentrum SKJV. Das KKJPD wolle «eine Klärung erreichen, welche medizinischen Leistungen allen Inhaftierten uneingeschränkt und kostenlos zugänglich sein müssen.» Selbst wenn die Krankenkassenpflicht irgendwann doch noch kommt: Ungelöst bleibt die Frage nach der Kostenbeteiligung der Häftlinge. Während für die Versicherungsprämien die SoziSurprise 474/20


Gefängnisse sind Infektionsherde Corona-Krise Nicht nur Häftlinge sind

von Infektionskrankheiten betroffen – auch das Personal.

FOTO: ZVG

aldienste aufkommen, müssten die Kosten von Franchisen und Selbstbehalten neu verhandelt werden. Die SAMW schlägt vor, nur in Ausnahmefällen – «bei erheblichem Einkommen oder Vermögen» – den Inhaftierten zu belangen. Als Richtlinie könnten die SKOS-Richtlinien betreffend Verwandtenunterstützungspflicht dienen. Gefängnisärztin Chatterjee schwebt eine pragmatische Lösung vor: «Wenn der Lohn in Haft zum Beispiel einem Viertel eines Lohnes in Freiheit entspricht, könnten Häftlinge für einen Viertel der Kosten aufkommen», sagt sie. «Oder aber man erhöht ihren Lohn, dann kann man mehr verlangen.» Damit würde man auch dem Argument Vorschub leisten, dass niemand Anrecht auf kostenlose Arzttermine hat – auch Häftlinge nicht.

KKJPD / SODK / SKOS (Hg.), Schlussbericht Schnittstelle Justizvollzug-Sozialhilfe, 2016 ow.ch/de/kanton/publired/berichte

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Die Gefahr, im Gefängnis an Covid-19 zu erkranken, ist grösser als in Freiheit. Denn in geschlossenen Systemen können sich Viren und Bakterien schneller ausbreiten. Darauf hat die Weltgesundheitsorganisation WHO kürzlich hingewiesen. Bekannt ist diese Problematik von anderen Infek­ tionskrankheiten wie der Tuberkulose, HIV oder Hepatitis. Dass sich diese hinter Mauern oft ausbreiten, hat gemäss der Gefängnisärztin Bidisha Chatterjee auch damit zu tun, dass viele Insassen gesundheitliche Probleme haben und sich nicht immer adäquat behandeln lassen. Anfang April registrierte das Bundesamt für Gesundheit 35 mit dem Coronavirus Infizierte in Schweizer Gefängnissen. 33 davon betrafen das Personal. Gemäss Patrick Cotti vom Schweizerischen Kompetenzzentrum für Justizvollzug (SKJV) unternehmen die Anstalten derzeit alles, um die Einschleppung von Covid-19 zu verhindern. Denn ist es einmal drin, lässt es sich nur schwer kontrollieren. «Gleichzeitig soll der Druck des Gefangenseins möglichst nicht noch verstärkt werden», so Cotti. Dass sich die Situation für Häftlinge verschärft, ist allerdings unumgänglich: Besuche sind seit Beginn der Coronakrise verboten. Zudem mussten viele Verhandlungstermine verschoben werden. Dies mache den oftmals psychisch labilen Insassen zu schaffen, sagt Gefängnis­ ärztin Chatterjee. «Ich habe schon einige Patienten gesehen, die sich selber verletzten, indem sie sich geschnitten oder in die Wand geboxt haben.» Ein Häftling in Zürich äusserte kürzlich im Tagesanzeiger Kritik am Umgang der Gefängnisleitung mit Covid-19. Das Anstaltspersonal halte die Hygienemassnahmen des Bundes nur ungenügend ein. Zudem würden nicht nur Kranke, sondern auch Häftlinge, die zur Risikogruppe gehören, 23 Stunden in einer Einzelzelle eingesperrt. Dass jemand den Arzt verlange, wenn er als Folge davon in Einzelhaft komme, sei unrealistisch. Auch im Genfer Gefängnis Champ-Dollon protestierten kürzlich Häftlinge wegen der schlechten Haftbedingungen. Stundenlang weigerten sich über vierzig Insassen nach einem Spaziergang, in ihre Zellen zurückzukehren. Sie forderten mit Verweis auf andere Länder die vorzeitige Freilassung für Insassen, die kein Risiko für die Gesellschaft darstellen. Die linke Partei Ensemble à Gauche unterstützte den Vorschlag und verwies darauf, dass das Genfer Gefängnis seit Langem überfüllt ist. Ende März sassen rund 550 Häftlinge in der Anstalt Champ-Dollon. Gebaut ist es lediglich für deren 398. EBA 17


Der Mensch und die Arbeit: eine Hassliebe Arbeit Wir erfinden Jobs, die keinen Sinn machen, sagt der Anthropologe David Graeber.

Doch wenn sinnlose Arbeit krank und unglücklich macht, warum gibt es sie dann? TEXT  SARA WINTER SAYILIR ILLUSTRATIONEN  SARAH WEISHAUPT

Wenn es eines gibt, was die Corona-Krise uns Gutes gebracht hat, dann dass wir uns wieder darauf einlassen, darüber nachzudenken, ob unsere Lebensweise sinnvoll und richtig ist. Viele Diskussionen drehen sich dabei um Arbeit. Wie wir Arbeit und Familie organisieren – und wie abhängig die Berufstätigkeit der Eltern von einer verlässlichen Kinderbetreuung ist. Zu Recht fragen wir uns, warum einzelne Berufsgruppen wie die Krankenpflege, aber auch die Alterspflege nicht in dem Masse wertgeschätzt werden, wie wir sie brauchen. Klatschkonzerte sind keine Entschädigung. Viele dieser Diskussionen sind nicht neu. Aber nun lassen sich viel mehr Menschen ernsthaft darauf ein – weil sie plötzlich Zeit dazu haben, weil sie erstmals selbst betroffen sind oder weil sich durch die Krise psychologisch etwas verändert hat. Plötzlich sind wir gezwungen, im Alltag flexibel zu sein, also machen wir auch an anderer Stelle auf. Was ist, wenn wir dauerhaft Dinge verändern müssen? Was ist, wenn wir jetzt entscheiden können, was in Zukunft Normalität wird? Einer, der sich darüber schon länger Gedanken macht, ist der US-amerikanische Anthropologe David Graeber. In seinem Buch «Bullshit Jobs – Vom wahren Sinn der Arbeit» geht er der Frage nach, warum heutzutage sehr Menschen Tätigkeiten nachgehen, in denen sie persönlich keinen Sinn sehen und die noch dazu nicht fehlen würden, wenn man sie einfach wegliesse. Graeber nennt 18

diese Tätigkeiten Bullshit-Jobs, was nett übersetzt so etwa Unsinns-Arbeiten heisst: «Ein Bullshit-Job ist eine Form der bezahlten Anstellung, die so vollkommen sinnlos, unnötig oder gefährlich ist, dass selbst derjenige, der sie ausführt, ihre Existenz nicht rechtfertigen kann, obwohl er sich im Rahmen der Beschäftigungsbedingungen verpflichtet, so zu tun, als sei dies nicht der Fall.» Bereits 2013 hatte Graeber in einem vielbeachteten, provokativen Aufsatz die Frage gestellt: «Leistet Ihre Arbeit einen sinnvollen Beitrag zur Welt?» Daraufhin erreichten ihn viele Zuschriften. Tatsächlich scheint es eine grosse Anzahl Menschen zu geben, die ihren tendenziell gut bezahlten und mit Ansehen verknüpften Job eigentlich als sinnlos empfinden. Darunter sind Angestellte von Universitäten, Finanzberater, Leute aus der Filmwelt, dem IT-Bereich und vielen anderen Sparten. Graeber fragt sich: Wenn diese Menschen eigentlich wissen, dass ihre Arbeit sie nicht persönlich befriedigt und auch sonst keinen Wert für die Welt schafft, warum gehen sie ihr dann nach? Und wie kommt es überhaupt dazu, dass derart viele Menschen offenbar sinnlosen Tätigkeiten nachgehen und dafür bezahlt werden? In seiner Analyse trennt Graeber drei Ebenen: die persönlichen Beweggründe, die strukturellen Ursachen und die kulturell-politischen Hintergründe. Auf der persönlichen Ebene ist sehr unterschiedlich, welche Erwartung jeder Einzelne an Arbeit hat. Die einen sind froh, wenn sie ihre Familie ernähren können, Surprise 474/20


die anderen möchten mit ihrem Tun gesellschaftlich etwas bewegen. Manche möchten etwas zu tun haben, andere ihren Wohlstand oder ihr Ansehen mehren. Aus welchem Grund auch immer man den einen oder anderen Beruf wählt, für uns alle gilt: Wir sind abhängig von Arbeit. Weil unsere kapitalistisch geordnete Welt so funktioniert, dass wir – solange wir nicht zu den wenigen gehören, die über entsprechendes Vermögen verfügen – unser Leben über den Verkauf unserer Arbeitszeit finanzieren, also arbeiten müssen, um ein Leben in Würde führen zu können. Würde heisst: unabhängig und selbstbestimmt. Graeber stellt fest, dass es Sektoren gibt, in denen der Anteil an Bullshit-Jobs aus strukturellen Gründen überdurchschnittlich stark zugenommen hat. Als Beispiel nennt er den Finanzsektor: Die Bankenkrise 2008 habe deutlich gezeigt, dass viele Tätigkeiten im Finanzsektor keinem konkreten Sinn folgten – wie zum Beispiel Investitionen in gewinnbringende Anlagen von Handel und Industrie zu tätigen –, sondern einzig dazu dienten, ein äusserst komplexes Geflecht verschiedener Formen von Schulden aufrechtzuerhalten, das über Tricks und Betrügereien einige wenige noch reicher macht, als sie es schon sind. Dabei ahnen viele Angestellte im Finanzsektor sehr wohl, dass sie eine Arbeit verrichten, die dem Erhalt der Gesellschaft schlimmstenfalls sogar zuwiderläuft (wie 2008, als die Banken mit Steuergeldern gerettet werden mussten). Gleichzeitig bedeutet dies jedoch nicht, dass jeder im Finanzsektor Angestellte sich des Betruges schuldig macht, noch dass alle Bankmitarbeiterinnen das komplexe Geflecht durchschauen, mit denen ihre Arbeitgeberinnen Reichtum schaffen. Den Anfang der überbordenden Bullshittisierung unserer Arbeitswelt verortet Graeber in den 1970er-Jahren. Damals führte eine durch die Automatisierung ermöglichte gesteigerte Produktivität zu einem immensen Anwachsen der Profite. Anstatt diese jedoch den Arbeitenden zugutekommen zu lassen, beispielweise durch geringere Arbeitszeiten bei gleichem Lohn, flossen die Profite einerseits in Privatvermögen und andererseits in «die Schaffung ganz neuer, grundsätzlich sinnloser professioneller Managerposten, die in der Regel von kleinen Armeen ebenso nutzloser Verwaltungskräfte begleitet waren». Diese Managerklasse, die Human-Resources-Abteilungen eröffnete und Business-Development-Assistenten einstellte, identifizierte sich immer weniger mit den Unternehmen, in denen sie angestellt war, und mehr mit ihresgleichen. Ein System des Selbsterhalts entwickelte sich und hebelte sogar alte neoliberale Glaubensgrundsätze aus, die bisher alle davon zu überzeugen versuchten, dass es in der Privatwirtschaft keine überflüssigen Jobs gebe. Dabei konnten Unternehmen früher ohne Schwierigkeiten Angestellte einstellen, ohne dafür eine ganze Human-Resources-Abteilung zu unterhalten. Erklären lässt sich laut Graeber diese Entwicklung, wenn man die neu entstandene Klasse von Angestellten im Anzug («white collar workers») als Feudalsystem betrachtet. Denn sie zeige «dieselbe Neigung, endlose Hierarchien von Herren, Vasallen und Gefolgsleuten hervorzubringen». Die scheinbar fehlende wirtschaftliche Logik ist einer politischen Logik gewichen. Surprise 474/20

Anstatt also die Computer und Maschinen für uns arbeiten zu lassen und unsere Zeit mit anderem zu verbringen, arbeiten wir im Schnitt noch mehr als früher. Und sind dabei nicht besonders erfüllt. Im Gegenteil: Immer noch macht Arbeit krank. Nun sind es nicht mehr nur die körperlich ungesunden Arbeiten, wie die Arbeit auf dem Bau, an Maschinen oder in lauter Umgebung, die den Menschen zu schaffen machen. Wo der Sinn der Arbeit unklar ist, der Druck zu hoch oder das Umfeld feindlich, macht sich dies ebenfalls gesundheitlich bemerkbar. Ein Burn-out wird immer häufiger diagnostiziert. Und hier kommt Graeber zu den kulturell-politischen Gründen der Misere. Warum halten wir dieses System aufrecht, warum erkennen wir darin nicht einmal ein grundlegendes strukturelles Problem? Er verweist hier auf etwas, was er das «Paradoxon der modernen Arbeitswelt» nennt: Würde und Selbstwert sind für die meisten Menschen eng mit dem Verdienen ihres Lebensunterhaltes durch Arbeit verknüpft. Gleichzeitig hassen die meisten Menschen ihren Job. Und das halten wir für normal. Deshalb können wir auch ohne Probleme akzeptieren, dass man, je wichtiger ein Job für den Fortbestand und das Funktionieren unserer Gesellschaft ist, desto weniger Lohn im Schnitt dafür bekommt. (Eine seltene Ausnahme bilden hier die Ärztinnen und Ärzte.) Der Sinn einer Arbeit wird sozusagen als Teil ihrer Entlohnung gesehen. Offenbar können wir uns persönlich, aber auch gesamtgesellschaftlich nur sehr schwer eingestehen (oder auch nur vorstellen?), dass wir womöglich einen Hauptteil unserer Lebenszeit in sinnfreie Beschäftigung stecken. Und selbst wenn der Einzelne es ahnt, fällt es ihr immer noch schwer, sich mit anderen darüber auszutauschen, deren Selbstwert und Identität an denselben Arbeitswelten hängt. Zudem hängen wir finanziell von unseren Jobs ab. Und es gibt Menschen und Strukturen, die davon profitieren – auch von unserer zeitlichen Dauerbeschäftigung. Wer weiss, auf welche Gedanken man käme, hätte man plötzlich mehr Zeit? Natürlich ist das stark verkürzt dargestellt und in der Analyse absichtlich provokativ. Man muss Graeber nicht in allem zustimmen. Aber dass etwas falsch läuft, wenn wir einen Grossteil unserer Lebenszeit in etwas investieren, was uns unglücklich oder krank macht, darin sind sich wohl die meisten einig. Es ist noch nicht lange her, da hat das Stimmvolk sich gegen das bedingungslose Grundeinkommen entschieden. Jetzt, wo wir durch das Virus aus dem Arbeitsalltag gerissen wurden und uns neu organisieren, haben wir die Chance, noch einmal anders darüber nachzudenken, was uns Arbeit bedeutet – persönlich, gesellschaftlich und strukturell. Wir haben Graebers Frage aufgegriffen und sechs Menschen um einen Einblick in ihre Arbeitssituation gebeten. Lesen Sie nachstehend, wie es ihnen geht. Wir möchten die Frage nach der Bedeutung von Arbeit auch in Zukunft weiterverfolgen. Senden Sie uns Ihre Antwort auf die Frage «Leistet Ihre Arbeit einen sinnvollen Beitrag zur Welt?» an redaktion@strassenmagazin.ch oder per Post an Redaktion Surprise, Stichwort «Bullshit», Münzgasse 16, 4051 Basel. Die Einsendungen werden vertraulich behandelt. 19


«Menschen statt Märkte» CHRISTIAN HAGEN, 52, VERTRIEBSLEITER HINZ&KUNZT, HAMBURG

«Mit 38 war ich an Leukämie erkrankt. Nur noch eine Stammzelltransplantation konnte mir helfen. Ich hatte riesiges Glück: Zum Glück fand sich ein geeigneter Spender und die Transplantation war erfolgreich. Ich entschied mich dafür, meinen Job in einer Werbeagentur aufzugeben. Rückblickend glaube ich, dass dieser mitverantwortlich dafür gewesen war, dass ich erkrankte. Wenn du über viele Jahre unter ständigem Zeitdruck über deinem Energielimit arbeitest, dann schwächt dies zwangläufig deine Konstitution und du wirst anfälliger für Krankheiten. Mein Fachgebiet war die strategische Markenentwicklung. Ich arbeitete oft sechzig bis achtzig Stunden pro Woche. Die Arbeitszeiten waren nicht das Problem, sondern die Menge an Projekten, die ich in dieser Zeit stemmen musste. Zum Stress kam irgendwann auch Frust hinzu, weil aufgrund der hohen Arbeitsbelastung die Qualität nicht mehr stimmte. Also suchte ich einen sinnvollen Job. Ich wollte eine Arbeit, mit der ich etwas zurückgeben konnte von der Unterstützung und Fürsorge, die ich als Leukämiepatient erfahren hatte. Fündig wurde ich beim Hamburger Strassenmagazin Hinz&Kunzt. Dort bin ich inzwischen seit zehn Jahren, acht davon als Vertriebsleiter. Der Unterschied zu früher ist: Jeden Tag bekomme ich erneut die Chance, etwas Sinnvolles zu tun. Um etwas zum Guten zu verändern, reicht es häufig, wenn ich einem Verkäufer meine Zeit und Aufmerksamkeit widme und die Bereitschaft zeige, eine Lösung zu suchen. Diese Möglichkeit zu helfen ist schnell, direkt und persönlich. Ganz im Gegensatz dazu die strategische Markenarbeit, hier zeigt sich der Erfolg deiner Arbeit zeitlich verzögert. Früher ging es um Märkte und Zielgruppen, heute geht es um Menschen. Die strategische Markenentwicklung finde ich auch heute noch spannend. Darum bin ich neben meiner Teilzeitarbeit für Hinz&Kunzt noch immer auf dem Gebiet tätig – als Selbständiger. Anders als früher kann ich mir nun selbst aussuchen, wie viele Projekte ich annehme. Es kommt auch heute noch vor, dass ich eine 60-Stunden-Woche habe. Das fühlt sich dann aber völlig anders an als früher: erfüllter.» Aufgezeichnet von ANDRES EBERHARD

«Kein Stress und doch immer müde» ANJA MAURER, 37, PROJEKTLEITERIN BEI SMART ENERGY LINK, BERN

«Ich habe Geschichte und Politikwissenschaft studiert. Dabei merkte ich schnell, dass sich auf dem Arbeitsmarkt niemand um diese Fächer reisst. Zum Glück fand ich nach dem Studium eine Stelle beim EDA und wechselte nach einigen Jahren ins Bundesamt für Energie. Eine unglückliche Liebesgeschichte sorgte dafür, dass ich früher als geplant ging. Hals über Kopf nahm ich einen Job im Verwaltungsbereich eines grossen Spitals an. Eine Chance, dachte ich. Der Krankenhausalltag übt seit meiner Kindheit eine grosse Faszination auf mich aus. Als Mutterschaftsvertretung sollte ich in der administrativen Leitung arbeiten. Was dort meine Aufgabe war, kann ich nicht richtig erklären, denn das wurde nie genau definiert. Ich sollte Projekte koordinieren. Obwohl viel angerissen wurde, dachte man nichts zu Ende. Die Führung war schwach. Fehlende Strukturen und Widersprüche sorgten für Unsicherheit und schlechte Stimmung. So hatte ich zu wenig Arbeit. Mit der Zeit begann ich, an mir zu zweifeln. Und obwohl ich keinen Stress hatte, war ich abends immer müde. Ich schaffte es nicht mal mehr, ein Buch zu lesen. Hinzu kamen mit der Zeit Schlafprobleme. Auch wenn es meinen Job so nicht gebraucht hätte, hatte er leider auch Vorteile. Man verdient darin verhältnismässig gut, ohne viel dafür zu leisten. Bei manchen hätte man nicht gemerkt, wenn sie einen Monat lang nichts getan hätten, und es ist eine komfortable und sichere Arbeit. Ich wollte im Job aber nicht bloss funktionieren, ich wollte nicht weitermachen. Darum bin ich froh, noch rechtzeitig den Absprung geschafft zu haben. Heute arbeite ich in einem Start-up im Energiebereich. Dieses Thema interessiert mich und ich kann etwas bewegen. Das motiviert und macht mich glücklich.» Aufgezeichnet von FLORIAN WÜSTHOLZ

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«So funktioniert Sozialarbeit nicht» MARIA*, 40, FAMILIENBEGLEITERIN, GROSSSTADT IN DEUTSCHLAND

«Ich arbeite als Familienbegleiterin für das Jugendamt (ähnlich der KESB in der Schweiz), bin aber nicht direkt beim Jugendamt angestellt, sondern bei einem externen Dienstleister, der uns an das Jugendamt und die betroffenen Familien vermittelt. Oft werden Fälle ans Jugendamt herangetragen, die im Rahmen dessen, was es leisten kann, gar nicht lösbar sind. Häufig arbeitet man irgendwie mit den Familien, ‹bleibt am Ball›, kann aber nicht wirklich eingreifen. Wie sehr kann man das Kindeswohl in einer Stunde pro Woche verbessern? Was kann man in dieser einen Stunde überhaupt sehen und wahrnehmen? Es liegt viel Verantwortung auf uns Fachkräften, die wir aufgrund der kurzen Beobachtungszeit beurteilen sollen, ob eventuell noch mehr eingegriffen werden muss. Das ist belastend. Wir müssen alles, was wir tun, minutiös nachweisen: Was genau man wo geleistet hat. So funktioniert Sozialarbeit aber nicht. Für den Austausch mit Kollegen ist kein Geld da. Dies kann auch nicht über das Jugendamt abgerechnet werden. Auf mich wirkt das System manchmal extrem unmenschlich: für die Klienten, aber auch für die Fachkräfte. Manche Fälle müsste man eigentlich abgeben. Dann hätte ich als betreuende Fachkraft aber weniger Fälle, und ich bin von der Anzahl der geleisteten Stunden finanziell abhängig. Dadurch werden Begleitungen aufrechterhalten, die eigentlich nicht sinnvoll sind. Viele Klienten müssten eigentlich stationär untergebracht werden, wir ziehen den Prozess sinnlos in die Länge. Ich sehe dieselben Frustrationen auch bei Kolleginnen. Viele denken übers baldige Abspringen nach. Und darauf bauen die Firmen, so kann man die Löhne niedrig halten, der Wechsel ist extrem hoch. Es fehlt da an Menschlichkeit im System. Natürlich gibt es auch gute Leute in der Maschinerie, aber was wir tun ist nicht einfach gut, weil wir versuchen, das Beste zu machen. Ich bin jetzt schon seit drei Wochen krankgeschrieben. Die Ärztin sagt, ich befände mich an der Grenze zum Burnout.» *Name der Redaktion bekannt Aufgezeichnet von SAR A WINTER SAYILIR

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«Ich war unzufrieden und hatte ein schlechtes Gewissen» IGOR*, 38, WEB-ENTWICKLER, ZÜRICH

«Als ich an der Uni war, bekam ich ein Forschungsprojekt, das mir und zwei anderen Studierenden auf den Leib geschrieben war. Doch kaum waren die Gelder bewilligt, verlor der Professor das Interesse am Projekt. Niemand wusste, was wir mit unserer Zeit anfangen sollten. Wir kamen jeden Morgen ins Büro, machten uns einen Kaffee und sassen herum. Ein Forschungsteam ohne Forschung. Ich wurde immer unzufriedener und hatte ein schlechtes Ge­wissen. Immerhin hatte ich das Privileg einer Forschungsstelle. Und ans Aufhören zu denken, fühlte sich falsch an. Nach einem halben Jahr wurde ich depressiv und kündigte. Das Einwerben von Forschungsgeldern zur Aufrechterhaltung des Geldflusses, zum Statuserhalt und zur Schaffung von teilweise leeren Stellen ist ein systemimmanentes Problem an der Universität. Für die beiden ausländischen Studierenden hing daran immerhin noch eine anderweitig statusrelevante Dissertation in der Schweiz, die sie nicht einfach aufgeben wollten. Mir aber machte das Ganze gesundheitlich zu schaffen. Später arbeitete ich als IT-Mitarbeiter in einer öffentlichen Institution. Dieser Job war vor allem auf der persönlichen Ebene nicht erfüllend, da die Wichtigkeit von dem, was ich an Arbeit leistete, für niemanden in der Welt ersichtlich war. Heute mache ich einen Job, der mit meinem ursprünglichen Studienfeld nichts zu tun hat, mich aber erfüllt. Er ist kreativ, abwechslungsreich, relevant im Sinne meiner konkreten Arbeit, die auch für andere sichtbar ist. Leute nutzen, was ich erstellt habe. Das gefällt mir. *Name der Redaktion bekannt Aufgezeichnet von SAR A WINTER SAYILIR

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«Ein Mensch und kein Roboter» FABIAN SCHLÄFLI, 33, SURPRISE-VERKÄUFER, BASEL

«Ich weiss, mein Job ist wichtig» MARC FLÜKIGER, 25, BELADER BEI ENTSORGUNG + RECYCLING, BERN

Seit zwei Jahren arbeite ich als Belader bei der Abfallentsorgung in Bern. Eigentlich kam ich eher zufällig zu diesem Job, gelernt habe ich Fachmann Betriebsunterhalt. Doch weil ich nach dem Abschluss nicht beim Betrieb bleiben konnte, kam ich zur Abfallentsorgung. Jeden Morgen geht unsere Tour um sieben los. Wir fahren durch die Quartiere, die Innenstadt, manchmal auch über Land und sammeln Haushaltsabfall, Grüngut oder Altpapier. Das Schleppen und Heben geht irgendwann in den Rücken. Ohne die richtige Technik ist das gefährlich. Trotzdem mag ich meine Arbeit – an den Geruch gewöhnt man sich ziemlich schnell. Schlimmer ist das Wetter. Wenn es kalt ist und den ganzen Tag regnet, kann einen das schon fertigmachen. Im Moment sehen wir viele nette Botschaften an den Kehrichtsäcken. Die Menschen bedanken sich für unsere Arbeit. Und auch sonst erlebe ich bei der Arbeit viel Wertschätzung. Vor allem Kinder haben eine Riesenfreude an uns. Fahren wir an einer Kita vorbei, winken sie uns. Diese Dankbarkeit motiviert mich. Ich weiss auch, dass der Job enorm wichtig ist. Wir verursachen doch alle unseren Müll – auch ich. Geld ist für mich nicht so wichtig. Schon möglich, dass ich weniger verdiene als jemand, der im Büro arbeitet. Aber ich bin gerne draussen und gebe der Gesellschaft etwas Gutes zurück. Zum Beispiel saubere Strassen und Ordnung. Am Abend nach der Arbeit bin ich müde und weiss, was ich den ganzen Tag gemacht habe. Das ist mir wichtig. Darum bin ich auch glücklich und dankbar für meine Arbeit.

«Seit achtzehn Jahren arbeite ich in verschiedenen Behindertenwerkstätten. Ich habe schon Futter für Zuchtratten abgepackt, Abstimmungscouverts bestückt oder eine Schrumpfmaschine bedient, die Plastikfolie um Shampooflaschen wickelt. Heute etikettiere ich auf dem Werkplatz Liestal Verpackungen für Teile von Wasserhähnen. Neben meiner Arbeit in der Werkstatt verkaufe ich Surprise am Bahnhof Basel. Ab und zu mache ich dort auch Musik, von meinem Ersparten habe ich mir eine Drehorgel gekauft. Diese Arbeiten machen mir Spass, doch mein Traum ist ein Job auf dem ersten Arbeitsmarkt. Aber es gibt heute einfach zu wenige solche Stellen. Seit zehn Jahren suche ich schon, in dieser Zeit habe ich hunderte, ja tausende Bewerbungen abgeschickt. Meistens kommt nicht einmal ein Dankeschön für den Versuch. Niemand nimmt mich so, wie ich bin. Die Chefs haben zu wenig Geduld mit Menschen wie mir. Als ich zwei Jahre alt war, erlitt ich eine Hirnhautentzündung und bekam epileptische Anfälle. Da war klar, dass ich nie lesen und schreiben lernen würde. Wegen meiner geistigen Behinderung bekomme ich eine volle IVRente sowie Ergänzungsleistungen. Das Problem ist der Leistungsdruck. Das habe ich bei meiner letzten Stelle erfahren. Ich musste verschiedene Produkte verpacken. Sie drehten die Auflage hoch und alles ging immer schneller, noch schneller, noch schneller gehen. Da kam ich nicht mehr mit, und sie haben jemand anderen hingestellt. Mir gaben sie eine Dubeli-Arbeit in der Montage. Etwas später bekam ich dann Probleme mit einer Arbeitskollegin und wechselte in die Werkstatt nach Liestal. Ich bin einer, der macht, was der Chef sagt. Aber wenn etwas pressiert, dann habe ich Mühe. Ich bin sehr kontaktfreudig, aber wenn es Konflikte gibt, beziehe ich die auf mich und fühle mich schnell ausgenutzt. Ich bin eben ein Mensch und kein Roboter.» Aufgezeichnet von ANDRES EBERHARD

Aufgezeichnet von FLORIAN WÜSTHOLZ Surprise 474/20

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Filmstreaming Auch nach der Corona-Krise wird das Kino unersetzbar bleiben.

Doch das Publikum entdeckt jetzt auch Arthouse-Filme im Homecinema. TEXT  DIANA FREI

Am 12. März kam Andrea Štakas Spielfilm «Mare» in die Kinos, die vier Tage später wegen des Coronavirus zugingen. Der Film machte 800 Eintritte in diesen Tagen, die, so findet Mischa Schiwow, schon von der Angst vor Corona geprägt waren. Dennoch – man wäre wohl auf eine gute Auswertung gekommen, meint Schiwow, der für den Zürcher Verleih Frenetic die Promotionsarbeit macht. Der Film läuft nun zum normalen Kinoeintrittspreis auf der Schweizer Streamingplattform cinefile.ch und auf­ myfilm.ch der Basler Kult Kino AG. Auch da haben ihn 800 Leute gesehen – allerdings in vier Wochen statt in vier Tagen. Wenn die Kinos wieder öffnen, soll er zurück auf die grosse Leinwand. «Wahrscheinlich werden die Kinos in die dritte Welle der Lockerung fallen. Wir gehen davon aus, dass sie frühestens Ende Juni wieder geöffnet werden», sagt Schiwow. Christian Ströhle spricht davon, dass es auch September werden könnte. Er macht die Promotionsarbeit für den Verleih Outside the Box mit Sitz in Lausanne. Unter dem Betreff «Das Kino geht weiter, auch wenn es geschlossen ist» kündigt er zurzeit eine Filmpremiere nach der anderen an. Der Schweizer Filmpreisgewinner «Le Milieu de l’horizon» ist gestartet, Bruno Dumonts Jeanne d’Arc-Film «Jeanne» oder Luke Lorentzens Dokumentarfilm «Midnight Family», der zeigt, wie in Mexico City den Rettungsdienst als privates Familienunternehmen geführt wird.

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Outside the Box will mit dem wöchentlichen Start die klassische Kinoauswertungskette aufrechterhalten – die Kinos bleiben als Partner an der Auswertung beteiligt, die Presse bleibt informiert, der Kontakt mit dem Publikum besteht weiterhin, so gut es geht. «Mit ‹Le Milieu de l’horizon› hatten wir etwas über tausend Downloads. Das ist etwa ein Zehntel weniger als im Kino, aber es zeigt, dass es einen gewissen Markt gibt.» Es gibt Tausende von Filmen, die man sehen kann, das digitale Angebot ist in den letzten Wochen explodiert. «Als Gegenbewegung zu dieser Explosion versuchen wir, jede Woche einen ausgewählten Film zu präsentieren», sagt Ströhle. Und geht davon aus, dass das auch in Zukunft Teil des Filmangebots bleiben wird. Die neue Offenheit für Unbekanntes «Die Krise ist ein extremer Trendverstärker», sagt auch Andreas Furler, Gründer von cinefile.ch und früherer Filmkritiker und Co-Leiter der Filmpodiums Zürich. Sein Unternehmen ist nicht nur eine Streamingplattform, sondern lotst einen in normaleren Zeiten mit Kritiken, Hintergrundtexten, Bonusmaterialien und Spielzeiten auch durch das Kinoprogramm. Pro Monat werden auf cinefile.ch 10 000 Filme geschaut, 99 Lang- und 49 Kurzfilme pro Jahr gibt es für monatlich 9 Franken, in der Einzelmiete ist das Streaming etwas teurer, dafür stehen 400 Filme zur Auswahl.

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BILD(1): DANCER: PRAESENS FILM, BILD(2): MIDNIGHT FAMILY: OUTSIDE THE BOX, BILD(3): J’ACCUSE: GUY FERRANDIS

Arthouse vom Sofa aus


«Wir haben jetzt einen grossen Sprung erlebt», sagt Furler. Erstaunlich ist, dass die Altersgruppen generell recht gleichmässig vertreten sind. «Die Spitzen liegen aber ausgerechnet bei den 25- bis 34-Jährigen, von denen man oft behauptet, sie hätten im Netz null Zahlungsbereitschaft. Und bei den über 65-Jährigen, die angeblich technisch schnell überfordert sind. Beide Klischees werden durch die Statistik wunderbar Lügen gestraft.» Auch die Offenheit, sich auf unsicheres Terrain zu begeben, überrascht. Unter den Top Ten im Abo sind erstaunlich wenig bekannte Titel. «Als die Edward-Hopper-Ausstellung in der Basler Fondation Beyeler zumachen musste, haben wir einen Arte-Dokumentarfilm über Edward Hopper herausgebracht», sagt Furler. Der schaffte es unter die Top 5. Auch für andere Filme, von denen kaum jemand je etwas gehört hat, interessiert sich das neue Homecinema-Publikum: Der Dokfilm «Dancer» über den ukrainischen Ballettstar Sergei Polunin wird oft gestreamt. Angejahrte Filme wie Eric Rohmers «Le rayon vert» von 1986 stossen auf Interesse oder – vielleicht weniger überraschend – ältere Kinoerfolge wie Sofia Coppolas «Lost in Translation». Und: Kurzfilme sind sehr beliebt. Zum Beispiel der britische «Clanker Man» oder der palästinensisch-deutsch-französische «Ave Maria». «Es war eine wilde Spekulation von uns, dass Kurzfilme gut laufen könnten», sagt Furler. «Ich ging aber davon aus, dass es funktionieren müsste, wenn man sehr konsequent programmiert. Unser Grundversprechen ist, dass wir den Schrott wegfiltern.» Kuratieren ist nötig «Im riesigen Online-Angebot kann man Schätze heben, wenn man sich ein bisschen auskennt», sagt Mischa Schiwow, der wie alle Gesprächspartner in diesem Text das Kino trotz allem für unersetzlich hält. Für ein breiteres Publikum ist es allerdings fast nur möglich, zu den Schätzen zu finden, wenn jemand Arbeit ins Kuratieren steckt – wie es Cinefile tut. «Grundsätzlich bleiben die Kinos eine Art Lautsprecher», sagt Schiwow. «Sie sorgen dafür, dass die Filme wahrgenommen werden. Das braucht es, damit sie überhaupt ein Leben bekommen – nicht nur im Kino, sondern auch im Online-Streaming.»

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«Die Krise ist ein extremer Trendverstärker.» ANDREAS FURLER, GESCHÄF TSFÜHRER CINEFILE

Was sich jetzt aber verändern könnte, sagt Christian Ströhle, ist die verbreitete Meinung, dass Video-on-Demand automatisch Mainstream bedeuten müsse – mit Homecinema verbanden viele bis anhin vor allem Netflix, Disney+ und Amazon Prime. «Wir glauben, dass zum Beispiel Eltern um die 40 durchaus hochstehende Filme sehen wollen, wenn die Kinder im Bett sind. Und dass sie auch daran interessiert sind, dass jemand eine Vorselektion macht, damit sie sich nicht wahllos durch Netflix-Angebote kämpfen müssen.» Aber trotz Corona und galoppierender Digitalisierung des Lebens kommen einige Filme nicht oder nicht so schnell ins Streaming. Diejenigen zum Beispiel, bei denen die Verträge mit den Weltvertrieben vorschreiben, wann sie ins Kino kommen. Hier ist man auch von den Corona-Massnahmen in anderen Ländern abhängig: Solange etwa in Frankreich die Kinos zu sind, kann ein französischer Film auch in der Schweiz nicht starten. Oder ein Tanzfilm in 3D: Der gehört aus formalen Gründen ins Kino. «Es gibt auch Filme, mit denen man das Publikum nicht alleinlassen will», sagt Ströhle. «Wir haben einen Dokumentarfilm, der einen Missbrauch verhandelt. Das ist ein Film, den man begleiten muss. Im Kinosaal, mit Gesprächen mit der Filmemacherin und Experten wie Psychologen.

Erwähnte Adressen: cinefile.ch, outside-thebox.ch, myfilm.ch. Zugang zu den Filmen findet man auch über die Homepage vieler Kinos, in denen sie jetzt laufen würden.

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Online Virtuelle Museen, Van Gogh Museum Amsterdam, Louvre Paris vangoghmuseum.nl/en, louvre.fr/en/visites-en-ligne, weitere Ideen unter artsandculture.google.com

Obwohl jetzt viele Tipps für Online-Begehungen von Museen gepostet werden, sind die virtuellen Rundgänge in der Regel eine etwas nervtötende Angelegenheit, weil erstens viel Rumklicken und zweitens kein Apple Pie im Museumscafé. Spannend sind die virtuellen Rundgänge allenfalls, um – irgendwann – einen realen Besuch zu planen oder wenigstens davon zu träumen. Immerhin kann man sich so auch eine Vorstellung davon machen, ob sich stundenlanges Anstehen lohnen würde. Im Van Gogh Museum Amsterdam darf man dazu schon mal die Bildertafeln und Saalbeschreibungen lesen. Überhaupt gehört dieses Museum zu den spannenderen Online-Adressen, hier kann man sich in des Künstlers Liebesleben vergraben und in seinen Briefen schmökern. Auch schön: der virtuelle Louvre. Hier lassen sich die Werke einzeln anklicken, Detailinformationen werden zugänglich. So stehen wir also vor der Tanis Sphinx, 2600 vor Christus, und denken uns: Wenn sie die letzten viereinhalb Jahrtausende stillsitzen konnte, dann schaffen wir es nun auch für ein paar Wochen. Auch Würdenträger Nakhthorheb sitzt einfach da und symbolisiert die dauerhafte Natur der ägyptischen Zivilisation. Ein Gefühl für grössere Zeiträume tut uns jetzt gut. DIF

Online Stadtkino Basel, Filmpodium Zürich, Filmtalks; stadtkinobasel.ch/galerie/ audio-video; auf filmpodium.ch unter Online-Angebot und auf allen gängigen PodcastApps, z. B. auf soundcloud.com und spotify.com (Filmpodium Zurich TALKS)

Das Stadtkino Basel und das Filmpodium Zürich sind auch Orte der Begegnung. Beide haben deshalb ein Archiv von zahlreichen Gesprächen mit Filmgrössen aus dem Art­house-

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Bereich. Beim Stadtkino Basel findet man ein Gespräch mit dem Argentinier Eliseo Subiela über sein Kino des magischen Realismus, in dem Fantasie und Realität ineinanderfliessen. Weitere mit der Kaurismäki-Schauspielerin Kati Outinen und mit dem iranischen Regisseur Abbas Kiarostami, der die soziale Rolle des Kinos in seinen Filmen oft mitverhandelt. Oder mit dem Deutschen Christian Petzold, der eine ganz eigene Ebene zwischen Wirklichem und Gespensterhaftem findet und dabei doch politisch bleibt. Auch beim Filmpodium Zürich findet man zahlreiche Talks – unter anderem mit Milos Forman, David Lynch oder Todd Solondz. Den stellvertretenden Leiter des Filmpodium Zürich, Michel Bodmer, kennt man als früheren SRF-Redaktor mit eigener Filmsendung. Er hat zusätzlich in seinem eigenen Archiv gegraben und macht Interviewaufnahmen zugänglich, die er als Filmjournalist gemacht hat. DIF

Online freeCodeCamp, Coding-Lehrgang freecodecamp.org Auf der Startseite steht ein Zitat, bei jedem Einloggen ein anderes. Zum Beispiel: «It is not the strongest of the species that survive, nor the most intelligent, but the one most responsive to change.» – Charles Darwin (Nicht die Stärksten einer Spezies überleben, auch nicht die Intelligentesten, sondern die, die am besten mit Veränderungen umgehen können). Passt ganz gut zu einer Situation, in der sich mit einem Schlag alles verändert. Nämlich ins Digitale verlagert, weil draussen im realen Leben nicht mehr so viel los ist. Die Motivation, Neues zu erlernen, sollte also hoch sein. Hier lernen wir, eine simple Webseite mit HTML zu erstellen: «Siehst du den Code <h1>Hello</h1>? Das ist ein HTML-Element.» Damit sind wir zwar noch nicht sehr weit, aber man ahnt: Es ist wahrscheinlich ganz schlau, herauszufinden, was die (digitale) Welt im Innersten zusammenhält. Am berauschendsten ist die Erfahrung für Leute wie unsereiner, die von Null und Nichts eine Ahnung hatten. Englischkenntnisse vorausgesetzt. DIF

Online Radio Garden, Radio weltweit, radio.garden Radio Garden ist eine interaktive Karte von Live-Radios rund um den Erdball: Auf der Weltkarte lassen sich alle erdenklichen Orte anklicken und in die dortigen Radiostationen reinhören. Das gemeinnützige Radio- und Digitalforschungsprojekt wurde vom niederländischen Institut für Ton und Bild, von der Transnational Radio Knowledge Platform und von fünf europäischen Universitäten entwickelt. Wir hören Musik im Connect Uganda Radio und erfahren auf Josh FM., wie Mainstream in Delhi klingt. Bei russischen Nashe Radio Tomsk 90.7FM sind dem Pop ein paar sehnsüchtige Klänge beigemischt, während in Tadschikistan Schlager durch die Nacht fegen. Dank Radio Garden spüren wir etwas vom Alltagsgefühl in Weltgegenden, von denen wir vielleicht nicht mal je etwas in den News gehört haben. Die unendliche Vielfalt dieses Projekts macht auch ein bisschen süchtig. DIF

Online Foldit – Solve Puzzles for Science, Game; Folding@home und BOINC, Forschungsprojekte fold.it, foldingathome.org, boinc.berkeley.edu

Achtung, dies ist Wissenschaft und Spielanleitung in einem: Beim Covid-19 erfolgt der erste Schritt der Infektion in der Lunge. Und zwar dann, wenn sich ein Protein auf der Oberfläche des Virus an ein Rezeptorprotein auf einer Lungenzelle bindet. Ein therapeutischer Antikörper ist eine Art von Protein, das die Bindung des viralen Proteins an seinen Rezeptor blockieren kann und somit verhindert, dass das Virus die Lungenzelle infiziert. Um solche therapeutische Antikörper für 2019-nCoV zu entwickeln, müssen die Wissenschaftler die Struktur des viralen Proteins erforschen. Nun stehen Proteine nicht still – sie falten und entfalten sich und nehmen zahlreiche Formen an. Deshalb müssen alle Möglichkeiten, wie sich das Protein in alternative Formen faltet, erforscht werden. So kann man herausfinden, wie es mit dem Rezeptor interagiert – das ist die Voraussetzung, um einen Antikörper zu entwickeln. Das hört sich doch ganz nach einem Game an: Wege zu finden, wie so ein Protein gefaltet und entfaltet werden könnte. Genau das tut man bei Foldit. Das Spiel kann man kostenlos herunterladen und mitspielen – die Daten werden für die Forschung verwendet: Die schiere Masse der Lösungen, die dabei entsteht, hilft der Wissenschaft, einem Impfstoff ein Stück näherzukommen. Die Daten werden nicht kommerziell verwendet. Wer nicht spielen möchte, kann Rechenleistung des eigenen Computers zur Verfügung stellen, indem er oder sie die Software Folding@Home oder BOINC (Berkeley Open Infrastructure for Network Computing) herunterlädt. So entsteht eine Art weltumspannender Supercomputer, der die Möglichkeiten der Universitäten wesentlich erweitet. DIF

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BILD(1): VAN GOGH MUSEUM AMSTERDAM, BILD(2): SCHRAMM FILM/MARCO KRÜGER, BILD(3): ZVG

Veranstaltungen


zeigen, ob sie notwendig sind oder ob die Quarantäne die Pläne hinfällig macht. Wie die jugendliche und sonstige menschliche Energie während heissen Tagen und lauen Sommernächten in Wohnungen gebannt werden soll, lässt sich nur schwer vorstellen. Noch besteht die leise Hoffnung, dass im Sommer alles vorbei ist. Die aktuelle Krise wenigstens. Geschlossen ist die Buchhandlung. In anderen Ländern bleiben diese offen, weil dort Bücher zur Grundversorgung gezählt werden. Zur Erinnerung: Bei den meisten Buchhandlungen können Bücher bestellt werden, auch und vor allem bei den kleinen Quartierbuchhandlungen, die schwere Zeiten durchmachen.

Tour de Suisse

Pörtner am Bahnhof Stadelhofen, Zürich Surprise-Standort: Parfümerie Einwohnerinnen und Einwohner: 428 737 Sozialhilfequote in Prozent: 4,8 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 32,3 Jahr 2035: Erweiterung des Stadelhofens für 900 Millionen Franken

Ein sonniger Mittwochnachmittag. ­Normalerweise herrscht hier ein Gewusel, es ist einer der mühsamsten Strecken­ abschnitte der Stadt, alle kommen sich in die Quere, Fussgänger, Velofahrer, Trams, Lieferwagen, Taxis, E-Trotti. An diesem Tag kann die vorgeschriebene Mindestdistanz von zwei Metern zu allen anderen Verkehrsteilnehmern problem­ los eingehalten werden. Statt des Surpri­ se-Verkäufers steht eine Tafel auf dem Platz vor dem Bahnhof: «Bleiben Sie zu Hause. Bitte. Alle.» Tun sie nicht. Der Veloparkplatz ist voll, doch findet sich eine Lücke. Die S-Bahnen verkehren nur spärlich. Gesichtsmasken gehören noch nicht zum Stadtbild, sind aber vermehrt zu sehen. Das Bistro, Surprise 474/20

einst als Massnahme gegen die uner­ wünschte Präsenz von Randständigen auf dem Stadelhoferplatz eingerichtet, ist geschlossen. Neue Ansammlungen gibt es keine, nur vereinzelt sind Personen zu sehen, die schon vor der Corona-Krise sozial isoliert waren. Einer fragt bei ­anderen nach einer Zigarette, erfolglos – obwohl, wer sich auf einer der Bänke niederlässt (eine Person pro Bank), tele­ foniert oder raucht. Der McDonald’s ist geschlossen. An ­Wochenenden ist der bis tief in den Mor­ gen hinein die Schaltzentrale der Party-­ Jugend. Der Platz gilt in Sommernächten als Hot Spot, letztes Jahr gab es öfter ­Verletzte, für diesen Sommer sind Mass­ nahmen vorgesehen. Es wird sich

Das Kino wirbt für einen Schweizer Film, der nicht mehr vorgeführt wird. Eines Tages wird diese Krise das Material für eine Filmkomödie liefern. Eine Frau kommt mit einem Sohn und einer Brat­ wurst daher, Bratwürste gehören zur Grundversorgung, nicht nur in St. Gallen. Vor der Confiserie stehen die Leute im Zweimeterabstand an, ein Bild, das lang­ sam zum Alltag gehört. Die Forchbahn ist gut besetzt, es steigen so viele Leute aus, dass für einen Mo­ ment ein Hauch von Normalität aufkommt. Die vorgeschriebene Distanz kann nicht eingehalten werden. Nicht befolgt wird das Social Distancing auch von den ­Spatzen, die sich zu einer Grossgruppe zusammenrotten. Einfach nachzuvoll­ ziehen, woher die Redewendung «Schimpfen wie ein Rohrspatz» stammt. Waren die schon immer so laut, spüren sie den Frühling oder beklagen sie das Ausbleiben der Unmengen an Essensresten, die sonst auf diesem Platz zu ­finden sind? Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Anzahl von Take-aways und der Anzahl Spatzen? Für die Natur ist der Rückgang menschlicher Aktivität und Präsenz eigentlich gedeihlich. Viel­ leicht sind die Spatzen da eine Ausnahme.

STEPHAN PÖRTNER  Anders als die Spatzen war unser Kolumnist bei seinem Besuch am Bahnhof Stadelhofen stets auf den nötigen Abstand bedacht.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01 Sublevaris GmbH, Birsfelden 02 Brother (Schweiz) AG, Dättwil 03 Senn Chemicals AG, Dielsdorf 04 Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur 05 Scherrer & Partner GmbH, Basel 06 TopPharm Apotheke Paradeplatz 07 Coop Genossenschaft, Basel 08 Gemeinnützige Frauen Aarau 09 VXL, gestaltung und werbung, Binningen 10 Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich 11

Yogaloft, Rapperswil

12 Madlen Blösch, Geld & so, Basel 13 Zubi Carosserie, Allschwil 14 Kaiser Software GmbH, Bern 15 Schluep & Degen, Rechtsanwälte, Bern 16 RLC Architekten AG, Winterthur 17 Stellenwerk AG, Zürich & Chur 18 Neue Schule für Gestaltung, Bern

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Der Weg in die Armut führte für Daniel Stutz über die Sucht. Als Jugendlicher rutschte der heute 44-Jährige in die Spielsucht und später in den Konsum harter Drogen. Dank einer Therapie schaffte er vor 7 Jahren den Ausstieg. Geblieben ist dem Zürcher Surprise-Verkäufer und -Stadtführer ein Schuldenberg. «Den Weg aus der Sucht habe ich hinter mir, der Weg aus der Armut liegt noch vor mir», beschreibt Daniel seine Situation. SurPlus gibt ihm dabei Rückenwind: «Es ermöglicht mir hin und wieder Ferien. Ausserdem bedeutet es, auch einmal krank sein zu dürfen – ohne gleich Angst haben zu müssen, die Miete oder Krankenkasse nicht zahlen zu können.»

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

19 SpringSteps GmbH, Bülach 20 Steuerexperte Peter von Burg, Zürich 21 Büro Dudler, Raum- und Verkehrplanung, Biel 22 Infopower GmbH, Zürich 23 Dr. med. dent. Marco Rüegg, Herzogenbuchsee 24 Peter Gasser Schreinerei AG, Feuerthalen 25 Barth Real AG, Zürich Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 15 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise #Social Media

#471: Sein langer Weg

#Spendenaktion für Surprise

«Gläbti Solidarität»

«Nicht länger wegschauen»

«Überwältigt»

Mer dängge an unseri Ver­ käuferInne, wo jetzt grad nid vorem Lade oder am Bahnof stöhn und drotzdäm uffe Iikomme ­aagwise sin – ohni gläbti Solidarität vo uns LäserInne griege si kai Gäld. Danke.

Ich bin ein treuer Leser Ihres Magazins und immer wieder hocherfreut über Ihre Beiträge. In Ausgabe Nr. 471 haben Sie sich wieder einmal übertroffen. Der Artikel von Klaus Petrus über den algerischen Flüchtling hat mich sehr berührt. Es ist eine Schande, dass wir in Europa so etwas zulassen. Wir dürfen nicht länger wegschauen und so tun, als würde uns das alles nichts angehen! Danke für diese Reportage, die auch wegen ihrer Sprache so unter Haut geht.

N. SAL ATHE,  Facebook

A . STEINER,  Bern

Es wird immer von sozialer Distanz gesprochen. Eigentlich meint man ja körperliche Distanz, die da gefordert wird. Es kann grosse körperliche Nähe herrschen, aber überhaupt keine soziale Nähe da sein. Soziale Nähe, meint man sehr oft, könne nur mit physischer Nähe stattfinden. Das stimmt aber überhaupt nicht. Für soziale Nähe ist physische Nähe nicht Bedingung. Fangen wir an, soziale Nähe auch aus der Distanz zu pflegen. Da bietet uns Corona eine grosse Chance.

Dank der Corona-Spenden konnten wir bereits Anfang April denjenigen Verkaufenden, die fast ausschliesslich von Surprise leben, während des Verkaufsstopps einen Lohnausfall für den Monat März zahlen, genauso den Stadtführenden. Zudem hat Surprise einen «Notfall-Topf» eingerichtet, der bei Geldnot schnell unterstützt. Im April werden wir alle Surprise-Ver­ kaufenden und Stadtführenden finan­ ziell und sozial unterstützen können. Wir sind überwältigt von der bisherigen Solidarität und danken allen, die uns dies ermöglichen! Wir freuen uns alle, wenn das Strassenmagazin dann wieder auf der Strasse verkauft werden darf. Bis dahin heisst’s: durchhalten und zu Hause bleiben.

M. ELDOR ADO,  Facebook

SURPRISE

#Social Media

«Soziale Nähe pflegen»

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12

Ständige Mitarbeit
 Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Lucia Hunziger, Peter Schulthess, Wiedergabe von Artikeln und Bildern,

Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo

abgelehnt.

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FOTO: LUCIA HUNZIKER

Surprise-Porträt

«Ich stehe ganz am Anfang» «Die Corona-Krise macht für mich eigentlich keinen Unterschied, ich ging zum Beispiel noch nie viel shoppen. Etwas anderes als Alkohol wollte ich mir nie kaufen. Wegen der Sucht war ich auch in der Klinik. Danach gehst du nach Hause und bist plötzlich auf dich selber gestellt. Bist allein in deinen eigenen vier Wänden. Du gehst vielleicht spazieren. Aber es fehlt dir das Geld und der Mut. Auch die Kollegen. Du musst ja deinen Kollegenkreis auswechseln, kannst nicht mit Alkis hängen. Du bist sehr einsam. Da fragst du dich: Wofür habe ich nun zu trinken aufgehört? Ich habe das Gefühl, dass sich in der Corona-Krise der Rest der Welt meinen Erfahrungen und Gefühlen etwas angleicht. Wenn es normal läuft, weiss man immer: Die anderen sind am Arbeiten. Du hast immer das Gefühl, du verpasst etwas. Du weisst, du hast versagt. Ich weiss von anderen in ähnlichen Situationen, dass es ihnen da gleich geht wie mir. Mit 14 oder 15 bekam ich Depressionen diagnostiziert und fing an zu trinken. Wenn du so jung bist, kannst du dir nicht vor­ stellen, dass eine Tablette helfen soll. Den Alkohol kannte ich. Ich wusste, dass er sofort nützt, er tötet die Gefühle ab. Oder lässt mich weinen. Macht etwas, das mir den Schmerz lindert. Meine Mutter hatte schon Depressionen und Angstzustände wie ich auch. Heute habe ich eine 100-Prozent-IV-Rente. Ich wollte aber immer funktionieren. Ich habe im Service ­gearbeitet, im Bäckerei-Konditorei-Verkauf, in einem Töffgeschäft, und ich habe die Anlehre als Töpferin gemacht. Die ­Depressionen kamen immer zurück. Ich trank und habe wieder meine Stellen verloren. Ein Psychologe verschrieb mir drei verschiedene Antidepressiva, irgendwann gab er mir Ritalin. Es waren 57 Tabletten am Tag. Zuerst ging es bergauf, ich wurde zu einem Speedy Gonzalez, konnte mehr arbeiten, mehr leisten. Und plötzlich kam der grosse Zusammenbruch. Ich entwickelte eine Psychose, es war eine Folge des Ritalin. Ich hörte auf zu trinken, aber fing an zu spinnen. Die Leute begannen mich zu meiden. Ich hörte Dinge, die nicht da waren. Ich bekam Angst, schlafen zu gehen, die Augen zu schliessen, ich blieb tagelang wach. Ich lief durch Zürich wie in einem Game. Alles war unwirklich. Ich nahm jemanden bei mir auf, weil ich ihn ver­ wechselt hatte. Ich erkannte die Leute nicht mehr und dachte, sie lassen Gas in meine Wohnung. Ich nahm Schlaftabletten, 30

Sandra Brühlmann (37) führt als erste Frau in Zürich durch ihren sozialen Stadtrundgang.

bekam Wasser und blaue Flecken nur schon von einem leichten Druck. Wahrscheinlich waren es Vergiftungserscheinungen. Ich war nur noch Haut und Knochen und verwahrloste in der Wohnung. Irgendwann wurde ich von der Polizei gefunden und in Handschellen abgeführt. Meine Wohnung wurde geräumt, ich lebte auf der Strasse. Erst später im Suneboge, einer Wohn- und Arbeitsgemeinschaft, habe ich gemerkt, was es im Leben alles für schöne Dinge gibt. Wie sehr mir die Ausflüge mit anderen helfen. Auf den Ballenberg oder an die Sihl. Es ist so wichtig, dass man solche Sachen machen kann. Dass man überhaupt wieder einen Sinn im ­Leben entdeckt. Ich war so dankbar, als ich aus der Psychose kam. Es war, als ob ich zum ersten Mal überhaupt leben würde. Ich bin nun 37 und habe meine Chancen auf Karriere und ­Familie vertan. Ich stehe ganz am Anfang. Aber ich bin jetzt seit sechs Jahren trocken, habe gute Medikamente und bin stabil, ich lebe selbständig in einer Wohnung. Ich möchte eine Ausbildung zur Peer-Arbeiterin machen. In der Peer-Arbeit helfen Leute, die selbst durch psychische Krisen gegangen sind, anderen, ihren Weg zu finden. Ich habe gelesen, dass es sehr wenige Prozent sind, die es aus ihren Problemen, ihrer Sucht hinausschaffen. Es muss doch möglich sein, diese Prozentzahlen zu heben. Ich habe einige Ideen und glaube, ich könnte dazu beitragen.» Aufgezeichnet von DIANA FREI Surprise 474/20


Solidaritätsgutscheine Soziale Stadtrundgänge Aufgrund der aktuellen Corona-Sitaution musste Surprise am 17. März den Verkauf des Strassenmagazins und die Sozialen Stadtrundgänge bis auf Weiteres einstellen. Dies stellt alle vor massive Herausforderungen, auch die 14 Stadtführerinnen und Stadtführer. Surprise setzt momentan alles daran, die Verkaufenden und Stadtführenden finanziell und sozial zu begleiten.

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Strassenmagazins und von den Führungen abhängig. Sie verlieren auf einen Schlag eine wichtige Einnahmequelle, Tagesstrukturen und soziale Netze. Unterstützen Sie die betroffenen Verkaufenden staatliche Hilfe finanziert, mit einer Spende. Dank der Corona-Spenden konnten wir bereits Anfangs April

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und Stadtführenden sowie den Verein Surprise, der sich ohne

denjenigen Verkaufenden, die fast ausschliesslich von Surprise leben, während des Verkaufsstopps einen Lohnausfall zahlen, genauso den Stadtführenden. Zudem hat Surprise einen «NotfallTopf» eingerichtet, der bei Geldnot schnell unterstützt. Weitere Zahlungen sind geplant. Diese Massnahmen wären ohne Sie nicht möglich. Vielen herzlichen Dank allen, die uns bis jetzt unterstützt haben! Während des Verkaufs-Stopps finden Sie das aktuelle Strassenmagazin kostenlos online.

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