Surprise Nr. 473 «Corona-Ausgabe»

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Strassenmagazin Nr. 473 17. bis 29. April 2020

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass

Sonderheft

Lockdown

Was die Einschränkung des öffentlichen Lebens mit dem Rand der Gesellschaft macht

CoronaKrise Gratis lesen – solidarisch spenden

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GESCHICHTEN GESCHICHTENVOM VOMFALLEN FALLEN UND UNDAUFSTEHEN AUFSTEHEN Kaufen KaufenSie Siejetzt jetztdas dasBuch Buch«Standort «StandortStrasse Strasse––Menschen MenschenininNot Notnehmen nehmen das dasHeft Heftinindie dieHand» Hand»und undunterstützen unterstützenSie Sieeinen einenVerkäufer Verkäuferoder odereine eine Verkäuferin Verkäuferinmit mit1010CHF. CHF. «Standort «Standort Strasse» Strasse» erzählt erzählt mitmit den den Lebensgeschichten Lebensgeschichten von von zwanzig zwanzig Menschen, Menschen, wie wie ununterschiedlich terschiedlich diedie Gründe Gründe fürfür den den sozialen sozialen Abstieg Abstieg sind sind – und – und wie wie gross gross diedie SchwierigSchwierigkeiten, keiten, wieder wieder aufauf diedie Beine Beine zuzu kommen. kommen. Porträts Porträts aus aus früheren früheren Ausgaben Ausgaben des des Surprise Surprise Strassenmagazins Strassenmagazins ergänzen ergänzen diedie Texte. Texte. Der Der Blick Blick aufauf Vergangenheit Vergangenheit und und Gegenwart Gegenwart zeigt zeigt selbstbewusste selbstbewusste Menschen, Menschen, diedie es es geschafft geschafft haben, haben, trotz trotz sozialer sozialer und und wirtschaftliwirtschaftlicher cher Not Not neue neue Wege Wege zuzu gehen gehen und und einein Leben Leben abseits abseits staatlicher staatlicher Hilfe Hilfe aufzubauen. aufzubauen. Surprise Surprise hathat siesie mitmit einer einer Bandbreite Bandbreite anan Angeboten Angeboten dabei dabei unterstützt: unterstützt: Der Der Verkauf Verkauf des des Strassenmagazins Strassenmagazins gehört gehört ebenso ebenso dazu dazu wie wie derder Strassenfussball, Strassenfussball, derder Strassenchor, Strassenchor, diedie Sozialen Sozialen Stadtrundgänge Stadtrundgänge und und eine eine umfassende umfassende Beratung Beratung und und Begleitung. Begleitung. 156156 Seiten, Seiten, 3030 farbige farbige Abbildungen, Abbildungen, gebunden, gebunden, CHF CHF 4040 inkl. inkl. Versand, Versand, ISBN ISBN 978-3-85616-679-3 978-3-85616-679-3 Bestellen Bestellen beibei Verkaufenden Verkaufenden oder oder unter: unter: surprise.ngo/shop surprise.ngo/shop Weitere Weitere Informationen Informationen T +41 T +41 6161 564 564 9090 9090 | info@surprise.ngo | info@surprise.ngo | surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: | Facebook: Surprise Surprise NGO NGO INS_Kurzportraet_GzD_Layout 1 09.05.17 15:43 Seite 1 INS_Kurzportraet_GzD_Layout 1 09.05.17 15:43 Seite 1

Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Erlebnis Erlebnis

Expertenrolle Expertenrolle

SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf2die Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Gesellschaft. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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TITELBILD: BENI BLASER

Editorial

Courant normal Die Corona-Krise trifft alle am Rand der ­Gesellschaft besonders hart. Und trotzdem, oder genau deshalb, haben wir die ­Hoffnung, dass sich vielleicht ein paar ­Gewissheiten ändern werden. Dass wir ­Grundeinstellungen zulassen, deren ­Wichtigkeit sich jetzt deutlich zeigt. Hilfsbereitschaft. Solidarität. Plötzlich zeigt die Satellitenkarte reinere Luft über Europa und China. Und plötzlich flackert das Grundeinkommen als mög­ licher Lösungsansatz wieder auf. Werden jetzt Utopien wahr? Die Wahrscheinlichkeit, dass der Courant normal schneller wieder da ist als erwartet, ist gross. Aber vielleicht hat sich bis dann der Courant normal der Gedanken ein bisschen ver­ändert. Wir haben zugeschaut, wie der Bund für die Wirtschaft Milliardenkredite sprach, während wir nicht wussten, wie ­unsere ­Verkaufenden nur schon die ­kommenden Wochen über­stehen sollen.

Die grosse Leere

4 Corona-Krise

Wer in den USA den Menschen auf der Strasse hilft

4 Corona-Krise

Die Timeline der Verkaufsstopps

Häuser, Strassen, Bahnhöfe, Restaurants, das eigene Zuhause – alles Orte, die zu sozialen Räumen werden, sobald wir sie bewohnen und begehen. Was aber, wenn sie plötzlich fast menschenleer sind? Zehn Fotografinnen und Fotografen haben diese Szenerie in Bildern doku­ mentiert, die wir kostenfrei abdrucken dürfen. Dafür danken wir.

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7 Fokus Surprise

Leben ohne die Strasse

7 Vor Gericht

Eintracht dank Dissens

Trotzdem könnten sich langsam Mosaiksteinchen einer anderen Wirklichkeit in unser Denken einfügen. Vielleicht wird es nicht die bessere Luft sein, die uns erhalten bleibt, vielleicht wird es auch kein Grund­ einkommen sein. Aber die Möglichkeit zum Beispiel, dass man sich über soziale ­Systeme irgendwann genauso intensiv Gedanken macht wie über diejenigen der Wirtschaft. Hugo Fasel, der Direktor der Caritas Schweiz, meint im Interview auf S. 22, wir hätten jetzt ein weisses Blatt vor uns und könnten es neu bemalen. Wir sähen gerne eine Welt, in der die Schwachen nicht abgehängt werden. Nicht im Ausnahmezustand, und auch nicht im Courant normal.

DIANA FREI

Redaktorin

8 Zuhause bleiben

Kochen, Beten, Briefe schreiben

18 Zusammenleben

Wem gilt unsere Solidarität?

22 Lockdown

«Die Existenz aller muss gesichert sein»

24 Literatur

Im Jetzt für’s Jetzt geschrieben

25 Film

26 Veranstaltungen 27 Tour de Suisse

Pörtner in Dübendorf

28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt

«Ich sehe auch eine Chance»

Ein Schluck kalte Milch

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Wenn soziale Distanz zum Problem wird Corona-Krise In den USA leben besonders viele Menschen auf der Strasse.

Sie sind oft auf sich selbst gestellt und können sich vor dem Coronavirus kaum schützen. Doch es gibt auch Hilfe. TEXT  KLAUS PETRUS

Kein Strassenverkauf mehr

28. Februar

10. März

12. März

13. März

14. März

Die weitreichenden Massnahmen zur Ein­ dämmung der Corona-­Pandemie haben die ­Strassenzeitungen weltweit vor dieselbe Frage gestellt: Wie weiter? Die meisten haben den Strassenverkauf gestoppt und auf alter­ native Vertriebswege umgestellt – welches Magazin zu welchem Zeitpunkt, zeigt diese Timeline. Nur wenige sind weiterhin auf der Strasse erhältlich, teils mittels bargeldloser Bezahlung. Der eingebrochene Verkauf macht ­allen Mitgliedern des Internationalen Netzwerks der Strassenzeitungen INSP zu schaffen.

Scarp de’ tenis, Mailand, Italien

Strassen­ zeitung zebra. giornale di strada, Brixen/ Bressanone, Italien Hecho en BS AS, Buenos Aires, ­Argentinien

Homeward Street Journal, Sacramento, USA Gatemagasinet Asfalt, Stavanger, Norwegen

=Oslo, Oslo, Norwegen Sorgenfri, Trondheim, Norwegen Kupfermuckn, Linz, Österreich 20er, Innsbruck, Österreich Street Roots, Portland, USA

Kralji Ulice, Ljubljana, Slowenien StreetZine, Dallas, USA

Zusammengestellt von SAR A WINTER SAYILIR

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FOTO: DAN MEYERS

«Bleibt zuhause, gebt Corona keine Chance!» So lautet Notunterkünfte regelmässig gereinigt sowie mobile Toi­ die derzeitige Vorgabe zahlreicher Regierungen an die letten und Handwaschstationen aufgestellt werden. Zu­ Bevölkerung. Vielen fällt das leicht, sie haben ein Zimmer dem hat die Stadt Kontakt zu grossen Discountern auf­ oder vielleicht sogar eine ganze Wohnung mitsamt Ter­ genommen und sie gebeten, überschüssige Seifen und rasse, auf jeden Fall aber ein Dach über dem Kopf. Für andere Toilettenartikel kostenlos an Obdachlose zu ver­ Millionen von Menschen aber gilt das nicht. Allein in den teilen. USA soll es 550 000 Obdachlose geben, fast die Hälfte sind Familien mit Kindern. Sie leben und schlafen auf der Hilfsangebote massiv reduziert Stras­­se oder finden zeitweise Unterschlupf in Notzentren Für Bayer vom INSP Nordamerika zeigt die gegenwärtige oder Heimen. Krise, wie marode das System auch in «Normalzeiten» Gerade sie sind dem Coronavirus besonders ausge­ ist. So sei es für viele Menschen am Rande der Gesellschaft setzt, und die meisten von ihnen gehören einer Risiko­ zum Alltag geworden, dass sie keinen oder nur einen be­ gruppe an. Erkältung, Lungenentzündung, Tuberkulose, schränkten Zugang zu Hygieneartikeln und einer grund­ Diabetes und Herzleiden sind typische Beschwerden, an legenden Gesundheitsversorgung haben. Solange sich denen viele Obdachlose ohnehin daran nichts ändere, würde auch eine Eindämmung der Corona-Pan­ schon leiden – umso verletzlicher sind sie angesichts der Ansteckungs­ demie das grundlegende Übel nicht wucht dieses Virus. beseitigen können. «Wie kann man sich sauber hal­ Eine andere Vorgabe der Ge­ ten, wenn man kein frisches Wasser sundheitsbehörden lautet, zu ande­ hat?» Die Frage von Israel Bayer ist ren Menschen auf Distanz zu gehen, nur rhetorisch gemeint, denn der Lei­ um so die Ansteckungsgefahr zu ter des Internationalen Netzwerks der vermindern und den Verlauf der Strassenmagazine INSP Nordamerika Pandemie zu verlangsamen. Für steht täglich vor dem gleichen Pro­ ISR AEL BAYER, viele Institutionen, die sich um Ob­ blem: Auf der einen Seite ist Hygiene dachlose, Süchtige oder Armutsbe­ INSP NORDAMERIK A für die Obdachlosen in diesem Sta­ troffene kümmern, hat dies schwer­ dium der Pandemie das A und O, auf wiegende Konsequenzen. So musste der anderen Seite haben viele von ih­ der Alano Club, ein Rehabilitati­ nen schlicht keinen Zugang zu frischem Wasser und Seife. onszentrum in Portland (Oregon, USA), seine Gesprächs­ Hilfsorganisationen in den USA haben den lokalen therapien und Meetings massiv reduzieren; vor allem die Behörden deshalb vorgeschlagen, sie sollten den Obdach­ Gruppengespräche für Suchtkranke wurden aufgrund des losen und Armutsbetroffenen öffentliche Parktoiletten, Social Distancing vorübergehend abgesagt. Schwimmbäder oder Wellnessstudios zugänglich machen. Unter den Betroffenen sind auch viele Obdachlose. Sie In Detroit haben Menschen, welche ihre Wasserrechnun­ trifft es besonders hart, denn sie sind oft auf sich selbst gen nicht mehr bezahlen können, bis auf Weiteres freien – gestellt und ohnehin schon isoliert. «Dabei wäre der Aus­ das heisst: kostenlosen – Zugang zu warmem Wasser. Und tausch mit anderen Menschen für sie genau jetzt wichtig», San Francisco hat eine Soforthilfe in Höhe von fünf Mil­ sagt Brent Canode, Geschäftsleiter des Alano Clubs. Er lionen US-Dollar zugesichert. Mit dem Geld sollen die rechnet damit, dass viele deshalb vielleicht noch mehr

«Wie kann man sich sauber halten, wenn man kein frisches Wasser hat?»

16. März

17. März

18. März

19. März

20. März

23. März

24. März

Shedia, Griechenland bodo, Bochum/Dortmund, Deutschland BISS, München, Deutschland Strassenkreuzer, Nürnberg, Deutschland Asphalt, Hannover, Deutschland Abseits, Osnabrück, Deutschland Zeitschrift der Strasse, Bremen, Deutschland Licevlice, Skopje, Nordmazedonien Apropos, Salzburg, Österreich Megaphon, Graz, Österreich Peatón, Piura, Peru

Surprise, Schweiz Denver Voice, Texas, USA The Curbside Chronicle, Oklahoma City, USA The Springs Echo, Colorado Springs, USA Drobs, Dresden, Deutschland

L’Itinéraire, Québec, Kanada Straatnieuws, Utrecht, Niederlande The Bridge, Memphis, USA

Toledo Streets Newspaper, Ohio, USA Hinz&Kunzt, Hamburg, Deutschland

Hempels, Kiel, Deutschland Megaphone, Vancouver, Kanada Street Vibes, Cincinatti, USA Ocas’’, São Paulo, Brasilien

Kippe, Leipzig, Deutschland Straatnieuws, Den Haag/Rotterdam, Niederlande The Big Issue North, Manchester, UK The Big Issue, London, UK Street Sheet, San Francisco, USA One Step Away, Philadelphia, USA

Mi Valedor, Mexico-City, Mexiko Spare Change News, Cambridge/MA, USA Ireland’s Big Issue, Dublin, Irland The Big Edition, Kamloops, Kanada

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FOTO: JOANNE ZUHL

Hilfe von unten: Obdachlose und Freiwillige in Portland helfen Bedürftigen mit dem Nötigsten aus.

Drogen konsumieren oder rückfällig werden. Die regel­ mässigen Treffen im Alano Club helfen den Obdachlosen, ihren Tag zu strukturieren. Und sie sind ein Rettungsan­ ker, wenn der Druck von der Strasse zu gross wird, die Menschen am Verzweifeln sind und nicht mehr weiter­ wissen. «Allein in Portland sterben jeden Tag fünf Men­ schen an ihrer Alkoholsucht, zwei weitere an einer Über­ dosis. Ich befürchte, jetzt werden es noch mehr», sagt Canode. Nähe über Telefon und Internet Inzwischen hat der Alano Club Massnahmen ergriffen. «Wir haben eine Videokonferenz durchgeführt und die Leute informiert, wie es nun weitergehen soll. Wir waren völlig überrascht, es haben 500 Leute daran teilgenom­ men», sagt Canode. Das Internet biete den Menschen eine gute Möglichkeit, miteinander in Kontakt zu bleiben. «So wissen sie, dass sie nicht allein sind.» In einem nächsten Schritt geht es nun darum, digitale Kleingruppen zu bil­

den, in denen sich zum Beispiel suchtkranke Obdachlose untereinander organisieren und austauschen können. Doch nicht alle sind mit dem Internet vertraut. Einige Obdachlose wissen offenbar nicht, was die Online-Video­ plattformen Skype oder Zoom sind oder wie man sie be­ nutzt, andere haben gar keinen Zugang zu einem Com­ puter oder einer entsprechenden App auf dem Handy. Für sie richtet der Alano Club spezielle Telefonleitungen ein. Canode weiss sehr gut, dass solche Massnahmen die Treffen im Club nicht ersetzen können, auch wenn sie in dieser Krisenzeit eine wichtige Stütze im Alltag der Be­ troffenen sind. «Der Schlüssel zur Genesung ist und bleibt der soziale Kontakt.»

Die Informationen zu diesem Artikel entstammen Beiträgen, die auf der Website des International Network of Street Papers insp.ngo/news veröffentlicht werden.

25. März

26. März

27. März

1. April

6. April

Iso Numero, Finnland Liceulice, Belgrad, Serbien Real Change, Seattle, USA

Street Sense Media, Washington DC, USA

The Big Issue, Australia The Big Issue, Kapstadt, South Africa,

Marie, StreetWise, Vorarlberg, Chicago, USA Österreich CAIS, Lissabon, Portugal

8. April

Weiterhin auf der Strasse erhältlich:

Nota Bene, Bratislava, Slowakei

The Big Issue, Japan The Big Issue, Südkorea The Big Issue, Taiwan Faktum, Göteborg, Schweden Situation Sthlm, Stockholm, Schweden Z! De Amsterdamse straatkrant, Amsterdam, Niederlande Hus Forbi, Dänemark Augustin, Wien, Österreich Trott-War, Stuttgart, Deutschland Draussenseiter, Köln, Deutschland Fiftyfifty, Düsseldorf, Deutschland The Contributor, Nashville, USA Stand 9.4.2020

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Fokus Surprise

FOTO: TOBIAS SUTTER

Leben ohne die Strasse Als wir am 17. März erwachten, war die Welt eine andere: Tags zuvor hatte der Bundesrat die «ausserordentliche Lage» erklärt und drastische Mass­ nahmen zur Eindämmung des Co­ ronavirus beschlossen. Surprise musste den Verkauf des Strassenma­ gazins und die Sozialen Stadtrund­ gänge einstellen. Das traf den Verein mit aller Härte. Den Verkaufenden und Stadtführenden fehlt nicht nur das Geld, sondern auch die Tages­ struktur, es fehlen die sozialen Kon­ takte. Auch in der Strassenfuss­ ball-Liga rollt kein Ball mehr. Der Homeless World Cup in Finnland wurde abgesagt. Der Surprise Stras­ senchor ist verstummt. Die Cafés ­Surprise sind alle geschlossen. Das Schicksal der weitverzweig­ ten Surprise-Familie in den vergan­ genen Wochen hat mich berührt – und mir wieder gezeigt, wie schnell man auch in der reichen Schweiz den Boden unter den Füssen verlieren kann. Dani, der nun mit 700 Franken im Monat über die Runde kommen soll. André, der bekundet, ohne Be­ schäftigung werde er wieder zur Fla­ sche greifen. Roger, dessen Selbst­ isolation in der 1-Zimmer-Wohnung ihn an die Zeit im Gefängnis erinnert. Doch vieles gibt auch Anlass zur Hoffnung. Neue Kommunikations­ formen, die uns ermöglichen, aus der Distanz mit unseren Verkaufenden, Stadtführenden, Sängerinnen und Fussballspielern in Kontakt zu blei­ ben. Und: die unglaubliche Solidarität von allen, die an Surprise glauben. Wir tun alles, um Surprise heil durch diese Krise zu bringen (siehe auch S. 8). Dazu sind wir weiterhin und dringend auf Spenden angewiesen. Schon jetzt –herzlichen Dank für die grosszügigen Spenden, die Zuschrif­ ten und motivierenden Worte. Wir sind überwältigt!

JANNICE VIERKÖT TER,  Geschäftsleiterin Surprise

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Vor Gericht

Eintracht dank Dissens Es braucht den Dissens – für den besseren Konsens. Die Justiz kennt ihn als jenen Akt, mit dem eine Richterin einem Urteil ein – oft entgegengesetztes – Nebenurteil anfügt. Der Dissens hat keine Rechtskraft, nur die Macht seiner Argumente. Vielerorts ist er ein anerkannter Bestandteil der Rechtsöf­ fentlichkeit. Denn so wird transparent, wel­ che Ansichten sich gegenüberstanden – was oft auch das gesellschaftliche Meinungs­ spektrum widerspiegelt. In der Schweiz ist Zürich einer von nur vier Kantonen, in de­ nen abweichende Meinungen publiziert werden. Und der einzige, in denen auch Ge­ richtsschreibende ein abweichendes Votum abgeben dürfen. Dieses Recht nutzte eine Gerichtsschrei­ berin des Verwaltungsgerichts Zürich, als sie im Oktober 2018 einen Landesverweis gegen einen hier aufgewachsenen Nord­ mazedonier infrage stellte. Gegen den heute 34-Jährigen lief seit Jahren ein Wegwei­ sungsverfahren, weil er in jungen Jahren Autos geknackt und daraus Radios und Benzinkarten gestohlen hatte und sich im Strassenverkehr so ziemlich alles zuschul­ den kommen liess: Er fuhr ohne Gurt oder Ausweis, am Telefon, zu schnell. 2009 baute er einen Crash, bei dem ein Freund lebens­ gefährlich verletzt wurde. Immer noch fuhr er weiter. Selbst als er dafür 23 Monate kas­ sierte und die Behörden den Landesverweis androhten. 2016 folgte der Entzug seines Niederlassungsrechts in der Schweiz. Dabei war der Mann seit 2014 gar nicht mehr straffällig geworden. Er hatte eine

Freundin, eben war das Baby gekommen. Doch nun begründete das Verwaltungsge­ richt den Landesverweis nicht mehr nur mit den Strassenverkehrsdelikten. Sondern auch mit der «nicht erfolgten wirtschaftlichen In­ tegration». Sprich: Betreibungen und Ver­ lustscheinen von rund 200 000 Franken so­ wie fehlenden Bemühungen zur Abzahlung. Das sei «mutwillige Schuldenwirtschaft», ein schwerwiegender Verstoss gegen die öf­ fentliche Ordnung. Weswegen die harsche Wegweisungsmassnahme verhältnismässig sei. Dem widersprach die beteiligte Gerichts­ schreiberin diametral. Bezüglich der Schul­ den stellte sie fest: Der Mann war vor allem beim Staat verschuldet: Gerichtskosten, Bussen und Gebühren des Strassenverkehrs­ amts sowie Rückstände bei Steuern und Ver­ sicherungen. Und sie fügte an, was die Rich­ ter unerwähnt gelassen hatten: Der Lohn des Mannes war gepfändet. Nun gibt ihr das Bundesgericht Recht. So lange nach den schwereren Delikten hät­ ten die Richter, erstens, wegen «derart ge­ ringfügigen» weiteren Vorkommnissen kei­ nen Landesverweis aussprechen dürfen. Zweitens habe sich der Mann nicht mut­ willig verschuldet. Das ergebe sich aus dem Dissens der Gerichtsschreiberin. Bei einer Lohnpfändung sei eine Schuldentilgung ausserhalb des Betreibungsverfahrens gar nicht möglich. Doch die Frau lag mit ihrem Dissens nicht nur rechtlich richtig. Der Nordmazedonier hat nun eine Festanstel­ lung, berichtet seine Anwältin. Keine offe­ nen Betreibungen mehr. Das zweite Kind ist unterwegs. Ausser sich sei er gewesen vor Freude über den Bundesgerichtsent­ scheid und kam persönlich in der Kanzlei vorbei, um sich zu bedanken. Mit Lindor­ kugeln und Toffifee. Y VONNE KUNZ  ist Gerichtsreporterin

in Zürich. 7


Flughafen Zürich, 03.04.2020. FOTO: BENI BL ASER 8

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PORTRÄT: KLAUS PETRUS

Isolation der Ausgegrenzten Zuhause bleiben Auch Surprise-Verkaufende müssen jetzt – wie alle – ihre Zeit möglichst in den eigenen vier Wänden verbringen. Momentaufnahmen aus den Zwangsferien. TEXTE  ANDRES EBERHARD UND SARA WINTER SAYILIR

Ausgangsbeschränkungen, Selbstisolation und Social Distancing treffen die Surprise-Verkaufenden, -Stadtführerinnen und Chorsänger besonders hart. Was anderen durch die Gesundheitsschutzmassnahmen und deren wirtschaftliche Folgen jetzt erst zum Problem wird, war für viele bei Surprise schon vorher Realität: kein sicheres Einkommen, kaum kulturelle Teilhabe, fehlende Tagesstruktur, wenig Sozialkontakte. Der Verkauf des Strassen-

Danica Graf, 45, Basel

«Als es anfing mit dem Corona, dachte ich, das sei kein Problem für mich. Ich nehme dann einfach jeden Tag, wie er kommt. Mache mir nicht zu viele Gedanken über die Zukunft, geniesse, was jetzt gerade ist. Vor fünf Tagen hatte ich dann eine ziemliche Krise, ich musste die Ambulanz rufen. Ich hatte viel zu hohen Blutdruck, über 210, und Kreislaufprobleme. Ich wusste nicht, warum, konnte mir nicht vorstellen, was das jetzt ist, und habe deshalb Medgate angerufen, und die haben die Ambulanz geschickt. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich in Panik bin. Mir ist es dann ein paar Tage wirklich nicht gut gegangen. Ich hatte solche Panikattacken schon einmal, vor ganz vielen Jahren, aber nicht so schlimm wie dieses Mal. Nun telefoniere ich jeden Tag mit meiner Psychologin. Es sind wohl alte Ängste, die diese Attacke ausgelöst haben: Angst vor Kontrollverlust – kein Kontakt mehr mit Menschen, ich weiss nicht, was mit der Arbeit wird, was mit dem Geld wird – und das Gefühl der Hilflosigkeit. Als dann die Frage aufkam, ob ich für einige Zeit in eine Klinik gehen solle,

magazins, der Strassenchor oder der Strassenfussball bieten da normalerweise einen Ausgleich. Nun lässt sich dank der grosszügigen Spenden ein Teil der finanziellen Einbussen der Verkaufenden auffangen. Die soziale Einbindung jedoch, die Surprise den Menschen bietet, lässt sich nicht ersetzen. Was dies für die Einzelnen bedeutet, haben wir über Telefoninterviews erfragt. Die Gespräche sind Ende März geführt worden.

weil ich hier zuhause allein bin und immer wieder mit Panikattacken zu kämpfen habe, musste ich mich wegen meines Hustens auch auf Corona testen lassen – zum Glück negativ. Ich werde aber nicht in die Klinik gehen, ich glaube nun, ich schaffe das schon irgendwie. Ich habe mit Dingen angefangen, die ich schon lange nicht mehr gemacht habe: lesen, Briefe schreiben an Leute im Gefängnis, nähen, spazieren gehen im Wald. Gestern sind Lilian, meine Stadtführungskollegin, und ich gemeinsam im Wald spazieren gewesen. Meine restlichen Kontakte beschränken sich aufs Telefon. Meine erwachsene Tochter ist derzeit bei meinem Ex-Freund in Quarantäne, weil wir uns gegenseitig momentan nicht guttun, leider. Wir stressen uns in dieser sehr schwierigen Situation. Ich war erst nicht sicher, ob ich sie im Stich lasse, wenn ich sie zu ihm schicke, aber es geht nicht anders. Ich musste mir eine klare Tagesstruktur einrichten, damit ich meine Ängste im Griff habe. Ich habe kein Radio mehr gehört, keine Zeitung mehr gelesen, keine Nachrichten geschaut, ich musste das jetzt ein bisschen ausblenden. Alles muss so normal wie möglich laufen. Früh aufstehen, aufräumen, lüften, putzen, essen, Tochter anrufen, mit der Psychologin telefonieren, mittags laufen gehen. Ich wohne in Birsfelden direkt am Wald, das ist praktisch. Die vielen Telefongespräche mit anderen sind sehr hilfreich, auch wenn ich es in der Zeit, als es mir nicht so gut ging, nicht so sehr mochte, da mich die Themen der anderen teilweise auch wieder in Panik versetzt haben. Aber an sich ist es sehr schön, Kontakt zu haben.» WIN

«Ich habe immer wieder mit Panik zu kämpfen.»

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Yemane Tsegay, 60, Ittigen

«Ich bin am Kochen, heute gibt es etwas ganz Einfaches: Teigwaren, Eier und Apfelmus. Kochen ist mein Hobby, früher war es mein Beruf. Ich kochte fünfzehn Jahre lang. Dann geriet ich an die falschen Leute und kam in die Drogen. Eine Zeit lang ‹mischelte› ich oben beim Bahnhof. Heute bin ich als einziger Surprise-Verkäufer in Burg­dorf ständig unterwegs zwischen Bahnhof, Post und Coop. Hoooi Leo! Jetzt ist grad eine Katze reingekommen, wir haben zwei Tiger, Leo und Charlie. In diesen Tagen bin ich viel zuhause, mache den Frühlingsputz. Jeden Tag spaziere ich zum Lidl und kaufe ein. Kürzlich rief mich ein Freund an und bot mir an, finanziell auszuhelfen, falls es nicht mehr geht. Aber es geht. Der Surprise-Verkauf ist für mich ein Zusatzverdienst, ich lebe von einer IV. Ich habe Leukämie und eine andere schwere Krankheit. Aber geht mir gut. Angst vor Corona habe ich nicht, ich bin einfach vorsichtig. Seit ich bei Surprise bin, geht es aufwärts mit mir. Ich habe eine super Frau kennengelernt. Gemeinsam haben wir zu Gott gefunden. Alle vierzehn Tage treffen wir uns in einem Hauskreis. Nun darf man das auch nicht mehr. Die Organisatorin hat gesagt, dass sie bald online etwas machen werde. Ich bete viel, und höre gläubige Musik. Ich gehe auf Youtube, gebe ‹worship› ein und tanze dazu in der Wohnung.» EBA

«Angst macht mir, dass wir das Virus nicht sehen können. Corona ist wie Luft. Ich bin Diabetiker und habe weitere gesundheitliche Probleme. Vor allem mit den Augen, aber auch mit der linken Hand, der Leber und der Lunge. Meine Familie macht sich Sorgen um mich. Meine Frau und die beiden Söhne sind noch in Eritrea, seit Jahren warte ich auf sie. Wir haben gerade telefoniert. Ich habe ihnen gesagt: Es ist okay, ich passe schon auf. Raus gehe ich nur noch, um einzukaufen. Normalerweise würde ich am Bärenplatz Surprise verkaufen. Ich lebe von einer IV-Rente. Was vom Verkauf der Surprise-Hefte übrig bleibt, lege ich in eine Metallbox. Davon leiste ich mir ein paar Extras. Nun leert sich die Box langsam. Ich bin viel allein im Moment. Ich bekomme nur noch von der Spitex Besuch. Die Betreuerin kommt zweimal pro Tag. Ich wohne seit einem Jahr in einer Zweizimmerwohnung in Ittigen. Ich schaue, dass ich immer etwas zu tun habe und in Bewegung bleibe. Mein Sport sind zurzeit die 38 Stufen im Treppenhaus, zwischen Wohnung und Haustür. Zuhause habe ich ein Poster der Young Boys aufgehängt. Ich bin ein grosser Fussballfan. Natürlich hoffe ich, dass irgendwann wieder gespielt wird. Aber zuerst bitte ich Gott, dass das Virus weggeht – nicht für mich allein, sondern für alle Menschen auf dieser Welt.» EBA

«Ich tanze in der Wohnung.»

PORTRÄTS: RUBEN HOLLINGER UND ANDREAS EGGENBERGER

Ernst Aebersold, 62, Burgdorf

«Mein Sport sind 38 Treppen­stufen.»

Danke! Merci! Grazie! Grazia!

artischock.net

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Wir bedanken uns ganz herzlich bei Surprise und den Fachpersonen der Sozialen Arbeit für ihr unermüdliches Engagement – auch in diesen turbulenten Zeiten. Dank euch erhalten die Schutzbedürftigsten unserer Gesellschaft eine Stimme und die überlebenswichtige Unterstützung. PS: Je mehr Mitglieder wir im Berufsverband vereinen, desto einflussreicher werden wir! avenirsocial.ch/mitglied-werden

Berufsverband Soziale Arbeit Schweiz Association professionnelle suisse du travail social Associazione professionale lavoro sociale Svizzera Associaziun professiunala svizra da la lavur sociala

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Allschwil, Basel, 30.03.2020. FOTO: ELENI KOUGIONIS

St. Johann, Basel, 30.03.2020. FOTO: ELENI KOUGIONIS

Paradeplatz, Zürich, 01.04.2020. FOTO: SAMUEL SCHALCH

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Hans Rhyner, 65, Zürich

«Ich bin gerade in Elm bei meiner Mutter. Ich bringe ihr Holz zum Feuern. Sie ist 86 und lebt in einem alten Bauernhaus. Ich brauche das, immer mal wieder z’Berg gehen zu können. Das ist mein Leben. Zuhause rumsitzen den ganzen Tag, das kann ich einfach nicht. Vor dem Virus haben wir Respekt, aber keine Angst. Meine Mutter ist noch quicklebendig. Sie war ihr Leben lang fast nie krank, und ich selber hatte seit meiner Kindheit nie Fieber. Wir sind auch nicht eine Familie, in der man sich ständig abknutscht. Aber zwei Küsschen, um zu zeigen, dass man sich gerne hat, das ist mir wichtig, auch jetzt. Gruppen treffen würde ich im Moment aber sicher nicht. Ich bin ja sowieso eher ein Einzelgänger, hatte immer dieselben zwei bis drei Kollegen. Das kommt mir in der jetzigen Situation entgegen. Sorgen bereitet mir, dass man nicht weiss, wie lange das noch so weitergeht. Werden es Monate oder Jahre, dann fände ich das schwierig. Ich habe in den fünf Jahren, seit ich in meiner Wohnung in der Hardau Zürich lebe, noch nie gekocht. Und es wäre mir recht, wenn das so bliebe. Den Zmittag esse ich immer auswärts, abends brauche ich dann praktisch nichts mehr. Zum Glück gibt’s bei der Metzg am Albisriederplatz nach wie vor ein Menü zum Mitnehmen für 11 Franken 50. Ohne Surprise muss ich finanziell etwas zurückstecken. Insgesamt 2700 Franken erhalte ich von AHV und Pensionskasse. Nach Abzug von Miete und Krankenkasse bleiben etwa 1500 Franken zum Leben. Um damit durchzukommen, muss ich rechnen. Ich war früher alkoholsüchtig. Meine grösste Herausforderung ist darum derzeit, mich 24 Stunden pro Tag nüchtern auszuhalten. Im Moment kann ich mich noch recht gut beschäftigen. Ich wasche, putze, löse Kreuzworträtsel und Sudoku, lese Zeitung oder die alten Surprise, die ich noch nicht so gut kenne. Und übermorgen gehe ich zusammen mit Peter und Ruedi (beide ebenfalls Surprise-Stadtführer bzw. -Verkäufer, die Red.) gleich noch mal nach Elm, dann kommt der Bauer und bringt mit dem Traktor einen Nachschub an Holz, das wir spalten und stapeln werden.» EBA

«Bei der Metzg gibt’s noch Zmittag.»

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«Ohne Surprise könnte meine Familie nicht leben. Ich habe sechs Kinder und bin alleinerziehend. Zudem unterstützen wir meine Mutter in Somalia. Sie verlor vor einem Jahr bei einem Bombenanschlag ihren linken Arm. Wir bezahlen ihr Medikamente und Essen, immer am 25. des Monats. Kürzlich sagte ich ihr am Telefon: ‹Mama, dieses Mal können wir dir kein Geld schicken.› Vor Kurzem schloss mein ältester Sohn die Lehre als Mechaniker auf einem Werkhof ab. Weil er nun auch Geld verdient, beschloss ich, uns bei der Sozialhilfe abzumelden. Jetzt kann er wegen Corona nicht arbeiten und bekommt nur einen Teil seines Lohns. Wir haben Rechnungen, die niemand bezahlen kann. Das Geld brauchen wir fürs Essen. Im Moment sind alle Kinder hier bei mir in Effretikon. Ausser meinem 18-jährigen Sohn Yusuf. Er ist in Somalia und hilft meiner Mutter, die sonst niemanden mehr hat. Zwei meiner Kinder sind noch in der Schule, sie lernen im Moment übers Internet. Mein Zweitältester, der in Basel in einer WG lebt und eine Lehre macht, ist für die Zwangsferien nach Hause gekommen. Meine jüngste Tochter ist elf und geistig behindert. Normalerweise helfen ein ‹Schweizer Mami› und ein ‹Schweizer Papi› bei der Betreuung. Das ist im Moment aber schwierig, denn sie sind schon älter und müssen wegen des Virus aufpassen. Unser Sohn kauft für sie ein und bringt ihnen die Sachen nach Winterthur. Wir gehen zwar jeden Tag raus, aber nicht länger als eine Stunde. Nur um zu spazieren, man kann ja nicht in die Berge oder Fussball spielen. Zuhause sitzen ist langweilig und macht auf Dauer psychisch krank. Viel lieber würde ich arbeiten gehen, auch freiwillig ohne Lohn. Ich könnte helfen, bei Surprise, für die Kirche, in den Spitälern. Ich habe einigen meine Hilfe angeboten, bis jetzt aber nichts gehört. Viele liebe Leute, die ich über Surprise kenne, haben mir aber per WhatsApp Mut gemacht und mir Kraft gewünscht. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Angst vor dem Virus habe ich keine. Ehrlich gesagt verstehe ich nicht, warum das Problem so gross gemacht wird. Auf der ganzen Welt sterben viele Menschen, an Bomben oder Hunger, die ganze Zeit. Darüber sollte man öfter sprechen. Es ist schlimm, dass Leute wegen einer Katastrophe sterben. Aber es ist normal. In Somalia passiert das seit dreissig Jahren praktisch jeden Tag. In der Schweiz kennt man das halt noch nicht.» EBA

«Es ist schlimm, aber normal.»

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PORTRÄTS: ANDREAS EGGENBERGER UND KLAUS PETRUS

Seynab Ali, 48, Illnau-Effretikon


Heiliggeistkirche, Bern, 29.03.2020. FOTO: KL AUS PETRUS

Pâquis, Genf, 19.03.2020. FOTO: PATRICK GILLIÉRON LOPRENO Barfüsserplatz, Basel, 19.03.2020. FOTO: ROL AND SCHMID

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winterhilfe Schweiz

Corona trifft viele Familien hart.

Claraplatz, Basel, 26.03.2020. FOTO: CHRISTIAN AEBERHARD

Wir leisten Soforthilfe. Mit einer Spende helfen Sie uns helfen. Danke und bleiben Sie gesund! IBAN CH68 0900 0000 8000 8955 1 Winterhilfe Schweiz, 8006 Zürich

Siedlung Glutschhöhe, Luzern, 30.03.2020. FOTO: FABIAN BIASIO


PORTRÄTS: KARIN SCHEIDEGGER UND ZVG

Urs Habegger, 64, Verkäufer in Rapperswil (wohnt in Affoltern a. A.)

Kibrom Mesfun, 60, Thun

«Dass ich keine Hefte mehr verkaufen kann, ist ein grosses Problem für mich. Ich arbeite morgens im Spital, nachmittags auf der Strasse: 50 Prozent in der Reinigung, 50 Prozent im Surprise-Verkauf. Mit dem Lohn vom Spital kann ich noch nicht einmal ganz die Wohnungsmiete von etwa 2000 Franken bezahlen. Mit meiner Frau und zwei meiner sechs Kinder lebe ich in einer 5,5-Zimmerwohnung in Thun. Meine Frau arbeitet auch 50 Prozent, als Pflegerin in Bern. Aber es reicht nicht für alles. Das Einkommen muss ja alle Ausgaben abdecken, vom Einkauf bis zu den Krankenkassenprämien. Ich hoffe, dass Surprise uns unterstützen kann. Im Spital ist noch alles normal, ausser auf der Notfallstation, da sind jetzt immer viele Leute. Sie testen, testen, testen auf das Virus. Bis anhin (Stand 24.3., die Red.) gab es in Thun aber erst einen einzigen Fall. Die Nachmittage, an denen ich sonst Surprise verkaufe, verbringe ich nun zuhause. Ich schaue fern oder unterhalte mich mit den Kindern. Beide sind noch in der Lehre, wegen Corona sind sie derzeit aber zuhause. Zum Glück sind sie schon 18 und 19 Jahre alt, da habe ich kein Betreuungsproblem. Meine Frau arbeitet auch Schicht. Wenn wir jetzt beide gleichzeitig frei haben, gehen wir ab und zu spazieren. Ist sie nicht da, gehe ich allein: eine halbe Stunde zum Bahnhof und zurück. Dort in der Unterführung verkaufe ich normalerweise Surprise. Manche Kunden nennen mich ‹Die Sonne von Thun›, weil ich mich so gerne mit ihnen unterhalte. Jüngere sagen ‹Capo› zu mir, das finde ich lustig. Nun treffe ich fast niemanden, wenn ich aus dem Haus gehe. Es ist auch sonst immer ruhig in Thun. Aber im Moment ist es sehr, sehr ruhig.» EBA

«Es reicht nicht für alles.»

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«In einem Dokfilm über mich habe ich einmal gesagt: ‹Was nützt es dir, gesund zu sein, wenn du alleine zuhause sitzt und wartest, bis jemand klingelt?› Das trifft die jetzige Situation ganz gut. Wegen Corona bin ich total gelassen. Was mir aber fehlt, sind die Menschen, die ich als Surprise-Verkäufer täglich treffe. Seit zwölf Jahren verkaufe ich die Hefte in der Bahnhofsunterführung von Rapperswil. In dieser Zeit haben sich viele Freundschaften entwickelt. Dass auch ich nun zuhause bleibe, hat vor allem mit Solidarität zu tun. Ich bin jemand, der immer das Positive sucht. Nun mache ich all das, wofür sonst nie Zeit ist. Ich war früher eine Zeit lang Strassenmusiker, komponierte und schrieb Kinderlieder. Diese übe ich jetzt wieder sehr ein und brenne Kopien der CD, die ich damals aufgenommen habe. Zudem habe ich die Erlebnisse und Erfahrungen, die ich rund um den Verkauf von Surprise gemacht habe, in Kurztexten aufgeschrieben. Der erste Band ist nun gedruckt, am zweiten arbeite ich noch. CDs und Büchlein verkaufe ich und verdiene mir damit einen Zustupf. Frei und unabhängig zu sein war mir immer sehr wichtig. Ich wollte nie von der staatlichen Fürsorge abhängig sein. Ich lebe vom Surprise-Verkauf, meine Ausgaben sind bescheiden. Ich bin sehr dankbar dafür, dass Surprise uns Verkäufer nun unterstützt, und mache mir Gedanken darüber, wie es dem Verein gelingt, das Loch in der Kasse zu stopfen. Wenn es mit Corona vorbei ist, wird der Heftverkauf aber sicher gut laufen! Langweilig wird mir nicht. Manchmal gehe ich raus in den Wald und nehme ein Buch zur Erkennung von Pflanzen mit. Ich sitze auch gerne auf der Terrasse, selbst bei tiefen Temperaturen. Die Winter in der Unterführung haben mich abgehärtet. Ich lese viel. Als hätte ich etwas gespürt, war ich kurz vor dem Lockdown noch in einer Buchhandlung und habe sieben Bücher gekauft. Gerade lese ich ‹Vom Ende der Einsamkeit› von Benedict Wells. Was für ein grossartiges Buch! Neuerdings schreibe ich Briefe. Am Tag, als der Bundesrat den Lockdown beschloss, kaufte ich dreissig Briefmarken. Zwei Wochen später waren davon noch sechs übrig. Ich habe auch viele Antworten bekommen. Es ist interessant: Auf der Strasse bin ich oft in der Rolle des Ratgebers, Motivators, Zuhörers, Aufmunterers oder Erheiterers. In Briefen werden häufig auch tiefgründigere Themen besprochen.» EBA

«Ich habe Briefmarken gekauft.»

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PORTRÄTS: ANDREAS EGGENBERGER

Ruedi Kälin, 61, Chur

«Für mich fühlt sich das an wie Ferien, die ich sonst nie machen würde. Ich bin jetzt bald zwanzig Jahre bei Surprise. Urlaub hatte ich noch nie – abgesehen von vier Tagen mit der Strassenfussball-Nationalmannschaft in Glasgow. Im Moment ist mein Rhythmus so hoch wie immer. Ich wache morgens um 5.45 auf. Ich trinke eine Ovo und pflege meinen Fuss, den ich letztes Jahr habe operieren lassen müssen. Dann höre ich Musik, kaufe ein, hole mir einen Kaffee und zwei Gipfeli und gehe in den Park, wo ich die Bündner Zeitung und den Blick lese. Nachmittags kümmere ich mich um meine Projekte. Im Sommer werde ich in einem Hotel Bikes verkaufen und Touristen auf Wanderungen begleiten – in Davos, wo ich aufgewachsen bin. Nun habe ich Zeit, mir zu überlegen, was ich den Gästen von meiner Heimat erzählen möchte. Auch ein Fernsehfilm über mich ist geplant. Und für Surprise schaue ich mir die Verkaufszahlen von letztem Jahr an und mache bei Schulprojekten mit. Das geht ganz gut per Telefon. Ich lebe von den Heften, die ich verkaufe. Normalerweise sind es über 400 im Monat. Nun habe ich noch 900 Franken plus die 207,50 Franken aus meiner Reservekasse. Das muss für die nächsten drei Wochen reichen. Dann bekomme ich etwas Geld von Surprise, weil ich im Moment nicht arbeiten kann. Angst, dass ich das Virus bekommen könnte, habe ich nicht. In all den Jahren bei Surprise war ich nur zweimal einen halben Tag krank. Ausser den Problemen mit meinem Fuss und dass ich beim Essen auf den Zucker achten muss, geht es mir gut. Ich spiele ja sogar noch Unihockey, als Goalie in einem Plauschteam in Malans. An die Vorschriften halte ich mich, ich wasche die Hände und gehe fremden Leuten aus dem Weg. Auch zuhause halten wir Abstand. Bis vor sechs Jahren lebte ich auf der Strasse, nun habe ich ein Zimmer bei einer Familie. Aber ganz ohne draussen unterwegs zu sein, geht es für mich nicht. Kürzlich war ich in Davos. Im Zug war ich praktisch der Einzige. Dass das ausgerechnet jetzt passieren muss! Zum ersten Mal im Leben habe ich eine Saisonkarte des HC Davos. Die habe ich geschenkt bekommen. Im Moment wäre Playoff-Zeit. Vielleicht hätte es Davos bis in den Final geschafft. Das Hockey fehlt mir.» EBA

«Zum ersten Mal habe ich eine HockeySaisonkarte.»

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Zewdi Kuflu, 55, Bern

«Seit eineinhalb Jahren verkaufe ich Surprise vor der Migros in Bern-Breitenrain. Vom Tag an, als der erste Corona-Fall in der Schweiz bekannt wurde, blieb ich zuhause. Meine Spitex-Betreuerin meinte, das sei besser, denn ich gehöre zur Risikogruppe. Ich habe Epilepsie und Diabetes, die Spitex kommt zweimal pro Woche, bringt Medikamente und kontrolliert den Blutzucker. Die Situation ist für mich sehr schwierig, denn ich verbringe nun jeden Tag 24 Stunden allein zuhause. Meine Wohnung an der Bahnlinie im Lorraine-Quartier ist klein, hat weder einen Balkon noch einen Garten. Meine Schwester geht für mich einkaufen. Sie bringt mir die Sachen nach Hause. Wir achten darauf, dass wir uns nicht näher als zwei bis drei Meter kommen. Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, was ich tun soll. Ich räume die Wohnung auf, putze und schaue Fernsehen. Ab und zu telefoniere ich mit meiner Familie in Eritrea. Aber nur ein paar Mal im Monat, mehr kann ich mir nicht leisten.» EBA

«Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll.»

SurpriseTalk Die Surprise-Verkaufenden haben mit Radiomacher Simon Berginz geredet – zu hören im Podcast: surprise.ngo/talk

Surprise hilft Viele der Surprise-Verkäuferinnen und Verkäufer leben vom Heftverkauf. Sie und den Verein Surprise stellt die Corona-Krise vor grosse Herausforderungen. Dank der Corona-Spenden konnten wir bereits Anfang April denjenigen Verkaufenden, die fast ausschliesslich von Surprise leben, während des Verkaufsstopps einen Lohnausfall zahlen, genauso den Stadtführenden. Zudem hat Surprise einen «Notfall-Topf» eingerichtet, der bei Geldnot schnell ­unterstützt. Diese Massnahmen wären ohne Sie nicht möglich. Vielen herzlichen Dank an alle, die uns in dieser schwierigen Situation unterstützen. HUW Surprise 473/20


Aare, Bern, 23.03.2020. FOTO: KL AUS PETRUS

Grenzzaun, Kreuzlingen, 30.03.2020. FOTO: ROL AND SCHMID

Pâquis Strasse, Genf, 19.03.2020. FOTO: PATRICK GILLIÉRON LOPRENO

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Zuhause, Zürich, 27.03.2020. FOTO: MARKUS FORTE

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Grenzen der Solidarität Zusammenleben Solidarität gilt als wirksames Mittel im Kampf gegen das neue Coronavirus. Meinen wir es ernst damit, können wir unser Miteinander über die Krise hinaus zum Besseren verändern. TEXT  SIMON JÄGGI

Simonetta Sommaruga, Angela Merkel, der König von Spanien: Regierungsoberhäupter weltweit rufen die Menschen zu Solidarität auf. Zeitungen, Radiostationen und das Internet multiplizieren den Ruf millionenfach. «Solidarität ist der beste Wirkstoff», «Solidarität gefordert», «Welle der Solidarität» – so und ähnlich titelten Schweizer Medien schnell nach dem Lockdown des Bundesrates. Indem wir Rücksicht nehmen auf die Alten und Kranken unter uns, können wir die rasante Verbreitung des Virus verlangsamen, die Spitäler vor dem Kollaps bewahren und Menschenleben retten. Dieses Narrativ, verkündet von Politik und Wissenschaft, bestimmt seit Wochen unser Denken und Handeln. Es erscheinen Porträts von «Alltagshelden», die für Alte und Kranke den Einkauf erledigen. Millionen von Menschen bleiben zuhause, verzichten auf Besuche bei Freunden und Familie. Klatschen auf den Balkonen für das Pflegepersonal. Gemeinsam klopfen wir uns aus der Ferne auf die Schultern: Wir sind solidarisch! Die Kehrseite dieses fast schon heimeligen Schulterschlusses in der Krisenzeit: Über den Landesgrenzen kreisende Armeehubschrauber und patrouillierende Soldaten, um die Grenzen dichtzuhalten; vom Virus schwer betroffene Länder wie Italien, die von ihren Nachbarstaaten weitgehend alleingelassen werden. An den Aussengrenzen Europas sitzen weiterhin Zehntausende von Menschen unter katastrophalen Bedingungen in Flüchtlingslagern fest, dem Virus schutzlos ausgeliefert. Und Ende März hat das Bundesamt für Justiz mitgeteilt, die Soforthilfe für minderjährige Asylsuchende in griechischen Camps zu stoppen. In dieser Situation stellen sich die Fragen: Wem gilt unsere Solidarität, wen erreicht sie und wo macht sie Surprise 473/20

Halt? Und was bin ich bereit herzugeben, damit wir gemeinsam ein besseres Leben haben? Vor genau diese Frage stellt uns Covid-19. Gesunde und junge Menschen überstehen die Krankheit, soweit bisher bekannt, in der Regel unbeschadet und ohne Komplikationen. In vielen Fällen vergeht sie vermutlich ganz ohne Symptome oder ähnelt nur einer leichten Erkältung. Menschen der Risikogruppen jedoch trifft der Virus mit zerstörerischer Kraft. Sie erkranken an schweren Lungenentzündungen, ersticken, viele von ihnen sterben. In Italien haben bisher zehn Prozent aller positiv getesteten Personen die Krankheit nicht überlebt. Sars-CoV-2 ist ein Virus, das unser Immunsystem, das Gesundheitssystem und die Wirtschaft auf die Probe stellt. Wer wird ausgeschlossen? Die Sozialwerke, die internationale Katastrophenhilfe oder Entwicklungshilfe, sie alle sind auch Ausdruck von Solidarität. Immer öfter, so scheint es, stösst diese in einer globalisierten Welt aber an Grenzen. Flüchtlingsorganisationen fordern seit Langem die Schliessung der völlig überfüllten Flüchtlingslager an den europäischen Aussengrenzen und eine Verteilung der Menschen innerhalb der EU. Klimaaktivistinnen verlangen die Einhaltung des Pariser Abkommens und mehr Unterstützung für wirtschaftsschwache Länder. Sie alle appellieren mit ihren Forderungen an die Solidarität der Privilegierten mit den Schwachen und Verletzlichen. Doch nur allzu oft verklingen die Appelle bei der Mehrheit der Gesellschaft und den politischen Entscheidungsträgern folgenlos. Das Weiterbestehen der Flüchtlingslager und die steigende CO2-Konzentration sprechen eine eindeutige Sprache. 19


Zugleich macht sich in Europa seit geraumer Zeit eine neue Solidarität breit, deren Verfechter zunehmend von rechter Seite kommen. Es sind die xenophoben Gegner der Globalisierung, die nach einer eng gefassten und nationalen Solidarität verlangen. Einer Solidarität von denen innen gegenüber denen aussen, die ausschliesst, wer anderer Meinung, Herkunft oder Hautfarbe ist. Heinz Bude spricht in seinem Buch «Solidarität: Die Zukunft einer grossen Idee» von 2019 von einem aktuell tobenden «Kampf der Solidaritäten», der sich insbesondere am Thema der Zuwanderung zeige. Wo also reiht sich die aktuelle Solidaritätswelle ein, welche die Schweiz in Stillstand hält? Ist eine inklusive, weit gefasste Solidarität gemeint? Oder ist sie exklusiv und ausgrenzend? Beim Blick in die Berichterstattung der Medien zeigt sich ein enges Bild. Im Fokus steht die Mehrheitsgesellschaft: Ein Eishockey-Profi erzählt von seiner Erkrankung, eine Lehrerin vom Heimunterricht, ein Arzt von überfüllten Stationen, eine arbeitslose Coiffeuse von ihren Einkäufen für die alten Nachbarn. Sie alle sind zweifellos von der Krise stark betroffen. Doch viele blinde Flecken tun sich auf. Wanderarbeiterinnen, Sans-Papiers, Obdachlose, Geflüchtete. Unsere Mitmenschen im nahen und entfernten Ausland. Sie alle sind allenfalls Thema, doch zu Wort kommen sie kaum.

raussetzt. Begrenzt sie sich aber auf die Menschen innerhalb der Landesgrenzen mit derselben Abstammung, ist es zum Nationalismus nur ein kleiner Schritt. Die Aufforderung von Bundespräsidentin Sommaruga kann ein Impuls sein, doch verordnen lässt sich Solidarität nicht. Soll sie die Pandemie überstehen, dann müssen wir uns in Empathie üben und daran arbeiten, die Grenzen unserer Solidarität zu erweitern. Am Ende aber ist sie nur so viel wert, wie sie auch zu Taten führt. Möglichkeiten dazu gibt es viele: Wir können jene Menschen anrufen, von denen wir denken, dass sie einsam sind. Wer weiterhin Lohn verdient, spart viel Geld, das gerade jetzt Hilfswerke dringend gebrauchen können. Unterschriftensammlungen fordern die Aufnahme von Minderjährigen aus griechischen Camps. Gabenzäune dienen als Kleiderund Lebensmitteldepots für Armutsbetroffene. Die aktuelle Pandemie ist Gefahr und Chance zugleich. Es ist verständlich, dass betroffene Länder sich beim Ausbruch des Virus zuerst auf die eigenen Interessen konzentrieren, wir uns zuerst um uns selber sorgen, um unsere Freunde und Angehörigen. Entscheidend ist der nächste Schritt: Wächst daraus eine nationale Abschottung oder realisieren wir deutlicher denn je, dass wir alle eng miteinander verknüpft auf demselben Planeten wohnen? Vielleicht lehrt uns Sars-CoV-2 auch noch eine andere Lektion. Indem wir zuhause bleiben und erleben, wie als Folge davon das Virus abflacht, erfahren wir ganz direkt, wie jede und jeder Einzelne einen Unterschied machen kann. Wie unser Handeln das grosse Ganze beeinflusst und über die Zukunft bestimmt. Der Glaube an die Macht des Einzelnen, gepaart mit gelebter Solidarität, die nicht Halt macht an Landesgrenzen: Das wäre eine Kombination mit Sprengkraft, weit über die Zeit der Pandemie hinaus.

In Europa macht sich seit geraumer Zeit eine neue Solidarität breit, deren Verfechter zunehmend von rechter Seite kommen.

Wie unser Handeln das Ganze beeinflusst Es sind oft die Zeiten von Krisen, in denen die Linien neu gezogen werden. Zwischen denen, die dazu gehören und denen, die draussen stehen. Solidarität war in der Geschichte über Jahrhunderte für Angehörige des eigenen Stammes und der Familie reserviert. Vielleicht fällt es uns deshalb am einfachsten, mit jenen Solidarität zu zeigen, die uns räumlich, sozial und kulturell am nächsten sind. Weil Solidarität eben immer auch eine Gemeinschaft vo20

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Claraplatz, Basel, 25.03.2020. FOTO: CHRISTIAN AEBERHARD

Wohnsiedlung, Zürich, 28.03.2020. FOTO: MARKUS FORTE

Allschwil, Basel/Frankreich, 27.03.2020. FOTO: KOSTAS MAROS

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FOTO: FRANCA PEDRAZZETTI

«Der Bundesrat vergisst die Schwächsten» Lockdown Während der Staat Firmen mit Milliarden unterstützt, gehen

Armutsbetroffene leer aus, kritisiert Caritas-Direktor Hugo Fasel im Interview. INTERVIEW  ANDRES EBERHARD

Herr Fasel, es ist gar nicht so einfach, Sie in diesen Tagen zu erreichen. Hugo Fasel: Stimmt. Seit drei Wochen funktioniere ich ununterbrochen. Jetzt bin ich gerade im Zug. Wir müssen nun da sein für die Menschen, genauso wie die Pflegerinnen und Pfleger in den Spitälern. In Krisensituationen ziehen sich die Leute zurück. Meine Aufgabe ist es, sie aus ihrer Igelstellung zurückzuholen. Dafür muss ich die Menschen sehen, sie spüren. Sie werden bald 65. Haben Sie keine Angst, sich anzustecken? Im Moment bin ich der Einzige im Zugabteil. Ernsthaft, eine gewisse Angst lasse ich zu, denn sie mobilisiert die Vorsicht. Und 22

die ist zurzeit angebracht, im Gegensatz zu Panik. Bei Caritas sind auch viele im Homeoffice. Es ist aber wichtig, dass wir uns regelmässig treffen, in kleinen Gruppen und mit aller Vorsicht.

sensituationen die Schwächsten immer am stärksten betroffen sind – jene Menschen, die faktisch am Existenzminimum leben. Diesen Trend kann man auch jetzt wieder ablesen.

Die Politik wägt zwischen gesundheit­ lichem Schaden und wirtschaftlichen Folgen des Coronavirus ab. Wie weit soll man gehen, um eine Risiko­ gruppe zu schützen? Wenn es den Menschen gut geht, funktioniert auch alles andere. Der gesundheitliche Schutz hat ganz klar Priorität. Die wirtschaftlichen, sozialen und psychischen Folgen der Krise müssen wir allerdings breit anschauen. Wir wissen, dass in Kri-

Wie meinen Sie das? Das sehe ich allein an den Anrufen, die ich bekomme. Am letzten Wochenende waren es über ein Dutzend. Die Menschen rufen Sie auf Ihrem Handy an? Ja, viele kennen mich oder haben meine Nummer von irgendwoher. Sie sagen: «Hugo, kannst du mir nicht helfen?» Das sind Menschen in prekären ArbeitsverhältSurprise 473/20


Hugo Fasel (64) Fasel war von 1991 bis 2008 für die Christlich-soziale Partei (CSP) im Nationalrat. Seit 2008 ist er Direktor von Caritas Schweiz. Im kommenden November wird er von Peter Marbet abgelöst. Zu seiner bevorstehenden Pensionierung sagt Fasel: «Ich hatte noch gar keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen. Es gibt Zeiten zum Nachdenken und Zeiten zum Handeln. Jetzt wird gearbeitet.»

nissen, die es dank einem Zuverdienst schaffen, ohne soziale Unterstützung auszukommen. Gegen Arbeitslosigkeit sind sie nicht versichert. So zum Beispiel Reinigungskräfte in privaten Haushalten, die nun nicht mehr gebraucht werden. Da sie von ihren Auftraggebern nie angemeldet wurden, bekommen sie auch keine Entschädigung. Dasselbe gilt für die vielen Aushilfen im Gastgewerbe, die stundenweise arbeiten. Oder für Alleinerziehende. Mich rief eine Mutter an, die neben ihren zwei Kindern drei weitere als Tagesmutter betreut. Auch dieser Verdienst ist nicht versichert und fällt ersatzlos weg. Was haben Sie ihr gesagt? Ehrlich gesagt fühle ich mich manchmal wie ein gepeitschter Hund. Weil ich in diesem Moment oft machtlos bin. Aber ich sage den Menschen auch, dass wir bei Caritas Geld sammeln und dass wir verteilen, was wir können. Wir haben eine Spendenaktion gestartet, um diesen Leuten zu helfen. Schaffen wir es, eine Million zu sammeln, sind das geteilt durch 23 Kantone noch 50 000 Franken. Wir rechnen mit kleinen Unterstützungsbeiträgen von 500 bis 1000 Franken. Wir können also pro Kanton fünfzig bis hundert Menschen helfen. Das ist nicht viel. Aber es ist unsere Maxime, nicht ewig rumzustudieren, sondern schnell zu handeln. Wenn wir nur drei Menschen helfen können, tun wir es. Aber es reicht nicht für alle. Gemäss Statistik gibt es in der Schweiz 630 000 Armutsbetroffene. Die werden im Moment vom Staat vergessen. Von den 40 Milliarden, die der Bundesrat verteilt, bekommen sie keinen einzigen Rappen. Der Bundesrat spricht immer wieder von den Surprise 473/20

wirtschaftlichen Folgen der Krise. Er meint aber immer alle anderen, nur nicht jene, die am stärksten betroffen sind. Sie kritisieren den Bundesrat. Der Bundesrat spricht von Liquiditätsengpässen von Unternehmen, aber nicht von jenen von Familien oder Alleinstehenden. Er hat noch nie einen Satz gesagt zu Armutsbetroffenen, noch nie einen Satz zu Alleinerziehenden und noch nie einen Satz zu Menschen mit prekären Kleinsteinkommen. Das zeigt doch, dass in Krisenzeiten die Schwächsten vergessen gehen. Andere Länder sind da weiter. In den USA haben die Demokraten dafür gesorgt, dass Familien bei Engpässen unterstützt werden. Wie könnte der Staat helfen? Im Moment verteilt der Bund Geld à fonds perdu, also Beiträge, die nicht zurückgezahlt werden müssen. Wir bemühen uns, dass Menschen am Existenzminimum auch Eingang finden in das 40-Milliarden-Hilfspaket des Bundesrats. Zum Vergleich: Mit 6,3 Milliarden Franken könnte man jedem einzelnen Armutsbetroffenen in der Schweiz helfen. Der Betrag klingt riesig, ist aber gar nicht so gross. Pro Person wären das 1000 Franken. Statt über diese Menschen wird nun darüber diskutiert, ob Grossfirmen wie die Swiss Ansprüche an das Hilfspaket haben sollen. Hier vergisst man die Relationen. Durch die Krise könnten viele Menschen arbeitslos werden oder in die Sozialhilfe abrutschen. Ist unser Sozialstaat dafür gewappnet? Je länger die Krise dauert, desto mehr Leute werden in die Sozialhilfe gedrängt, das ist jetzt schon absehbar. Doch das pas-

siert nicht von einem Tag auf den anderen. Viele werden erst in die Arbeitslosenkasse kommen. Bei jenen, die nicht versichert waren und es mit Zuverdiensten gerade so aufs Existenzminimum schafften, wird es schneller gehen. Was können wir tun? Wir müssen unser Sozialwesen so ausrichten, dass die Existenz aller Menschen gesichert ist. Eine Diskussion über eine gesamtheitliche Reform des Sozialwesens muss jetzt auf den Tisch. Könnten vielleicht sogar Ideen, die lange als Utopie galten – wie das bedin­ gungslose Grundeinkommen oder die «Existenzsicherung für alle» – plötzlich mehrheitsfähig werden? Wir sind am Anfang vom Anfang. Wir haben ein weisses Blatt. Dieses wollen wir bemalen. Vielleicht setzt sich tatsächlich die Erkenntnis durch, dass alle von Armut betroffen sein können, dass Verpflichtungen von einem Tag auf den anderen nicht mehr erfüllt werden können. Diese Chance ist noch nicht vertan. Gibt es schon Anzeichen dafür, dass sich unser Denken über Armut verändern könnte? Bis jetzt spricht nichts dafür, dass die untersten Schichten stärker in den Fokus rücken könnten. Eher im Gegenteil: Nichts gegen Homeoffice, aber es sind die klassischen Arbeiten der Mittel- und Oberschicht, die von zuhause aus erledigt werden können. Homeoffice verstärkt die alte Verteilung der Klassen. Das Gleiche gilt für den Unterricht zuhause. Einkommensschwachen Eltern fällt es schwerer, ihre Kinder im Lernprozess zu unterstützen.

Hilfe kommt von der Bevölkerung Das staatliche Hilfspaket ist vorwiegend auf Unternehmen ausgerichtet und soll eine drohende schwere Wirtschaftskrise abwenden. Menschen am Rand der Gesellschaft profitieren vom Engagement der Zivilgesellschaft. So sammelte allein die Glückskette Ende März innerhalb von weniger als zwei Wochen über 12 Millionen Franken. Dieses Geld wird für Einzelpersonen und Familien in Notlagen sowie ältere Personen und Menschen mit Behinderungen verwendet, die auf fremde Hilfe angewiesen sind. Unterstützt werden auch Obdachlose, die eine Unterkunft und einen Zugang zu sanitären Einrichtungen benötigen. Caritas Schweiz verteilt als Partner der Glückskette rund ein Fünftel der Gelder. Pro Million, die Caritas zur Verfügung steht, kann die Organisation fünfzig bis hundert Menschen pro Kanton helfen, wie Direktor Hugo Fasel vorrechnet (siehe Interview).

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Die Gestaltung ist klar und fokussiert und lenkt die Aufmerksamkeit ganz auf die Literatur.

Im Jetzt für’s Jetzt geschrieben Literatur Die Autoren Benjamin von Wyl und Daniel Kissling bringen Texte von Schweizer

Schriftstellerinnen und Journalisten heraus, die während der Corona-Krise entstanden sind. Die erste Ausgabe ist ein Versprechen, das von der Post in den Briefkasten gelegt wird. TEXT  DIANA FREI

Als die allgemeine Verlangsamung beginnt, fängt für Benjamin von Wyl die Beschleunigung an. Im Zeitraffertempo führt er durch die Entstehung des Bandes «Stoff für den Shutdown Vol. I – Umarmen», an dem über dreissig Schweizer Autorinnen und Autoren mitgearbeitet haben. Fr, 13. März: Bundesratsbeschluss über Schulschliessungen. Sa, 14.: Idee, Texte zur Ausnahmesituation zu sammeln (im Jetzt für’s Jetzt geschrieben!). So, 15.: sieben Stunden Literaturszene abtelefonieren. Mo, 16.: Bundesrat ruft für die Schweiz die «ausserordentliche Lage» aus. Di, 17.: Crowdfunding-Projekt starten. Mi, 18.: Zu- und Absagen sortieren. Fr, 20.: Redaktionsschluss. 14 Stunden redigieren. Sa, 21.: abschliessende Redaktionssitzung, Gestaltung durch Grafik. So, 22.: Gut zum Druck. «Es war ein Höllenritt», sagt von Wyl. «Zwischen der Idee und dem Druck lag nur gut eine Woche.» Entstanden ist ein dickes Magazin (so umfangreich wie ein kurzer Roman) mit Texten, die den Moment, in dem wir uns befinden, in Worte zu fassen versuchen. Fast scheint es, als habe sich im Schockzustand die Zeit auszudehnen begonnen. Ein verändertes Zeitempfinden zieht sich durch die Texte. So heisst es bei Donat Blum: «Seither ist erst 24

eine Woche vergangen. Es kommt mir wie Wochen vor», Katja Brunner schreibt vom «Brüten als Jahrhundertzustand», und bei Miriam Suter heisst es: «Gedanken an die Zeit vor zwei, drei Wochen: Ein Vortrag in einer kleinen Bar, ein Konzert in einem überfüllten Pub, und heute zucke ich zusammen, wenn sich in einer Filmszene zwei umarmen.» Gleichzeitig schafft die Verlangsamung Raum für präzise Wahrnehmungen: «Die Welt hatte begonnen, sich wieder auszudehnen», beschreibt es Seraina Kobler. Da sind Kirschbaumblüten oder Beziehungsflirren, Liebesgeschichten oder Gedanken an nahe Verwandte. Es ist eine sorgfältige Wahrnehmung der Welt und der Mitmenschen, die etwas Tröstliches hat – sogar wenn sie Daria Wild und Kim de l’Horizon in nüchterne Worte fassen: «ich frage; Hannah, was kommt nachher?, und Hannah sagt; nachher hassen wir uns alle.» Wie sich der Blick aufs Leben verändert Daniel Mezger dagegen fasst die Familiensituation sehr realitätsnah zusammen. Es ist ein zerfleddertes Überall-sein-Müssen, ein konfuser Zustand unvereinbarer Wirklichkeiten. Und dazu der Surprise 473/20


FOTOS: ZVG

«Wir haben etwas schwärmerisch ins Editorial geschrieben: Es erscheint so lange, bis man sich wieder umarmen kann.»

«Stoff für den Shutdown – Ein Literaturmagazin für Gemeinschaft im Lockdown», herausgegeben von Benjamin von Wyl und Daniel Kissling, Gestaltung David Lüthi und Mirko Leuenberger, bestellbar über Crowdify, 15 CHF. c ­ rowdify.net, Projekt: Stoff für den Shutdown

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Ein Schluck kalte Milch Film Delphine Lehericey hat mit «Le Milieu de l’horizon» den Schweizer Filmpreis gewonnen. Weite Landschaften, eine leere Strasse, über die in hohem Tempo der 13-jährige Gus auf seinem Fahrrad fegt. Der Boden ist ausgetrocknet, landwirtschaftlich wie emotional. Es stinkt nach den verwesenden Leibern der Hühner, der Kühe und Schafe, die in der Hitze verendet sind. Drückende Temperaturen, drückende Enge der sozialen Realität. Im Nachbardorf soll sich einer erhängt haben. Die Beziehung zwischen den Eltern dagegen ist ausgekühlt. Ein Moment der Sinnlichkeit gehört der Mutter allein. Es ist bloss das Haarebürsten, mit dem sanft kratzenden Geräusch der Bürste, beobachtet von Gus. Ein Moment, der Verlangen nach einem Eintauchen in eine Welt der Körperlichkeit weckt. Cécile, die neue Bekanntschaft der Mutter, bricht die arbeitsame Schweigsamkeit auf, in der sich alles nur um Hofarbeiten, sterbende Hühner und fehlendes Geld dreht. Der Radiosender wird von den Dürremeldungen auf Tanzmusik umgestellt. Und dann, nachts, als Gus aufsteht, um einen Schluck Milch zu trinken, ist Cécile immer noch da. Und trinkt auch Milch aus der Flasche im Kühlschrank. In der Erotikzeitschrift Emanuelle, die Gus zu Beginn am Kiosk klaut, schaut er sich Szenen aus der Rubrik femme/ femme an. Es wäre die Zeit der Pubertät und der neuen Erfahrungen. Doch nun ist Gus derjenige, der nur beobachten kann, wie seine Mama ausbricht statt er selbst. Die gleichnamige Romanvorlage stammt vom Lausanner Autoren Roland Buti und ist 2013 erschienen. Der Film wurde auf 35 Millimeter gedreht und atmet die Atmosphäre der 1970er-Jahre, in denen die Geschichte spielt. Insofern ist es natürlich schade, dass er jetzt nicht auf der grossen Kinoleinwand zu sehen ist. Die Filmpremiere mietet man für 10 Franken online und entscheidet sich für ein Kino, das damit direkt unterstützt wird. Die Liste der Kinos findet sich unter: outside-thebox.ch (Deutschschweizer Kinos unter der deutschen Sprachversion). DIANA FREI FOTO: ZVG

Druck, dass sich jetzt ganz offensichtlich eine nie da gewesene Gelegenheit böte, endlich ein Bilderbuchvater zu sein. Aber leider bleibt man auch in einer ausserordentlichen Situation dafür dann doch zu sehr in sich selber gefangen. Anaïs Meier erzählt, wie das Virus das Psychogramm des Velomechanikers im Quartier offenbart. Und Tabea Steiner greift in einem halbbiografischen Text auf Erinnerungen zurück, die in einzelnen Momenten das spiegeln, wovor wir jetzt Angst haben. Der Text wägt in einem filigranen Geflecht von Geschichten Menschsein, Medizin und Machbarkeit gegeneinander ab. Mit «Stoff für den Shutdown Vol. I – Umarmen» ist ein Buch entstanden, das davon erzählt, wie sich der Blick auf unser Leben von einem Tag auf den andern verändern kann. Es wird per Crowdfunding finanziert und ermöglicht den Beteiligten ein kleines H ­ onorar. «Wer Romane schreibt, lebt zu 70 bis 80 Prozent von ­Lesungen. Das ist das EinBENJAMIN VON W YL zige, was sich finanziell lohnt», sagt von Wyl. Nun gibt es keine Lesungen mehr, Schreibworkshops wurden abgesagt, die Verlage haben Romanpublikationen verschoben. Von Buchverkäufen allein lebt in der Schweiz niemand: Acht bis zwölf Prozent des Verkaufspreises gehen an den Autor, das sind bei einem Buch mit Verkaufspreis 20 Franken 1,60 bis 2,40 Franken. Der Bundesrat begann sich erst Anfang April des Themas der selbständig Erwerbenden anzunehmen, die von der Krise indirekt getroffen werden. Viele Autorinnen und Autoren mussten zunächst davon ausgehen, dass ihr Einkommen praktisch ganz weggebrochen ist. «Umarmen» heisst nun also die erste Ausgabe. «Wir stellten uns das als eine Art Versprechen vor, das man per Post zu sich nach Hause geliefert bekommt», sagt von Wyl. Es werden eine zweite Ausgabe und eine dritte folgen, vielleicht sogar eine vierte. «Wir haben etwas schwärmerisch ins Editorial geschrieben: Es erscheint so lange, bis man sich wieder umarmen kann.» Ausgabe II soll von der Ausdauer erzählen. «Und wenn Ende Mai Ausgabe III herauskommt», sagt von Wyl, «dann hoffen wir, dass sie vielleicht schon davon erzählen kann, wie ein Stück Normalität zurückkommt.» Ein Satz, der sich anfühlt wie Kirschblüten, die durch die Luft tanzen.

Delphine Lehericey: «Le Milieu de l’horizon», CH/ BEL 2019, 92 Min., mit Luc Bruchez, Laetitia Casta, Thibaut Evrard u.a. 25


Am Telefon +41(0)800 00 12 16 – a voice message project / the connection hotline, Telefonkunst, 0800001216.ch

Das Projekt der Bündner Künstlerin Ines Marita Schärer existierte schon vor dem Coronavirus, nun hat es aber unter dem Namen «the connection hotline» an Aktualität gewonnen: Unter einer Gratisnummer ist Kunst aufgeschaltet. Das «voice message project» fragt an sich danach, was alles ein Ausstellungsraum sein kann, und dient als Plattform für gesprochene Literatur und Kunst, die die Sprache braucht. Nun hat sich der Fokus etwas verschoben und die Frage lautet neu: Wie bleiben wir miteinander in Verbindung in Zeiten wie dieser? Es kommen veränderte Rahmenbedingungen dazu: die Einsamkeit. Die Isolation. Das Bedürfnis, anderen zu lauschen. Ein Gefühl der Intimität. Etwas bietet das Telefon zwar nicht: Austausch. Wenn einen aber zum Beispiel eine Frauenstimme in einem schweizerisch gefärbten Singsang auf eine Taxifahrt mitnimmt, die sie, in einem irrealen Futur, noch nicht ganz angetreten hat, dann entspinnt sich ein kurzer Moment in einer fremden Welt, der vielleicht ersetzt, wonach sich zurzeit mancher sehnt: eine Begegnung, überraschende Augenblicke in einer Nacht, in der man sich treiben lässt. Das ist ein anderes Gefühl, als kurz in die Migros zu rennen und einen Liter Milch und Zahnpasta zu kaufen. DIF

Online Filmstreaming I: artfilm.ch, bandeapartfilms.com, dschointventschr.ch

In der letzten Ausgabe haben wir ein paar Streaming-Plattformen zusammengetragen, die immer zugänglich sind. In Corona-Zeiten, in denen Festivals abgesagt werden und Kinos geschlossen sind, gibt es von Produzentenseite her auch vorübergehende kostenlose Zugänge zu Schweizer Filmen. So hat Artfilm zusammen mit den dort vertretenen Produzenten und Filmemachern des Landes beschlossen, den VOD-Katalog mindestens bis zum 30. April frei zugänglich zu machen. Das Produktionshaus Bande à part (Ursula Meier, Lionel Baier, Jean-Stéphane Bron, Frédéric Mermoud) stellt jede Woche zwei

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ihrer Filme auf Vimeo gratis online (französische Originalfassung) und dazu einen bisher unveröffent­ lichten, meistens einen Kurzfilm. Und auch Samirs Produktionsfirma Dschoint Ventschr schaltet Filme zum Gratis-Streaming frei: Zurzeit «Opération Libertad» von Nicolas Wadimoff, «Motor Nasch» von Sabine Gisiger und Marcel Zwingli, «My Father, the Revolution and Me» von Ufuk Emiroglu und «In wechselndem Gefälle» von Alexander J. Seiler. DIF

Online Filmstreaming II, Documentary Educational Resources DER und Visions du Réel der.org, visionsdureel.ch Documentary Educational Resources DER ist ein international anerkanntes Zentrum für visuelle Anthropologie und ethnografischen Film – eine Filmrichtung, die sich mit der Dokumentation menschlichen Verhaltens und der Erforschung kultureller Traditionen rund um den Globus befasst. DER umfasst über 850 Titel, die fast hundert Jahre abdecken. Das Ar-

chiv ist damit eine der historisch wichtigsten Ressourcen des ethnografischen Films. Das Zentrum nimmt laufend neue Filme auf, die unterrepräsentierten Stimmen Vorrang einräumen, sich mit zeitgenössischen Kulturkämpfen und künstlerischen Traditionen auseinandersetzen sowie beobachten, wie sich Gemeinschaften, Kulturen und Identitäten in der heutigen Welt verändern. Bis zum 1. Juni hat DER sein Archiv geöffnet, der Promo-Code lautet: WFH2020. Ein Vimeo-Account ist zwar erforderlich, aber kostenlos. Nun werden zurzeit ja auch reihenweise Filmfestivals abgesagt, zum Beispiel das Dokumentarfilmfestival Visions du Réel, das in Nyon stattfinden würde. Weil das nun nicht möglich ist, verlagert sich das Festival ins Internet, und zwar vom 17. April bis zum 2. Mai. Auch das: frei zugänglich. DIF

Online Musealer Livestream, Museum für Kommunikation, Di bis Fr 13.30 Uhr, über Facebook (verlinkt auch über Homepage Museum). mfk.ch Kommunikation in Zeiten der Isolation ist per se eine spannende Sache. Nun ging es im Berner Museum für Kommunikation schon

immer auch um Themen, die da­ rüber hinaus genau jetzt auf eine eigene Art aktuell geworden sind. Die Übertragung von (Computer-) Viren zum Beispiel. Oder Quarantänemassnahmen. Und desinfizierte Briefpost im Kanton Bern der 1940er-Jahre. Das Ausstellungsteam macht nun per Facebook-Livestream Museumsführungen durch das Universum der Kommunikation. DIF

Online Sunil Mann liest auf seinem Youtube-Kanal youtube.com Der Schweizer Autor Sunil Mann sitzt zuhause und macht fleissig Online-Lesungen. Zum Beispiel zum Krimi «Der Schwur», der im Februar erschienen ist. Die Handlung fügt sich zusammen aus: der Reise einer 14-Jährigen von Nigeria ans Mittelmeer, dem Karrierekampf einer rechtspopulistischen Nationalrätin und dazu einer «Agentur für unliebsame Angelegenheiten», gegründet von einem albanischen Türsteher und einer italienischen Flugbegleiterin. Mann liest auch aus seinem Jugendroman «Totsch», der für den Schweizer Kinder- und Jugendbuchpreis 2020 nominiert ist. Und er schreibt und liest auch Mundart: zum Beispiel die Kurzgeschichte «Camper». DIF

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Wir sind für Sie da. grundsätzlich ganzheitlich

365 Tage offen von 8-20 Uhr St. Peterstr. 16 | 8001 Zürich | 044 211 44 77 www.stpeter-apotheke.com

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BILD(1): INES MARITA SCHÄRER, BILD(2): DSCHOINT VENTSCHR, BILD(3): J. UND M. LEHMUSKALLIO, BILD(4): THIJS WOLZAK

Veranstaltungen


Der Vater jagt eins der Kinder über die bei­ den Spielgeräte und stoppt die Zeit. So wird der Bub auf den Wettbewerb vorbe­ reitet, der in der Welt draussen herrscht. Einfach so spielen ist nicht. Eine zweite Runde will er aber nicht mehr machen. Auf einer Tafel stehen die Parkregelpikto­ gramme und «Spielplatz Inside». Dazu die Koordinaten. Bevor alle ein Smart­ phone hatten, konnten sie jemandem mit Navi mitgeteilt werden, damit die Person wusste, wo genau man sich befand. Heute dropt man einen Pin auf die Map. Der Platz belebt sich nun richtiggehend. Es nähert sich eine Gruppe älterer Men­ schen und steuert auf den Laden zu. Eine Mitarbeiterin desinfiziert die Griffe der Einkaufswägeli. Ein roter Kran schwenkt träge seinen Arm über ein Hochhausskelett. Der Turmbau zu Dübendorf geht weiter.

Tour de Suisse

Pörtner in Dübendorf Surprise-Standorte: Zentrum Einwohnerinnen und Einwohner: 29 076 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 35,3 Sozialhilfequote in Prozent: 1,9 Musik: Die Orgel der Kirche Maria Frieden gehört mit ihren 37 Registern zu den grössten der Schweiz.

Ein schöner, warmer Frühlingstag. Der Coiffeur hat geschlossen, die Restau­ rants haben geschlossen, das Fitness­ center hat geschlossen. Der Kiosk und die Grossverteiler haben offen. Der ­Optiker hat offen. Es wird eingekauft. Die Leute sind alleine oder zu zweit ­unterwegs. Ausser den Jugendlichen, die sind zu sechst. Der Spielplatz mit den Holzeinhörnern ist verwaist. Das Ein­ horn ist das Wappentier von Dübendorf, ein Trumpf des Stadtmarketings, es ­stehen überall bunt bemalte Polyester-­ Einhörner herum. Eine Mutter mit zwei Töchtern packt den Veloanhänger. Die Taschen wirken schwer. Ein Mann reibt sich beim Verlassen des Ladens die Hände. Nicht weil er ein gutes Ge­ schäft gemacht hat, sondern weil er Des­ infektionsmittel verwendet. Die Leute kommen mit einem Eistee, ein paar Be­ Surprise 473/20

sorgungen im Velorucksack aus dem ­Laden, einer hat eine 12er-Packung Energiedrinks der günstigen Eigenmar­ ken erstanden. Ein Mann mit Gesichtsmaske erinnert daran, dass eine ausserordentliche Lage herrscht. Ein junger Vater mit zwei ­kleinen Kindern geht auf den Spielplatz. Er scheint sich das nicht so gewohnt zu sein. Ein Badge hängt an seinem Gür­ tel. Ob er den auch fürs Homeoffice trägt oder bald zurück ins Geschäft muss? Ein Flugzeug fliegt über die Stadt. Nor­ malerweise wären es mehr, viel mehr. Das Militär fliegt mit zwei Maschinen. Kampfpiloten können kein Homeoffice machen, vielleicht geniessen sie, wie die unzähligen Gümmeler auf den Stras­ sen, den Umstand, dass der übliche ­Verkehr eingeschränkt ist.

Das Publikum ist jung oder alt. Die einen tragen Daunenjacken, die anderen Shorts und Shirts, der Rest irgend­etwas dazwischen. Diejenigen, die alters­ mässig zu den berufstätigen Bevölke­ rungsteilen gezählt werden, sind trotz allem an der Arbeit. Ausser den beiden Männern, die nun schon geraume Zeit auf einer Bank hocken und plau­ dern. Sie scheinen es gewohnt zu sein, sich dort zu treffen, wo kein Konsum­ zwang herrscht. Vier junge Frauen setzen sich in einer Reihe hin und checken ihre Handys. Eine entfernt sich ein paar Schritte, um zu rauchen, und hält nun den vorgegebenen Mindestabstand ein. Der Optiker plaudert unter der Tür mit ei­ nem Bekannten, sie stehen nah bei­­­­ei­­nander. So ganz scheint die Botschaft vom Zuhausebleiben und Abstandhalten hier nicht angekommen zu sein, trotz des Zelts vom Zivilschutz, das auf dem menschenleeren Platz vor dem geschlos­ senen Gemeindehaus steht.

STEPHAN PÖRTNER  Unser Kolumnist war in ­Dübendorf stets auf den nötigen Abstand ­bedacht. Den Weg von Zürich ­dorthin hat er auf seinem ­Fahrrad zurückgelegt.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01 Scherrer & Partner GmbH, Basel 02 TopPharm Apotheke Paradeplatz 03 Coop Genossenschaft, Basel 04 Gemeinnützige Frauen Aarau 05 VXL, gestaltung und werbung, Binningen 06 Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich 07 Yogaloft, Rapperswil 08 Madlen Blösch, Geld & so, Basel 09 Zubi Carosserie, Allschwil 10 Kaiser Software GmbH, Bern 11

Schluep & Degen, Rechtsanwälte, Bern

12 RLC Architekten AG, Winterthur 13 Stellenwerk AG, Zürich & Chur 14 Neue Schule für Gestaltung, Bern 15 SpringSteps GmbH, Bülach 16 Steuerexperte Peter von Burg, Zürich 17 Büro Dudler, Raum- und Verkehrplanung, Biel 18 Infopower GmbH, Zürich

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Der Weg in die Armut führte für Daniel Stutz über die Sucht. Als Jugendlicher rutschte der heute 44-Jährige in die Spielsucht und später in den Konsum harter Drogen. Dank einer Therapie schaffte er vor 7 Jahren den Ausstieg. Geblieben ist dem Zürcher Surprise-Verkäufer und -Stadtführer ein Schuldenberg. «Den Weg aus der Sucht habe ich hinter mir, der Weg aus der Armut liegt noch vor mir», beschreibt Daniel seine Situation. SurPlus gibt ihm dabei Rückenwind: «Es ermöglicht mir hin und wieder Ferien. Ausserdem bedeutet es, auch einmal krank sein zu dürfen – ohne gleich Angst haben zu müssen, die Miete oder Krankenkasse nicht zahlen zu können.»

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

19 Dr. med. dent. Marco Rüegg, Herzogenbuchsee 20 Peter Gasser Schreinerei AG, Feuerthalen 21 Barth Real AG, Zürich 22 Hedi Hauswirth, Psychiatrie-Spitex, Oetwil a. S 23 Ruggle Partner, Rechtsanwalt/Mediation, ZH 24 Al Canton, azienda agricola biologica, Le Prese 25 Happy Thinking People AG, Zürich Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 15 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise #471: Nicht willkommen

#470: Wer über wen bestimmt

«Gegenteil statt Mitte»

«Mutige Berichte»

Das Heft hat mir sehr gut gefallen. Dieses Heft lässt viel Hoffnung zu. Wenn es sehr düstere Artikel sind, kann ich nicht alle lesen, es bedrückt mich zu sehr. Darum Danke für dieses Heft.

Im Vorwort schreiben Sie, «wer über wen bestimmt», dann schreiben sie, dass im Streikhaus Zürich Männer draussen bleiben müssen, damit die Frauen in Ruhe ihre Vision von einer besseren Gesellschaft erdenken und bearbeiten können. Klartext: Diese Frauen möchten also bestimmen, wo’s langgeht. Statt dass sie eine gesunde Mitte anstreben, dreht sich das Ganze ins Gegenteil. Gleichberechtigung muss weitergehen, das unterstütze ich voll und ganz. Dazu braucht es Frauen und Männer. Werden diese Zukunftsvisionen nur von Frauen gemacht, fallen wir ins andere Extrem, das ist aus meiner Sicht nicht die Lösung. Auch verletzen sie mit Ihrem Vorwort all die Männer, die sich seit Jahren für Gleichberechtigung stark­ machen. Bitte lesen Sie Ihr Vorwort nochmals durch und ersetzen männlich mit weiblich und schauen Sie, was für ein Gefühl hochkommt, hätte dies jemand anders geschrieben. Gleichheit heisst nun mal Gleichheit, dann sollen Frauen auch nicht die sein, die über andere bestimmen.

H. GEHRIG,  Gelterkinden

D. HERMANN,  Basel

Ich bin so froh, dass das Surprise immer wieder erhellende und aufrüttelnde Beiträge bringt über die haarsträubenden Ent­ wicklungen in der Sozialhilfe und über die entsetzlichen Men­ schenrechtsverletzungen an den Grenzen Europas – mithilfe unserer Steuergelder für Frontex! Vielen Dank für die mutigen Berichte: für das Aushalten des Elends beim genauen Hin­ schauen, für das Konfrontieren der «Brandstifter» im Sozial­ bereich. G. BERNOULLI,  Rümlingen

#469: Urs kehrt zurück

«Danke»

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion
 Verantwortlich für diese Ausgabe: Diana Frei (dif) Klaus Petrus (kp), Sara Winter Sayilir (win) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99
 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Christian Aeberhard, Fabian Biasio, Beni Blaser, Andreas Eggenberger, Markus Forte, Patrick Gilliéron Lopreno, Ruben Hollinger, Eleni Kougionis, Kostas Maros, Samuel Schalch, Karin Scheidegger, Roland Schmid Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage  27 000 Abonnemente  CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:
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Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort

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Bitte heraustrennen und schicken an: Surprise, Münzgasse 16, CH-4051 Basel, info@surprise.ngo

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FOTO: KLAUS PETRUS

Surprise-Porträt

«Ich sehe auch eine Chance» «Als wir den Heftverkauf einstellen mussten, informierten wir den Grossteil der Verkaufenden per Telefon. Glücklicherweise war unser Chancenplatzmitarbeiter Negussie Weldai da. Er ist Eritreer und konnte mit ­seinen Sprachkenntnissen einige Verständnislücken überbrücken. Die Verkaufenden haben es grossenteils sehr gut angenommen. Unser Modell funktioniert ja so, dass sie das Heft bei Surprise zum halben Preis beziehen und es dann für sechs Franken verkaufen. Nun haben wir ihnen angeboten, dass wir die Hefte, die schon für den Strassenverkauf gedruckt waren, von ­ihnen zurückkaufen oder sie gegen neue eintauschen, sobald der Verkauf wieder startet. Der Lockdown trifft die Surprise-Verkaufenden sehr unterschiedlich. Ihnen brechen teils wichtige Ein­ nahmequellen weg. Dies führt zu existenziellen und materiellen Sorgen. Schätzungsweise die Hälfte der ­Verkaufenden in Bern nimmt regelmässig die Sozialberatung in Anspruch, die wir anbieten. Sie kommen zu uns mit ihren Rechnungen, Schreiben der Behörden, die sie nicht verstehen, und holen sich Unterstützung bei der Wohnungs- oder Arbeitssuche. Viele Verkaufende haben damit zu kämpfen, dass sie nur Prepaid-Handys und zuhause kein eigenes WLAN haben. Das WLAN ist eines der Dinge, die bei uns im Büro sonst sehr intensiv genutzt werden. Ich würde mich freuen, wenn vielleicht Nachbarn sich da jetzt etwas enger absprechen könnten, damit alle Zugang zum Internet bekommen. Auch beengte Wohnverhältnisse sind ein Problem. Viele Familien leben mit mehreren Menschen auf wenig Raum und haben jetzt kaum Ausweichmöglichkeiten. Jemanden um Hilfe zu bitten, hat viel mit Vertrauen zu tun. Die Beziehungsarbeit, welche wir sonst im Alltag leisten, zahlt sich nun aus. Durch die Schliessung fällt der persönliche Kontakt weg. Eine ungezwungene und vertrauensvolle Unterhaltung ist am Telefon ­weniger möglich. Glücklicherweise haben die meisten der Verkaufenden aber Smartphones. So konnten wir auch einen Chat einrichten, um die Verkaufenden schnell mit neuen Informationen zu versorgen. Aktuell versuchen wir, ihnen die jeweiligen Unterstützungs­ angebote zugänglich zu machen und schauen, wie wir sie finanziell unterstützen können. Vernetzung mit anderen Organisationen, welche in ähnlichen Bereichen arbeiten, ist jetzt besonders wichtig. Ich sehe die aktuelle Krise auch als Chance, gerade 30

Sara Steiner (33) ist Sozialarbeiterin in der Surprise Regionalstelle Bern. Da das Büro dort derzeit geschlossen ist, arbeitet sie von ihrer Wohnung in Biel aus.

in diesem Bereich neue Möglichkeiten zu erschliessen, welche wir auch nach einer Rückkehr zur Normalität nutzen können. Unsere Arbeit weiterzuführen, heisst jetzt also, diejenigen gut zu betreuen, die bereits mit der Bitte um Unterstützung an uns herangetreten sind. Und mit den anderen Verkaufenden Kontakt zu halten, so gut es geht. Vor Kurzem war ich in Biel am Bahnhof, das war ziemlich bedrückend. Es sieht ein wenig aus wie vor zehn Jahren: Dort sammeln sich die Leute, die sonst keinen Ort mehr haben, alkoholkranke, süchtige, obdachlose Menschen – man sieht sie jetzt wieder mehr, weil die An­ laufstellen reduziert arbeiten oder ganz geschlossen sind. Das weiss ich auch von befreundeten Gassenarbeitern. Sie haben ihre Beratung komplett auf die Strasse verlegt – und berichten, es schliefen jetzt wieder Leute draussen an Orten, wo seit Jahrzehnten niemand mehr geschlafen hat. Ich nehme an, das ist in Basel und Zürich ähnlich. Wenn es die Situation erfordert und es einen persönlichen Kontakt braucht – beispielsweise wenn jemand bei einer Sozialhilfeanmeldung unterstützt werden muss – würde ich trotz allem nicht ­zögern, unsere Leute nach Möglichkeit draussen persönlich zu treffen. Gerade in Zeiten von Social Distancing ist menschliche Nähe umso wichtiger.» Aufgezeichnet von SAR A WINTER SAYILIR Surprise 473/20


Solidaritätsgutscheine Soziale Stadtrundgänge Aufgrund der aktuellen Corona-Sitaution musste Surprise am 17. März den Verkauf des Strassenmagazins und die Sozialen Stadtrundgänge bis auf Weiteres einstellen. Dies stellt alle vor massive Herausforderungen, auch die 14 Stadtführerinnen und Stadtführer. Surprise setzt momentan alles daran, die Verkaufenden und Stadtführenden finanziell und sozial zu begleiten.

Unterstützen Sie uns dabei, mit einem Solidaritätsgutschein für die Zeit nach Corona. Verschenken oder bestellen Sie für sich einen Solidaritätsgutschein für einen Sozialen Stadtrundgang. Gutscheine können via Mail an info@surprise.ngo oder mit dem Talon bestellt werden.

Talon einsenden an: Surprise, Münzgasse 16, 4051 Basel Aktuelle Infos zu den Sozialen Stadtrundgänge von Surprise unter: www.surprise.ngo/stadtrundgang

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JA, ich möchte einen Solidaritätsgutschein Sozialen Stadtrundgang und bestelle:

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* Die Gutscheine sind unbeschränkt gültig und können, sobald die Sozialen Stadtrundgänge wieder durchgeführt werden, eingelöst werden. Da die Surprise-Administration wegen der aktuellen Corona-Situation im Homeoffice ist, kann es bei der Bestellverarbeitung zu Verzögerungen kommen. Herzlichen Dank für Ihr Verständnis!

LIEFERADRESSE (falls nicht identisch mit Rechnungsadresse) Vorname, Name:

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Spenden

Surprise musste wegen der aktuellen CoronaMassnahmen den Strassenmagazin-Verkauf und die Sozialen Stadtrundgänge stoppen. Viele der rund 450 Verkaufenden und 14 Stadtführenden sind armutsbetroffen und für ihr Überleben vom Verkauf des Strassenmagazins und von den Führungen abhängig. Sie verlieren auf einen Schlag eine wichtige Einnahmequelle, Tagesstrukturen und soziale Netze. Unterstützen Sie die betroffenen Verkaufenden und Stadtführenden sowie den Verein Surprise, der sich ohne staatliche Hilfe finanziert, mit einer Spende. Vielen herzlichen Dank für Ihre Solidarität! Während des Verkaufs-Stopps finden Sie das aktuelle Strassenmagazin kostenlos online.

Spendenkonto Verein Surprise, 4051 Basel PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Vermerk «Corona» oder online via www.surprise.ngo


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