Surprise Nr. 467

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Strassenmagazin Nr. 467 17. bis 30. Januar 2020

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass

Administrative Versorgung

Nie wieder Gabriela Pereira kämpft gegen einen Satz in der Aargauer Sozialhilfeverordnung – weil er sie an ihre eigene Kindheit erinnert. Seite 8


BETEILIGTE CAFÉS

Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren.

IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstrasse 18 | Bäckerei KULT, Elsässerstr. 43 BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Bohemia, Dornacherstr. 255 | Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Haltestelle, Gempenstr. 5 | FAZ Gundeli, Dornacherstr. 192 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 Les Gareçons, Badischer Bahnhof | Manger & Boire, Gerbergasse 81 | Da Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 Café Spalentor, Missionstr. 1 | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | Treffpunkt Breite, Zürcherstr. 149 IN BERN Kairo, Dammweg 43 | MARTA, Kramgasse 8 Café MondiaL, Eymattstr. 2b | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 LoLa, Lorrainestr. 23 | Luna Llena, Scheibenstr. 39 | Brasserie Lorraine, Quartier­ gasse 17 | Rest. Dreigänger, Waldeggstr. 27 | Rest. Löscher, Viktoriastr. 70 Rest. Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestr. 20 Becanto, Bethlehemstr. 183 | Phil’s Coffee to go, Standstr. 34 IN BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstrasse 3a IN FRAUENFELD Be You Café, Lindenstr. 8 IN LENZBURG feines Kleines, Rathaus­ gasse 18 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4­Markt Baselstrasse, Baselstr. 66 Rest. Quai4, Alpenquai 4 | Quai4­Markt Alpenquai, Alpenquai 4 Pastarazzi, Hirschen­ graben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbad Volière, Inseli Park | Rest. Brünig, Industriestr. 3 | Arlecchino, Habsburgerstr. 23 IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique & café, Bernstr. 2 IN MÜNCHENSTEIN Bücher­ und Musikbörse, Emil­Frey­Str. 159 IN NIEDERDORF Märtkaffi am Buuremärt IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestr. 47 IN OLTEN Bioland Olten, Tannwaldstr. 44 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn­Beiz, Baumgartenstr. 19 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Quartiertreff Enge, Gablerstr. 20 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 | Kafi Freud, Schaffhauserstr. 118 Kumo6, Bucheggplatz 4a | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistr. 76

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise

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Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Expertenrolle Expertenrolle

SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Erlebnis Erlebnis


TITELBILD: KLAUS PETRUS

Editorial

Befreiung aus Denkmustern Die Schweiz, heute. Es sind eineinhalb Zeilen Rechtstext in der Aargauer Sozialhilfeverordnung, die ­Gabriela Pereira an ihre Kindheit erinnern. Auf ungute Weise. Denn da steht, dass die Gemeinden jene, die von Sozialhilfe leben, Unterkünften zuweisen dürfen. Pereira wurde zwischen Waisenhäusern und Erziehungsanstalten herumgeschoben, sie war Opfer der administrativen Versorgung in der Schweiz. Utopia, 1516. Thomas Morus erfand die Insel Utopia, sein Buch entwarf die Vision einer gerechten Gesellschaft. Als ich den Text unseres Reporters Simon Jäggi las, blieb ich aber an etwas hängen: Sklaven gab es auch in dieser idealen Welt. Beim Redigieren versuchte ich, mein Entsetzen darüber in den Text zu schmuggeln und ergänzte: «Er schien sich gar keine andere Welt vorstellen zu können als die, in der er lebte.» Später kam der Text mit einer Bemerkung der Korrektorin zurück: «Alles andere wäre unhistorisch – auch Thomas Morus war kein Wunderdenker, sondern ein Kind seiner Zeit.»

Vielleicht ist es dieses Wissen, das Gabriela Pereira misstrauisch macht, wenn sie an die aktuelle Aargauer Sozialhilfeverordnung denkt. Weil sie ahnt, dass neben Worten immer auch alte Denkmuster wiederbelebt werden können. Ab Seite 8. Wir wünschen uns mit diesem Heft zu ­ Anfang Jahr deshalb: 1. Dass die Vergangenheit hinter uns liegen möge, auch im Aargau. Und 2.: Dass viel Bewegung in unser Leben kommt, nicht nur im Fit­nessstudio. Lesen Sie dazu «Zukunft der Utopie» ab Seite 16. Unsere kleine Literaturserie «Die Schweiz schreibt» ist mit dieser Ausgabe zu Ende. Alle erschienenen Folgen finden Sie auf surprise.ngo. Sie erzählen vom Engagement, dem Ideenreichtum und der Vielfalt der Schweizer Literaturszene.

DIANA FREI

Redaktorin

Der Mensch ist von historischen Denk­mustern geprägt. Es braucht offensichtlich einen Riesenschritt, sich davon zu lösen.

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

Die Justiz als Kunst 6 Challenge League

Keine Wahl 7 Auf Reisen

Zürich, Schweiz 8 Zukunft

14 Administrativ versorgt

Sie nannten es Fürsorge 20 Fotografie

Architektur der Haft

25 Buch

Spukschloss im Hirn 25 Die Schweiz schreibt

Heilsames Schreiben 26 Veranstaltungen 27 Tour de Suisse

Pörtner am ­Albisriederplatz

28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt

«Ich wusste nicht, ob ich überlebe»

Zeit der Utopien

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Aufgelesen

FOTO: ZVG

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Ziel erreicht! Das Strassenmagazin Megafon aus der norwegischen Stadt Bergen wird per sofort eingestellt – ein freudiges Ereignis, wie die Redaktion verlauten liess. «Unser Ziel war es immer, uns überflüssig zu machen», sagt Heraus­geber Petter Lønningen. Seit Erscheinen des Blattes 2007 wurden mehr als 900 Verkaufende registriert, zuletzt waren es noch acht. In der Vergangenheit hätten die Megafon-Verkaufenden die Erlöse aus dem Verkauf vor allem benötigt, um ihre Sucht zu finanzieren. Das sei nun nicht mehr nötig, weil der illegale Drogenmarkt nahezu beseitigt worden sei und Suchtkranken besser geholfen werde. HINZ & KUNZT, HAMBURG

FOTO: KEN GAGNE

Lebenslanger Kampf

Bereits als kleines Mädchen habe sie sich für die Umwelt eingesetzt, sagt Carol Van Strum, und sie musste schnell eine Lektion lernen: «Regierungen man darf kein Wort glauben.» Veränderungen, so die 79-Jährige, müssen von der Zivilgesellschaft angestossen werden. Deshalb freut sie sich über das Engagement der Jugend für das Klima, die sich nicht einschüchtern lässt von alten Männern und Autoritäten, die uns einen zerstörten Planeten hinterlassen.

STREET ROOTS, PORTLAND

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Ein Jahr lang 1000 Euro monatlich ohne jede Gegenleistung: Dieses Geschenk haben im Dezember des vergangenen Jahres in Deutschland 42 Menschen erhalten. Das Geld stammt vom Verein «Mein Grundeinkommen», der sich seit fünf Jahren für die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens einsetzt. Das gemeinnützige Start-up sammelt im Internet via Crowdfunding Spenden und schüttet sie regelmässig in Verlosungen aus. Mehr als 100 000 Gross- und Kleinspender, so der Verein, ermöglichten bislang 450 ­Menschen ein Grundeinkommen.

ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Bedingungsloses Grundeinkommen

Vor Gericht

Die Justiz als Kunst

HINZ & KUNZT, HAMBURG

Migration in Niedersachsen

Jeder fünfte Niedersachse hat eine Migrationsgeschichte. Laut Statistik sind das 1,79 Millionen Personen oder 22,1 Prozent der Landesbevölkerung. Das Durchschnittsalter zum Zeitpunkt der Einwanderung lag bei 24,2 Jahren. 724 000 Personen kamen aus Europa, davon mehr als die Hälfte aus EU-Staaten. Weitere 303 000 Zugewanderte stammen aus dem Nahen und Mittleren Osten. Grund für die Zuwanderung war in 40 Prozent der Fälle eine Familienzusammenführung, gefolgt von Flucht (16,7 Prozent) und Arbeitssuche (15,6 Prozent). ASPHALT, HANNOVER

In ferner Zukunft

Das Weltwirtschaftsforum (WEF) misst jedes Jahr die Gleichberechtigung von Frauen und Männern in 153 Ländern. Verbessert sich weltweit die Beteiligung von Frauen an Macht und Wohlstand im gleichen Tempo wie im vergangenen Jahr, wird es bis zum Jahr 2276 dauern, bis Männer und Frauen gleichberechtigt sind.

BODO, BOCHUM/DORTMUND

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Man würde spontan nicht darauf kommen, dass George W. Bush, der verstorbene AppleGründer Steve Jobs, Pakistans Ex-Staatschefin Benazir Bhutto, Ex-Planet Pluto, Britney Spears, der Eiffelturm, der heilige Gral und somalische Piraten einen gemeinsamen Nenner haben könnten. Zumindest sicher nicht diesen: Sie alle wurden vom selben Mann verklagt. Jonathan Lee Riches heisst der Serienkläger, der in US-amerikanischen Jus-Blogs vor rund fünfzehn Jahren zum beliebten Sujet wurde. 2018 erschien ein Best-of-Buch seiner Fälle mit philosophischer Einordnung, an Weihnachten lag es für Ihre werte Gerichtskolumnistin unter dem Baum. Der Titel: «Nothing is Written in Stone», nichts ist in Stein gemeisselt. Über 4000 Rechtsschriften hat der verurteilte Betrüger während seiner zehnjährigen Haftzeit bis 2012 bei verschiedenen US-Gerichten eingereicht. Narrenstreiche – aber auch Geniestreiche, wie Beobachter halb angewidert, halb bewundernd feststellten. Riches hat es mehrfach geschafft, dass sich Gerichte tatsächlich mit teils komplett erfundenen Sachverhalten beschäftigen mussten. So wurde untersucht, ob die Gewinnerin der vierten Staffel der Casting-Show «American Idol» die Jury bestochen hat. Riches verklagte die Kardashians – sie würden ein Al-Qaeda-Camp betreiben. Oder auch mal sich selbst wegen Menschenrechtsverletzungen – und wurde freigesprochen.

Er ist, je nach Standpunkt, eine bekloppte Nervensäge mit überdrehtem Geltungsdrang. Oder eben ein Genie. Mitautor und Philosoph Sigl glaubt, man müsse Riches als Künstler betrachten. Er hält das Werk für «sehr erfinderische Literatur», rückt Riches in die Nähe der Dadaisten. Das hat was. Zwar schwankt die Qualität der Texte zwischen inkohärenter Tirade und vortrefflicher Satire. Aber Riches Welt, diesem kafkaesken «bureauniverse», haftet etwas Zeitgenössisches an. Das Rechtssystem als künstlerisches Medium, als Leinwand zu nutzen ist so zynisch und sinnentleert wie so manches dieser Tage. Angesichts dessen, dass Riches als einer der Mitentwickler der Phishing-Technik gilt, einer digitalen Form des Identitätsbetrugs, lässt sich sagen: Der Mann ist seiner Zeit tatsächlich voraus. Und ein talentierter Krimineller. Hier liegt denn auch sein gröss­­ter Coup: Mit seinem Tun hat er es geschafft, hinter Gittern erst recht straffällig zu werden. Was er da macht, ist nämlich nichts anderes als Prozessbetrug. Zum Ausdruck kommt damit nicht nur künstlerischer Innovationsgeist, sondern rüde Missachtung rechtsstaatlicher Institutionen – und dieser Trend ist inzwischen in der Person von Donald Trump im Weissen Haus angekommen. Wer Riches als Künstler feiert, müsste im derzeitigen US-Präsidenten das grösste Gesamtkunstwerk unserer Zeit sehen. Und der ehemalige Justizkünstler wäre Teil davon: In den Wahlkampf-Veranstaltungen des US-Präsidenten stellte er sich in die jubelnde Menge – in einem T-Shirt mit dem Aufdruck: «Juden für Trump». Das Bild ging durch die Medien. Performance-Künstler oder Troll? Es bleibt kompliziert. Y VONNE KUNZ  ist Gerichtsreporterin

in Zürich 5


Challenge League

Keine Wahl «Ich habe ab jetzt viel Zeit und kann deine Haare jederzeit machen», sagt meine Freundin Salem, die in den letzten zwei Jahren wegen ihrer Ausbildung im Gesundheitsbereich kaum Musse für meine Haare hatte. «Wieso?! Habt ihr Schulferien?», frage ich. Salem kommt wie ich aus Eritrea und lebt seit drei Jahren als aufgenommene Geflüchtete in der Schweiz. Sie heisst eigent­lich anders, möchte aber lieber anonym bleiben. Salem hat in ihrer Heimat Eritrea eine ­Ausbildung zur Lehrerin ­gemacht und ein paar Jahre in Schulen ­gearbeitet. Nach ihrer Flucht in den Sudan war es ihr Traum, nach ­Kanada zu gehen. Aus verschiedenen Gründen landete sie aber nach mehreren Jahren in der Schweiz. Sofort fing sie an, Deutsch zu ­lernen. Ihr war klar, dass die Sprache der Schlüssel dafür ist, hier ein ­Leben aufzubauen. Salems Ziel war eine Ausbildung im Gesundheitswesen. Sie hat seit ihrer Kindheit davon geträumt, in diesem Bereich zu arbeiten. Also fing sie an, intensiv Deutsch zu ­lernen, nicht nur am Tag, sondern auch in gratis Deutschkursen am Abend. Nach einem halben Jahr Sprache lernen und der Suche nach einer Lehrstelle bekam Salem die Gelegenheit, eine entsprechende Vorlehre und später die Lehre zu machen.

«Ich habe meine Lehre abgebrochen», antwortet Salem auf meine Frage nach ein paar Minuten der Stille. Ich kann es nicht glauben. Ich bin enttäuscht und mir fehlen die Worte, um sie zu trösten. «Dieser Beruf war seit meiner Kindheit mein Traum. Schon mein Grossvater arbeitete im Gesundheitswesen, und ich habe mich als Kind immer darüber gefreut, dass er Menschen die Lebensfreude zurückgeben konnte», fährt sie fort. «Nach dem Gymnasium wollte ich eine medizinische Ausbildung machen, aber das war nicht möglich, weil die Menschen in unserem Land ihren Beruf nicht frei wählen dürfen. Hier dachte ich, endlich den Lohn meiner harten Arbeit zu ernten. Aber es ist extrem schwierig, den Leuten immer wieder beweisen zu müssen, dass auch ich das Potenzial für diesen Job habe. Ich bin müde von diesem Widerstand», sagt sie, und wieder herrscht Stille.

Ich kenne viele, denen es so geht wie Salem. Sie tun alles, um eine Ausbildung zu machen, im besten Fall: ihre Traumausbildung. SEMHAR NEGASH

In vielen Berufsbereichen ist es nicht selbstverständlich, dass geflüchtete Menschen eine Ausbildung machen. Es gibt nur drei berühmte Sphären, in denen sich die meisten wiederfinden: Alterspflege, Reinigung, Gastronomie. Wenn ich von anderen Geflüchteten höre, wie extrem schwierig es für sie ist, ihren Wunschberuf zu erlernen, frage ich mich manchmal, ob sie dies bereits als Normalität akzeptiert haben und sich nicht genug bemühen – obwohl ich genau weiss, wie schwer der Zugang zum Arbeitsmarkt für Leute mit Fluchthintergrund ist. Oder woran könnte es wohl liegen? Im Vergleich zu vielen Menschen in Salems sozialem und beruflichem Umfeld sind die Fortschritte, die sie macht, aussergewöhnlich. Wir kennen uns sehr gut, und ich sehe selber, was für eine fleissige und hart arbeitende Frau sie ist. Sie ist wirklich bereit, alles dar6

anzusetzen, ihren Traumjob zu lernen – koste es, was es wolle. Trotz der Herausforderungen, die sowohl die Sprache als auch das Fach an sich stellen.

Ich kenne viele Leute, denen es so geht wie Salem. Die alles tun, um eine Ausbildung – im besten Fall: ihre Traumausbildung – zu machen. Und dann sehe ich den Arbeitsmarkt, der alles andere als inklusiv ist. Bei einem Elternabend an einer Schule für junge Erwachsene habe ich gehört, dass es in der Schweiz mehr als 300 Berufsbereiche gibt. Aber wenn in Gesprächen mit jungen Erwachsenen die Mitarbeitenden der Behörden fragen: «Was möchten Sie denn gern arbeiten?», würde ich gern zurückfragen: «Gute Frage. Aber ist der Arbeitsmarkt auch bereit für die Antwort?»

SEMHAR NEGASH  ist Anthropologin aus Bern. Sie beobachtet an dieser Stelle sich selbst und andere dabei, wie es ist, ein Teil der Schweizer Gesellschaft zu sein.

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ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT

der Stadt in einem Kessel. Aber auf den Höhenwegen, die es rund um die Stadt gibt, ist man schnell aus dem Alltags­ leben raus. Auch am See kann man sich entspannen. Es gibt da viel Kunst im ­öffentlichen Raum, wunderbar platziert in Grünanlagen. Als Gelegenheitsjob habe ich eine Zeit lang Ausstellungen im Muse­um Bellerive auf- und abgebaut. In den Pausen sind wir oft im Park gesessen und haben die Werke auf uns wirken lassen.

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Was nur Einheimische kennen Ich war letzten Sommer in Z ­ ürichOerlikon unterwegs, in den neu gebauten Quartieren beim Max-Bill-Platz. Die sind architektonisch interessant, kombiniert mit Grünanlagen und Spielplätzen, das hat mir sehr gefallen. Zum Teil sind auch Kunstwerke integriert, ich sah das in dieser Form zum ersten Mal. Kunst im öffentlichen Raum finde ich immer spannend. Ich finde es auch gut, wenn Kin­ der mit zugänglicher Kunst ­auf­wachsen, das öffnet den Geist. Oerlikon hat nicht so einen guten Ruf, aber die neuen Quartiere sind stadtplanerisch gut gestaltet.

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Auf Reisen

Zürich, Schweiz Unsere Reiseleitung Hans Peter Meier, 61, ist in Zürich geboren. Einen Teil seiner Kindheit und Jugend verbrachte er in Mannheim (DE) und Basel. 2003 ­verlor er seine gutbezahlte Stelle in der IT-Branche und wurde obdachlos. Heute ist er Stadtführer bei Surprise und verkauft das Strassenmagazin am Zürcher Bellevue.

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Ich lebe gerne hier, denn … Zürich ist eine schöne, offene und moderne Stadt, die auch kulturell viel bietet. Mein Lieblingsquartier Der Kreis 1, die City und die Gegend dem See entlang. Hier ist mein Ver-

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kaufsstandort am Bellevue. Ich habe Seesicht – das tut gut. Ich schaue auch gern auf den Sechseläutenplatz hinüber. Die Bäume und im Sommer das Wasser, das aus dem Boden spritzt, heben die nervöse Situation des Platzes mit dem vielen Verkehr ein bisschen auf. Ich mag auch die Altstadt am Morgen sehr gern. Man kann sich richtig in die Stimmung hineinfal­len lassen, wenn alles noch verschlafen ist.

Die beste Jahreszeit in Zürich Herbst und Frühling. Oder auch der Winter, wenn es schneit. In der Stadt ist das mittlerweile sehr selten der Fall. Aber wenn es auf dem Üetliberg Schnee hat und am Morgen die Sonne da­ raufscheint, nimmt das Ganze für kurze Zeit einen feinen Rosa- und Rot-Ton an. Man muss sich die Zeit nehmen, um ­stehen zu bleiben. Ich habe schon Leute ­ge­sehen, die auf dem Arbeitsweg anhielten und Handyaufnahmen machten. Auch der Herbst ist schön mit den goldenen Blättern. Am Morgen ist es zwar n ­ eb­lig, aber wir haben auch klare Tage mit sehr guter Fernsicht in die Berge. Im Frühling wiederum beginnt alles zu blü­hen, und ­Zürich ist eine sehr grüne Stadt.

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Ein Ort, den jeder gesehen haben muss Der Lindenhof. Von da aus hast du eine wunderbare Aussicht auf die Altstadt. Hier kannst du am frühen Morgen dem Sonnenaufgang zuschauen oder die Stadt auf dich wirken lassen.

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Um dem Stadtleben zu ­entkommen, gehe ich … … auf den Uetliberg. Wir sind ja in

Interview von Diana Frei Surprise, Münzgasse 16, 4051 Basel surprise.ngo

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Zeit der Utopien Zukunft Das Alte ist am Vergehen, das Neue hat noch nicht begonnen. Die Zukunft

entscheidet sich jetzt. Warum die Utopie die einzige Option für Veränderung ist. TEXT  SIMON JÄGGI ILLUSTRATION  LUCA SCHENARDI

Es ist, als lebten wir gerade noch in einer anderen Welt. Wo Hyperpragmatismus regierte, die Menschen wie erstarrt schienen im neoliberalen Status quo. Noch immer klang der westlichen Welt wie ein Glockenschlag das Versprechen von Margaret Thatcher im Ohr: «T-I-N-A. There is no alternative.» Sie haben Visionen? Gehen Sie zum Arzt. Und dann begann jener Sommer, der in der Schweiz als Wendepunkt in die Geschichte eingehen wird. Eine neue Politisierung erfasste das Land. Zehntausende Kinder und Jugendliche schlossen sich der weltweiten Klimabewegung an und trugen ihre Sorgen lautstark in die Städte. «Wäm sini Zuekunft? Öisi Zuekunft!», hallte es durch die Strassen. Und, radikaler: «System change – not climate change!» In wenigen Monaten entstand die grösste Jugendbewegung der Schweizer Geschichte. Zeitgleich formierte sich eine neue Frauenbewegung, die im Juni 500 000 Menschen auf die Strasse brachte. Auch sie fordern einen grundlegenden Wandel: unbedingte Gleichstellung, ein Ende der Diskriminierung und einen Umbau des kapitalistischen Systems. Im Herbst folgten in der Schweiz die nationalen Wahlen und mit ihnen die grössten parteipolitischen Verschiebungen, welche der Schweizer Bundesstaat je erlebt hat. Mehr Frauen, mehr Grün! Weltweit gab es noch nie so viele Proteste wie 2019. Von Hong-Kong über Rom bis Santiago de Chile – Millionen Menschen gehen auf die Strassen und wollen Veränderung, Freiheit, Arbeit, gerechte Löhne, ein Ende der Umweltzerstörung. Welche Zukunft wollen wir? Diese Frage dominiert zunehmend den öffentlichen Diskurs. Und mit ihr kommt ein Begriff in die Öffentlichkeit zurück, der lange Surprise 467/20

verschwunden war: Utopie. Ein Begriff, so mächtig wie verpönt. Der für den Willen nach einer besseren Welt steht und in den vergangenen Jahrzehnten in Ungnade gefallen war. Wörtlich aus dem Altgriechischen übersetzt heisst Utopie so viel wie «Un-Ort». Der Duden beschreibt den Begriff als «undurchführbar erscheinender Plan; Idee ohne reale Grundlage». Eine ziemlich negative Beschreibung. Dabei waren es seit jeher die Utopisten, welche die menschliche Zivilisation vorwärtsbrachten. Es ist Zeit für eine Rehabilitation. Kein Vertrauen in die Politik In grossen Schritten nähert sich die Menschheit dem, was die Wissenschaft als Klimakatastrophe bezeichnet. Gelingt es uns nicht, den CO2-Ausstoss innerhalb der nächsten zehn Jahre auf ein Minimum zu reduzieren, könnte die Welt, wie wir sie kennen, für immer verschwinden. Die Wissenschaft warnt seit über zwanzig Jahren vor der einzigartigen Bedrohung durch den Klimawandel. Dennoch hat die Politik es bisher weltweit verpasst, die notwendigen Massnahmen zu treffen. Der Klimawandel ist die grösste, aber nicht die einzige Gefahr, die unsere Freiheit bedroht. Mit der fortschreitenden Digitalisierung geraten Millionen von Arbeitsplätzen unter Druck. Laut extremen Schätzungen ist in Westeuropa jede zweite Stelle bedroht. Zugleich nimmt die Ungleichheit weltweit weiterhin zu und gefährdet den sozialen Frieden. Ob es gelingen wird, diese Herausforderungen mit dem Klein-Klein der politischen Routinemaschinerie zu bewältigen? Es sieht nicht danach aus. An Ideen, wie eine gerechtere und ökologisch nachhaltige Gesellschaft erreicht werden könnte, fehlt es nicht. Das zeigen

zahlreiche progressive Vorstösse, von 1:12 über ein bedingungsloses Grundeinkommen bis zur Gletscher-Initiative. Die Liste liesse sich fortsetzten: gleicher Lohn für Frauen und Männer, Stimmrecht für Menschen ohne Schweizer Pass und bezahlbarer Wohnraum für alle. Fast alle stammen von Akteuren aus der Zivilgesellschaft. Während auf den Strassen der Ruf nach Veränderung immer lauter klingt, sinkt das Vertrauen in die Politik. Nicht nur in Deutschland oder den USA, auch in der Schweiz, wie das kürzlich erschienene Sorgenbarometer des Forschungsinstituts gfs.bern zeigt. Das Vertrauen der Bevölkerung in die Institutionen ist eingebrochen. Fast die Hälfte der Stimmberechtigten glaubt, dass die Politik in entscheidenden Dingen versage. Die Studienautoren sprechen von «Politikverdrossenheit». Erstaunlich ist das nicht. Über die vergangenen zwanzig Jahre sind der etablierten Politik auf nationaler Ebene kaum noch entscheidende Fortschritte gelungen. Die Parteien in der Schweiz wirkten, mit Ausnahme der rechtspopulistischen SVP und der Jungsozialisten, zögerlich und ideenlos. Die letzte grosse Errungenschaft des Schweizer Sozialstaats war die Einführung der Mutterschaftsversicherung im Jahr 2005. Die SP schrieb 2010 als Fernziel die Überwindung des Kapitalismus ins Parteiprogramm, strich es aber wenig später wieder heraus. Zu laut war die Kritik. Neue Gesellschaftsentwürfe, utopische Ideen im Sinne einer grundlegenden Verbesserung des Bestehenden? Fehlanzeige. Die bürgerlichen Parteien haben indessen die soziale Komponente fast vollständig aus den Augen verloren und sich komplett neoliberalen Glaubenssätzen ergeben. Erhöhung des Rentenalters, neue Kampfjets, Unternehmenssteuerreform – 9


es zeigt sich so deutlich wie noch nie, dass den konservativen Kräften Antworten auf die drängendsten Fragen unserer Zeit fehlen. Nicht nur, weil sie den Klimawandel und die wachsende Ungleichheit über Jahre ignoriert oder gar geleugnet haben. Es ist jener ungezügelte Markt, der die Menschheit erst dorthin gebracht hat, wo sie heute steht. Die Massenproteste in Chile, die ertrinkenden Menschen in Mittelmeer, die wütenden Buschfeuer in Australien – sie alle sind die Folgen eines Systems, das die Umwelt zerstört und absurd reiche Gewinner auf Kosten von Millionen von Verlierern produziert. Während die Automobilhersteller zur Jahreswende 10

nochmals schnellere, stärkere und exklusivere SUVs auf den Markt bringen, ganz so als gäbe es kein Morgen. Triebfeder des Wandels Um zu verstehen, was Utopien in der heutigen Zeit leisten könnten, lohnt sich ein Blick in die Vergangenheit, ins Europa des frühen 16. Jahrhunderts. Klerus und Adel herrschten über die Landbevölkerung und beuteten diese gnadenlos aus. Aus Italien verbreitete sich der Geist der Renaissance langsam nordwärts und in England publizierte der englische Gelehrte Thomas Morus seinen legendären Text «Utopia». Hauptfigur ist ein Seefahrer, der nach lan-

ger Reise zurückkehrt und von einer weit entfernten Insel erzählt. Die Insel mit dem Namen Utopia ist ein Gegenentwurf zur englischen Gesellschaft der damaligen Zeit. Auf ihr leben die Menschen in sozialer Gleichheit. Der Wohlstand ist gleichmässig verteilt, Privateigentum gibt es keines. Insgesamt produzieren die Bewohner mehr, als sie zum Leben brauchen. Arbeiten müssen alle, doch niemand mehr als sechs Stunden am Tag. Es herrscht Demokratie nach antikem Vorbild. Morus zeichnete zwar das Bild einer gerechteren Welt, aus heutiger Sicht aber mit grossen Einschränkungen. Seine Ideen waren noch stark vom damaligen Denken Surprise 467/20


geprägt, jedenfalls mussten Verbrecher ihre Strafe auch auf Utopia als Sklaven verbüssen, die Frauen hatten kein Stimmrecht und waren den Männern unterstellt, Individualismus war verpönt. Dennoch war das Buch für die damalige Zeit revolutionär und erreichte innerhalb kurzer Zeit über England hinaus grosse Bekanntheit. Das utopische Denken wurde fortan zu einer Triebfeder des gesellschaftlichen Wandels. Die Forderungen der Aufklärung nach politischer und rechtlicher Freiheit und Gleichheit waren zuerst nichts anderes als Utopie. Bis zu dem Zeitpunkt, als die Amerikanische und die Französische Revolution sich daranmachten, diese zu verwirklichen. Das utopische Denken beeinflusste die sozialistischen Bewegungen, die Entstehung der modernen Demokratie beförderte die Arbeiterbewegung wie die Frauenbewegung und legte den Grundstein für den Sozialstaat, in dem wir heute in der Schweiz leben. Freiheit, Gleichheit, Demokratie – all das waren einst nichts als Wunschträume. In welch kurzer Zeit sich eine Gesellschaft wandeln kann, erlebte Ende des 19. Jahrhunderts auch die Schweiz. Die westlichen Gesellschaften befanden sich, angetrieben vom technologischen Fortschritt, im Umbruch. Noch bis weit ins 19. Jahrhundert waren auch Schweizer Fabrikarbeiter rechtlich kaum geschützt. Es gab keine Arbeitszeitbeschränkung und keine Freitage. Kinderarbeit war weit verbreitet, schulische Bildung einer kleinen Elite vorbehalten. Die Industrialisierung schuf in den Städten eine Arbeiterklasse, die oft in Armut lebte. Vor diesem Hintergrund wuchs der Unmut über die herrschenden Verhältnisse. Sozialistische Bewegungen forderten die Abschaffung des Kapitalismus und eine Vergemeinschaftung der Produktionsmittel im Sinne von Karl Marx. Utopien wurden zu Gesetzen Diese radikalen Utopien blieben Wunschdenken. Doch unter dem wachsenden Druck fühlte sich der damals politisch dominierende Freisinn unter Zugzwang gesetzt und machte sich an die Reformierung des noch jungen Bundesstaats. Zuerst mit dem Fabrikgesetz im Jahr 1877. Dieses begrenzte die Arbeitszeit auf 65 Stunden, verbot die Arbeit für Kinder unter 14 Jahren und führte einen arbeitsfreien Sonntag ein. Nach der Jahrhundertwende entstanden die nationalen SozialversicherunSurprise 467/20

­ en und schliesslich die AHV. Umgesetzt g wurde diese Transformation von bürgerlichen Kräften, doch ins Rollen gebracht hatten sie linke Utopisten, die daran glaubten, dass eine gerechtere Gesellschaft möglich ist. Heute steht die Menschheit erneut an einem Wendepunkt. Vielleicht am entscheidendsten, den sie je erlebt hat. Doch wie gelingt eine gesellschaftliche Transformation, wenn die politischen Parteien in Ideenlosigkeit verharren? Wie lässt sich ein allumfassendes System wie der Kapitalismus von innen heraus transformieren? Eine Weltordnung, die jede Ritze unseres Lebens durchdringt, die keine einfachen Feindbilder bietet, von der wir alle abhängen und die wir alle mittragen? Vor knapp zehn Jahren sorgte Occupy Wallstreet weltweit für Schlagzeilen. Innerhalb von wenigen Monaten hatte sich wie aus dem Nichts eine globale Bewegung formiert. Die Aktivisten besetzten die Eingänge von Grossbanken, zogen zu Tausenden durch die Strassen. Sie forderten eine stärkere Kontrolle des Bankenund Finanzsektors durch die Politik, die Verringerung des Einflusses der Wirtschaft auf politische Entscheidungen und die Reduzierung der sozialen Ungleichheit zwischen Arm und Reich. Doch ebenso plötzlich, wie die Bewegung entstanden war, verschwand sie auch wieder. Zuerst von den Strassen, dann auch aus der Öffentlichkeit. Was blieb, war das Bild der Maske des Königsmörders Guy Fawkes, ein Symbol für den Widerstand gegen Ungleichheit, Profitgier und Gewinndenken. Und für viele Aktivisten und Aktivistinnen eine bittere Er-

nüchterung sowie der Glaube, dass ein friedlicher Umbau des kapitalistischen Systems unmöglich sei. Tanz mit dem System Woran entscheidet sich der Erfolg oder Misserfolg von sozialen Bewegungen? Das wissenschaftliche Interesse an der Protestforschung war lange Zeit wenig ausgeprägt. Seit der Jahrtausendwende und der weltweiten Zunahme von Protesten hat sich das geändert. Immer mehr Sozialwissenschaftler befassen sich mit dem Thema. Zuletzt sind zwei Bücher erschienen, beide mit dem Titel: «How change happens». Eins aus der Feder von Leslie Crutchfield, einer US-amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlerin, ein anderes von Duncan Green, einem Politologen aus Grossbritannien. In einem zentralen Punkt sind sich beide einig: Damit Wandel geschieht, braucht es eine gesellschaftliche Graswurzelbewegung: Bottom-up, vernetzt, angeführt von Individuen, welche die Bewegung zusammenhalten und kollektive Aktionen anführen. «Sie bilden Bewegungen und fokussieren auf die Veränderung der Herzen und politischen Ansätze», schreibt Leslie Crutchfield. Einen Schritt weiter geht Duncan Green. Auch für ihn sind Aktivistinnen und Aktivisten der Ausgangspunkt jeder gesellschaftlichen Veränderung. Doch alleine können sie keinen grundlegenden Wandel bewirken. Stattdessen spricht er vom «Tanz mit dem System». Wollen zivilgesellschaftliche Bewegungen eine Transformation bewirken, müssen sie in einem ersten Schritt definieren, welche Veränderung sie herbeiführen möchten. Dann

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VERHINDERT DESIGN ARMUT  ? 11


braucht es eine Analyse: Welche institutionellen Kräfte unterstützen oder blockieren den Wandel? Davon ausgehend gilt es, intelligente Koalitionen und Netzwerke zu bilden. Für seine Forschung hat Green rund ein Dutzend historische Fälle untersucht. Ausgehend davon stellt er eine weitere Erkenntnis in den Vordergrund: die Bedeutung von unvorhersehbaren Ereignissen wie neue Personen in Machtpositionen, unerwartete Gesetzesänderungen, techno­ logische Fortschritte, Skandale und Krisen. «Erwartet das Unerwartete», rät Green seinen Leserinnen. Vor allem aber braucht es eine Ermächtigung der Bevölkerung – englisch treffender als «empowerment» beschrieben. In dieser Vorstellung sind die Menschen nicht mehr länger Leidtragende oder Profitierende, sondern die zentralen Akteure. Es ist der Übergang von einem Zustand der Machtlosigkeit und dem Gefühl des «Ich kann das nicht» hin zu einem Gefühl kollektiven Selbstvertrauens und dem Gedanken: Wir können! Wie schon Rosa Parks im Bus Die Macht des Einzelnen: Das mag auf den ersten Blick etwas abgedroschen klingen. Doch ein Blick in die Vergangenheit – die weit entfernte wie auch die ganz nahe – bestätigt die These: Radikale gesellschaftliche Transformation ist kaum je von den Institutionen oder der etablierten Politik ausgegangen, sondern fast immer von Einzelnen oder von Gruppen von Menschen. Während der Französischen Revolution trugen auch Bauern und das einfache Volk dazu bei, das herrschende System zu Fall zu bringen. In den USA des 20. Jahrhunderts war es Rosa Parks, die sich weigerte, ihren Platz im Bus für einen weissen Mann frei zu geben und die damit das Ende der Rassentrennung einläutete. Während des Arabischen Frühlings führte der Protest von Millionen von Menschen gleich reihenweise zum Fall autoritärer Regimes – wenn auch mit wenig guten Folgen. Und dann ist da Greta Thunberg. Eine schwedische Schülerin, die mit ihrem Schulstreik innerhalb von einem Jahr eine Bewegung ausgelöst hat, der sich weltweit Millionen Menschen angeschlossen haben. Während der Klimakonferenz in Spanien trat Thunberg auf die Bühne, ein Mädchen umringt von der Flagge der UNO, Staatsführerinnen und Kameras. «Es gibt Hoffnung», sagte sie. «Sie liegt 12

nicht bei den Unternehmen, nicht bei den Regierungen. Die Hoffnung liegt bei euch, den Menschen!» In den vergangenen Jahrzehnten haben wir es uns in der westlichen Welt ziemlich gemütlich eingerichtet. Und jetzt plötzlich steht eine zornige junge Frau vor unserer Haustür und fordert mit ihren Freundinnen, wir sollen uns vom Sofa erheben und unsere Welt umbauen! Wollen wir unser gutes Leben und unsere Sicherheiten für unsere Enkel und Urenkel bewahren, ist Veränderung tatsächlich die einzige Option. Gemütlich ist das nicht, aber unausweichlich. Mit dieser Einsicht vor Augen fällt es vielleicht auch leichter, wieder jene

Fragen zu stellen, die für jeden Wandel nötig sind: In welcher Welt sollen unsere Nachfahren aufwachsen? Welche Zukunft wünschen wir uns für uns und unsere Mitmenschen? Welcher Weg führt dorthin? Es ist an der Zeit, dass diese Fragen wieder zu einem zentralen Bestandteil unseres Denkens werden, unserer Gespräche und unseres Handelns. Denn der Übergang von der Utopie zur Realität beginnt im Hier und Jetzt. Ein ganzes Arsenal friedlicher Mittel steht bereit: Wir können unser Umfeld aufrütteln, politische Initiativen lancieren. Auf die Strasse gehen und lautstark jenen Wandel fordern, den unser Planet dringend braucht. Surprise 467/20


Als Synonyme für «Utopie» nennt der Duden übrigens «Wahn, Hirngespinst, Illusion». Doch wirklich wahnsinnig ist nur eines: zu glauben, wir könnten einfach so weitermachen wie bisher.

Der Blick in die Zukunft – Anlass zu Hoffnung oder Sorge? Das haben wir unsere Reporter Simon Jäggi und Andres Eberhard gefragt. Andres Eberhards Essay lesen Sie in der nächsten Ausgabe. Surprise 467/20

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Gabriela Pereira wurde als Kind in eine Anstalt eingewiesen. Bis heute kämpft sie gegen Dämonen – und für Gerechtigkeit.


Sie nannten es Fürsorge Administrative Versorgung Zehntausende wurden in der Schweiz bis 1981 in Anstalten eingewiesen,

weil sie Menschen waren, die nicht der Norm entsprachen. Eine von ihnen ist Gabriela Pereira. Jetzt kämpft sie im Aargau gegen eine Verordnung, die sie an die eigene Vergangenheit erinnert. TEXT  BENJAMIN VON WYL FOTOS  KLAUS PETRUS

«Als Kind fühlte ich mich ständig wie auf einer Tretmine», erzählt Gabriela Pereira. Es ist kalt in ihrer kleinen Parterrewohnung in Moutier. Kerzen brennen, eine Lampe fehlt an der Zimmerdecke. Pereira leidet an Arthrose und gilt wie fast zehn Prozent der Schweizer Bevölkerung als arm. Vor 55 Jahren kam sie als Kind einer Portugiesin und eines Schweizers zur Welt – als Staatenlose. Weil ihre Eltern nicht verheiratet waren. Dass ihr Vater wohlhabend war, half der Familie nicht. Auch nicht, dass die Gemeindebehörden vom Hochzeitswunsch der Eltern wussten. Pereira und ihr Bruder wurden zwischen Beiständen und Vormundschaftsbehörden hin- und hergereicht und mussten ihre halbe Kindheit in Waisenhäusern, Erziehungsanstalten und Heimen verbringen. Mindestens 60 000 Kinder und Erwachsene haben im 20. Jahrhundert in der Schweiz Ähnliches erlebt. Wie Pereira sind sie von 1900 bis 1981 in Anstalten, Armenhäusern oder gar Gefängnissen «administrativ versorgt» worden. Viele wurden sexuell missbraucht, wohl alle misshandelt. «Weggeräumt, weggebracht, weggesperrt» sind die Assoziationen, wenn man das Wort «versorgt» auf Mundart hört. «Zum Glück gibt es diese Fotos.» Das eine zeigt Pereira mit anderthalb: ein lachendes Baby im Kindersitz, auf einem Schaffell. Auf dem anderen Foto hat das kleine Mädchen bereits längere Haare. Seine Augen wirken wässrig. Es hat etwas in der Hand. «Meinen Teddy!», erinnert sich Pereira. «Und was tu ich?» Pause. «Ich zieh ihn aus.» Ein Jahr Waisenhaus liegt zwischen beiden Bildern. «Wir wurden dort misshandelt.» Sie erinnert Surprise 467/20

sich an Schmerzen, an Durst, an Kälte. Nach diesem Jahr, das sich bei Pereira ins Gedächtnis eingebrannt hat, gelingt es dem Vater, sie und ihren Bruder freizukaufen: 50 000 Franken, etwa 30 Monatslöhne, muss er bei den Behörden hinterlegen, damit er und seine Frau für die eigenen Kinder sorgen dürfen. Doch das Familienglück währt nur kurze Zeit. Willkür und Missbrauch Es ist 1967, Pereira ist drei, als ihr Vater stirbt. In der Schweiz der 1960er-Jahre hatten Frauen wenig und eine alleinerziehende Ausländerin noch weniger Rechte. Wäre ihre Mutter wieder nach Portugal gegangen, hätte sie ihre staatenlosen Kinder nicht mitnehmen können. Aber auch so werden sie wieder von der Vormundschaftsbehörde geholt: ein Jahr katholisches Heim in der Ostschweiz, ein Jahr bei der Mutter, dann vier Jahre in der berüchtigten Erziehungsanstalt Freienstein. Statt zu lernen, arbeiten die Heimkinder täglich in landwirtschaftlichen Betrieben. Jeden Samstagmorgen hängt es von der Laune des Anstaltsleiters ab, ob Pereira fürs Wochenende zur Mutter darf. Auch während der Ferien muss sie auf Höfen arbeiten. Nur einmal darf sie ins Ferienlager, wo sie fast jede Nacht von einem Betreuer vergewaltigt wird. Als Pereira mit elf Jahren endlich wieder bei der Mutter leben darf, soll in einem Bericht der Fürsorge gestanden haben, sie sei «faul». «Dabei war ich schwer traumatisiert», sagt sie heute. Es folgen ein paar Jahre in Zürich, ein paar Jahre mit mütterlicher Nähe. Mit sechzehn Jahren setzt sich Pereira in der alternativen Jugendbewegung für ein autonomes Jugendzentrum ein. Deshalb 15


«Wir wurden missbraucht.» Die Kindheit auf der Tretmine hat sie überlebt, jetzt will Gabriela Pereira nie mehr still sein. Die Kunst hilft ihr dabei – und Gegenstände, die ihr Halt geben.

wird sie vom Fürsorgekarussell erneut quer durchs Land geschleudert: Ihr letztes Schuljahr verbringt sie in einem katholischen Internat in den französischsprachigen Alpen. «Dort habe ich dann erstmals gemerkt, dass ich kreativ und gescheit bin.» Kafka half ihr zu verstehen «Ein Jugendlicher kann durch die Vormundschaftsbehörde in ein Heim oder in eine Anstalt eingewiesen werden, zum Beispiel bei Liederlichkeit, Arbeitsscheu oder Trunksucht», berichtete das Schweizer Fernsehen 1972. Vierzehn Minderjährige waren damals in der Strafanstalt Hindelbank, dem einzigen Frauengefängnis und gleichzeitig «Endstation für schwererziehbare Mädchen» (SRF). Die Geschichte ist bekannt: Wer aus der Norm fiel, galt als verwahrlost und durfte eingesperrt werden. Man zwang junge, unverheiratete Mütter, ihre Kinder zur Adoption freizugeben und sich sterilisieren zu lassen. Erst 1981 endete dieses Willkürsystem. Die Übernahme der europäischen Menschenrechtskonvention half, die «fürsorgerischen Zwangsmassnahmen» zu stoppen. «Als ich das erste Mal in Therapie war, habe ich über Missbräuche erzählt wie über einen Einkauf im Supermarkt. So normal war das für mich», sagt Pereira. Kraft gegeben haben ihr die Mutter und Bücher: Michael Endes «Momo», später Hannah Arendt, Michel Foucault und Franz Kafka. Autoren, die ihr halfen, das Grauen zu verstehen. In Kafkas Erzählungen habe sie sich erkannt. «Ich bin in der Strafkolonie gewesen, ich kenne den Bau, ich weiss, wie es sich anfühlt.» 16

Wer aus der Norm fiel, galt als verwahrlost und durfte eingesperrt werden. Man zwang unverheiratete Mütter, ihre Kinder zur Adoption freizugeben und sich sterilisieren zu lassen.

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Heute arbeiten zig Historiker daran, das Grauen hinter dem spröden Begriff «administrative Versorgung» aufzuarbeiten. Überlebende können einen Solidaritätsbeitrag von 25 000 Franken beantragen; auch Pereira hat das getan. Die vom Bundesrat eingesetzte Unabhängige Expertenkommission beendete in diesem Jahr ihre Arbeit. Arme leisten sich keinen Rechtsstreit Am 2. September sprach Pereira an der Schlussveranstaltung der Kommission. Auch am Tag danach hielt sie eine Rede, aber nicht mehr auf offizielle Einladung hin: Sie stellte sich auf das Kopfsteinpflaster vor der Aargauer Regierung – und warnte vor der Rückkehr fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. Denn im Aargau hat der Regierungsrat anderthalb Sätze Rechtstext in der Sozialhilfeverordnung angepasst: Die Gemeinden dürfen nun jene, die von Sozialhilfe leben, Unterkünften zuweisen. Pereira befürchtet das Schlimmste; sie sieht darin die Aufhebung der Niederlassungsfreiheit. «Das erinnert mich auf sehr ungute Weise an meine Kindheit. Das, was ich und Zehntausende andere erlebt haben, soll sich in der Schweiz nie mehr wiederholen.» Etwa zwölf Leute protestieren mit Pereira vor dem Aargauer Regierungsgebäude. Selten lösen so kleine Demonstrationen so schnelle Reaktionen aus: Der Regierungsrat antwortet noch am selben Tag. Man «hatte zu keinem Zeitpunkt die Absicht, zwangsweise Zuführungen in Institutionen und Einrichtungen vorzunehmen». Aber was bedeutet «zuweisen», wenn nicht Zwang? Surprise 467/20

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Neues Zuhause, neues Atelier, neue Aussichten. Sie habe erst spät gemerkt, dass sie kreativ sei, sagt Gabriela Pereira. Inzwischen ist die 55-Jährige überzeugt: «Ich werde eher mit meiner Kunstarbeit Geld verdienen als eine Stelle finden.»

«Zuweisen» sei im Asylrecht als Zwang definiert, sagt Pierre Heusser, Vertrauensanwalt der Unabhängigen Fachstelle für Sozialhilferecht (UFS). Aber eine solche Zwangsunterbringung verstösst gegen die Bundesverfassung, gegen Grundrechte, gegen die Menschenrechtskonvention. Das weiss man auch im Aargauer Sozialdepartement. Man wolle eben niemanden zwingen. Wenn sich jemand weigere, könne man nichts machen, teilt eine Sprecherin mit. Zudem ziele die Verordnung nur auf anerkannte Flüchtlinge, die noch keine Wohnung haben. Nur sie sollen nach Ende des beschleunigten Asylverfahrens für «in der Regel nicht länger als sechs Monate» in «Kollektivunterkünften» leben. «Die Schaffung einer rechtlichen Grundlage, welche nur auf Flüchtlinge anwendbar ist, wäre diskriminierend und nicht zulässig.» Zugespitzt: Rassismus ist verboten, Diskriminierung von Sozialhilfebeziehenden nicht – deshalb ist die Verordnung so formuliert. Pereira sagt, wer geflüchtet sei, kenne oft seine Rechte nicht. Und wer von der Sozialhilfe lebe, könne sich keinen Rechtsstreit leisten. Sie ist sich sicher, dass manche Gemeindebehörden nur darauf warten, Armutsbetroffene in Heime einzuweisen. Kann man sicher sein, dass in allen gut 200 Aargauer Gemeinden keine Behörde diese Verordnung ausreizt? Würden Betroffene auf ihr Recht der Weigerung hingewiesen?

«Ich verstehe nicht, wie man es noch immer nicht schafft, mit uns zu sprechen statt über uns. » GABRIEL A PEREIR A

Wie die Wiedergutmachung aussieht «Jeder vierte beantragt keine Sozialhilfe, obwohl er dürfte!», sagt Pereira bei einer Podiumsdiskussion zum Thema. Mit ihr auf 18

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der Bühne im Royal Baden sitzen linke und gemässigte Politiker, Sozialarbeiterinnen und der UFS-Anwalt Pierre Heusser als kritischer Jurist. Grundsätzlich herrscht auf der Bühne Einigkeit: Die anderthalb Sätze müssen weg; die administrative Versorgung darf es nie wieder geben. Der Angriff der Rechten auf die Sozialhilfe ist systematisch und mancherorts, zum Beispiel im Aargau, erfolgreich. Aber Pereira sorgt dafür, dass es kontrovers bleibt: Den Politikern gönnt sie keine Beschönigungen; den Fachpersonen keine technokratische Sprache. Fast immer ernten ihre Voten Applaus. Besonders, als sie sagt: «Ich verstehe nicht, weshalb keine Betroffenen in der Sozialhilfekonferenz sitzen. Ich verstehe nicht, weshalb man es noch immer nicht schafft, mit uns statt über uns zu sprechen.» Die Kindheit auf der Tretmine hat sie überlebt, Pereira wird nie wieder still sein. Ob die umstrittenen Zuweisungen im Aargau bereits angewendet werden, ist nicht bekannt. Der Regierungsrat «überprüfe» sie gegenwärtig, sagt das Aargauer Sozialdepartement. Vielleicht werden die fraglichen Sätze in der Sozialhilfeverordnung zurückgenommen, heisst es bei Polit-Insidern. Pereira ist auf Ende Jahr umgezogen. In ihrer neuen Wohnung in Biel ist es wärmer, heller. Die Zimmer sind grösser. Sie fühlt sich wohl, obwohl sie Treppen steigen muss. Denn die 55-Jährige leidet nicht nur an Arthritis, sondern auch an Sozialund Klaustrophobie: Treppen sind ihr lieber als ein Lift. Pereira geht davon aus, dass all das Folgen des staatlich erlittenen Unrechts sind. «Die Beschädigungen zeigen sich bei vielen, so auch bei mir, erst in späteren Jahren. Heute, wo die soziale Absicherung ausgehöhlt ist.» Surprise 467/20

Acht Jahre musste Pereira um eine IV-Rente kämpfen. «Momentan lebe ich noch vom Solidaritätsbeitrag, den ich als Opfer von Zwangsmassnahmen erhalte, aber wie könnte ich mit 600 Franken von der IV durch den Monat kommen?» Im früheren Beruf wurde Pereira zwar hundert Prozent Arbeitsunfähigkeit attestiert, trotzdem erhält sie nur eine halbe Rente. Erst soll sie sich während sechs Monaten bewerben – auf ein Stellenprofil, das es für sie mit ihrem langen Leidenskatalog nicht gibt. Pereira zeichnet, schreibt, verbindet beides in Collagen. Ihre Bilder schmerzen beim Betrachten; bereits vor Jahren hat sie einen Literaturpreis gewonnen. «Ich werde eher mit meiner Kunstarbeit Geld verdienen als eine Stelle finden», sagt sie lachend. 25 000 Franken hat Pereira von der Schweiz erhalten. Gleich viel, wie ihr Vater in den 1960er-Jahren den Behörden geben musste, um sie zurückzubekommen. Damals war der Wert von 25 000 Franken natürlich um ein Vielfaches höher. Die Unabhängige Expertenkommission forderte Gratis-GA und lebenslange Renten für alle Überlebende. Der Bundesrat verzichtet vorerst auf weitere Hilfe.

Hintergründe im Podcast: Radiojournalist Simon Berginz befragt den Autoren dieses Textes, Benjamin von Wyl. surprise.ngo/talk 19


Die Architektur der Haft Fotografie Der Basler Architekturfotograf Peter Schulthess begann vor vielen Jahren eher

zufällig mit der Gefängnisfotografie. Unterdessen ist sie zu einem Langzeitprojekt geworden. Eine Ausstellung im Polit-Forum Bern zeigt eine Auwahl seiner neusten Bilder. TEXT  DIANA FREI FOTOS  PETER SCHULTHESS

Sein erstes Buch, das sich dem Freiheitsentzug widmete, hiess «Hinter Gittern – Gefängnisse und Justizvollzug in der Schweiz» (2006), es folgten etliche weitere. Peter Schulthess kennt unterdessen sehr viele Einrichtungen in der Schweiz – vom kleinen Regionalgefängnis bis zur grössten Justizvollzugsanstalt. Ihn interessiert dabei vor allem die Geschichte des Justizvollzugs und ihrer Bauten. Die Anstalten und Gefängnisse fotografiert er immer nach dem gleichen Vorgehen. «Ich fotografiere möglichst nüchtern, ich inszeniere keine Spannung», sagt Schulthess. «Ich dokumentiere, damit man die Institutionen vergleichen kann.» Es geht um die sorgfältig beobachteten Räume, um die Abläufe in der Institution, um das System. Die Gefangenen stellt er bewusst nicht in den Vordergrund. Wenn sie zu sehen sind, dann von hinten oder ausnahmsweise mit einem schwarzen Balken über den Augen. «Ich zeige keine Gefangenen, weil ich ihnen keine Plattform zur Selbstdarstellung geben will. Wenn jemand in der Schweiz in den geschlossenen Vollzug kommt, dann hat er Opfer hinterlassen. Ich empfände es diesen gegenüber nicht als richtig.» Eine politische Mission verfolgt er mit seinen Bildern nicht. Auf den Fotos ist die Architektur zu sehen, aber die Isolation, das Eingeschlossensein der Gefangenen lässt sich erahnen. «Wie die Stimmung ist, hat oft gar nicht viel mit der Architektur zu tun, also etwa mit grösseren Zellen. Einen wichtigeren Einfluss haben das Personal und die Leitung eines Gefängnisses. Sie können Unstimmigkeiten auslösen, aber auch für gute Stimmung sorgen.» Der Umgang mit den Gefangenen ist nicht in allen Gefängnissen gleich, in einem föderalistischen System wie der Schweiz unterscheiden sich sogar die Haftbedingungen von Kanton zu Kanton. Lange galt in den meisten Ge-

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fängnissen: 23 Stunden in der Zelle, eine Stunde im Hof. Heute gebe es selbst in der Untersuchungshaft vermehrt den Gruppenvollzug, sagt Schulthess: Die Zellentür ist länger offen, die Gefangenen können innerhalb der Gruppe zirkulieren, und je nachdem wird zusammen in einem Gemeinschaftsraum gegessen. Trotzdem bleibt der persönliche Umgang mit den Leuten ausschlaggebend für die Stimmung im Haus. Auch kann man Unterschiede zwischen der Deutschschweiz und der Romandie festmachen. «Wenn in der Romandie etwas kaputtgeht, wird es nicht sofort repariert wie in der Deutschschweiz», sagt Schulthess. Der Föderalismus im Justizvollzug ist sicher nicht unproblematisch. Aber Schulthess sieht in der eigenen Entscheidungsbefugnis der Kantone und Institutionen auch eine Chance, dass bewährte Innovationen aus einem Landesteil irgendwann auch in den anderen übergreifen: Vielleicht wird ja eines Tages auch in der Deutschschweiz noch ein Zellen-Kühlschrank eingeführt (siehe S. 23).

«The swiss prison photo project«, Ausstellung im ­Polit-Forum Bern im Käfigturm, Marktgasse 67, bis 4. April. Die Ausstellung wird von Podiumsdiskussionen begleitet. prisonphotoproject.ch

Peter M. Schulthess: «Gefängnisse in der Schweiz – Prisons en Suisse», Band 1 und 2 (Mitarbeit Aimée H. Zermatten), 476 Seiten, im Schuber, themaverlag Basel 2019, CHF 148.—

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JVA Solothurn, Sicherheitszelle. Diese Spezialzelle wird intern «Aquarium» genannt. Sie ist vorne komplett verglast und hat zwei Türen, sodass sich der Gefangene nicht verbarrikadieren kann. Hier werden Insassen nach schweren disziplinarischen Vergehen untergebracht oder wenn sie suizidgefährdet sind. Das Mobiliar besteht aus Weichkunststoff. Am Boden und an der Wand sind Kugelschreiberspuren erkennbar, die den psychischen Zustand des Gefangenen erahnen lassen. Es handelt sich um Tinte, die sich wegputzen lässt.

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JVA Lenzburg, Zelle. Hier ist die Zellenausstattung erkennbar: Ein Gebetsteppich liegt auf dem Radiator, an der Wand hängen Poster von nackten Frauen. Ein Computer steht auf dem Tisch, links eine Stereo­anlage mit zwei Boxen und ein grosser Flachbildfernseher. Der Fernseher gehört der Anstalt und wird dem Gefangenen vermietet. Alles andere ist privat. Wer einen Computer wünscht, muss ihn sich fabrikneu kaufen, mitbringen darf man aus Sicherheitsgründen keinen eigenen.

Untersuchungsgefängnis Pfäffikon. Die Betonelemente an der Fassade sind Blenden, damit die Gefangenen nicht von Fenster zu Fenster kommunizieren können. Die Outdoor-Fitnessgeräte fallen auf: Hier demonstrieren Männer Stärke, eignen sich aber auch Körperkraft an. Im Gefängnisalltag herrscht Bewegungsmangel. Man versucht einerseits mit Kraftmaschinen, immer häufiger aber auch mit Laufbändern und Velos im Ausdauerbereich Gegensteuer zu geben.

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JVA Solothurn. Dieser Neubau ist eine der neusten Justizvollzugsanstalten der Schweiz. In der Mitte ist der Aufenthaltsbereich für Gefangene mit Topfpflanzen und Bänken. Im Geschoss darunter befinden sich unter anderem die Werkstätten.

Prison de la Croisée, Zelle. Der Gefangene trägt die rote Arbeitskleidung dieses Gefängnisses. Auf dem Tisch liegen seine sämtlichen Habseligkeiten. Der Kühlschrank gehört zur Zellenausstattung. In der Romandie ist das die Regel. In der Deutschschweiz verzichtet man aus finanziellen, aus Sicherheits- und aus hygienischen Gründen darauf. Surprise 467/20

JVA Lenzburg – Strafanstalt und Zentralgefängnis. Das ist der Blick in einen der vier Zellenflügel. Das Gebäude stammt aus dem Jahr 1864 und ist die älteste Justizvollzugsanstalt in der Schweiz. Bevor es Überwachungskameras gab, brauchte es einen einzigen Aufseher in der Mitte, der das Innere der Anstalt die ganze Nacht lang überwachen konnte – akustisch wie auch optisch: Von hier aus hört man alles und sieht in die fünf Flügel hinein. Auf dem Bild sieht man die Verteilung der Mahlzeiten, die sogenannte Abspeisung.

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Interkantonale Strafanstalt Bostadel. Im Justizvollzug ist die Gesundheit ein wichtiges Thema, weil die Gefangenschaft nicht eben gesundheitsfördernd ist. Auch gibt es immer mehr ältere Menschen. Gesundheitskosten sind sehr hohe Kosten, und nicht immer ist klar, wer dafür aufkommt. In den Schweizer Gefäng­ nissen kommt in vielen Fällen einmal pro Woche ein externer Arzt für Untersuchungen vorbei. Er macht die Abrechnungen direkt mit den Gefangenen.

Verlosung: Gewinnen Sie einen Bildband Wir verlosen ein Gesamtwerk der beiden Bildbände. Schicken Sie uns eine Postkarte oder eine E-Mail mit dem Betreff «Prison» an: Surprise Strassenmagazin, Münzgasse 16, 4051 Basel oder info@surprise.ngo Prison de Sion. Die Mahlzeitenverteilung ist im Gefängnisalltag ein wichtiger Moment, weil der Aufseher dabei die Möglichkeit hat, mit dem Gefangenen für einen Augenblick zu kommunizieren. Er erkennt in diesen wenigen Sekunden, wie es dem Gefangenen geht: Hat er Appetit oder nicht? Beklagt er sich über irgendwas? Dieses Bild wurde während des Ramadans aufgenommen. Auf dem Servierwagen stehen Styropor-Verpackungen für die Fastenden bereit. 24

Einsendeschluss ist der 31. Januar 2020. Viel Glück! Die Gewinnerin oder der Gewinner wird ausgelost und ab Mitte Februar persönlich benachrichtigt. Über den Wettbewerb wird keine Korrespondenz geführt.

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ILLUSTRATION : TILL LAUER

Das Spukschloss im Kopf Buch Die Graphic Novel «Das Gehirn» vermittelt

die neusten Erkenntnisse der Hirnforschung.

FOTO: ZVG

«Dem Höhepunkt des Lebens war ich nahe, da mich ein dunkler Wald umfing und ich, verirrt, den rechten Weg nicht wieder fand», heisst es – in der Übersetzung von Karl Vossler – zu Beginn von Dantes «Göttlicher Komödie». Dem ­unfreiwilligen Helden in der Graphic Novel «Das Gehirn» (englischer Originaltitel: Neurocomic) des italienischen Neurowissenschaftlers und Illustrators Matteo Farinella und der englischen Neurowissenschaftlerin Hana Roš ergeht es nicht besser. Schon auf den ersten Seiten verschlägt es ihn in ein fremdes Gehirn, er verirrt sich in einem dunklen Neuronenwald und hat seine liebe Mühe, wieder hinauszufinden. Und während er auf seiner Suche von einem Abenteuer ins nächste stolpert, lernen wir eine Menge über das Gehirn. Denn kaum gelangen wir mit ihm aus den Neuronenwäldern heraus, landen wir in einer Synapse, begegnen den kraftstrotzenden Neurotransmittern und seltsamen Fabelwesen, die es auf das Gehirn abgesehen haben und dieses mit Alkohol und Drogen manipulieren. Überhaupt tummeln sich sonderbare Gestalten zuhauf im Kosmos Gehirn: etwa der Archivar des Gehirns, der Hippocampus, in Form eines Seepferdchens, der sabbernde Pawlowsche Hund oder ein rachsüchtiger Riesenkalmar. Doch neben all dem abenteuerlich bunten Treiben geht es auch ganz sachlich und wissenschaftlich zu. In welchen Bereich des Gehirns der Protagonist auch gerät, überall trifft er auf die grossen Erforscher des Nervensystems, des Gehirns oder des Gedächtnisses, die ihm alles erklären, wobei sie sich im Gelehrtenstreit auch schon mal in die Haare geraten. Dabei vermitteln sie uns die neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung, über Strukturen und Funktionsweisen, bis wir schliesslich einen Punkt erreichen, an dem sich alle Gewissheiten so sehr aufzulösen scheinen, dass sich einem der Kopf dreht – im alten «Spukschloss des Bewusstseins», wo die Vorstellung vom eigenen Selbst als Illusion erscheint, die uns das Gehirn als begnadeter Geschichtenerzähler nur vorgaukelt. Als wären wir wie die Figuren dieser Graphic Novel nur Fiktionen, die allein durch die chemischen und elektrischen Ströme eines Gehirns existieren. Es ist ein vergnügliches Spiel mit literarischen und fantastischen Motiven, das wie alle anderen Mittel vor allem einem Zweck dient: Wissenschaft durch Visualisierung zugänglicher zu machen. Und das gelingt den Autoren auf eine anschauliche und unterhaltsame Weise so gut, dass die hochkomplexe und komplizierte Materie Gehirn verständlich und nachvollziehbar wird, selbst wenn man nicht alles CHRISTOPHER ZIMMER bis ins Detail verstehen sollte.

Heilsames Schreiben Die Schweiz schreibt Frauen schreiben im Magazin Mascara der kirchlichen Gassenarbeit über ihr Leben auf der Strasse. Ungeschminkt. Schon seit 1992 erscheint das Magazin Mascara, gegründet von der kirchlichen Gassenarbeit Bern. Es war das Jahr, als am Kocherpark eine der grössten offenen Drogenszenen Europas geräumt wurde. Mascara war eines jener Projekte, die im Anschluss daran entstanden, damit die Süchtigen eine Anlaufstelle hatten und nicht ganz in die versteckte Szene abrutschten. «Heute ist das Ziel von Mascara, Frauen einen geschützten Raum zu geben, in dem sie schreibend ihrem oft von Gewalt, Sucht oder Armut geprägten Alltag entfliehen können. Und das Magazin sensibilisiert die Öffentlichkeit für die Probleme dieser Frauen», sagt Eva Gammenthaler von der kirchlichen Gassenarbeit Bern. «Das Leben auf der Gasse ist für Frauen besonders schwierig, daher ist es uns so wichtig, ihnen diesen Rückzugsort zu bieten.» Vorgaben beim Schreiben gibt es keine. Ausser, dass die Texte anonym sein müssen und darin keine Namen genannt werden dürfen, um sich selbst zu schützen und keine Persönlichkeitsrechte zu verletzen. Die authentischen, fantasievollen und oft auch erschütternden Erfahrungsberichte von Frauen, die einen Grossteil ihres Lebens auf der Gasse verbringen, werden alle drei Monate in Handschrift publiziert. «Das Schreiben gibt Anstoss zur Selbstreflexion. Oft fällt es leichter, traumatische Erlebnisse aufzuschreiben, als diese auszusprechen. Mascara ist ein niederschwelliges Angebot, damit wir möglichst viele Frauen erreichen können», sagt Gammenthaler. Die Texte handeln aber häufig auch von ganz alltäglichen Dingen, von den eigenen Kindern etwa oder von der Lohnungleichheit zwischen den Geschlechtern. Die Diskriminierung der Frauen sei an den Schreibnachmittagen ein so grosses Thema gewesen, dass man sich am Frauenstreiktag spontan den Demonstrationen auf der Strasse angeschlossen habe, erzählt Gammenthaler. «So kann Mascara auch dabei helfen, sich selbst wieder eine Stimme zu geben. Und zwischen den Frauen wächst eine Solidarität: Eine Frau hat zum Beispiel für eine andere deren Hund gehütet, als diese im MONIK A BET TSCHEN Entzug war.»

Matteo Farinella, Hana Roš: Das Gehirn. Antje Kunstmann 2018, CHF 29.90 Das Magazin Mascara ist ein Projekt der Kirchlichen Gassenarbeit Bern. Es kann auch abonniert werden. gassenarbeit-bern.ch/projekte.php Surprise 467/20

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BILD(1): FELIX SCHAAD, BILD(2): TOM TIRABOSCO, BILD(3): ASSOCIATION 18 GENEVE / DOMINIK ZIETLOW, BILD(4): THE ARTIST AND AIR DE PARIS / LORENZO PUSTERLA

Veranstaltungen Bern «Gezeichnet 2019 – Gefährliche Bilder?», Ausstellung, bis So, 9. Februar, Di bis So 10 bis 17 Uhr, Museum für Kommunikation, Helvetiastrasse 16. mfk.ch

2019 war das Jahr, in dem die New York Times beschloss, keine politischen Karikaturen mehr zu publizieren. Der Grund war ein sowohl geschmackloser als auch politisch heikler Cartoon. Die eigentliche Ursache war aber der weltweite Shitstorm, der sich über die NYT ergoss. Es waren somit seltsame Kräfte, die den Spielraum der Pressezeichnungen einschränkten. Umso interessanter, sich wieder mal mit der Aktua­ lität der Karikaturen zu beschäftigen. «Gezeichnet 2019» ist ein Überblick über die Schweizer Pressezeichnung und gleichzeitig ein witziger Jahresrückblick. Mit dabei sind alle bekannten Namen (Chappatte, Max Spring, Felix Schaad, Peter Gut, Ruedi Widmer) und die wichtigsten Ereignisse und Debatten: endloser Brexit, täglicher Wahnsinn im Weissen Haus, Klima- und Frauenstreik, der Brand von Notre-Dame und andere Desaster, wie wurmbefallene Äpfel. DIF

Basel «Tom Tirabosco – Wonderland», Ausstellung, bis So, 8. März, Di bis So 11 bis 17 Uhr, Cartoonmuseum Basel, St. Alban–Vorstadt 28. cartoonmuseum.ch

Tom Tirabosco ist gebürtiger Italiener und bewunderte schon früh Tizian und Veronese. Seit seiner Kindheit in den 70er-Jahren lebt er

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aber in Genf und schafft dort statt Renaissance-Kunst Comicalben und Presseillustrationen. In eigenständigen Stil zeichnet er mit weichen Konturen und kreidigen Farb­ flächen auf körniges Papier. Die Geschichten sind autobiografisch oder surreal, gesellschaftskritisch oder humorvoll. Seine Comics werden bei grossen französischen Verlagen publiziert und seine Illustrationen findet man in Magazinen und Zeitungen wie Strapa­zin, Drozophile, Libération und L’Hébdo. Doch damit nicht genug: Kinderbuchautor ist er auch noch. Das Cartoonmuseum Basel zeigt die erste Retrospektive im deutschsprachigen Raum. DIF

Thun «Cantonale Berne Jura – Im Wandel», Ausstellung, bis So, 9. Februar, Di bis So 10 bis 17 Uhr, Mi 10 bis 19 Uhr, Kunstmuseum Thun, Hofstettenstrasse 14. kunstmuseumthun.ch «Im Wandel» heisst die Ausstellung im Kunstmuseum Thun, die Teil der

diesjährigen Cantonale Berne Jura ist. Im Wandel befindet sich fast alles, fast immer. Aber unterdessen geht vieles davon ein bisschen schneller voran als noch vor ein paar Jahrzehnten. Landschaften wandeln sich, Städte noch viel schneller, die Medien verändern sich, aber auch Körper, Formen, Räume. Dem Menschen bleibt die nicht ganz anspruchslose Aufgabe, darauf zu reagieren – und sich vielleicht selber mit zu verändern. 27 Künstlerinnen und Künstler verschiedener Generationen sind in der Ausstellung vertreten. Die Cantonale Berne Jura findet an verschiedenen Ausstellungsorten in den Kantonen Bern und Jura statt und ist eine wichtige Plattform für die kantonale Kunstszene. DIF

lung hinein. Gleichzeitig nimmt Wildberger die ganze Bandbreite an Themen auf, die in der Sprache stecken: Verständigung, Beziehung, aber auch Machtdemonstration. Denn wenn das Wort ergriffen wird, ist das auch ein Kraftakt. DIF

Zürich «Lily van der Stokker: Help help a little old lady here», Ausstellung, bis So, 23. Februar, Di bis Fr 11 bis 18 Uhr, Do bis 20 Uhr (17 bis 20 Uhr: Eintritt frei), Sa und So 10 bis 17 Uhr, Migros Museum für Gegenwartskunst, Limmatstrasse 270. migrosmuseum.ch

Schaffhausen «Martina-Sofie Wildberger. SCREAM», Ausstellung, bis So, 16. Februar, Di bis So 11 bis 17 Uhr, Performance «Scream» am So, 16. Februar, 14 Uhr (Ausstellung an diesem Datum erst ab 14 Uhr), Museum zu Allerheiligen Schaffhausen, Klosterstrasse 16. allerheiligen.ch

In ihren Performances wird Sprache zum Spielball. Worte werden hin- und hergeworfen, verändern sich in ihrer Dynamik, Präsenz. Sie ändern dabei ihre Bedeutung wie im Flug: «want» klingt plötzlich wie Wand, dann wieder wie «won’t», und ein Schreien ist Schmerz ist Freude ist Lust ist Angst. Die Künstlerin Martina-Sofie Wildberger hat sich dem Klang von Sprache und Lauten verschrieben, dem poetischen Ausdruck, der Stimme im Raum – so trägt in «Scream» denn auch eine Sound-Installation Stimm­phänomene in die Ausstel-

Diese Wandmalereien sagen uns: «Really Fantastic», «Yeah» und «Wonderful». Oder auch: «Warm apple crumble & whipped cream». Das wirkt niedlich und harmlos. Es sieht ein bisschen nach Pop-Art aus, aber vor allem haftet eine Banalität und Alltäglichkeit daran, die man hausfrauenmässig finden kann. Lily van der Stokker ist seit den frühen 90er-Jahren für ihre Wandmalereien bekannt, die die Aufmerksamkeit genau auf diese Stereotypen des Weiblichen lenken und gleichzeitig forsch fragen: Ja, wer sagt denn, was als Kunst gilt und was nicht? Denn das, was so richtig als ernsthafte Kunst gilt – der Expressionismus, der Minimalismus etwa – war immer von einer Handvoll Herren dominiert. Eta­ bliert war Kunst genau dann, wenn sie so aussah, wie jene es definiert hatten. Als da dann eine Lily van der Stokker verspielt optimistisch daherkam, stellte das ein paar Selbstverständnisse auf den Kopf. Farbig und really fantastic. DIF

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sich, sondern darum, dass keine weiteren Gäste enttäuscht werden. Erst nach ­langem Zögern nimmt das Mädchen noch ein Stück Kuchen. «Cheesecake» sagt sie, die Grossmutter versteht ­«Schisschäs». Alle lachen, alles löst sich in Wohlgefallen auf.

Tour de Suisse

Pörtner am Albisriederplatz Surprise-Standorte: Albisriederplatz, Zürich Einwohnerinnen und Einwohner: 428 737 Sozialhilfequote in Prozent: 4,8 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 32,3 Anzahl Autos pro Stunde am Albisriederplatz: 1800

Der Albisriederplatz ist zugleich ein schöner Platz und ein Unding. Die Verkehrsführung ist verwirrend. Wer hat wann wo Vortritt und warum und was geht mich das an? Von hier aus kommt man überall hin, in alle Himmelsrichtungen, an den Bahnhof und, viel näher, auf den Friedhof, das Sihlfeld, dort, wo die alteingesessenen Zürcher am meisten Leute kennen. Es geht zur Autobahn, zum Hallenstadion und zum Letzigrund, dem Fussballstadion. Es gibt eine Beiz, einen Metzger, einen Bäcker, verschiedene Cafés und einen legendären Marroni-Stand. «Waldatmen» steht im Schaufenster der Drogerie nebenan, der Wald wird repräsentiert von einem Holzbänklein und vier Tannenbäumchen, sie wirken etwas deplatziert, hier mitten im Verkehrsstrom. Doch ist der Uetliberg nicht weit, in Albisrieden ist man fast auf dem Land und schnell im Wald. Die Surprise 467/20

Busse, die hier halten, schlängeln sich der Peripherie entlang, umkreisen das Zentrum grossräumig. Die älteren Stammgäste unterstreichen ihre Wünsche an die Bedienung – «Wir brauchen ein Messer!» – mit Säge-­ Gesten. Sie haben auch eine Reklamation: «Gäderig» sei es gewesen, das Fleisch für die Enkeltochter. Ein schönes Wort, das so klingt, wie das Fleisch schmeckt. «Gäderig» bedeutet mit Sehnen darin, er­ klären sie. Sonst sind die Leute zufrieden, sie kommen öfter her. Die Speise stammte aus der in die Traditionsbäckerei integrierten Filiale einer China-Restaurant-Kette. Es gibt einen neuen Koch, aber der hat schon Zimmerstunde, erklärt die Bedienung und bietet zur Entschädigung gratis Dessert oder Getränke an, aber nur der Grossvater nimmt bescheiden einen Kaffee, es geht ihnen nicht um

Hier ist Zürich noch ganz knapp unhip, doch das Schicke rückt näher und näher, frisst sich in die Seitenstrassen, wo in ­einem coolen Café der bärtige Mittdreissiger und seine in Nachhaltiges gekleidete Frau über Pensionskassenbeiträge und Aktiencourtagen diskutieren. In der Zeitung steht, dass der Ausländeranteil in den Zürcher Schulen sinkt. Das ist hier noch nicht der Fall. Hier sind die Leute, denen man die Herkunft ansieht, die ­Arbeiten erledigen, die erledigt werden müssen, und sich Luxus wie Begeisterung, Hingabe und Leidenschaft im Beruf nicht leisten können. Die einfach ihren Job gut machen, ihn gut machen müssen, weil der Druck hoch ist und es andere gibt, die ihn auch machen würden. Solche, die hier alt geworden sind und die Welt nicht mehr verstehen und mit der AHV gerade mal so über die Runden kommen. Leute, die sich hin und wieder einmal einen Latte Macchiato in einem Café gönnen, weil sie sonst keinen Platz haben, an dem es ruhig ist. Sie geniessen es, auch wenn am Nebentisch auf Englisch Business getalkt wird. Die Tische bleiben lange besetzt, draussen rennen die Leute über die Strasse, aufs Tram und den Bus, geben Gas und schneiden die Kurve. Dort dreht sich die Welt, hier, ­unter dem Lämpchenhimmel, steht sie kurz still, ist es gemütlich wie sonst fast nirgends in der Stadt.

STEPHAN PÖRTNER  Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten 01 Barth Real AG, Zürich 02 Hedi Hauswirth, Psychiatrie-Spitex, Oetwil a. S 03 Ruggle Partner, Rechtsanwalt/Mediation, ZH 04 Al Canton, azienda agricola biologica, Le Prese 05 Happy Thinking People AG, Zürich 06 Stefan Mörgeli Beratungen, Meilen 07 Sonnenreife, Mo Ruoff, Basel 08 Maya-Recordings, Oberstammheim 09 Wortstark, Zürich 10 Praxis Carry Widmer, Wettingen 11

DD4U GmbH, IT Projektierung und Beratung

12 Gemeinnützige Frauen Aarau 13 Cantienica AG, Zürich 14 Hervorragend AG, Bern 15 Beratungsgesellschaft f. die 2. Säule AG, Basel 16 Beat Vogel, Fundraising-Datenbanken, Zürich

Merima Menur kam vor drei Jahren zu Surprise – durch ihren Mann Negussie Weldai, der bereits in der Regionalstelle Bern arbeitete. Zuvor lebten sie fünf Jahre getrennt – er in der Schweiz, sie in Äthiopien. Einige Zeit nach ihrer Ankunft in der Schweiz begann Merima auch mit dem Verkauf des Surprise Strassenmagazins und besuchte einen Deutsch-Kurs, mit dem Ziel selbständiger zu werden und eine Anstellung zu finden. Dank Surplus besitzt Merima ein Libero-Abo für die Stadt Bern und kann somit leichter an ihren Verkaufsort reisen. Surplus gibt der 36-Jährigen ausserdem die Möglichkeit, sich einige bezahlte Ferientage zu gönnen.

17 Echtzeit Verlag, Basel

Weitere SurPlus-Geschichten lesen sie unter: surprise.ngo/surplus

18 Waldburger Bauführungen, Brugg 19 Rhi Bühne Eglisau 20 Scherrer & Partner GmbH, Basel 21 Philanthropische Gesellschaft Union Basel 22 Mitarbeitende Forbo Siegling CH, Wallbach 23 TopPharm Apotheke Paradeplatz 24 Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti 25 RLC Architekten AG, Winterthur Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 15 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

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Wir alle sind Surprise #465: Schöne Bescherung

Stadtrundgang Zürich

«Viele Wege»

«Krasse Offenheit» Meine Frau und ich durften diese Woche an einem sozialen Stadtrundgang in der Stadt Zürich teilnehmen. Geführt wurde diese Tour durch Sandra Brühlmann, wel­che uns auf eine enorm beeindruckende Art und Weise die brutale Wirklichkeit des Lebens auf der Strasse nähergebracht hat. Am meisten imponiert hat uns ihre krasse Offenheit. Sie hat uns Details aus ihrem Leben erzählt, die wir wohl auch guten Freunden gegenüber nicht ansprechen würden. Ein Mensch, der von Anfang an einen solch schweren Start ins Leben hat, sich von Schicksalsschlag zu Schicksalsschlag angelt und dennoch nicht aufgibt, hat unsere vollste Bewunderung verdient. Meine Frau und ich sind beide Mitte 30. Unsere Generation und auch die Heranwachsenden kennen – sofern sie das Glück haben, in der Schweiz aufzuwachsen – grösstenteils nichts anderes als ein Leben im Überfluss. Dass es aber auch mitten unter uns Menschen gibt, die alles andere als wohlbehütet und umsorgt aufwachsen, sollte wieder vermehrt ins Bewusstsein gerückt werden. Es ist wichtig, dass es diese Stadtrundgänge und weitere Projekte gibt, die dies stärken. Wir wünschen Sandra Brühlmann weiterhin viel Erfolg auf ihrem Weg und allen zukünftigen Teilnehmern dieser Rundgänge viele neue Erkenntnisse. D. BRUNNER,  Zürich

Ihre Meinung interessiert uns. Schreiben Sie uns! leserbriefe@strassenmagazin.ch

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion
 Verantwortlich für diese Ausgabe: Diana Frei (dif) Klaus Petrus (kp), Sara Winter Sayilir (win) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99
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Surprise 467/20

Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Semhar Negash, Stephan Pörtner, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Eva Mell, Luca Schenardi, Peter Schulthess, Benjamin von Wyl Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach

C. BERCHTOLD,  Zürich

Strassenmagazin

«Tut mir wohl» Ich lese das Surprise mit grosser Freude und finde es immer wieder eindrücklich und spannend! Ich danke Ihnen sehr für Ihre grosse und sorgfältige Arbeit. Es freut mich jedes Mal, wenn ich den freundlichen Verkäufer Hans in Schaffhausen treffe! Er ist immer gut drauf und es tut mir immer wohl, ein wenig mit ihm zu reden. V. SCHAER,  Schaffhausen

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort

Rechnungsadresse: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort Telefon

Auflage  28 500

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Abonnemente  CHF 189, 25 Ex./Jahr

Datum, Unterschrift

Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:
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Diese Ausgabe ist ganz besonders interessant und berührend. Am meisten erstaunt und freut mich die positive Einstellung der vom Leben benachteiligten Surprise-Verkau­ fenden. Man erfährt, wie viele Ursachen einen Menschen auf der Strasse landen lassen und wie viele Wege zurück in die Gesellschaft führen. Vielen Dank!

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Bitte heraustrennen und schicken an: Surprise, Münzgasse 16, CH-4051 Basel, info@surprise.ngo

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FOTO: KLAUS PETRUS

Surprise-Porträt

«Ich wusste nicht, ob ich überlebe» «Ich habe erst vor Kurzem wieder angefangen, Surprise zu verkaufen. Das mache ich in Frenkendorf bei Liestal, wo ich auch lebe, vor einer Migros. Ich habe etwa 70 Prozent Stammkunden. Die Menschen sind positiv gestimmt, lachen und fragen mich immer wieder, wie es mir geht. Vielleicht zwei Prozent der Leute, die mich sehen, sagen negative Dinge zu mir. Dann denke ich mir: Es gibt in jedem Land auf der Welt viele nette und ein paar unfreundliche Menschen. Von 2004 bis 2008 habe ich schon einmal Surprise verkauft. Damals hatte ich meinen Platz in Aesch vor einem Einkaufszentrum. Ich musste aber aufhören, weil ich sehr krank war. 2001 bin ich in die Schweiz gekommen, weil es in meinem Heimatland Somalia keine Möglichkeit gab, meine Krankheit zu behandeln. Ich habe Morbus Wilson, das ist eine Erbkrankheit, bei der sich vor allem in der Leber zu viel Kupfer ansammelt. 2008 hatte ich eine Leberzirrhose. Ich brauchte dringend eine neue Leber – und sogar eine neue Niere. Damals wurde ich mit dem Helikopter vom Kantonsspital Liestal nach Genf geflogen. Ich habe Fotos davon, auf denen meine Augen wegen der Krankheit ganz gelb sind. Der Arzt in Genf sagte mir: Wenn wir keine neue Leber und keine neue Niere für dich finden, wirst du sterben. Zwei Tage später konnten mir beide Organe transplantiert werden. Leider hatte ich dann gefährliche innere Blutungen. Weil ich zu wenige Thrombozyten im Blut hatte, konnte das Blut nicht gerinnen, sondern floss immer weiter. Ich rief meine Schwester in Somalia an, denn ich wusste nicht, ob ich überleben würde. Ich habe zwei Schwestern in Somalia, mit denen ich viel Kontakt habe. Als ich noch dort lebte und meine Krankheit behandeln zu lassen versuchte, waren sie immer für mich da. Sie haben sogar ihren Goldschmuck verkauft, damit ich Medikamente kaufen konnte. Doch es gab nicht alle Medikamente, die ich brauchte. Ein Bruder von mir und meine Mutter sind bereits an Morbus Wilson gestorben. Ich bin aus zwei Gründen in die Schweiz gekommen: weil in Somalia Krieg ist und weil ich sehr krank war. In der Schweiz habe ich sofort Hilfe im Spital bekommen. Ich habe mittlerweile viele ärztliche Unterlagen über meine Krankheit und werde bis an mein Lebensende Medikamente nehmen müssen, damit mein Immunsystem die Spenderorgane nicht abstösst. Morgens nehme ich sieben Tabletten und abends sechs. 30

Barkad Umar, 38, aus Somalia hat die Erbkrankheit Morbus Wilson. Inzwischen geht es ihm besser, doch er hat noch einen grossen Wunsch.

Nach der Transplantation hatte ich aufgrund der Medikamente zwei Jahre lang Diabetes. Ich hatte Schlafstörungen und hier in der Schweiz keine Familie, niemand war da, um mich zu unterstützen – und dann kam die Depression. Ausserdem hatte ich von 2001 bis 2018 nur die F-Bewilligung und wusste nie, ob ich das Land schon bald wieder würde verlassen müssen. Seit ich die B-Bewilligung habe, bin ich etwas ruhiger. Ich bin der Schweiz sehr dankbar. In Somalia würde ich jetzt wohl nicht mehr leben. Obwohl ich kein Schweizer bin, noch nicht einmal Europäer, sondern Afrikaner, obwohl ich kein Christ bin, sondern Muslim, und meine Hautfarbe ganz anders ist als die der Menschen hier, hilft mir die Schweiz. Darüber freue ich mich. Ich bin jetzt seit etwa achtzehn Jahren hier. Seither habe ich das Land nicht verlassen. Ich wünsche mir aber so sehr, einmal meine Schwestern in Somalia zu besuchen. Den Flug kann ich mir nicht leisten. Aber ich hoffe trotzdem, dass dieser Wunsch noch in Erfüllung geht.»

Aufgezeichnet von EVA MELL Surprise 467/20


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