Surprise Nr. 460

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Strassenmagazin Nr. 460 4. bis 17. Oktober 2019

CHF 6.–

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Sucht

Im Rausch Durch den Alltag mit einem Drogenabhängigen Seite 8

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GESCHICHTEN VOM FALLEN UND AUFSTEHEN Kaufen Sie jetzt das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» und unterstützen Sie einen Verkäufer oder eine Verkäuferin mit 10 CHF. «Standort Strasse» erzählt mit den Lebensgeschichten von zwanzig Menschen, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Porträts aus früheren Ausgaben des Surprise Strassenmagazins ergänzen die Texte. Der Blick auf Vergangenheit und Gegenwart zeigt selbstbewusste Menschen, die es geschafft haben, trotz sozialer und wirtschaftlicher Not neue Wege zu gehen und ein Leben abseits staatlicher Hilfe aufzubauen. Surprise hat sie mit einer Bandbreite an Angeboten dabei unterstützt: Der Verkauf des Strassenmagazins gehört ebenso dazu wie der Strassenfussball, der Strassenchor, die Sozialen Stadtrundgänge und eine umfassende Beratung und Begleitung. 156 Seiten, 30 farbige Abbildungen, gebunden, CHF 40 inkl. Versand, ISBN 978-3-85616-679-3 Bestellen bei Verkaufenden oder unter: surprise.ngo/shop Weitere Informationen T +41 61 564 90 90 | info@surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: Surprise NGO

Kultur

Solidaritätsgeste

STRASSENCHOR

CAFÉ SURPRISE

Lebensfreude

Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

Unterstützung

Job

STRASSENMAGAZIN Information

Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten

STRASSENFUSSBALL

Erlebnis

Expertenrolle

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE Perspektivenwechsel

SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die 2 Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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TITELBILD: JONATHAN LIECHTI

Editorial

Bilder, die sich ändern Vielleicht geht es Ihnen wie mir. Beim ersten Blick auf die Bilder unserer Titelstory über den Drogenabhängigen Pit Reichen sieht man eine wüste Unordnung. Einen glasigen Blick. Eine kontrollierte Spritzenabgabe. Ein elendes Lebensgefühl. Beim Lesen des Textes aber fügen sich die Eindrücke neu zusammen: Es kommt Pits Weltsicht zum Vorschein, und wir spüren gleichzeitig die Traurigkeit und den Witz des menschlichen Daseins. Der Fotograf Jonathan Liechti hat Pit jahrelang begleitet, die Texte hat der Schriftsteller Roland Reichen dazu aufgeschrieben – Pits Bruder. Wir bringen einen Vorabdruck des Buches, das daraus entstanden ist (Seite 8). Es sind heftige Szenen, die Roland Reichen beschreibt, und wir haben darüber diskutiert, ob wir auch diejenigen abdrucken sollen, die zu den abgrundtiefsten gehören. Wir haben uns dafür entschieden. Weil sie eine Komfortzone aufbrechen, gleich-

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zeitig aber den Blick auf grosse Menschlichkeit freilegen. So sehen wir eine Liebesbeziehung, die von aussen betrachtet vielleicht einen desolaten Eindruck macht, die aber auf einem Geflecht aus Dankbarkeit, Vertrauen und Zusammenhalt aufbaut. Bilder können sich ändern, je nachdem, wie man draufschaut. Vielleicht muss sich auch unser Bild des Journalismus ändern, weil der Journalismus per se sich ändert. Der engagierte Journalismus ist seit einigen Jahren in vielen kleinen Projekten am Blühen. Ökonomisch hingegen ist er am Welken. Unser Autor Benjamin von Wyl beschreibt, wieso daran wahrscheinlich auch die geplante Förderung des Bundes von Onlinemedien nichts ändern wird. Die Gefahr besteht, dass damit nur die Grossen gegossen werden und die Kleinen weiter serbeln. Lesen Sie, weshalb: DIANA FREI Redaktorin ab Seite 18.

24 Kino

Systemsprenger

28 SurPlus Positive Firmen

5 Neue Geschäftsleitung

Chancen im Leben

25 Die Schweiz schreibt

Online-Magazin delirium

6 Moumouni …

... macht jetzt auch mit 7 Die Sozialzahl

Turbulente Zeiten für den Arbeitsmarkt

18 Journalismus

Überleben als Sensation 22 Theater

25 Kino

Anna Odells «X&Y»

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt

«Es ist anstrengend, ich zu sein»

26 Veranstaltungen

Die Polnischstunde 8 Sucht

Harter Stoff

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27 Tour de Suisse

Hauptstrasse Frick

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Aufgelesen News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Lieber unsichtbar

FOTOS: ZVG

Auch in Deutschland ist die Stigmatisierung von Sozialhilfeempfängerinnen und -empfängern ein Grund für viele Betroffene, auf die Zahlungen zu verzichten. Eine aktuelle Untersuchung besagt, dass die Quote der Inanspruchnahme von Transferleistungen stark variiert, je nachdem ob diese vertraulich oder öffentlich beantragt werden müssen. Rund 34 Prozent der Empfangsberechtigten verzichteten auf die Sozialleistungen, wenn Antragstellung und Auszahlung öffentlich sichtbar waren.

Ben Ferencz (rechts) klagte 1947 führende Repräsentanten Nazi-Deutschlands an (oben).

Nichts gelernt Die Welt habe offensichtlich nicht aus den Gräueltaten der Nationalsozialisten gelernt, sagt der letzte lebende Chefankläger der Nürnberger Prozesse, Ben Ferencz. «Anstatt Geld auszugeben, um den berechtigten Sorgen und Beschwerden der Menschen Sorge zu tragen, die eine Anstellung suchen, die jede Art von Hilfe benötigen, anstatt ihnen zu helfen, geben wir Geld für bessere Waffen aus, um mehr Menschen töten zu können», sagt der 99-Jährige. «Das ist verrückt. Es ist wahnsinnig. Es ist immer noch Völkermord, es ist selbstmörderisch, und es ist einfach dumm.» Ferencz wurde als Kind jüdischer Eltern 1920 in Transsylvanien geboren und floh mit seiner Familie vor der Judenverfolgung nach New York. Damals hätten die Worte zu Füssen der Freiheitsstatue noch eine Bedeutung für die USA gehabt, sagt er. Dort steht: «Gebt mir eure Müden, eure Armen / Eure geknechteten Massen, die sich danach sehnen, frei zu atmen.» 1947 war Ferencz Chefankläger im sogenannten Einsatzgruppen-Prozess, dem neunten von zwölf Nachfolgeprozessen gegen führende Repräsentanten Nazi-Deutschlands.

STREET ROOTS, PORTLAND

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BODO, BOCHUM/DORTMUND

Vertreibungstaktiken Staaten, Städte und Kommunen erfinden immer neue Wege, Obdachlose aus dem Stadtbild zu verbannen. Die Top 3 der neuesten Taktiken: 1. In öffentlichen Parks Kinderlieder in Dauerschleife spielen (West Palm Beach, Florida); 2. Verbot des Schlafens im öffentlichen Raum (Ungarn); 3. Sperrzone von gut drei Kilometern rund ums Stadtzentrum für Suppenküchen (Kuala Lumpur, Malaysia).

IRELAND’S BIG ISSUE, DUBLIN

Vor Ort 821 Millionen Menschen weltweit leiden an Hunger, 70 Millionen befinden sich auf der Flucht vor Kriegen, Unruhen und Klimakatastrophen. Der Grossteil der weltweit Geflüchteten bleibt als Binnenvertriebene in ihrer jeweiligen Region, neun von zehn finden in Entwicklungsund Schwellenländern Schutz.

MEGAPHON, GRAZ

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FOTO(1): MATTHIAS WILLI , FOTO(2): TOBIAS SUTTER

Neue Surprise-Geschäftsleitung

Rückblick

Ausblick

Neun Jahre Surprise

Chancen im Leben

Dankbarkeit und Zufriedenheit erfüllen mich, wenn ich auf die Zeit zurückblicke, die ich Geschäftsleiterin von Surprise war. Und die neun Jahre Surprise waren eine Berg-und-Talfahrt der Gefühle und der Überraschungen. Bei Surprise lernte ich sehr schnell, meine inneren Bilder abzulegen, die ich von sogenannt «Randständigen» hatte. Als ich bei Surprise begann, war die Situation schwierig. Der Betrieb hatte zum damaligen Zeitpunkt grosse finanzielle und strukturelle Probleme. Regelmässig standen Surprise-Verkaufende an meiner Bürotür und boten mir ihre Unterstützung an. Ich war irritiert und dachte: «Das sind doch hilfsbedürftige Menschen. Ich muss ihnen helfen, nicht umgekehrt.» Aber ich lernte sehr schnell: Die Menschen, die Surprise verkaufen, haben zwar wenig Geld – sie sind aber reich an Lebenserfahrung. Sie wissen, was es heisst, Schwierigkeiten anzupacken. Sie wissen, wie sie den Widerständen trotzen können. Ich bin euch, liebe Verkaufende, liebe Strassenfussballer und lieber Strassenchor, liebe Stadtführerinnen und Stadtführer, dankbar, dass ich von euch gelernt habe, was es heisst, Menschen wirklich auf Augenhöhe zu begegnen. Ich bin euch dankbar für eure unermüdliche Unterstützung in all den Jahren. Auch all meinen Mitarbeitenden bei Surprise bin ich dankbar. Ich durfte Menschen kennenlernen, für die Arbeit nicht eine Pflichterfüllung ist, sondern eine Mission. Mit euch durfte ich meine Vorstellung von flacher Hierarchie, selbstorganisierten Teams und grösstmöglicher Selbstverantwortung und Mitbestimmung umsetzen. Dank euren ehrlichen und wertschätzenden Rückmeldungen konnte ich in meiner Rolle wachsen. Letztes Jahr feierten wir 20 Jahre Surprise. Ich fühlte eine wohltuende Zufriedenheit, in die sich etwas Stolz mischte. Gleichzeitig hörte ich eine innere Stimme: «Deine Arbeit bei Suprise ist getan. Du kannst gehen, wenn es am schönsten ist.» Ich bin überglücklich, Surprise an meine Kollegin Jannice Vierkötter zu übergeben. Sie wird mit ihrer überlegten und liebevollen Art und ihrer grossen Kompetenz Surprise weiterführen.

Wie viele Menschen sind Ihnen in Ihrem Leben begegnet, die Ihnen das Gefühl gegeben haben, dass Sie wichtig sind und etwas können? Die Ihnen eine Chance gegeben haben, sich und Ihre Fähigkeiten zu zeigen und die an Sie geglaubt haben? Für mich ist Paola Gallo, die abtretende Geschäftsleiterin von Surprise, so ein Mensch. Sie gab mir die Chance, mein Können unter Beweis zu stellen, als ich 2016 an ihrer Seite in die Geschäftsleitung von Surprise einsteigen durfte. Paola Gallo glaubte an mich und meine Fähigkeiten. Das ist nicht selbstverständlich. Nicht alle haben das Glück, jemandem zu begegnen, der sie unterstützt und fördert. Im Gegenteil. Viele Menschen, die zu Surprise kommen, sind enttäuscht, frustriert und verletzt, weil ihnen niemand etwas zutraut oder sieht, was sie können. Bei Surprise ist dies anders. Wir glauben an die Ressourcen unseres Gegenübers und sind bereit, in sie zu investieren. Das ist einer der Gründe, warum ich mich sehr freue, die Geschäftsleitung von Surprise zu übernehmen. Denn Surprise schenkt Mut, Zuversicht und Vertrauen in sich und die eigenen Fähigkeiten. Es macht stolz, ein Teil der Surprise-Familie zu sein. Das soll auch in Zukunft so bleiben. Dafür stehe ich ein. Ich werde mich als neue Geschäftsleiterin weiterhin für das einsetzen, wofür Surprise heute steht: für Erwerbsmöglichkeiten im Heftverkauf, als Stadtführer oder im Rahmen eines Chancenarbeitsplatzes. Aber auch Angebote, die den sozialen Zusammenhalt und die gesellschaftliche Teilhabe fördern, wie der Strassenchor, der Strassenfussball oder das Solidaritätsnetzwerk Café Surprise, sind mir ein besonderes Anliegen. Ich bedanke mich von Herzen bei Paola Gallo für ihr Vertrauen, ihre Unterstützung und die Chancen, die sie mir gegeben hat. Ich bedanke mich ebenso bei allen Leserinnen und Lesern, die an die Menschen hinter Surprise glauben: an die Verkaufenden, die Stadtführerinnen und Chorsänger, die Strassenfussballer und Mitarbeitenden. Unterstützen Sie uns weiterhin. Ohne Sie wäre die wichtige Arbeit von Surprise nicht möglich.

PAOLA GALLO, Geschäftsleiterin Surprise 2010 bis 2019

JANNICE VIERKÖT TER, Geschäftsleiterin Surprise

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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

Ich bin geschockt. Nicht etwa von der Dreistheit, neben dem WC-Häuschen an einen Baum zu machen, eher vom Grad der Integration, den ich inzwischen erreicht habe. Noch vor ein paar Jahren hatte ich Angst, irgendwann mal von einer alten Frau mit Regenschirm oder Handtasche verprügelt zu werden, weil ich Regeln nicht befolgte, die ich entweder nicht kannte oder sinnlos fand. Ohne Licht Velo fahren, nachts bei Rot über eine unbefahrene Strasse laufen, einen Kaugummi auf den Boden spucken, einen (fast) unbemerkt aus dem Hosensack fallenden Papierschnipsel nicht aufheben und vor allem den Müll falsch trennen: Minenfelder für eine Ausländerin in der von sozialer Kontrolle regierten Schweiz. Wie oft wurde ich schon von wildfremden Menschen ermahnt oder zumindest kopfschüttelnd angegafft. Doch nun bin auch ich Mitglied im Club der Rechtschaffenen, der für Ordnung Sorgenden, der Bürgerpolizei des angenehmen Zusammenlebens, das vorsieht, dass niemand ausschert, laut im Zug redet oder eben einfach neben dem Klohäuschen an Bäume pisst!

Moumouni …

… macht jetzt auch mit Ich laufe auf die Toilettenhäuschen des Festivalgeländes zu, es ist dringend, bei den Männern ist mal wieder weniger los. Ich verfluche die Schniedel dieser Welt, die so viel weniger Lebenszeit damit verbringen müssen, in WC-Warteschlangen auf Erleichterung zu warten. Irgendwann bin ich dran, weil ich es gerecht finde, in einem unbesetzten Moment die den Männern vorbehaltene Einrichtung zu benutzen. Das WC ist einigermassen sauber – toll, diese Schweiz und ihre öffentlichen Toiletten. Etwa zehn Meter vor dem Toilettenhäuschen stehen Bäume. Richtig idyllisch. Ich beschliesse dort auf meine Kollegin zu warten, die keine Lust hatte, in eine Männerkloschüssel zu pieseln, und denke mir: Das Patriarchat trifft doch auch die, die auf die Männertoilette gehen, denn sie müssen auf die warten, 6

die die anderen Toiletten benutzen. Es ist dunkel. Zwischen den Bäumen bewegt sich etwas. Ich erschrecke ein wenig, doch es ist natürlich kein wildes Tier, nur ein weniger domestizierter Mann, der an einen der Bäume pisst. Zehn Meter vor dem WC-Häuschen! Es könnte mir egal sein, doch ich merke, wie sich etwas in mir regt. Das ist nicht rechtschaffen! Wir haben doch so schöne WCs in der Schweiz! Er dreht sich, seinen Hosenladen schliessend, um und steht direkt vor mir. In erzieherischem Tonfall, vermischt mit einem Hauch von Enttäuschung, die zugegebenermassen ob unserer nichtexistierenden persönlichen Beziehung etwas anmassend ist, sage ich in Mundart langsam, laut und deutlich: S’hätt doch grad dette es WC gha!

So gut integriert, dass es sogar Wirkung zeigt: Der Mann zuckt schuldbewusst zusammen, senkt den Kopf und murmelt, dass ich recht und ihn voll erwischt habe. Er entschuldigt sich und zieht schlurfend ab. Dabei erinnert er an einen kleinen Jungen, den man beim Plündern des Süssigkeitenschranks ertappt hat. Der pisst nie wieder gegen einen Baum, denke ich mir, lache hysterisch und weiss nicht genau, wie ich es finden soll, dass es mir irgendwie nicht egal war, was dieser wildfremde Mann da an diesem wildfremden Baum macht. Es geht um «eusi Schwyyz», antwortet mir der Teil im Hirn, der fürs Bünzlitum zuständig ist. Absurd. Ich verstehe die Welt nicht mehr, dafür aber die Schweiz ein bisschen besser.

FATIMA MOUMOUNI

hätte, wenn sie hätte stimmen dürfen, definitiv gegen das SozialdetektivGesetz gestimmt.

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INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BUNDESAMT FÜR SOZIALVERSICHERUNGEN (2019): SOZIALVERSICHERUNGSSTATISTIKEN: FINANZEN, BERN.

Die Sozialzahl

Turbulente Zeiten für den Arbeitsmarkt Im Jahr 2010 verzeichnete die Rechnung der Arbeitslosenversicherung (ALV) ein Defizit von 1,7 Milliarden Franken. Die aufgelaufenen Schulden erreichten den Stand von 6,3 Milliarden. Die Politik sah sich zum Handeln gezwungen, die Schuldenbremse in der Arbeitslosenversicherung hatte versagt. Wie konnte es dazu kommen? Zu lange glaubte man den Arbeitsmarktspezialisten vom SECO, die von einer durchschnittlichen Arbeitslosenquote von 2,5 Prozent über einen ganzen Konjunkturzyklus hinweg ausgingen. In Tat und Wahrheit betrug die mittlere Arbeitslosenquote schon damals 3,2 Prozent. In wirtschaftlich schlechten Zeiten stieg die Arbeitslosigkeit stärker an, im Aufschwung dauerte es länger, bis die Zahl der Arbeitslosen wieder zurückging. So fuhr die ALV über Jahre Defizite ein und der Schuldenberg wuchs ungebremst. Die Arbeitslosenversicherung musste darum mit einem Mix von Sparmassnahmen und Mehreinnahmen saniert werden. Die 4. Revision des Arbeitslosenversicherungs- und Insolvenzgesetzes (AVIG), die 2010 angenommen wurde und 2011 in Kraft trat, brachte markante Verlängerungen von Wartefristen mit sich sowie eine Verkoppelung der Beitragsjahre mit den Versicherungsleistungen. Zudem wurde die maximale Bezugsdauer von Taggeldern für bestimmte Versicherungsgruppen gekürzt. Dies traf zum einen junge Erwachsene auf Jobsuche, zum anderen ausländische Erwerbstätige, die erst kurze Zeit in der Schweiz waren. In der gleichen Revision wurden auch die Beitragssätze von 2 Prozent auf 2,2 Prozent erhöht sowie ein Solidaritätsprozent auf Löhne zwischen 126 000

und 315 000 Franken eingeführt. Mit diesen Massnahmen glaubte man, die Rechnung der ALV innert zehn Jahren wieder ins Lot zu bringen. Dank eines erfreulichen Konjunkturver laufs in den folgenden Jahren, einer andauernden tiefen Arbeitslosigkeit und einem markanten Anstieg der Spitzenlöhne zeigten diese Massnahmen die gewünschte Wirkung. Ab 2011 schrieb die Arbeitslosenversicherung wieder positive Ergebnisse und 2018 verzeichnete ihre Rechnung erstmals wieder eine Reserve von 191 Millionen. Wenn sie das Niveau von 500 Millionen erreicht – und dies wird voraussichtlich im nächsten Jahr der Fall sein –, ist der Bundesrat von Gesetzes wegen gehalten, das Solidaritätsprozent auszusetzen. Kann die Arbeitslosenversicherung ohne diese Beiträge im Lot gehalten werden? Im Kern geht es darum, ob weiter davon ausgegangen werden kann, dass die durchschnittliche Arbeitslosenquote auch in den kommenden Jahren bei 3,2 Prozent liegen wird. Sieht man sich die Prognosen zur digitalen Transformation an, so stehen dem hiesigen Arbeitsmarkt turbulente Zeiten bevor. Bis zu einer Million Arbeitsplätze werden verloren gehen. Auch wenn im gleichen Mas se neue Jobs entstehen, wird dieser wirtschaftliche Strukturwandel zu einem markanten Anstieg der Langzeitarbeitslosigkeit führen. Der Bundesrat ist deshalb gut beraten, bei der Arbeitslosenversicherung vorsichtig zu agieren. Ein erster Schritt könnte darin bestehen, die angestrebte Reserve zu verdoppeln und das Solidaritätsprozent auf hohe Löhne weiter einzuziehen.

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Entwicklung des Kapitals der ALV 2010–2018, in Mio. Franken 1000 2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

191

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-1384

-1000

-2149

-2000

-982

2018

-2149

-2886 -3000

-3474

-4000

-4632

-5000

-6000

-6259

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Harter Stoff Sucht Vor dreissig Jahren waren Drogensüchtige im Stadtbild präsent,

heute hat man sie aus unserem Blick verbannt. Doch sie sind noch immer da. Szenen aus dem Leben eines Berner Abhängigen. TEXT PETER REICHEN UND ROLAND REICHEN

Anfang der Neunzigerjahre war die Heroinsucht in der Stadt Bern unübersehbar: Es gab die offene Drogenszene im Kocherpark. Süchtige, die sich auf Toiletten und in Telefonkabinen in der Innenstadt ihre Spritzen setzten, waren ein alltäglicher Anblick. Knapp dreissig Jahre später sind grosse Ansammlungen von Drogensüchtigen aus dem Berner Stadtbild verschwunden. Als Nichtsüchtiger wird man heute nur noch selten und an wenigen Orten mit der Sucht konfrontiert – am Bahnhof etwa, wenn einen eine abgerissene Gestalt mit einem entrückten Glanz in den Augen um Kleingeld anbettelt, oder in der Hodlerstrasse vielleicht, wenn man eine Gruppe Süchtiger vor dem dortigen Injektionsraum warten sieht. Die nachfolgenden Seiten bieten Auszüge aus dem Reportageband «Druffä.» Er gibt in Wort und Bild Einblick in ein solches Leben, wie es der öffentlichen Wahrnehmung in der Schweiz heute weitgehend entrückt ist, ein Leben in dauerhafter schwerer Sucht am sozialen Rand. Das Buch erzählt von Peter «Pit» Reichen, der seit über 25 Jahren «druffä» ist, das heisst süchtig nach harten Drogen. Es berichtet von seinem Leben in einer betreuten WG in Köniz bei Bern; begleitet ihn zur kontrollierten Drogenabgabe, wo er sein Heroin bezieht; zeigt ihn bei der Arbeit, auf Besuch bei seinen Eltern, am Grab seiner Freundin – und auf der Gasse, auf der Suche nach einem Briefli Weissem. Der Fotograf Jonathan Liechti hat Pit über mehrere Jahre mit der Kamera begleitet. Seine Fotografien ergänzen Geschichten aus dem Suchtalltag, die Pit seinem Bruder erzählt hat, dem Schriftsteller Roland Reichen. Der Aff Am Morgen ist es also ganz schlimm. Fiebrig. Flau im Magen, dass es mir fast hochkommt. Die Knochen schmerzen. Ich schwitze Bäche – und gleichzeitig nadelt es mich, als ob ich nackt im Schnee steckte. An Duschen ist so natürlich nicht zu denken. Schon wenn ich nur daran denke, tschuderet es mich. Schnell in die Hudeln von gestern. Und die Silvia, meine Betreuerin in der WG, die muss jetzt natürlich nicht meinen, dass ich mit ihr noch die Wäsche erlese, bevor ich auf den Bus stresse. «Silvia, du weisst, ich halte das jetzt nicht aus», sage ich ihr. «Wir bekommen nur Streit. Ich mache es dann nachher, versprochen.» Ich nehme das Büchsli Energy Drink aus dem Karton unter dem Bett. Kaffee vertrage ich ja nicht mehr. Draussen die erste Zigi. Bei dem kleinen Surprise 460/19

FOTOS JONATHAN LIECHTI

Stutz, hinauf zur Bushaltestelle, spüre ich die Niere. Fast ein halbes Jahr lang war ich 2011 wegen der rechten Niere im Inselspital, weil ich dort einen riesigen Abszess hatte. «Herr Reichen», hat mir der Arzt bei der letzten Kontrolle gesagt, «wenn Sie noch einmal mit einem Abszess hier ankommen, dann können Sie den Sarg gleich mitnehmen.» Meinen ersten Aff habe ich 1992 geschoben, bei meinen Eltern in Spiez. Es gab da ein Mädchen, ein ganz ein süsses, in das ich ein bisschen verliebt war. Ich wusste, dass sie ab und zu gern eine Nase Eitsch nimmt, also Heroin als Pulver schnupft. Ich wollte das auch einmal probieren. Mein Kollege, der da Beziehungen hatte, sagte, das koste mich einen Lappen, also hundert Franken – und gab mir einen Plastikbeutel, der zwei Wochen reichte. Anfangs habe ich schon nur am Abend genommen. Und auch nicht jeden Tag. Aber an einem Montagmorgen, jä, da erwache ich mit Fieber, Schnudderi und Schüttelfrost. Ich sage dem Mami schon: «Du, ruf beim Liniger an, ich bin krank, ich kann heute nicht kommen!» Wo das Mami telefoniert, schnupfe ich die letzten Pulverspuren aus dem Plastikbeutel – die Grippe wie weggeblasen. Da wusste ich: Scheisse, jetzt bin ich druffä. Die Erlösig Im Bus also gar nicht entspannt. Fingertrommeln. Wie der heute wieder kriecht! Ja, halt doch an jeder Ampel! Dann endlich doch da. Die Treppe rauf, vor der Glastür den Finger auf den Fingerabdruck-Leser, in den kleinen Warteraum im nächsten Stock. Etwa zehn Leute vor einer Panzertür, an der Decke ein Flachbildschirm, mein Name, vom Fingerabdruck-Leser gemeldet, ganz unten. Man kann stehen oder hocken. Ich wechsle ständig. Mein Name klettert langsam in der Liste auf dem Bildschirm nach oben. Erst nach gut fünfzehn Minuten leuchtet er zuoberst im grünen Feld. Noch ein Weilchen, erst jetzt surrt die Panzertür. Ich rein. Während ich mir die Hände wasche, rufe ich dem Pflegepersonal hinter der Ausgabe zu: «150 Milligramm, in den Muskel. Und vielleicht gern auch noch ein Ponstan, weil ich spüre die Niere wieder.» Mit der aufgezogenen Spritze am Platz. So, dass es die Pfleger sehen, muss ich das Ponstan schlucken. Dann desinfizieren. Die Spritze in den Oberschenkel. Langsam drücken. Die Spritze raus-

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ziehen, Deckel drauf. Ich rufe: «Spritze!» Einer von der Pflege schaut, ruft: «Okay!» – Wurf in den Spritzencontainer. Sofort auf den nächsten Bus. I. m., also intramuskulär gespritzt, dauert es fünf bis zehn Minuten, bis das Heroin wirkt. Dübystrass, Hessstrass, heute ist es im Liebifeld, wo sich die wohltuende Wärme in mir auszubreiten beginnt. Die Glieder werden schwer, aber gleichzeitig fällt alles Stressen und Müssen, fallen alle Sorgen von mir ab. Mmh, was sich da plötzlich für ein festlicher Glanz in den Bus hineinstiehlt, so eine Stimmung wie früher als Kind vor Weihnachten. Das Bernmobil-Plakat vor mir, das kommt mir vor wie das Schönste, was ich je – «He, Pit! Pit! Nicht einhangen!», reisst mich der Renato, der Kollege aus der WG, vom Sitz, auf dem ich vornübergesunken bin. «Köniz Schloss, wir müssen raus!» Auf Heroin hast du etwa zwei Stunden einen starken Rausch. Danach kannst du aber gut bis am Abend ohne einen weiteren Schuss sein. Beim Kokain oder Coci, wie man auf der Gasse sagt, ist das ganz anders: Wenn du das spritzt, hast du vielleicht zwanzig Sekunden das Gefühl, du seist der amerikanische Präsident, aber dann fällst du in so ein Loch, dass du gleich den nächsten Schuss brauchst. Die letzten Monate, wo ich noch eine eigene Wohnung hatte, nahm ich einen Coci-Dealer auf. Rund um die Uhr hockten da fünf, sechs Typen in meiner Loge, zwischen Müllsäcken und Dreck, und machten sich ihre Schüsse. Sie klauten mir alles, was sich irgendwie zu Geld für Coci machen liess: Handy, CDs, Kleider, sogar meinen Stoffbär. Am Schluss zog ich jeweils mehrere Schichten Kleider an, wenn ich kurz schlafen wollte. Portemonnaie, DVD-Player und Radiowecker schob ich mir unter die Jacke, damit wenigstens die nicht fortkamen. Das Öfeli Ich schlafe einfach gut ein, wenn ich das Geräusch von einem Öfeli höre. Wahrscheinlich hat das mit der Kindheit zu tun; mein Mami stellte immer ein elektrisches Öfeli an, wenn es mir als Stünggel die Windeln wechselte auf dem Wickeltischli. Später, wo ich dann eine eigene Wohnig hatte, stellte ich zum Einschlafen immer das Öfeli an, wo ich mir extra beim Fust gekauft hatte. Mmh, so ein schönes, gleichmässiges Sürelen! Das Öfeli, das kam natürlich mit in die WG. Im Sommer gab es dann mal eine ausserordentliche WG-Sitzung: Der Barendjan, der Chef von der WG, der schüttelte den Kopf und meinte, die WG habe einen extrem höchen Stromverbrauch, er könne sich das nicht erklären. Ich erzählte dann natürlich vom Öfeli, davon, dass ich das zum Einschlafen brauche. Schliesslich fanden der Barendjan und ich heraus, dass es auf Youtube Tausende von sogenannten White-Noise-Filmen gibt, stundenlange Aufnahmen von Föhn-, Staubsauger- oder Öfeligeräuschen. Seither läuft bei mir im Sommer halt Youtube zum Einschlafen. Meist lose ich ein Öfeli. Ich bin aber auch schon zu mehreren Föhns und sogar einmal einem Staubsauger sanft in den Schlaf geglitten. Das Geburi-Geschenk Eh ja, das war da, vor ein paar Jahr, natürlich schon keine Glanzleistung von mir: Ich Geburi, das Mami schenkt mir einen Trainer. Schön schwarz, ein flauschiger Stoff; das Mami hat ihn so bei einem Versandhaus bestellt, «Cornelia» oder was, er ist noch in der Plastikverpackung von der Fabrik eingeschweisst. «Danke, Mami!», sage ich, umarme es und gebe ihm drei Müntschi. 16

Wo ich im Zug heimfahre nach Bern, bekomme ich dann aber wahnsinnig das Reissen auf ein bisschen Coci. Ich an die Hodleren. Rede mir dort gut eine Stunde das Maul fusslig, bis endlich die Chläschä aufkreuzt. «Eh ja», sagt sie, «der Rüedu, mein Typ, der bräuchte eigentlich schon lange einen neuen Trainer. Und eingepackt ist er ja auch noch. Kannst für einen Lappen haben.» Nachher bin ich mir natürlich gereuig. Wo das Mami am Abend anläutet, muss ich es ihm einfach beichten. Vom nächsten SozGeld, einem Dreissiger, kaufe ich ihm ein Blüemi, damit ich nicht gleich wieder an der Hodleren lande. Und dann ist sowieso erst einmal Schmalhans angesagt, weil ich dem Mami versprochen habe, dass ich ihm den Trainer zurückzahle, also hundert Stutz. Vier Wochen habe ich, bis ich mir das vom Soz-Geld abgespart hab. – «Nimm die Kleider besser aus der Verpackig, wenn du mir das nächste Mal welche schenkst», sage ich dem Mami, wo ich ihm den Lappen gebe. «Weisst du, dann kann ich sie auch nicht mehr auf der Gass rauslassen.» «Und ob ich schon wanderte im finstern Tal …» Als meine Freundin starb, lag ich im Spital. Carol war nur gerade 37 geworden und hatte ein ziemlich schlimmes Leben gehabt: Mit 15 die alkoholkranke Mutter verloren, bald darauf auch den Vater. Seit Jahren war sie ein Sozialfall, drogensüchtig, HIV-positiv und machte den Wackel, wie man hierherum sagt, den Drogenstrich, auf dem sie mehrfach vergewaltigt wurde, einmal auch von einem Anwalt. Die Sau, keinen Tag kam der hinter Gitter – während Carol drei Monate lang mit einem künstlichen Darmausgang leben musste. Bei der Gerichtsverhandlung hatte der Verteidiger die Stirn, ihr zu sagen: «Mein Mandant ist Familienvater. Wenn er jetzt ins Gefängnis muss, kommen seine Kinder am Ende doch nur ebenso auf die schiefe Bahn wie Sie.» Zuletzt brauchte Carol fast tausend Franken am Tag für ihre Kokain-Abstürze. Ein Managerlohn. Sie starb nicht an einer Überdosis, sondern eigentlich daran, dass sie – Arme und Beine vernarbt – kaum noch einen Flecken am Körper fand, an dem sie sich das Kokain spritzen konnte. Sie legte sich in der Leiste eine sogenannte Fistel, ein Loch auf die Leistenvene hinab, das sie sich mit einer Spritze ins eigene Fleisch grub. Natürlich entzündete sich die Wunde rasch. Zwei, vielleicht drei Monate lang drückte Carol schwärzlichen Eiter aus dem rot-braunen entzündeten Fleisch, manchmal auch Würmer aus geronnenem Blut. Sie konnte die letzten beiden Tage nicht mehr gehen. Das rechte Bein war doppelt so dick angeschwollen wie das linke. Als ich sie am Abend des 9. Mai um zehn nach sieben anrief, muss sich ein Blutgerinnsel aus der Fistel gelöst haben, in ihre Lunge gespült worden sein. Sie sagte noch, ihr sei schwindlig und sie spüre den Schmerz im Bein wieder – dann nur noch viermal ein schweres, rasselndes Keuchen. Ich selber lag, wie gesagt, im Krankenhaus. Carol hatte mich zwei Wochen zuvor dorthin gebracht. Ich hatte mir beim Spritzen Streptokokken eingefangen. Ich wog noch 41 Kilo, als ich ins Spital kam, wobei fast ein Viertelkilo der Eitersack ausmachte, der mir aus der Niere wuchs. Mit einer zwölf Zentimeter langen, offenen Wunde am Rücken telefonierte ich vom Spitalbett aus herum. Mit dem Sozialdienst. Dem Bestatter. Der Seelsorgerin, die die Abdankung halten sollte. Ich musste dann schon froh sein, konnte ich wenigstens die Erdbestattung durchboxen – der Soz, der hätte Carol am liebsten nur verbrannt und ins Gemeinschaftsgrab ausgeschüttet, weil das am billigsten kam. Surprise 460/19


Umso magerer fiel dafür die Andacht aus. Die Kirche geschlossen, die etwa zwanzig Angehörigen und Leute von der Gasse mussten sich im Obergeschoss der Leichenhalle besammeln. Die Seelsorgerin hatte sich nicht einmal Carols Namen richtig gemerkt. Als sie davon sprach, dass Carol jetzt an einem Ort sei, wo sie es besser habe, nannte sie sie erst «Caro» – und verbesserte erst nach einem unsicheren Blick in ihre Unterlagen nachträglich zu «Carolina». Als ob Carol hier nicht auch Schönes erlebt, nicht noch Wünsche und Träume für ein ganzes Leben gehabt hätte! Die Seelsorgerin hatte auch keinen Finger krumm dafür gemacht, dass man an der Andacht das Lied abspielen konnte, das sich Carol für ihre Beerdigung gewünscht hatte. Sie sagte mir am Telefon, es gebe in der Leichenhalle kein Abspielgerät; ich solle das Lied doch vorsingen. Ich kaufte mir von meinen damals noch 146 Franken Sozialgeld wöchentlich dann halt einen portablen CD-Player und so kleine Batterieböxli. So konnte «What’s up» von den Four Non Blondes doch noch im Obergeschoss von der Leichenhalle erklingen. Auf dem Soz «Nein, wenn Sie nicht telefonisch einen Termin vereinbart haben, dann kann ich Sie nicht zum Herrn Fahrni lassen», sagt das Fräulein hinter dem Empfangsschalter beim Soz. – «Ja, aber das ist ja das Problem», versuche ich dem Fräulein begreiflich zu machen, «mein Handy ist auf null. Ich muss zuerst beim Fahrni meine dreissig Fränkli holen, damit ich das Handy aufladen und wieder telefonieren kann.» – Das Fräulein bleibt aber dabei: Kein telefonisch bestätigter Termin – kein Zugang zu den Büros im Parterre. Das Fräulein will mir auch nicht sein Handy geben, damit ich dem Fahrni anläuten kann. – «Geit’s no!», mault seinerseits der Typ hinter einem von den Kundenschaltern, wo ich ihn für sein Handy frage. – «Gut, Sie haben es nicht anders gewollt», sage ich und stiefle Richtung Ausgang. Dem Securitas vor der Tür sage ich, es werde dann jetzt grad ein bisschen laut hinter der Hütte, aber er solle nicht erklüpfen, ich wolle nichts Böses. Hinter dem Haus wedle ich mit den Armen vor dem mittleren Fenster im Parterre, rufe: «Herr Fahrni, Herr Fahrni! Ich bin es, der Richen! Ich brauche meine dreissig Fränkli!» Ich muss dann doch noch ans Fenster klopfen, bis der Fahrni auftut. Aber er ist also ein Flotter. Er bittet mich sofort in sein Büro. Und begleitet mich nachher sogar noch hinaus in die Empfangshalle. – «Das war also nicht schön von Ihnen», sagt er dort dem Fräulein hinter dem Empfangsschalter. «Das nächste Mal können Sie dem Richen ruhig Ihr Handy geben, wenn er mich anrufen muss.» Das Hündi Manchmal hört man einfach schon himmeltraurige Geschichten auf der Gass. Eine Kollegin zum Beispiel, obdachlos, übernachtet in der Notschlafstelle, der Noscht, ihre ganze Freude ist das kleine Hündi, wo ihr der Ex geschenkt hat – tausendzweihundert Franken soll der Ex dem Bauern für das Hündi gezahlt haben, weil es reinrassig sei, mit Stammbaum und allem! Die Kollegin musste dann einmal einen Nachmittag lang aufs Amt, wo sie das Hündi nicht mitnehmen konnte. Sie gab es deshalb einem guten Kolleg, wo sie schon seit Monaten von der Noscht her kannte. Am Abend waren dann aber weder der Kolleg noch das Hündi in der Noscht. Erst drei Tage später läuft ihr der Kolleg zufällig über den Weg: ohne Hündi. – Jä, das Hündi habe gehimpet, stammelte der Kolleg, Surprise 460/19

er habe es deshalb seinerseits einem Kolleg gegeben, wo es zum Tierarzt bringen und für die Behandlung bezahlen wolle; spätestens in einer Woche sei das Hündi sicher wieder da. – Die Kollegin, die traute der Sache zwar nicht, aber was wollte sie auch tun? Den guten Kolleg, den hat sie dann die längste Zeit gesehen. Nie mehr tauchte der die nächsten Wochen in der Noscht auf, übernachtete wohl unter einer Brügg oder in einem Parkhaus. Dafür bekam sie in diesen Wochen dreimal Besuch von der Polizei. Das erste Mal sagten ihr die Tschugger: Ihr Hündi sei beim Streunen aufgegriffen worden, es sei jetzt in einem Tierheim. Man sage ihr aber nicht, in welchem, weil sonst wolle sie das Hündi nur holen, aber sie, auf der Gass, sie könne nicht zu einem Hündi lugen. Das zweite Mal hiess es: Ihr Hündi habe jetzt ein Plätzli in einer Familie gefunden. Man sage ihr aber nicht, wo, sonst wolle sie das Hündi nur dort wegholen. Das dritte Mal schliesslich sagte ihr die Schmier, ihr Hündi sei tot. Es sei auf der einen Seite einer stark befahrenen Strass gewesen, habe die Mutter seiner neuen Familie auf der anderen Seite der Strass gesehen und sei vor Freude blindlings auf sie zugerannt – direkt vor ein Auto. Irgendwann läuft der Kollegin der «gute» Kolleg aus der Noscht dann doch wieder über den Weg. Da gibt er dann endlich zu: Kaum war sie im Amt verschwunden, da hat er ihr Hündi für ein schönes Säckli Schuger verkauft und sich einen schönen Nachmittag gemacht. – Die Kollegin, die hat dann schön eingebrätscht auf den Arsch! Vom Seich, beim Soz zu sein Manchmal ist es schon ein Seich, dass ich beim Soz bin. Eh ja, das Coci, das macht zum Beispiel die Zähn brüchig; zuletzt, da hatte ich noch den linken oberen Eckzahn, von der einen Schaufel nur noch so einen Spitz – mach mal so eine Frau an, da wendet sich jede ab. Endlich schickte mich der Soz zum Zahni, der sieht natürlich sofort: Da braucht es ein Biis. Nur, weil ich beim Soz bin, da braucht es auch eine Kostengutsprach, und die muss der Kantonsarzt unterschreiben. Monat für Monat vergeht. Mir fällt erst der Spitz aus, dann auch noch der Eckzahn. Ich kann nur noch Joghurt fressen, weiches Brot und Mettwurst. Nach sechs Monat heisst es dann: Öu, der Kantonsarzt hat vergessen, die Kostengutsprach für Euch zu unterschreiben, Herr Richen! Leider ist er für die nächsten Monat in den Ferien! Ein ganzes Jahr ging es dann, bis ich endlich mein Biis hatte. Unten sitzt es zwar nicht, da tut es weh, man müsste das anpassen. Aber da bräuchte ich eben wieder eine Kostengutsprach; wer weiss, ob ich dann nicht wieder ein ganzes Jahr ganz ohne Biis wäre?! – Lieber trage ich da halt nur oben eine Schublade.

Peter und Roland Reichen, Jonathan Liechti: «Druffä. Aus dem Leben eines Berner Drogensüchtigen», Münsterverlag 2019, CHF 39.— Das Buch erscheint am 17. Oktober. Verlosung: Wenn Sie eins von fünf Exemplaren gewinnen möchten, schicken Sie bis 25. Oktober eine Postkarte oder E-Mail mit Betreff «Druffä» an: Surprise, Münzgasse 16, 4051 Basel oder info@surprise.ngo Die Gewinnerinnen und Gewinner werden benachrichtigt.

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Überleben als Sensation Journalismus Seit über zwanzig Jahren suchen die Medien Wege, um trotz Internet mit

Journalismus noch Geld zu verdienen. Bundesrätin Simonetta Sommaruga will erstmals Online-Journalismus fördern. Profitieren könnten vor allem die grossen Konzerne. TEXT BENJAMIN VON WYL

ILLUSTRATIONEN LUCA SCHENARDI

Wie lange reicht das Geld noch? Die Frage drängt sich leider auf. «Bis November», sagt Lukas Tobler, Co-Chefredaktor von Das Lamm. Das Online-Magazin wird mitten in seinem zehnjährigen Jubiläum vom Arbeitgeber wieder zum Freiwilligenengagement. Zwei Jahre lang hat das Lamm Löhne gezahlt, acht Jahre lang hatte Mitgründerin Alexandra Tiefenbacher zuvor schon gratis gearbeitet. Ein regelmässiger Lohn bedeute erstmal Befreiung von Zwang, so die Redaktorin. Sprich: Recherchieren, Fragen stellen und berichten würden Tiefenbacher und Tobler auch ohne Verdienst. Das Einkommen ermöglicht ihnen aber Regelmässigkeit und bewahrt die beiden davor, sich (noch mehr) Brotjobs suchen zu müssen. Viele leidenschaftliche Journalistinnen und Journalisten denken so: Sie arbeiten nicht, um Geld zu verdienen. Das Geld, das sie verdienen, gibt ihnen die Möglichkeit zu arbeiten. Tobler verdient in seiner Halbtagsanstellung beim Lamm etwa 1600 Franken. Der Lohn hält ihm den Rücken frei, etwa für die beeindruckende Recherche über die Gängelung von Angestellten bei einem Zürcher Cateringunternehmen. Die Löhne, die Abos, die Stellen: Es geht abwärts mit der Branche. Der Umbruch in den Medien setzte vor spätestens zwanzig Jahren ein. Wie ein Märchen hört es sich an, wenn der Journalist Karl Lüond beschreibt, wie er 1977 für 15 000 Franken ein Flugzeug mieten liess. Viele könnten damit ein halbes Jahr leben, damals waren das die Kosten der Zeitung Blick, um einen Fotografen zu einem Flugzeugabsturz zu fliegen. Schon seit 1993 soll der Tages-Anzeiger nur dank der Beilage mit den Stellenanzeigen noch Gewinne gemacht haben. Damals wurden noch keine Redaktionen zusammengelegt und Leute entlassen, aber auch die Entlassungswellen starteten, lange bevor Alexandra Tiefenbacher ihre ersten Lamm-Artikel schrieb. Seit nunmehr fünfzehn Jahren ist die Medienbranche ohne Gesamtarbeitsvertrag. Die Gewerkschaften empfehlen Surprise 460/19

einen Mindestlohn für Auszubildende von 3675 Franken – mehr als Lukas Tobler beim Lamm auf 100 Prozent verdienen würde. Aber bald wird das unabhängige Online-Magazin ohnehin wieder zum Hobby: Zu wenige zahlen für das Magazin, das sie auch gratis lesen können. Lamm-Redaktorin Tiefenbacher verzichtet bereits jetzt auf den Lohn ihrer 20-Prozent-Anstellung. Passiert kein Wunder, werden bald alle Lamm-Mitarbeitenden für lau arbeiten. Das wollen sie auch tun – aber leisten können sich das nicht alle. Tobler sagt, er werde sich einen neuen Job suchen müssen. Das Gleiche gilt für Co-Chefredaktorin Natalia Widla. Besucht man die Homepage des Onlinemagazins, poppt ein Fenster auf: «Sollen Benachrichtigungen von Das Lamm empfangen werden?» Nein, lieber Internetbrowser, ich möchte keine Benachrichtungen, auch nicht von Watson und dem Blick. Nein, bitte füge mir kein 20-Minuten-Shortcut auf dem Startbildschirm hinzu. Push-Nachrichten brauch ich nicht. Journalismus soll dabei helfen, sich im Jetzt zu orientieren, stattdessen bombardiert er mich mit dem Jetzt. Journalismus springt einen an – überall. Das nervt, aber die Medien nerven nur deshalb, weil sie verzweifelt sind. Der alternative Verlegerverband Viele Jahre haben auch Tages-Anzeiger und NZZ ihre Artikel gratis ins Internet gestellt. Eine halbe Generation Leserinnen und Leser wurde dazu erzogen, dass Journalismus immer und überall gratis ist. Wieso noch ein Abo lösen? Seit einiger Zeit verstecken aber immer mehr grosse Konzerne ihre Artikel hinter Paywalls. Sie wollen Online-Abos verkaufen, um Geld zu verdienen. Früher lag dem Tagi der «Stellenanzeiger» bei; dank solchen Beilagen und Werbung galten Zeitungen als Gelddruckmaschinen. Aber in der Onlinewelt machen Google 19


und Facebook das grosse Werbegeschäft. Daran tragen die grossen Medien Mitverantwortung: Sie haben den Journalismus an die Internetkonzerne verschenkt, indem sie ihn gratis ins Internet gestellt haben. Kleine Medien wie Das Lamm wollen, dass ihre kritischen und fundierten Recherchen von möglichst vielen gelesen werden. Deshalb stellen sie sie noch heute gratis ins Internet. Die Hauptanreize für ein Abo: Sympathie, Unterstützungswille, Solidarität. Journalisten können nicht mit Geld umgehen, so lautet ein Klischee. In der Realität ist es wohl eher so: Journalisten können mit Geld umgehen, aber ihnen ist anderes wichtiger – meist Journalismus. Wenn man von einer Recherche oder Geschichte gepackt ist, muss einem egal sein, ob man auf einen Stundenlohn von fünf, zwanzig oder vierzig Franken kommt. Man kann nicht mit halbem Fokus arbeiten. Das ist Freud und Leid von engagierten Journalistinnen und Journalisten wie der Lamm-Redaktion. Besonders seit es kaum einem Unternehmen mehr gelingt, mit journalistischen Inhalten Gewinne zu erwirtschaften. 2017 haben sich so unterschiedliche Medien wie die Zentralschweizer Lokalplattform Zentralplus, das Online-Medium Republik, die linke Wochenzeitung WOZ und auch das Strassenmagazin Surprise im alternativen Verlegerverband Medien mit Zukunft zusammengeschlossen. Eine Einsicht und eine Überzeugung verbinde die Mitglieder, sagt Co-Präsident Simon Jacoby: «Die Einsicht, dass man mit Journalismus nicht mehr reich wird, und die Überzeugung, dass es ihn trotzdem braucht.» Auch beim Zürcher Ultralokalmedium tsüri.ch, wo Jacoby Chefredaktor ist, komme es immer wieder zu finanziellen Engpässen. Bei tsüri.ch, das auch auf Werbung setzt, halten sich Einnahmen und Ausgaben laut Jacoby in etwa die Waage. Alle Durststrecken waren bisher bewältigbar – obwohl es «eine mittlere Sensation» sei, dass es tsüri.ch nach fast fünf Jahren noch gibt. Das Überleben als Sensation: So steht es um den unabhängigen Journalismus seit mindestens fünfzehn Jahren. Jacobys Lohn ist übrigens so hoch, wie es die Gewerkschaften empfehlen – aber nicht für einen Chefredaktor. Sein Salär entspricht der Empfehlung für Auszubildende im zweiten Semester. Journalismus wird es immer geben, ist Andrea Fopp überzeugt. Es seien zu viele daran interessiert, was in der Welt und um sie herum, etwa in der Stadt Basel, passiere. Als Redaktorin der Basler TagesWoche erlebte sie vor einem Jahr mit, wie abrupt eine Zeitung sterben kann. Besonders bitter sei es gewesen, weil die Lokalplattform frühere Schwächen mit einem neuen Team überwunden habe: «Bei der TagesWoche habe ich miterlebt, wie du

einen serbelnden Laden aus dem Dreck ziehen kannst, wenn alle Gas geben. Dafür bin ich dankbar.» Nur wirtschaftlich gerechnet hat sich die TagesWoche nie. Chüngelizüchterverein oder Newroz-Fest Aber die Medienkrise ist laut Fopp nicht nur eine wirtschaftliche. «Nur wenige Frauen über dreissig halten sich überhaupt im Journalismus», sagt die 36-Jährige. In der ganzen Schweiz gibt es kaum Chefredaktorinnen und weibliche Ressortleiterinnen. Auch Medienschaffende mit Migrationshintergrund gibt es nur sehr wenige. Haben mittelalte männliche Schweizer Ressortchefs im Blick, was aus der Perspektive von Frauen, Nichtstudierten, Ausländerinnen und Ausländern relevant ist? Fopp hat starke Zweifel, und noch viel weniger kann sie sich vorstellen, dass diese Ressortchefs so berichten, dass sich Frauen angesprochen und Nicht-Akademiker eingebunden fühlen. Es brauche Veränderung. Wenn die Lokalzeitung über Chüngelizüchter berichtet, interessiert das immer weniger Leute. Eine Reportage über das kurdische Newroz-Fest ist genauso relevant – und wenn sie jemand schreibt, der nicht aus Bünzlischweizer-Perspektive berichtet, profitieren auch die Bünzlischweizer. Sich zu hinterfragen und zu wandeln falle in einem kleinen Team leichter, sagt Fopp: «Auch in einer Kaffeepause können alle zusammensitzen und sich den Grundfragen stellen: Was machen und was wollen wir überhaupt?» Mittlerweile ist Fopp Redaktorin bei Bajour. Das neue Basler Lokalmedium «verschreibt sich der Debatte» – sowohl im Internet als auch im echten Leben. Vielen gilt Bajour als Quasinachfolgemedium der TagesWoche, denn es wird von derselben Stiftung unterstützt, die auch die TagesWoche ermöglichte. Wieso macht Fopp da mit, weniger als ein Jahr nach dem Untergang der TagesWoche? Andere Journalisten würden «die Seite wechseln», sprich in der Unternehmenskommunikation nach Stellen suchen. Statt dass man in Texten kritische Fragen stellt, will die «andere Seite», die PR, kritische Fragen entkräften oder gar nicht erst aufkommen lassen. Das kann sich Andrea Fopp für sich kaum vorstellen. Erst seit sie Journalistin ist, begegne sie Basel quer durch alle Schichten. Fopp verdient im neuen Job weniger als in ihrem letzten – Bajour hat einen gestaffelten Einheitslohn, den Vorschlag dazu habe sie selbst eingebracht. Noch immer reiche es aber, um für ihre dritte Säule und das Ausbildungskonto ihrer Tochter einzuzahlen. Tiefenbacher, Tobler, Fopp, Jacoby und ein Grossteil ihrer Berufskollegen kennen den Journalismus nur im Krisenmodus. Schon lange zahlt niemand mehr 15 000

Bald wird das unabhängige Online-Magazin Das Lamm wieder zum Hobby.

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Franken Spesen für ein paar Fotos; Fotografen sind heute froh, wenn sie 75 Franken pro Bild und ein Halbtaxbillet erhalten – immer häufiger schiesst die Journalistin einfach ein Handyfoto. Aber: Online kann man fast gratis veröffentlichen. Im Internet kann man auf so viele Daten zugreifen, dass die einst beeindruckenden Zeitungsarchive heute lächerlich wirken. Die Tagi-Redaktorin kann ihrer Arbeit gleich professionell nachgehen wie der tsüri.ch-Redaktor. Die Frage bleibt für beide dieselbe: Wie lange reicht das Geld? Nun findet auch die FDP Medienförderung gut In den ersten Jahren, in denen Zeitungen grosse Entlassungswellen erlebten, hiess es: Die Journalistinnen und Journalisten müssen sich halt fit machen fürs Internetzeitalter. Seit auch die noch vor fünf Jahren gefeierten Internetmedienkonzerne wie Buzzfeed und Vice Leute entlassen und die Werbeeinnahmen weiter sinken, hat sich das geändert. Der Verband der grossen Schweizer Medienkonzerne fordert jedes Jahr fast 100 Millionen Franken mehr vom Staat. Waren öffentliche Gelder für private Medien lange Zeit ein Anliegen, das höchstens von links gefordert wurde, wollen nun auch FDP-Politiker eine Medienförderung in die Verfassung schreiben. Vielleicht Surprise 460/19

ist die Frage bald nicht mehr, wie lange das Geld reicht, sondern: Wer bekommt’s? Bekommt ein Grosskonzern wie Tamedia mehr Fränkli, ändert das nichts an den Überlebenszwängen der Lamm-Redaktion. Ende Sommer informierte Bundesrätin Simonetta Sommaruga: Mit um die 50 Millionen Franken pro Jahr sollen bald Onlinemedien gefördert werden. Aber: Gratismedien werden nicht unterstützt. Es ist aber noch nicht sicher, wie Sommaruga das gemeint hat: Jacoby vom Verband Medien mit Zukunft hofft, dass Medien mit Bezahlmitgliedschaften, die man gratis lesen kann, ebenfalls gefördert werden. Falls nicht, gehen fast alle unabhängigen Medien leer aus. Dann profitieren wohl vor allem die grossen Konzerne. Die, die einer ganzen Generation Gratisjournalismus eingeimpft haben und jetzt auf Paywalls setzen. Der Grosskonzern Tamedia hat gerade rechtzeitig noch die Gratis-Zeitungen in ein eigenes Unternehmen geschoben, um möglichst stark gefördert zu werden. Die Lamm-Redaktion muss sich Brotjobs suchen. Benjamin von Wyl ist Journalist und Autor und schreibt als solcher auch für manche der zitierten Medien. Mit Simon Jacoby von tsüri.ch ist er privat befreundet.

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«Wir müssen uns mit unserer Herkunft auseinandersetzen», sagt Regisseurin Nocon. Das Wohnzimmer der Eltern als Erinnerungsraum.

«Auch ich trage einen Krieg in mir, der nicht meiner ist» Theater Die Eltern der Theatermacherin Patricia Nocon erlebten den Zweiten

Weltkrieg als Kleinkinder in Polen. Im Bühnenstück «Die Polnischstunde» erzählt sie davon, wie sich Traumata auf die nachfolgenden Generationen übertragen. INTERVIEW BENJAMIN VON WYL

Frau Nocon, in «Die Polnischstunde» geht es um Vergangenheitsbewältigung. Das Stück ist auf der Bühne sehr schnell. Wieso das Tempo beim Umgang mit Vergangenheit? Patricia Nocon: Das Thema ist schwer. Das Tempo hilft, damit du an Trauma-Trigger herankommst. Ich habe bemerkt: Wenn Leute von ihren Traumata berichten, kommen sie nie zum Punkt. Sie rattern los, versuchen zu umschreiben, aber schaffen es eben nicht. Das versuchen wir darzustellen und zu reflektieren. Das Tempo ist ja auch nicht durchgängig hoch. Es gibt wie bei einer Schulstunde Pausen. Auch zur Erholung fürs Publikum und zum eigenen Reflektieren. 22

Es geht um einen Krieg, den Sie selber nicht erlebt haben. Es geht um die Weitergabe von Traumata über Generationen hinweg – anhand meiner Familie. Die Erlebnisse meiner Eltern als kleine Kinder im Zweiten Weltkrieg waren immer präsent. Natürlich gibt es eine historische Aufarbeitung, aber es gibt keine persönliche Aufarbeitung in den Familien. Das ist etwas typisch Polnisches? Nein, überhaupt nicht. Die Weitergabe von etwas, das man für längst abgeschlossen hält, ist weltweit ein Thema. Gerade auch in Deutschland spürt man das momentan: Die Leute kämpfen mit den Spätfolgen von Traumata, deren Ursprung sie gar nicht

selbst erlebt haben. Auch ich trage einen Krieg in mir, der nicht meiner ist. Auch meine Eltern haben mir ihre Verhaltensweisen, Verdrängungs- und Bewältigungsstrategien weitergegeben. In den letzten siebzig Jahren hat sich die Sensibilität der Menschen für ihre Psyche aber doch verändert. Lösten nicht die 68er einen neuen Umgang mit der Vergangenheit aus? Betrachtet man das in der DNA der Zeit, sind die 40er-Jahre noch nicht lange her. Mit der eigenen Schuld und dem eigenen Leid haben sich die Leute nie auseinandergesetzt, auch die 68er nicht. Das Politische war ein Schutz. Es gibt ganz viele Surprise 460/19


FOTOS: PATRICIA NOCON

«Manchmal wünsche ich mir einfach, dass wir als Gesellschaft alle zusammen weinen.»

Familien, in denen Konfliktbewältigung nicht funktioniert, weil der Vater des Vaters ein Kriegsrückkehrer war. Und wir Kinder spürten das. Kinder lernen soziales Verhalten, indem sie ihre Eltern nachmachen. In Polen fand diese Auseinandersetzung gesellschaftlich gar nicht statt, ebensowenig in Ostdeutschland. Und in den Familien sowieso nicht.

PATRICIA NOCON

Wie steht denn Ihre eigene Familie zu Polen? Als ich acht Monate alt war, sind meine Eltern nach Deutschland ausgewandert. Aber ich bin in einer Spätaussiedlersiedlung aufgewachsen. In hundert Familien rundherum wurde polnisch gesprochen. Nicht bei uns. Wir waren eine Vorzeigeanpassungsfamilie. In meiner Kindheit sind wir immer wieder mal zu Besuch nach Polen gefahren. Heute kann ich sagen: Ich fühle mich dort extrem wohl. Meiner Art des Seins kommt das Polnische sehr nah. Gefühlt halten die Polinnen und Polen die Widersprüche aus, mit denen ich auch kämpfe. Mir ist ganz vieles vertraut. Darum fällt mir vieles nicht auf. Aber Ihnen fällt auf, dass Ihnen vieles nicht auffällt? Ja. Dieses Jahr haben wir die öffentliche Generalprobe zur Ehrung der Polizisten der Region miterlebt. Die Probe hatte etwas sehr Militärisches. «Bei uns in der Schweiz wäre das total unmöglich», fanden die anderen. Und ich fand: Lustig, für mich gehört das dazu. Aber das heutige Polen ist nur am Rand Thema. Ich möchte Polnisch lernen, weil ich hoffe, mir über die Sprache Zugang zu meiner Geschichte zu verschaffen. So will ich mich an die Themen trauen. In den Proben suchen wir nach Worten. Nach Worten, die sich eignen. Worte, die eine Erzählung bilden, oder Worte, die Verborgenes hochbringen? Beides. Bei den Rechercheinterviews in Polen habe ich gemerkt: Die Leute können darüber reden, aber sie haben keine Gefühle dabei. Und deshalb entstehen bei mir keine Bilder. Wir nähern uns diesen Bildern, suchen mit Worten nach diesen Gefühlen. Wir deklinieren zum Beispiel «Mutter» auf Polnisch – und dann merken wir: Mit der Mutter ist was. Dann stossen wir beim Konjugieren auf das Wort «zurückSurprise 460/19

lassen». Meine Grossmutter hat meinen Grossvater zurückgelassen, das ist wahr. Plötzlich findet man sowas, das für sich stimmt: Meine Grossmutter hat meinen Grossvater zurückgelassen. Und das öffnet das ganze Fass. Auf die Bühne kommt dann eine Art Sprachperformance. Und haben Sie während der Proben jetzt Polnisch gelernt? Ja, ich lerne eine ganze Menge, aber noch immer spreche ich kaum polnisch. Aber wenn ich in Polen bin, wundere ich mich, wie viel da ist. Als ob die Sprache in meinem Körper schlummerte und nun wach wird. Dabei haben wir bei uns zuhause nie polnisch gesprochen. Die Sprache wurde wie unsere Geschichte verbannt. Da fehlt einfach was, war immer mein Gefühl. Und das verunmöglicht ein Ankommen im Jetzt. Bekommen Sie hier in der Schweiz manchmal das Gefühl, dass Sie schwere Traumata mitten auf der Insel der Seligen verarbeiten? So selig ist die Geschichte der Schweiz gar nicht! Ich würde behaupten, das schwerste Trauma hier ist jenes der früheren Armut. Während der Proben habe ich anscheinend

diesen Satz gesagt: «Wir sitzen noch immer am Wohnzimmertisch unserer Eltern.» Da hat unser Filmer, ein Schweizer, ausgerufen: «Genau! Genau!» Manchmal wünsche ich mir einfach, dass wir als Gesellschaft alle zusammen weinen. Das tun wir natürlich nicht, aber es würde uns guttun. Wir müssen uns alle mit unserer Herkunft auseinandersetzen und das Vergangene aufarbeiten. Das ist gesund. Es verhindert den Rechtsrutsch. Wer sich damit auseinandergesetzt hat, muss keine Asylheime anzünden. Sie glauben, Traumabewältigung verhindert Rechtspopulismus und rechte Gewalt? Ja, total. Die Rechten haben Zulauf, weil es nicht passiert. Du kannst dich nicht mit dem Leid von anderen auseinandersetzen, weil das dein eigenes, unverarbeitetes Leid hochbringt. Die Folgen sind Aggression, Wut, Fremdenhass. «Die Polnischstunde», Sa, 16., So, 17., Mo, 18. Nov., jeweils um 19 Uhr, Kaserne Basel, Klybeckstrasse 1b. Eine Veranstaltung im Rahmen von Culturescapes Polen. www.culturescapes.ch

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Explosives Kinderschicksal Kino In Nora Fingscheidts starkem Spielfilmdebüt «Systemsprenger» wehrt sich ein Kind dagegen, von einer Wohngruppe in die nächste abgeschoben zu werden. TEXT MONIKA BETTSCHEN

Wohin mit Benni? Beinahe engelsgleich wirkt das neunjährige Mädchen (eine Wucht: Helena Zengel) neben Frau Bafané vom Sozialdienst, die sie zu ihrer neuen Wohngruppe begleitet. Aber die Filmszenen davor haben bereits drastisch gezeigt, warum bisher Sonderschulen, Wohngruppen und ihre Mutter mit ihr überfordert waren: Benni hat kaum kontrollierbare Wut- und Gewaltausbrüche, sobald sie sich bedroht oder provoziert fühlt. In der Pause schlägt und schreit sie wild um sich. Die beiden Lehrer bringen die Klasse im Gebäude in Sicherheit. Als Benni mit Anlauf einen Bobby Car gegen die Glastür schmettert, beruhigt der eine Pädagoge den anderen mit den Worten: «Keine Sorge, das ist Sicherheitsglas», als würde im Innenhof ein Mob von Hooligans wüten. Frau Bafané (Gabriela Maria Schmeide) informiert den neuen Wohngruppenleiter, dass man Benni wegen eines Kindheitstraumas nicht ins Gesicht fassen dürfe und dass sie auf der Warteliste für eine Therapie stehe, dort aber erst aufgenommen werden könne, wenn sie wieder in stabilen Verhältnissen lebe. Aber wie soll ein Kind zur Ruhe kommen, wenn es aus jeder Betreuungseinrichtung rausfliegt? Hier offenbart der Film die Mängel eines Systems, in dem manche schwer erziehbaren Kinder und Jugendlichen durch jedes Netz fallen. Inoffiziell werden solche Minderjährigen als Systemsprenger bezeichnet. Regisseurin Nora Fingscheidt ist während einer Recherche für einen Dokumentarfilm über wohnungslose Frauen auf diesen Begriff gestossen, als eine erst 14-Jährige in der von ihr besuchten Institution einzog. Systemsprenger. Dieses Wort liess sie nicht mehr los. 24

Ihr Spielfilm-Erstling – mit ausgezeichnetem Casting für alle Rollen – gewährt nun auf der Basis ihrer jahrelangen Recherchearbeit Einsichten in Strukturen, in denen alle Beteiligten gefangen sind, vermeidet es aber, eine Lösung anzubieten. Das ist für den Film eine kluge Entscheidung. «Ich bin keine Fachfrau. Die richtigen Lösungen müssen die Menschen finden, die mit den Kindern arbeiten», sagt Nora Fingscheidt. «Aber meine laienhafte Beobachtung hat mich schon nachdenken lassen über die Arbeitsbelastung der Erzieher und Sozialarbeiter. Wenn man sich um so viele Kinder und dann auch noch um die Bürokratie kümmern muss, bleiben die Kinder auf der Strecke. Es gibt Institutionen, wo nur drei Kinder betreut werden müssen anstatt zehn. Aber diese sind selten und sehr teuer. Die Lösung muss für jedes Kind einzeln getroffen werden, es gibt kein Rezept.» Im Film scheint zumindest Schulbegleiter Micha (Albert Schuch), der sonst mit straffälligen Jugendlichen arbeitet, mit einem Time-out in der Waldhütte zu Bennis verwundeter Seele durchzudringen. Doch verliert er die professionelle Distanz und schlittert wie alle Figuren in ein Dilemma, verursacht durch ein System, an dem Benni mit ihrer Wesensart ziemlich heftig rüttelt. «Systemsprenger» hat in diesem Jahr den Silbernen Bären an der Berlinale gewonnen und geht 2020 für den Oscar in der Kategorie «bester fremdsprachiger Film» ins Rennen.

Nora Fingscheidt: «Systemsprenger», D 2019, 118 Min., mit Helena Zengel, Albrecht Schuch, Gabriela Maria Schmeide u. a. Der Film läuft zurzeit im Kino.

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Die Schweiz schreibt Seit 2013 rüttelt das

Online-Magazin delirium am Sockel der Literaturkritik und regt dazu an, mit eigenen Beiträgen den Geniekult zu brechen. Der Kauf eines Buches beginnt oft mit der Lektüre einer Literaturkritik. Aber das sollte nicht die einzige Aufgabe einer Rezension sein: Davon sind die Macherinnen und Macher des halbjährlich erscheinenden Online-Magazins delirium überzeugt. Ihr Ziel es ist, die Inhalte von Literaturkritik zu revidieren. «Im deutschsprachigen Raum lesen sich Kritiken heute eher wie Kaufempfehlungen. Dabei wäre es ihre Aufgabe, den Fokus auf den Schreibprozess zu richten und damit engagierte öffentliche Debatten darüber anzustossen, was gute oder was schlechte Literatur kennzeichnet», sagt Cédric Weidmann, Redaktor beim Magazin delirium, das innerhalb der Literaturszene einen Geniekult ortet, den es zu brechen gelte. Wie der Name es vermuten lässt, ist die Strategie, mit der delirium am Sockel etablierter Ansichten rüttelt, von einer die Sinne überwältigenden Beschaffenheit: Geht man auf die Startseite der Website, füllt sich der Bildschirm mit unzähligen kleinen Fenstern mit den Titeln erschienener Beiträge. Diese stammen aber nicht von der Redaktion, sondern von den Lesenden des Magazins. Die Hauptbedingung dabei: Jeder literarische Text muss sich auf einen bereits publizierten Beitrag beziehen. Der Bezug kann tiefgreifend und offensichtlich sein oder beinahe an den Haaren herbeigezogen. Diese pausenlose Aneinanderreihung von Bezügen treibt wie ein üppiger Wildrosenstrauch laufend neue Blüten, was von der delirium-Redaktion genau so beabsichtigt ist. «Jeder Text ist eines von vielen Bindegliedern einer Kette, wovon jedes den gleichen Stellenwert hat. Indem man bereits existierende Ideen weiterentwickelt, beteiligt man sich an einem kollektiven Schreibprozess und unterstützt damit eine Kultur der Kritik, in der es nicht mehr nur einigen Auserwählten vorbehalten bleibt, öffentlich eine Meinung über Literatur zu äussern», sagt Weidmann. «Alle, die Lust auf literarische Gedankenspiele und anregende Auseinandersetzungen haben, sind willkommen, delirium um neue Bezüge zu erweitern.» MONIK A BET TSCHEN

Die nächste Ausgabe N°11 von delirium erscheint im Oktober. www.delirium-magazin.ch

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Kino Die schwedische Regisseurin und Künst-

lerin Anna Odell ergründet in «X&Y» Identität und Macht in einer Versuchsanordnung. Wie ein Ehepaar streiten sich Jens und Vera im Schlafzimmer: Er fühlt sich von ihr ignoriert. Sie kontert: «Ich sehe dich so, wie man auf sein beschämendes Selbst schaut». Dann schaltet sich Sofie ein: «Wir müssen auch die sinnlosen, hässlichen Aspekte unserer selbst akzeptieren.» Die Szene zeigt keinen Ehekrach, sondern eine heftige Auseinandersetzung von drei Alter Egos der Regisseurin Anna Odell. Dargestellt werden sie von Schauspielerinnen und Schauspielern, die in Skandinavien grosse Bekanntheit haben (Jens Albinus, Vera Vitali, Sofie Gråbøl). Das filmische Vorhaben dieser absurd-witzigen Konstellation: Odell will einen «Kunst-Film» drehen, worin sie Geschlechterrollen, gesellschaftlich konstruierte Identität und Machtgefälle hinterfragt. Sie schickt zwei Archetypen ins Studio und kehrt die Machtsituation zwischen ihnen um. Will heissen: Der schwedische Schauspieler Mikael Persbrandt – «Alpha-Mann», Sexsymbol mit tätowierten «Kriegswunden» und einer exzessiven Vergangenheit – trifft auf Anna Odell, die sich selbst spielt und die die Öffentlichkeit als leicht übergeschnappte, labile Künstlerin kennt. Dazu kommt, dass beide von je drei Figuren flankiert werden, die verschiedene Facetten ihrer Persönlichkeit verkörpern: Persbrandt bekommt ein intelligentes, ein destruktives und ein kreatives, theaterliebendes Alter Ego. Zu acht bewegen sich all die Egos nun im Filmstudio. Odell verteilt weder Skript noch Regieanweisungen. Bald kommen Zweifel an ihrer Autorität, ihrem Vorgehen auf. Ebenso sexuelle Bedürfnisse. Spätestens als Odell schwanger am Set auftaucht und von einem «Kunstbaby» spricht, geraten sich alle in die Haare: Persbrandt ist ausser sich und irritiert, während Intellekt- und Trieb-Egos ins Schleudern kommen mit ihren Rollen. Die künstlerischen Alter Egos haben da schon längst das Feld geräumt. Und die Grenzen zwischen Fiktion und Realität, zwischen Kunstprojekt und Reality-TV, zwischen Experimentierfreude und Exhibitionismus verschwimmen zusehends. K ATJA ZELLWEGER FOTO: OUTSIDE THE BOX

ILLUSTRATION : TILL LAUER FOTOS: CINEWORX

Über Literatur debattieren

Im Kreis der Alter Egos

Anna Odell: «X&Y», S/DK, 2018, 112 Min, mit Mikael Persbrandt, Anna Odell, Trine Dyrholm u a. Der Film läuft zurzeit im Kino.

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BILD(1): MIGROS-GENOSSENSCHAFTS-BUND, MGB-ARCHIV, BILD(2): SOPHIE CALLE/ADAGP PARIS 2019, COURTESY THE ARTIST & PERROTIN, BILD(3): ERIVER HIJANO

Veranstaltungen

Kriens LU «Shopping Center – zur Zukunft des modernen Marktplatzes», Mi bis Fr 14 bis 17 Uhr, Sa und So 11 bis 17 Uhr, bis So, 10. November, Museum im Bellpark, Luzernerstrasse 21. bellpark.ch

Ein Ort, an dem sich soziale, architektonische und ökonomische Utopien und Projektionen treffen – den müsste man erfinden, wollte man eine gute Geschichte erzählen. Doch es gibt ihn bereits, diesen Ort: das Shopping-Center. Die Konsumtempel wuchsen ab den 70er-Jahren meist am Rande von Autobahnen fast wie von selbst aus dem Boden und kamen einer Verheissung gleich, dass es einem auf diesem Planeten nie mehr an Materiellem mangeln würde. Heute hat sich das mit dem Internetshopping ein bisschen verlagert, und mit etlichen Shopping-Centers geht es bergab. Aber noch gibt es sie, und sie erzählen von Modernisierungsgedanken, Freizeitgestaltung, von Menschen mit Geld und solchen ohne (denn Teenies und Obdachlose können hier auch gratis herumhängen). Im Museum im Bellpark lässt sich zurückverfolgen, wie man mit dem Shopping Spreitenbach und DIF vielen mehr das Paradies auf Erden zu erschaffen hoffte.

Thun «Sophie Calle – Regard incertain», Ausstellung, bis So, 1. Dezember, Di bis So 10 bis 17 Uhr, Mi 10 bis 19 Uhr, Kunstmuseum Thun, Thunerhof, Hofstettenstr. 14. kunstmuseumthun.ch

und hielt filmisch den Moment fest, in dem sie zum ersten Mal auf die Weite des Wassers blickten. Ein stiller Moment, der ein Weltbild verändern kann. «Regard incertain» ist die erste Einzelausstellung von Sophie Calle, die eine der wichtigsten französischen Künstlerinnen der Gegenwart ist. DIF

Zürich «sogar feiern – Saisonstart und Hauseinweihung», Sa, 19. Oktober, ab 17 Uhr, Eintritt frei, sogar theater, Josefstrasse 106. sogar.ch Sophie Calles Videoarbeit «Voir la mer, Jeune fille en rouge (détail), 2011» (Kamera: Caroline Champetier) zeigt einen auf unerwartete Weise intimen Moment: Tatsächlich hat Calle in Istanbul Einwohnerinnen und Einwohner gefunden, die – aus den verschiedensten Gründen – das Meer noch nie gesehen haben. Sie führte sie mit verbundenen Augen zum Strand

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Das sogar Theater startet in die erste Saison nach der Umbaupause: mit Spoken Word von Laurence Boissier, Gerhard Meister und Anna Trauffer am Kontrabass, mit Grussworten der Schriftstellerin Dragica Rajčić und dem «sogar Chor» unter der Leitung von Sibylle Aeberli. Die Vorstellung von Jens Nielsens «Lomonossow» ist ausverkauft, steht aber ab Do, 7. November weiterhin

auf dem Spielplan: Ermordete, erfrorene, noch lebende und unsterbliche Ozeanografen, dänische Spioninnen, Gletschernymphen und Ex-Panzerfahrer unterhalten sich da mit einem aufgetauten und erstaunlich entspannten Mammut über persönliche Probleme, Bodenschätze am Nordpol und den Klimawandel. Ab Do, 24. Oktober kommt Melinda Nadj Abonjis «Soldat Kertész!» auf die Bühne. Es ist ein trauriger Monolog, obwohl zwei Männer auf der Bühne stehen. Einer kann aber nicht mehr sprechen, knetet dafür Teig und bäckt den ganzen Abend. Der andere stemmt siebzig Minuten Text, bleibt ansonsten aber unbeholfen. Und nach und nach füllen Text wie Duft den DIF Raum.

Münchenstein/Basel «Lawrence Lek: Farsight Freeport», Ausstellung bis So, 10. November, Mi bis So, 12 bis 18 Uhr, Haus der elektronischen Künste Basel HeK, Freilager-Platz 9, Münchenstein. hek.ch Ab ins Jahr 2065: Der Multimedia-Künstler, Filmemacher und Musiker Lawrence Lek schickt die Zuschauer in virtuelle Welten, in denen künstliche Intelligenz alles diktiert – sämtliche gesellschaftlichen, industriellen und ökonomischen Lebensbereiche. Mittels Videoinstallationen, ComputerGames und VR-Installationen schafft Lek Zukunftsszenarien, die er aus aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen quasi hochrechnet. Er interessiert sich speziell für die Auswirkungen auf die Automatisierung von Arbeit und befasst sich

mit dem Zusammenspiel von Politik, Technologie und kultureller Produktion. Der in London lebende Künstler schafft mit seinen immersiven Welten und elektronischen Soundtracks seit Jahren eine eigenständige bildnerische Sprache. «Farsight Freeport» ist seine erste Einzelausstellung in der Schweiz. DIF

Zürich «100 Jahre Wohnbaugenossenschaften Zürich», Ausstellung, Debatten und Feste, bis Fr, 31. Januar 2020, Haus Bellerive, Höschgasse 3. genossenschaft-bellerive.ch «Wie wollen wir wohnen?» Die Frage ist nicht nur eine persönliche, sondern auch eine soziale, politische, finanzielle, weltanschauliche. Die Ausstellung im Haus Bellerive zeigt die Meilensteine des gemeinnützigen Wohnungsbaus der letzten hundert Jahre, und geht vielen weiteren Fragen nach, zum Beispiel der: «Wann und wie wird Wohnen geDIF sellschaftlich relevant?»

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Wohnungen, die in der Stadt Mangelware sind. Eine Siedlung liegt am Saurierweg. Welches Kind wollte nicht am Saurierweg wohnen? Der Name ist jedoch keine Marketingmassnahme einer auf Emotionen spekulierenden Immobilienfirma. Frick ist eine Sauriergemeinde. Im Jahr 2017 wurde hier das 200 Mio. Jahre alte Skelett eines fleischfressenden Sauriers ausgegraben, seit dem 8. Juli 2019 trägt er den offiziellen Namen «Notatesseraeraptor frickensis». Im Sauriermuseum ist das vollständige Skelett eines ebenfalls hier ausgegrabenen Plateosaurus zu bestaunen. Es ist ein geschichtsträchtiger, lehmiger Boden. Das Einkaufszentrum coopensis wird es in 200 Mio. Jahren voraussichtlich nicht mehr geben, die Knochen des Homo Sapiens hingegen werden hier gut aufgehoben sein und Aufschluss über seine Lebensweise geben.

Tour de Suisse

Pörtner in Frick Surprise-Standorte: Coop, Hauptstrasse 37 Sozialhilfequote in Prozent: 3,1 Anteil Ausländerinnen und Ausländer in Prozent: 26,1 Durchschnittliche Monatsmiete 3-ZW in CHF: 1260 ältester Mythos: Wilhelm Tell war ein ausgewanderter Fricktaler

Es herrscht das typische Schweizwetter, Bewölkung, leichter Regen. Kein Postkartenwetter, sondern die Ganzjahreszeit, die mal wärmer, mal kühler ist und unterbrochen wird von Hitze- oder Schneetagen. Ein Wetter geeignet, Fernweh oder schlechte Laune hervorzurufen. Die Surprise-Verkäuferin hat sich ins Innere des kleinen Einkaufszentrums verzogen. Eine halbe Treppe abwärts steht eine weisse Schaufensterpuppe im Sommerkleid, flankiert von zwei Paar an der Taille abgesägten Unterkörpern in löchrigen Jeans. Sie werben diskret und etwas unmotiviert für das gegenüberliegende Outlet. Hinauf führt die Treppe ins Grossverteiler-Restaurant, das die Funktion der Dorfbeiz übernommen hat. Mütter mit Surprise 460/19

Kindern, Handwerker in Arbeitskleidung, Frauen mit Kurzhaarfrisuren, Männer in karierten Hemden, Rentnerpaare. Sogar der Hund darf mit, solange er im eigens dafür vorgesehenen und mitgebrachten Hunderucksack bleibt. Auf dem Menüplan steht das durchgebrandete Mahl einer weltbekannten Pastafabrik, Teigwaren und Sauce, alles aus einem Haus, aus einem Guss, zum Nachkochen zuhause. Ein Vater schneidet dem einen Sohn das Schnitzel, während der andere mit dem Handy ein Foto davon macht. Familienerinnerungen. Das Dorfbild ist intakt, es gibt stattliche und einfache alte Häuser, es gibt Neubauten, zu vermieten sind hier die 4,5-Zimmer-

Noch aber ist die Spezies munter unterwegs, ein Geschäft bietet die in Ungnade gefallenen Mofas an. Die Fahrt ins Tessin, einst so eine Art Reifeprüfung für junge Männer, stilecht wurde dabei der Schlafsack vorne auf den Lenker im Chopper-Stil gebunden, schlägt mit 150 Franken für drei Tage Miete zu Buche. Ein ehrgeiziges Programm. Gewisse Erlebnisse sind wohl zeit- und altersgebunden und können nicht nachgeholt werden. So toll war es nun auch wieder nicht und nur aufgrund mangelnder Lebenserfahrung und Alternativen ein grosses Abenteuer. Immerhin fährt ein leuchtoranges Mofa um den Kreisel, leider nur eine Dreiviertelrunde, denn auch das war einst ein Zeitvertreib: Mit dem Mofa um den Kreisel fahren, bis einem schwindlig wird, das Benzin ausgeht oder die Anwohner protestieren und die Polizei kommt. Für solchen Unfug mietet ganz bestimmt niemand ein Mofa, schon gar nicht bei diesem Wetter.

STEPHAN PÖRTNER

Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Beat Vogel, Fundraising-Datenbanken, Zürich

02

Echtzeit Verlag, Basel

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Waldburger Bauführungen, Brugg

04

Rhi Bühne Eglisau

05

Scherrer & Partner GmbH, Basel

06

Philanthropische Gesellschaft Union Basel

07

Mitarbeitende Forbo Siegling CH, Wallbach

08

TopPharm Apotheke Paradeplatz

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Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti

10

RLC Architekten AG, Winterthur

11

Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

12

LIVEG Immobilien GmbH, Adliswil

13

VXL, gestaltung und werbung, Binningen

14

Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

15

Brother (Schweiz) AG, Dättwil

16

Kaiser Software GmbH, Bern

17

Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

18

Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

19

Physiopraxis M. Spring/S. Zeugin, Basel

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Maya-Recordings, Oberstammheim

21

Cantienica AG, Zürich

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Madlen Blösch, Geld & so, Basel

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Schluep & Degen, Rechtsanwälte, Bern

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Ozean Brokerage & Shipping AG, Muttenz

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InhouseControl AG, Ettingen

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Der Weg in die Armut führte für Daniel Stutz über die Sucht. Als Jugendlicher rutschte der heute 44-Jährige in die Spielsucht und später in den Konsum harter Drogen. Dank einer Therapie schaffte er vor 7 Jahren den Ausstieg. Geblieben ist dem Zürcher Surprise-Verkäufer und -Stadtführer ein Schuldenberg. «Den Weg aus der Sucht habe ich hinter mir, der Weg aus der Armut liegt noch vor mir», beschreibt Daniel seine Situation. SurPlus gibt ihm dabei Rückenwind: «Es ermöglicht mir hin und wieder Ferien. Ausserdem bedeutet es, auch einmal krank sein zu dürfen – ohne gleich Angst haben zu müssen, die Miete oder Krankenkasse nicht zahlen zu können.»

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 15 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise

Strassenmagazin

#458: Das Zerrbild der Gerontokratie

«Tatsächliches Zerrbild»

«3 Mal Bravo» Einmal den Verkäuferinnen und Verkäufern, Menschen, die sich nicht unterkriegen lassen und die das Stadtbild beleben durch ihre Präsenz und Einzigartigkeit. Dann für die Artikel: Als Fachjournalist und Deutschlehrer staune ich über das hohe journalistische und inhaltliche Niveau, ideal für den Deutschunterricht oder für die eigene Lektüre. Und schliesslich für die ganze Organisation, das Verkaufsmanagement und auch das Surplus, so wichtig für die Schweiz, in der es auch Menschen gibt mit besonderen Schicksalen, die trotz allem Sozialstaat durch dessen Maschen fallen. Weiter so, noch mehr so, noch lange so: 3 Mal Bravo! T. STÖCKLI, Solothurn/Bellach

#457: Räume und Träume

«In die Höhe bauen» Der grosse Vorteil der Tilla ist sicherlich der kleine Raum, der geheizt werden muss. Was aber den Platzbedarf anbelangt, sind die 300 Quadratmeter Boden, worauf sie steht, enorm. Wir können uns den Landverschleiss schlichtweg nicht mehr leisten. Es schleckt keine Geiss weg: Die Ausnützungsziffer muss erhöht, es muss in die Höhe gebaut werden. Die Bevölkerung wächst erschreckend schnell. Und wenn der ganze Boden zugebaut ist, stellt sich dann die Frage: Wie können in Zukunft all die Menschen ernährt werden? G. CORNU, Felben-Wellhausen

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Diana Frei (dif) Klaus Petrus (kp), Sara Winter Sayilir (win) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Semhar Negash, Stephan Pörtner, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Christine Barbeau, Milton Fernandes, Jonathan Liechti, Peter Reichen, Roland Reichen, Luca Schenardi, Benjamin von Wyl, Katja Zellweger,

Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name

Strasse

Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik

Vorname, Name

Auflage 26 000 Abonnemente CHF 189, 25 Ex./Jahr

Anm. d. Red.: Wir entschuldigen uns für das fehlende Komma. Es müsste natürlich 2,468 Millionen respektive 2,947 Millionen heissen.

25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen

PLZ, Ort

Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach

C. FR AUCHIGER, Gipf-Oberfrick

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Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

Druck AVD Goldach

Heute habe ich das neue Strassenmagazin von Ihrem immer freundlichen Verkäufer in Frick gekauft. Das Editorial ist mir aus dem Herzen geschrieben. Danke! Etwas Mühe habe ich mit den Zahlenangaben in Prof. Knöpfels Text auf Seite 8. Es muss sich da tatsächlich um ein Zerrbild der Gerontokratie handeln, wenn die Zahl der über 55-Jährigen stimmberechtigen Schweizer (steht auch für -innen) bis zum nächsten Jahr auf 2468 Millionen steigen soll. Ich bin nicht immer auf dem neuesten Stand, aber meines Wissens liegt die gesamte Wohnbevölkerung in der Schweiz zurzeit bei ca. 8 Millionen. Woher sollten da die restlichen 2460 Millionen alten Leute herkommen? Für das Jahr 2040 werden dann sogar 2947 Millionen Senioren prophezeit! Immerhin klärt die Grafik den verblüfften Leser dann ein wenig auf.

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Bitte heraustrennen und schicken an: Surprise, Münzgasse 16, CH-4051 Basel, info@surprise.ngo

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FOTO: MILTON FERNANDES

Internationales Verkäuferinnenporträt

«Es ist anstrengend, ich zu sein» Linda Pelletier war noch nie auf Rosen gebettet. Für ihre Kindheit findet die 64-jährige Kanadierin aus Montréal nur ein Wort: fürchterlich. Als sie vier oder fünf Jahre war, begann ihr Vater, sie zu schlagen und zu missbrauchen. Im Alter von zehn zog ihre Mutter aus dem Haus. Beim Abschied sagte sie zu Linda, sie solle ihren Vater jede Nacht umarmen und ihm sagen, wie sehr sie ihn liebe. Weil sie aber den Mann, der sie jeden Tag aufs Neue schlug, nicht lieben konnte, hatte Linda Schuldgefühle und entwickelte ein geringes Selbstwertgefühl. «Ich kann auf alten Fotos sehen, dass ich ein schönes Mädchen war. In Wahrheit fand ich mich hässlich. Ich hasste alles an mir.» Sie habe nur überlebt, weil sie mit der Zeit gelernt habe, sich von aussen zu betrachten, erzählt Linda. «Ich bin wie aus meinem Körper herausgeschlüpft und habe gesehen, was dieser Mann mit dem kleinen Mädchen angestellt hat.» Sie begann, ihre Geschichte in einer Gruppe von Inzestopfern zu erzählen. «Mir war, als würde ich über jemand anderen reden, wenn ich über mich selbst sprach. Ich war überrascht, als die Leute mir applaudierten.» In ihrer Jugend konsumierte Linda einen «Berg von Drogen», wie sie selber sagt. Eines Tages kehrte sie zu ihrer Mutter zurück. «Ich wollte, dass sie zu mir sagt, sie würde sich Sorgen um mich machen. Aber sie tat es nicht. Sie machte bloss Witze, nahm mich gar nicht ernst.» Mit 25 hatte Linda auf einer Reise nach Ägypten eine Psychose und musste in eine psychiatrische Klinik. Es folgten Jahre tiefer Depression und Linda unternahm etliche Selbstmordversuche. Auch heute denkt sie manchmal noch daran. Doch inzwischen sieht sie im Selbstmord nur noch eine Flucht. «Ich weiss, dass ich es nicht noch einmal versuchen werde.» Linda gehört zu den «Edelfedern» von L’Itinéraire, dem Strassenmagazin, in dem Betroffene auch selber schreiben dürfen. «Es ist ein wunderbares Magazin und bietet uns eine Plattform, um den Menschen zu erzählen, wie es ist, auf der Strasse zu leben. Oder wie Kinder – wie in meinem Fall – Opfer von Missbrauch, Gewalt oder Demütigung werden.» Doch nicht alles sei so dunkel, sagt Linda. Das Schreiben helfe ihr, mit Humor über ihr Leiden zu berichten.» Zwei ihrer Geschichten wurden 2017 in einer Anthologie von L’Itinéraire veröffentlicht. 30

Linda Pelletier, 64, verkauft in Montréal das Strassenmagazin L’Itinéraire und entdeckt endlich ihre eigene Schönheit.

Einmal pro Woche trifft sich Linda mit einer Sozialarbeiterin, was für sie sehr wichtig ist. Der Gedanke, plötzlich wieder alleine dazustehen, versetzt sie immer noch in Panik – als würde sie ohne Fallschirm in die Tiefe fallen. «Mir fehlt es an Selbstvertrauen. Ich mache mir ständig Gedanken darüber, ob ich das Richtige getan habe. Oder ob das, was ich gesagt habe, in Ordnung war. Es ist anstrengend, ich zu sein.» Ihre Sozialarbeiterin habe ihr ein Blatt gegeben, auf dem steht: «Du musst nicht perfekt sein» und «Du darfst Fehler machen». Das habe ihr sehr geholfen. Je älter sie wird, umso glücklicher ist Linda. «Ich glaube, dass ich eine schöne Frau bin. Eigentlich ist es eine Schande, dass ich dies erst im Alter von 64 Jahren erkannt habe», sagt sie mit einem Lächeln. «Ich werde in Weisheit und Anmut altern.»

Mit freundlicher Genehmigung von L’ITINÉR AIRE / INSP.NGO

Aufgezeichnet von CHRISTINE BARBEAU Übersetzt von KL AUS PETRUS

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SAMSTAG, 26. OKTOBER PFARREISAAL BRUDER KLAUS, RHEINSTRASSE 20, 4410 LIESTAL PREISE: CHF 20.– (AHV, IV, KULTURLEGI, KINDER BIS 16 JAHRE: ERMÄSSIGT CHF 15.–) UNNUMMERIERTE PLÄTZE 19 UHR TÜRÖFFNUNG, 19.30 UHR APÉRO MIT JUBILÄUMSÜBERRASCHUNG, 20.15 UHR KONZERTBEGINN surprise.ngo

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Foto Guido Schärli

10 JAHRE SURPRISE STRASSENCHOR


Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren. BETEILIGTE CAFÉS IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstrasse 18 | Bäckerei KULT «Elsi», Elsässerstrasse 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Café Bohemia, Dornacherstr. 255 Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 | Kiosk Amann, Claragraben 101 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Badischer Bahnhof | Rest. Manger & Boire, Gerbergasse 81 | Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 | Café Spalentor, Missionstrasse 1 | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | Treffpunkt Breite, Zürcherstrasse 149 IN LENZBURG feines Kleines, Rathausgasse 18 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4-Markt Baselstrasse, Baselstr. 66 | Restaurant Quai4, Alpenquai 4 | Quai4-Markt Alpenquai, Alpenquai 4 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbad Volière, Inseli Park | Restaurant Brünig, Industriestrasse 3 | Arlecchino, Habsburgerstrasse 23 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN BERN Café Kairo, Dammweg 43 | Café MARTA, Kramgasse 8 | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa Lorraineladen, Lorrainestr. 23 | Luna Llena Gelateria Rest. Bar, Scheibenstr. 39 | Rest. Genossenschaft Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Rest. Löscher, Viktoriastr. 70 | Rest. Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestrasse 20 | Becanto GmbH, Bethlehemstrasse 183 | Phil’s Coffee to go, Standstrasse 34 IN BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Quartiertreff Enge, Gablerstrasse 20 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 | Kafi Freud, Schaffhauserstrasse 118 | Kumo6, Bucheggplatz 4a | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistrasse 76 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestrasse 47 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11 IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique & café, Bernstrasse 2 IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstrasse 3a

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise


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