Surprise Nr. 459

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Strassenmagazin Nr. 459 20. Sept. bis 3. Okt. 2019

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Elektrosensibilität

Verstrahlt Wer hochsensibel auf Mobilfunkstrahlung reagiert, hat mächtige Gegner und keine Lobby. Betroffene erzählen. Seite 8

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GESCHICHTEN VOM FALLEN UND AUFSTEHEN Kaufen Sie jetzt das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» und unterstützen Sie einen Verkäufer oder eine Verkäuferin mit 10 CHF. «Standort Strasse» erzählt mit den Lebensgeschichten von zwanzig Menschen, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Porträts aus früheren Ausgaben des Surprise Strassenmagazins ergänzen die Texte. Der Blick auf Vergangenheit und Gegenwart zeigt selbstbewusste Menschen, die es geschafft haben, trotz sozialer und wirtschaftlicher Not neue Wege zu gehen und ein Leben abseits staatlicher Hilfe aufzubauen. Surprise hat sie mit einer Bandbreite an Angeboten dabei unterstützt: Der Verkauf des Strassenmagazins gehört ebenso dazu wie der Strassenfussball, der Strassenchor, die Sozialen Stadtrundgänge und eine umfassende Beratung und Begleitung. 156 Seiten, 30 farbige Abbildungen, gebunden, CHF 40 inkl. Versand, ISBN 978-3-85616-679-3 Bestellen bei Verkaufenden oder unter: surprise.ngo/shop Weitere Informationen T +41 61 564 90 90 | info@surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: Surprise NGO

Kultur

Solidaritätsgeste

STRASSENCHOR

CAFÉ SURPRISE

Lebensfreude

Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

Unterstützung

Job

STRASSENMAGAZIN Information

Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten

STRASSENFUSSBALL

Expertenrolle

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE Perspektivenwechsel

SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Erlebnis


TITELBILD: ALINA GÜNTER

Editorial

An verschiedenen Fronten Print lebt. Das sagen neue Studien aus den USA, wo sich 30 Prozent der Millennials allen Unkenrufen zum Trotz ausschliesslich über Printmedien informieren und eine gedruckte Anzeige weitaus mehr Aufmerksamkeit geniesst als eine digitale. Und das sagen wir: Unsere beglaubigte Auflage hat sich im letzten Jahr um 7 Prozent erhöht – um rund 1000 Exemplare pro Heft. Offenbar gibt es ein beständiges Interesse am gedruckten Wort, an Geschichten mit Tiefgang und Inhalt, an Offline-Lesevergnügen mit Haptik. Das freut uns. Ohne Sie, liebe Leserinnen und Leser, wäre dies nicht möglich: Herzlichen Dank für Ihr Vertrauen und Ihr Interesse an unabhängigem Magazinjournalismus. Unser Dank gilt auch unseren über 400 Verkaufenden, ohne deren Durchhaltewillen und Verkaufstalent wir gar nicht erst bei Ihnen ankämen, sowie den zahlreichen freien Journalistinnen, Fotografen und Illustratorinnen, deren Arbeit die unsere erst ermöglichen. Print hat Potenzial, das ist hiermit erwiesen.

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

Kriminalisierte Solidarität

12 Elektrosensibilität

Widerstand der Kranken

Der Einsamkeit entfliehen

Für elektrosensible Menschen erscheint die Einführung von 5G, die derzeit in der Schweiz diskutiert wird, wie ein weiterer Angriff auf ihre Gesundheit. Doch Elektrosensibilität ist hierzulande noch nicht als Krankheit anerkannt. Also kämpfen die Betroffenen an zwei Fronten gleichzeitig: an der gesundheitlichen Front und an der Front gesellschaftlicher Anerkennung. Was das bedeutet, lesen Sie ab Seite 8.

SAR A WINTER SAYILIR

Redaktorin

22 Ausstellungen

Körper, die verschwanden

Cambridge, England

27 Tour de Suisse

24 Kunst

Lomaskos unorthodoxer Blick auf Russland 25 Buch

7 Auf Reisen

26 Veranstaltungen

Basel SBB 16 Mongolei

Landflucht 6 Challenge League

Es gibt Menschen, die leiden an Symptomen, für die es keine Erklärung gibt. Sie reagieren hochempfindlich, fühlen sich dauererschöpft und ausgebrannt. Sie suchen nach Ursachen für ihr Leiden, doch oft kann niemand helfen. Bis sie in einem Funkloch stehen und feststellen: Hier ist es besser, die Schmerzen sind weg, die Müdigkeit klingt ab.

Hinschauen und Zuhören

28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt

8 Elektrosensibilität

Gesundes Heim

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25 Die Schweiz schreibt

Die Locke, die sich aus der Frisur löst

«Der beste Job der Welt»

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Aufgelesen News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

«Es ist wichtig, dass wir die Kontrolle über unsere Ängste haben und nicht die Angst über uns. Denn wenn wir von Angst beherrscht werden, können wir nicht mehr leben, keinen Widerstand mehr leisten, nichts mehr tun.» Janna Jihad, 13, Social-Media-Aktivistin aus Nabi Salih, Westbank, Palästina

STREET ROOTS, PORTLAND

Ein buntes Team «Wir sind ein ziemlich buntes Team mit Spielern aus Afghanistan, Eritrea, Albanien, Syrien und der Schweiz», sagte Axel Woltmann in einem Interview mit Tony Inglis vom INSP anlässlich der Strassenfussball-Weltmeisterschaft im walisischen Cardiff diesen August. Woltmann war mit seinen 55 Jahren der älteste Spieler der Schweizer Nationalmannschaft. Der gebürtige Deutsche zog vor vielen Jahren in die Schweiz, hatte aber Probleme, einen Job zu finden. Wie im Leben, so weiss Woltmann auch im Spiel mit Niederlagen umzugehen. Das gehöre zum Fussball, es gehe einfach darum, jedes Spiel zu geniessen, meint Woltmann. «Das ist das Wichtigste: Tue dein Bestes und finde Freunde.»

ISPN, GLASGOW

4

Platz 15 fürs Schweizer Team an der Strassenfussball-WM.

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Unverändert hoch

Mehr als eine halbe Million Wohnungslose leben in den USA. Laut der aktuellen Stichtagszählung waren am 21. Dezember letzten Jahres 553 000 Menschen betroffen. Ein Drittel von ihnen lebte ungeschützt auf der Strasse, ein Fünftel war minderjährig. Die Gesamtzahl blieb in den vergangenen Jahren weitgehend unverändert. Das Problem der Wohnungslosigkeit konzentriert sich vor allem auf die grossen Städte und die Bundesstaaten Kalifornien und New York, wo insgesamt vierzig Prozent der Betroffenen leben.

Vor Gericht BODO, BOCHUM/DORTMUND

Stark gestiegen

Nach aktuellen Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe waren insgesamt im Jahr 2017 in Deutschland rund 650 000 Menschen von Wohnungslosigkeit betroffen. Das sind zwanzig Prozent mehr als im Vorjahr. Die meisten lebten in Notunterkünften, davon 22 000 Kinder und Jugendliche. Hauptgründe für den Anstieg sind der Mangel an günstigem Wohnraum, weniger Sozialwohnungen sowie die Verfestigung von Armut.

FIFTYFIFTY, DÜSSELDORF

Sprachlos

Sprachen lernen wird in Grossbritannien immer mehr ein Privileg der bessergestellten Kinder, die von ihren Eltern auf Privatschulen geschickt werden können. Seit 2013 hat sich das Angebot der staatlichen Schulen, Deutsch und Französisch zu unterrichten, in England fast halbiert. 41 Prozent der schottischen Schulen antworteten auf eine BBC-Befragung, dass sie mindestens einen Fremdsprachenkurs gestrichen hätten. Ähnlich sieht es in Nordirland aus.

THE BIG ISSUE, LONDON

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Kriminalisierte Solidarität Als 1998 ein Boot mit Hunderten Kurden am Strand bei Riace landete, war das Kaff an der Küste Kalabriens so gut wie tot. Mehr als zwei Drittel der einst 3000 Bewohnerinnen waren weg. Geflüchtet vor der Perspektivlosigkeit, der Mafia. Da hatte Domenico Lucano, Lehrer an der Dorfschule, eine Idee: Man könnte den Ort mit den Menschen, die immer zahlreicher übers Meer kamen, neu beleben. Er gründete den Verein «Città Futura», Stadt der Zukunft. Den Bewohnerinnen gefiel’s – sie wählten Lucano 2004 zum Bürgermeister. Das Dorf erblühte, zählte wieder bis zu 2400 Einwohner, diente rund 6000 Migrierenden als Durchgangsheim. Das Modell: Die Gemeinde überliess den Angekommenen mit der Einwilligung der Weggezogenen die leeren Häuser. Für 250 Euro monatlich mussten die Geflüchteten Italienisch lernen und in den kommunalen Einrichtungen arbeiten. Siebzig Stellen für «kulturelle Mediatorinnen» entstanden, Lehrer, Therapeutinnen, Laufbahnberater. Die Mittel stammten aus Fördergeldern des Innenministeriums und EU-Beiträgen. Nicht allen passte diese «utopische Realität», wie Lucano es nannte. Die Mafia vergiftete seine Hunde. Auch von offizieller Seite geriet die inzwischen weltbekannte multikulturelle Idylle unter Verdacht. Nicht erst unter dem für seinen Rassismus berüchtigten ehemaligen In-

nenminister Matteo Salvini. Schon sein sozialdemokratischer Vorgänger hatte die Zahlungen aus Rom teils eingestellt und Rechenschaftsberichte verlangt. Nie wurden Unregelmässigkeiten festgestellt. «Xenia», altgriechisch für Gastfreundschaft, hiess dann die Operation der örtlichen Staatsanwaltschaft wegen Korruption, Erpressung, Veruntreuung – unter anderem. Der Untersuchungsbericht stellt das ganze «Modell Riace» als kriminelle Vereinigung dar. In fünfzehn Punkten wollten die Staatsanwälte Anklage erheben, dreizehn davon verwarf der Untersuchungsrichter. Die Reaktionen auf Lucanos Verhaftung im Oktober 2018 waren heftig. Unter #iostoconmimmo unterstützten Tausende den abgesetzten und unter Hausarrest gestellten Bürgermeister. Tatsächlich legt der Eifer, mit dem Lucano verfolgt wird, nahe, dass diese Justiz nicht nur dem Recht verpflichtet ist. Hier steht mehr vor Gericht als ein Mann. Es geht um die Deutungshoheit der Gegenwart. Lucano selbst nutzte die Prozesseröffnung am 11. Juni 2019 für eine Botschaft: Es gebe Lösungen, um der Herausforderung der Einwanderung ohne Hass zu begegnen. Der Prozess wird sich wohl über Jahre hinziehen. Für Riace ist es schon zu spät. Bürgermeister ist nun der von der Lega unterstützte Dorfpolizist. Die meisten Geflüchteten sind weggeschafft. Lucano wurde derweil für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.

Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin

in Zürich

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Challenge League

Der Einsamkeit entfliehen In der Kultur vieler eritreischer Ethnien spielt die Familie bei der Hochzeit eine wichtige Rolle. Diese reicht vom Suchen eines geeigneten Ehepartners über die Planung und Durchführung der Hochzeit bis zum Aufbau der neuen Familie. Es gibt die standesamtliche und die innerhalb der Glaubensgemeinschaften geschlossene Trauung. Praktiziert wird meist nur die zweite Variante. Es ist ein grosser Traum vieler Eltern, die Hochzeit ihrer Kinder zu erleben. Die Verantwortung für eine gelungene Hochzeit liegt deshalb nicht nur beim Ehepaar, sondern auch bei der Familie und den Bekannten. Eingeladen werden hunderte Menschen, man rechnet aber auch mit Gästen, die ohne Einladung kommen, und heisst diese willkommen. Mit der zunehmenden Anzahl von Personen, die aus Eritrea fliehen, wird die Durchführung einer standesgemässen Hochzeit von weiteren Faktoren beeinflusst: SEMHAR NEGASH Viele Geflüchtete vermissen den Sinn einer Hochzeit, wenn sie diese ohne die Eltern feiern müssen. Die Notwendigkeit eines solchen Festes erschliesst sich ihnen nicht mehr. Diejenigen, die es sich finanziell leisten können und einen entsprechenden Aufenthaltsstatus haben, versuchen, ihre Hochzeit in einem der Nachbarländer Eritreas auszurichten, damit auch die Eltern teilnehmen können.

zunächst verschoben und trauen sich erst jetzt, seit sie überzeugt sind, dass sie auf einem guten Weg sind. Für viele Menschen hierzulande ist es nicht einfach sich vorzustellen, wie Kinder ohne ihre Eltern flüchten, teilweise über die gefährlichsten Routen. Auch mir geht es so. Ich werde oft gefragt: Wie haben sie es alleine geschafft? Wer hat ihnen geholfen? Wer hilft ihnen jetzt? Wie leben sie hier? Und so weiter. Wer heute zu dieser grossen Hochzeit ehemaliger UMAs eingeladen ist, wird wahrscheinlich auch solche Fragen stellen. Als die beiden mich einluden, war meine erste Frage hingegen: So ein grosses Fest – habt ihr genug Leute, die euch helfen können? Auf dem Fest hatte ich gemischte Gefühle. Einerseits war ich berührt davon, dass die Gäste fast alle ehemalige UMAs waren, darunter wenige ältere Leute, die auch ein bisschen die Rolle der Eltern spielten. Andererseits war ich auch erstaunt darüber, wie diese Gruppe mit viel Verantwortungsbewusstsein und solidarisch die Hochzeit organisiert hat und nun durchführt. Wie eine junge Frau mir sagte: «Wir alle haben keine Eltern hier, also müssen wir die Verantwortung übernehmen, diese Hochzeit durchzuführen.»

Viele Geflüchtete vermissen den Sinn einer Hochzeit, wenn sie diese ohne die Eltern feiern müssen.

Ich bin zu einer Hochzeit in Bern eingeladen. Das Ehepaar ist Anfang zwanzig, ich habe sie vor einigen Jahren betreut. Beide, Braut und Bräutigam, haben Eritrea als Kinder ohne ihre Eltern verlassen. Das war vor fünf Jahren. Nach mehreren Jahren auf der Flucht landeten sie in der Schweiz, wo sie als «Unbegleitete Minderjährige Asylsuchende (UMAs)» kategorisiert wurden. Sie kamen im gleichen Asylzentrum im Kanton Bern unter und lernten sich dort kennen. Obwohl sie noch jung waren, haben sie sich schnell entschieden zu heiraten, um hier eine Familie zu gründen und der Einsamkeit zu entfliehen, sagen beide. Wie für viele andere UMAs war es für diese zwei nicht einfach, sich im Alltag zurechtzufinden. Glücklicherweise haben beide einen positiven Asylentscheid erhalten und konnten in den letzten Jahren Integrationsangebote besuchen und mehrere Schnupperpraktika machen. Auch deshalb haben sie ihre Heiratsidee 6

Das zeigt: UMAs sind nicht nur eine verletzliche Gruppe junger Menschen, die mit roten Schuhen und einem Bier am Bahnhof abhängen oder Schlägereien anzetteln. Sie können auch solidarisch als Familie die Hochzeit ihrer Freunde organisieren. Sie sind nicht nur faul und unmotiviert, sondern geben sich Mühe, eine Ausbildung zu machen, und verschieben sogar ihre Hochzeitspläne, um ihre Ziele zu erreichen. Ich war froh, an dieser Hochzeit teilgenommen zu haben, und ging inspiriert nach Hause.

SEMHAR NEGASH ist Anthropologin aus Bern. An dieser Stelle beobachtet sie sich selbst und andere dabei, wie es ist, ein Teil der Schweizer Gesellschaft zu sein.

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ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT

Morgens um vier liegt da extrem viel Müll herum, und die Gemeindearbeiter, die dort putzen, haben wirklich eine Medaille verdient. Cambridge sieht immer schön aus für die Touristen.

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Bestes Café Meinen Tee hole ich bei Bould Brothers Coffee. Die sind dort richtig nett zu mir, wie übrigens auch die Leute bei Toni & Guy, wenn ich einen Haarschnitt brauche.

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Mein Lieblingsort Trinity Hall gehört zu meinen Favoriten, weil es eine der angesehensten Colleges ist. Es ist wunderbar, dort herumzuspazieren. Auf der Anlage steht der Newton Apple Tree, der direkt von jenem Apfelbaum abstammt, dank dem Isaac Newton die Schwerkraft entdeckt hat.

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Was Sie nicht in Reiseführern finden Allama Muhammad Iqbal wird als geistiger Vater von Pakistan bezeichnet. Ich wusste erst nichts über ihn, aber eine Menge Leute fragen mich: ‹Wo ist der Portugal Place? Wir wollen uns ansehen, wo Iqbal studiert hat!› Es gibt da zwar eine Gedenktafel, aber der Ort wird nicht in Broschüren und Flugblättern beworben.

Auf Reisen

Cambridge, England Lee Welham, 34, stammt aus der südostenglischen Küstenstadt Great Yarmouth. Nachdem seine Familie auseinandergebrochen war, fing er in Cambridge noch einmal von vorne an. Er verkauft The Big Issue vor der Kirche Round Church. Oft bleiben Passanten stehen, um seinen Witzen zuzuhören.

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Was ich an Cambridge mag Cambridge ist die Welthauptstadt des Lernens. Es gibt hier so viele gute Dinge zu sehen: all die Hochschulen und die verschiedenen Kulturen, die hier zusammenkommen. Ich habe gelernt, in mindestens 25 Sprachen ‹Danke› zu sagen. Am liebsten mag ich Afrikaans. Surprise 459/19

Es heisst ‹baie dankie›, und meine Eselsbrücke dazu ist ‹buy a donkey› (dt: kauf einen Esel).

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Die beste Geschichte Hier in Cambridge hat sich Grosses ereignet, die Stadt ist voller Gedenktafeln und voll von Geschichte. Eine besondere ist die von Oliver Cromwell, der die Königsfamilie abschaffen wollte. Sie steckten seinen Kopf in Westminster auf eine Lanze, dann brachten sie ihn hierher zurück und begruben ihn beim Sidney Sussex College.

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Mein Lieblingspark Christ’s Pieces wurde zum fünftbesten Park im Vereinigten Königreich gewählt. Er ist reizvoll, besonders in der Weihnachtszeit, wenn all die schönen Lichter brennen, sobald es dunkel wird. Der Park wird gut gepflegt.

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Mein Verkaufsplatz Ich verkaufe vor der Round Church, der ältesten Rundkirche im Königreich, erbaut um 1130. Sie ist rund, weil man so keinen Teufel in der Ecke verstecken kann. Ab den Kreuzzügen mussten alle Kirchen kreuzförmig sein, damit Gott Jesuskreuze sah, wenn er auf die Erde herunterblickte. Der alte Erzbischof von Canterbury, Rowan Williams, ist klasse. Er kommt zweimal die Woche bei mir vorbei, um zu fragen, wie es mir geht.

Interview von Steven MacKenzie. Kontakt: Wintercomfort, Overstream House, Victoria Avenue, Cambridge, CB4 1EG, +44 1223 518 140. Mit freundlicher Genehmigung von INSP.ngo / The Big Issue UK bigissue.com @BigIssue

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Seit frßhester Kindheit reagiert er hochsensibel auf Chemikalien und Strahlung: Christian Schifferle mit einem Messgerät.

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Im Haus der Sensiblen Elektrosensibilität Lange wohnte Christian Schifferle in einem mit

Alufolie abgedeckten Wohnwagen in den Alpen. Man hielt ihn für verrückt. Bis er mithilfe der Stadt Zürich zum Wohnbaupionier wurde. TEXT ANDRES EBERHARD

Irgendwann werde er vielleicht ein Buch schreiben, sagt Christian Schifferle und wirkt dabei, als hätte er sich das gerade zum ersten Mal überlegt. «Aber lustig muss es sein, sonst will das ja keiner lesen.» Zum Lachen ist seine Geschichte eigentlich nicht. Schifferle ist 64 Jahre alt und seit früher Kindheit hochsensibel und gesundheitlich geschwächt. Er reagiert auf alltägliche Reize aus unserer Umwelt, denen nur schwer auszuweichen ist: Chemikalien sowie Elektrosmog. Von Parfüms und Reinigungsmitteln bekommt er Atembeschwerden, von Handystrahlung starkes Kopfweh. «Es fühlt sich ungefähr so an wie eine chronische Grippe», sagt er. Nur: Seine Leiden existieren offiziell gar nicht. Sowohl die sogenannte Multiple Chemical Sensitivity (MCS) als auch die Elektrosensibilität werden von Ärzten, Krankenkassen oder IV-Stellen nicht als Krankheiten anerkannt. Entsprechend lange glaubte niemand, was Schifferle erzählte. «Es gab eine Zeit, da dachte mein ganzes Umfeld, ich sei ein Spinner oder Simulant», erzählt er. Dass Schifferle dereinst dennoch humorvoll auf sein Leben zurückblicken möchte, liegt einerseits an seiner positiven Einstellung zum Leben: «Ich bin ein sehr spiritueller Mensch, habe viel Freude an kleinen Dingen.» Andererseits nahm seine Geschichte eine positive Wendung. Nach Jahren im Exil zog er 2013 zurück in sein «geliebtes Zürich». Und zwar in das «gesündeste Haus der Welt», wie es die Medien nannten: Speziell für Hochsensible gebaut, mit rein biologischen Materialien, in den Wänden ein Abschirmnetz gegen elektromagnetische Strahlung. Baukosten: 6 Millionen Schweizer Franken. Das Spezielle daran ist, dass Schifferle das Projekt selbst lanciert hatte – und dies, obwohl er zu Beginn ganz auf sich allein gestellt war, über praktisch keine eigenen Mittel verfügte und aufgrund seiner Krankheit weit weg in einem Wohnwagen in den Alpen lebte. Anders gesagt: Als Randständiger brachte er ein Millionenprojekt ins Rollen. Erst stabilisieren, dann kämpfen Das Haus für Hochsensible ist ein ockerfarbenes, unscheinbares Mehrfamilienhaus in Leimbach am Stadtrand von Zürich, am Fuss eines Hügels und am Ende einer Sackgasse, darüber befindet sich fast nur noch Wald. Die nächsten Nachbarn wohnen rund vierzig Meter entfernt. Von aussen deutet kaum etwas auf die spezielle Bewohnerschaft hin. Nur wer nahe genug herantritt, entdeckt den Sticker mit dem durchgestrichenen Handy, der an der Fensterscheibe neben dem Eingang klebt. Schifferle leert eine Packung Chips in eine Schüssel und stellt sie auf den Tisch im Gemeinschaftszimmer des Hauses, danach setzt er sich und stülpt sich einen grauen Mundschutz über Nase und Schnurrbart. «Ich bin froh, dass sich etwas tut», sagt er und meint die Tatsache, dass sich Elektrosensible organisiert haben, Surprise 459/19

FOTOS NICOLAS DUC

um gegen die neue Mobilfunktechnologie 5G zu demonstrieren. Er selbst reagiere auch auf Strahlung, allerdings sei bei ihm die Chemikalien-Unverträglichkeit ausgeprägter. Ohnehin könnten die beiden Sensibilitäten nicht strikt voneinander getrennt werden. «Von den Bewohnern hier sind siebzig Prozent sowohl geruchs- als auch elektrosensibel. Bei den einen ist die eine Sensibilität ausgeprägter, bei den anderen die andere. Man sollte deswegen vielleicht besser von Hochsensibilität sprechen.» Schifferle zieht den Mundschutz ab und fischt ein paar Chips aus der Schüssel. Er ist es gewohnt, dass Beschwerden unabhängig davon existieren, ob sie einen Namen haben oder nicht. Seit seiner Kindheit leidet er unter den Gerüchen von Parfüms oder Waschmitteln. Das war noch, bevor die Krankheit gegen Ende der 1990er-Jahre allmählich einen Namen bekam. Erst dann konnte er seine Beschwerden zuordnen – und Mut fassen. In einem seiner ersten Interviews im Jahr 2000 sagte er gegenüber dem Tages-Anzeiger: «Ich hatte schon selber an meinem Verstand gezweifelt. Doch seit ich meine Krankheit benennen kann, weiss ich, dass es keine Einbildung ist.» Der Gemeinschaftsraum ist der Treffpunkt für die vierzehn Bewohnerinnen und Bewohner, die in vergünstigten 1.5- bis 3.5-Zimmer-Wohnungen leben. Man würde sich einen Raum für Elektrosensible anders vorstellen. Neben einem grossen Tisch, einem Sofa und einer kleinen Küche befinden sich auch ein grosser TV mit Flachbildschirm und DVD-Player, ein Schreibtisch mit Computer, ein Drucker, ein Scanner, ein Telefon und neben dem Eingang eine Elektro-Gitarre im Raum. Erstaunlich viel Unterhaltungselektronik also. «Man kann ja alles verkabeln. So kommt man ohne WLAN und Funktelefon aus», sagt Schifferle. Im Gegensatz zu drahtlosen Netzwerken und kabellosen Telefonen strahlen am Strom angeschlossene elektronische Geräte nicht in Hoch-, sondern in Niederfrequenz. Nur wer sich unmittelbar daneben aufhält, setzt sich geringer Strahlung aus. Wegen seiner Krankheit war Christian Schifferle nie richtig arbeitsfähig. Weil er Chemikalien und Elektrosmog meiden musste, verbrachte er einen grossen Teil seines Lebens am Rand der Gesellschaft. Als es in der Wohnung in der Stadt Zürich nicht mehr ging, schlief er viele Nächte im Auto, draussen im Wald, irgendwann zog er weit weg in die Alpen und lebte mit einfachsten Mitteln in einem Wohnwagen auf der Lenzerheide. Sucht man ihn bei Google, findet man unter anderem ein Bild von ihm, das ihn in einem aussen und innen komplett mit Alufolie abgedeckten Wohnwagen zeigt. «Mit Anfang dreissig hatte ich Suizidgedanken», sagt Schifferle. Doch statt sich aufzugeben, fasste er einen Plan: Zuerst sich selbst stabilisieren, dann kämpfen. «Nach langer Odyssee fand ich endlich einen Arzt, der einsah, dass ich wirklich krank und nicht arbeitsfähig war.» Dieser habe ihm zu einer IV-Rente auf psychischer Basis verholfen. «Anders war es nicht möglich.» 9


Draussen vor der Tür zeigt Schifferle die Umgebung und führt ein Messgerät vor, auf welchem die Strahlung abgelesen werden kann. «Sehen Sie, hier strahlt es schon mehr als drinnen im Haus», sagt er und zeigt das Gerät, auf dem kleine grüne und rote Punkte leuchten. «Es ist aber immer noch ein Wert weit unter dem Durchschnitt.» Das Haus steht im Funkschatten der grossen Antenne auf dem Üetliberg, und auch in der unmittelbaren Umgebung befindet sich keine Mobilfunkantenne. Schifferle ist sich sicher, dass hier auch in Zukunft keine gebaut wird. «So viel, wie die Stadt für uns gemacht hat, kann sie uns ja nun nicht einfach hängenlassen.» In der Tat ist die Stadt Zürich auf ihre Vorreiterrolle beim «ökologischen und gesunden Bauen» stolz. Bei der Eröffnung sprachen die Verantwortlichen der Stadt von einem «europaweiten Pilotprojekt». Gegenseitige Hilfe Im Haus der Sensiblen leben heute sehr unterschiedliche Menschen. Einige kommen wegen der Schmerzen kaum mehr aus dem Bett, andere sind berufstätig. Auch eine Familie mit Kindern lebte schon in Leimbach. «Wir wollen kein reines Spital sein und eine gute Durchmischung haben», sagt Schifferle. Und doch erinnert im Haus das Massagezimmer, in welchem sich Bewohner und Bewohnerinnen von externen Therapeuten behandeln lassen können, an ein Spital. Auch kommt täglich einiges an Pflegebesuch vorbei: Haushaltshilfen, die aufräumen, putzen und kochen, oder die Spitex, die Essen bringt. «Wir schauen auch zueinander, die Nachbarschaftshilfe funktioniert gut», sagt Schifferle. Er selber gehe regelmässig für jemanden aus dem Haus einkaufen. Andere kochen oder fahren ihre Mitbewohner herum. Und manchmal werden aus Nachbarn Freunde: Etwa dann, wenn eine Gruppe Bewohner einen gemeinsamen Ausflug mit dem VW-Bus macht, dem Gemeinschaftsauto der Genossenschaft. 10

Europaweites Pilotprojekt: Von aussen deutet wenig am Haus auf die speziellen Bedürfnisse der Bewohnerinnen und Bewohner hin.

Auch Solothurner planen Haus für Sensible Auch im Mittelland plant eine Gruppe von etwa fünfzig mehrheitlich Betroffenen ein Haus für Elektrosensible. Zu diesem Zweck gründeten sie 2018 die Baugenossenschaft Wohnraum für elektrosensible Menschen (BWEM). Gesucht werde derzeit ein geeignetes Stück Land für ein Haus mit acht bis zehn Wohnungen im Raum Solothurn/ Bern/Aargau, sagt Daniel Obi, Präsident der BWEM. Es fehlten vor allem noch Geldgeber sowie eine Gemeinde, die das Projekt unterstütze. Auch weitere Mitglieder seien erwünscht. «Obwohl der Bund nicht bestreitet, dass es Menschen gibt, die unter elektromagnetischer Strahlung leiden, tut er bislang nichts, um die Lebenssituation der Betroffenen zu verbessern», begründet Obi das Engagement. Im Kanton Solothurn haben derweil fraktionsübergreifende Parlamentarier einen politischen Vorstoss eingereicht, der unter anderem die Schaffung von funkarmen Wohnzonen fordert. EBA www.bwem.ch

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Wer im Haus wohnen darf, entscheidet die Genossenschaft – Schifferle ist ihr Co-Präsident. Anfangs habe man von den Interessenten noch ein Arztzeugnis verlangt, so Schifferle. Diese Regelung habe man aber wieder abgeschafft. Statt Bürokratie setzt man nun auf lange Gespräche. «Es will ja niemand freiwillig in ein Haus mit so vielen Einschränkungen ziehen.» In der Hausordnung, die am Anschlagbrett hängt, steht aufgelistet, was alles verboten ist: Handys, Rauchen sowie alle möglichen parfümierten Duftstoffe, darunter Wasch- und Lösungsmittel. Auch Grillieren ist nicht gestattet – selbst auf dem Balkon oder im grosszügigen Garten. Schifferle geht zurück ins Haus und erzählt am grossen Tisch des Gemeinschaftszimmers den Rest der Geschichte, wie er vom «Verrückten» zum Wohnbaupionier wurde. Die IV-Rente habe es ihm erlaubt, nicht mehr nur ums eigene Überleben, sondern auch um Anerkennung zu kämpfen. Er schrieb Hunderte von Briefen

und E-Mails und demonstrierte, wenn es seine Gesundheit zuliess, vor Ort. Fotos zeugen davon, wie er ganz alleine mit einem grossen Transparent in der Hand vor dem Zürcher Stadthaus oder dem Bundeshaus in Bern steht und Flugblätter verteilt. Nicht jede Antenne verhindern Auf ihn aufmerksam wurden zunächst die Medien. Über Berichte fand er andere Betroffene, gründete daraufhin eine Selbsthilfegruppe. «Der Zürcher Stadtrat teilte uns mit, dass die Stadt uns nur helfen kann, wenn wir uns als Wohnbaugenossenschaft organisierten», erzählt Schifferle. Mithilfe von Ärzten und Juristen entstand die «Genossenschaft für Gesundes Wohnen MCS», 500 Franken kostete der Anteilschein. Letztlich war es die Zürcher Stadtregierung, die das Pilotprojekt in Leimbach ins Rollen brachte, indem sie einen Kredit von 150 000 Franken für einen Studienauftrag sprach und der Genossenschaft das Grundstück in Leimbach im Baurecht überliess. «Dafür sind wir der Stadt sehr dankbar», sagt er. Nun gelang es der Genossenschaft, Spenden in der Höhe von mehreren Hunderttausend Franken zu sammeln – unter anderem 200 000 Franken aus dem Lotteriefonds des Kantons Zürich. Von der Wohnbauförderung von Stadt und Kanton sowie von anderen Wohnbaugenossenschaften erhielt die Genossenschaft zinslose und günstige Darlehen – genug, um eine Hypothek aufzunehmen und das Haus zu bauen. Am Anschlagbrett im Haus hängt ein Unterschriftenbogen für die Petition gegen 5G sowie ein Hinweis auf eine Demo in Bern. Auch wenn Schifferle etwas weniger aktivistisch unterwegs ist als auch schon, beteiligt er sich an der aufkommenden Bewegung gegen die neue Mobilfunktechnologie, so gut es eben geht. «Mir geht es nicht darum, jede einzelne Antenne zu verhindern», sagt er und fügt mit der für ihn typischen Bescheidenheit an: «Aber das Netz wird für die Stärksten gebaut. Wir Hochsensiblen brauchen ja nur etwas mehr Rücksicht. Und einige Oasen wie dieses Haus hier.» Als das «gesündeste Haus der Welt» vor sechs Jahren eröffnet wurde, war das Medieninteresse gross. Vom Tages-Anzeiger bis zum SRF berichteten fast alle grossen Medien, das deutsche Fernsehen drehte eine Dokumentation, es reisten Reporter aus den USA an. Seither ist es etwas ruhiger geworden rund um die Hochsensiblen in Leimbach. «Das Haus dient seinem Zweck, das Wohnprojekt ist gut unterwegs», fasst Schifferle zusammen. Nun würde man in der Genossenschaft gerne weitere Projekte realisieren, interessierte Bewohner gebe es genug. Vor allem von Elektrosensiblen wird er immer häufiger kontaktiert. Trotzdem harzt es bislang. «Es ist nicht so einfach, Geldgeber zu finden», begründet er. Zudem sei nicht jede Gemeinde so aufgeschlossen wie die Stadt Zürich. Das erfahren derzeit auch jene Elektrosensiblen, die nach dem Zürcher Vorbild im Mittelland ein strahlengeschütztes Haus bauen möchten (siehe Kasten). So bleibt das Haus am Zürcher Stadtrand wohl noch für einige Zeit das schweizweit einzige seiner Art. «Sein wahrer Wert wird wohl erst in zwanzig oder dreissig Jahren erkannt», sagt Schifferle zum Abschied.

«Wir Hochsensiblen brauchen ja nur etwas mehr Rücksicht. Und einige Oasen wie dieses Haus hier.» CHRISTIAN SCHIFFERLE

Tägliche Begleiter: Atemschutzmaske und Strahlungsmessgerät.

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Widerstand der Kranken Elektrosensibilität In der hitzigen Debatte um 5G geht es nicht nur um Strahlungsgrenzwerte. Hochempfindliche Menschen fordern, dass man sie endlich ernst nimmt. Dafür müsste der Bund sie überhaupt einmal erfassen. TEXT ANDRES EBERHARD

Sie werden als «Esotierchen» bezeichnet, als Therapie werden «Globuli gegen 5G» empfohlen. In Online-Kommentaren zeigt sich, wie es um das Image von elektrosensiblen Menschen bestellt ist. Ein prominentes deutsches Onlineforum stellt die «Elektrosmog-Phobiker» gar mit Klarnamen an den Internet-Pranger. Aus Angst vor dieser «Mobbing-Agentur» zog sich ein Gesprächspartner für diesen Artikel nachträglich zurück. Grund für die Angriffe auf Elektrosensible ist deren Widerstand gegen die neue Mobilfunktechnologie 5G. Diese wird derzeit von den Netzbetreibern im ganzen Land aufgebaut (siehe Begleittext «Gegner fordern 5G-Moratorium»). Die Wirkung von 12

ILLUSTRATION ALINA GÜNTER

Elektrosensibilität ist in der Schweiz keine anerkannte Krankheit.

elektromagnetischer Strahlung auf unsere Gesundheit ist jedoch umstritten (siehe Begleittext «Macht Strahlung krank?»). Aus diesem Grund werden Menschen, die angeben, dass sie unter Elektrosmog leiden, schnell in die Schublade der Neurotiker oder Verschwörungstheoretikerinnen gesteckt. Spricht man mit Betroffenen, ist jedoch gerade der Vorwurf, dass sie sich ihre Beschwerden nur einbilden würden, besonders schmerzhaft. Wenn sie sich nun gegen die Mobilfunkriesen zur Wehr setzen, dann kämpfen sie nicht nur gegen höhere Grenzwerte, sondern auch um mehr Anerkennung. Denn Elektrosensibilität ist in der Schweiz keine anerkannte Krankheit. Eine Surprise 459/19


medizinische Diagnose gibt es nicht, entsprechend beruht die Definition auf Selbstdeklaration. Es gibt keine Therapiemöglichkeiten und keinen Anspruch auf Entschädigung von Krankenkassen oder Versicherungen wie etwa der IV. Behandelnde Ärzte stehen vor dem Problem, dass sie keine Grundlage haben, um die meist sehr unspezifischen Symptome dem Elektrosmog zuzuordnen. So gibt es etwa im ICD-Katalog, der internationalen Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation WHO, keinen Eintrag für Beschwerden, die durch elektromagnetische Strahlung ausgelöst wurden. Damit die Krankheit als solche anerkannt werden kann, braucht es eindeutige Diagnosekriterien. «Aus medizinischer Sicht ist es sehr wichtig, neue Krankheiten schnell diagnostizieren zu können», sagt Yvonne Gilli, Hausärztin aus Wil SG. «Ansonsten besteht die Gefahr, dass die Beschwerden chronisch werden.» Der erste Schritt hin zu einer Anerkennung als Krankheit wäre gemäss Gilli, dass Betroffene und ihre Beschwerden überhaupt einmal erfasst werden. Deshalb fordern die Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz (Aefu), dass der Bund eine unabhängige Abklärungsstelle aufbaut, die in Zusammenarbeit mit behandelnden Ärzten operiert und im Idealfall einer Universität angegliedert ist. «Wir müssen herausfinden, warum die Menschen krank sind und wie sie wieder gesund werden. Dafür brauchen wir genügend hohe Fallzahlen», sagt Gilli, die für die Grünen im Kanton St. Gallen für den Nationalrat kandidiert und sich dort auch für das Thema starkmachen möchte. In der Debatte rund um die Mobilfunktechnologie 5G steht für alle Beteiligten viel auf dem Spiel. Für die Betroffenen geht es um ihre Gesundheit, für die Telekom-Anbieter um viel Geld. Die Politiker schliesslich betonen die Wichtigkeit für die Wirtschaft: 5G sei für die Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz zentral. Vergessen geht manchmal, wie ungleich lang die Spiesse sind, mit denen die Parteien in den Ring steigen: Auf der einen Seite Swisscom, Sunrise und Salt mit ihren Milliardenumsätzen und ihren professionellen Lobbyisten. Auf der anderen Seite ein paar betroffene Menschen, die sich gerade erst organisiert haben, etwa im «Verein Schutz vor Strahlung» oder im «Verein Moratorium 5G». Surprise 459/19

Gegner fordern 5G-Moratorium Die neue Mobilfunktechnologie 5G wird zum Politikum. Die Fronten sind bereits verhärtet. Eigentlich wäre für die Einführung der neuen Mobilfunktechnologie 5G eine Erhöhung der Strahlungsgrenzwerte nötig gewesen. Doch der Ständerat verhinderte dies vor rund einem Jahr. Anfang 2019 machte dann der Bundesrat die Einführung von 5G durch die Hintertür doch noch möglich. Nun drücken die Netzbetreiber aufs Tempo. Bis Ende Jahr wollen sie eine Abdeckung von schweizweit neunzig Prozent erreichen. Doch gegen die Einführung von 5G hat sich breiter Widerstand gebildet. Auf lokaler Ebene ist der Bau jeder dritten Antenne wegen Einsprachen blockiert, wie die Sonntagszeitung jüngst schrieb. Zudem demonstrierten im Frühling Tausende auf dem Berner Bundesplatz – am 21. September findet in Bern die nächste Demo statt. Die Gegner streben mit einer Petition ein nationales Moratorium an, wie es in den Kantonen Genf und Waadt bereits eingeführt wurde. Sie gehen davon aus, dass elektromagnetische Strahlung der Gesundheit schadet, und argumentieren mit dem im Umweltschutzgesetz verankerten Vorsorgeprinzip: Eine Technologie soll erst eingeführt werden, wenn deren Unschädlichkeit bewiesen ist – und nicht erst verboten werden, wenn der Schaden bereits da ist. EBA

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Die Wirkung elektromagnetischer Strahlung ist nicht abschliessend erforscht. Aber es gibt Indizien. Es gilt als erwiesen, dass hochfrequente Strahlung den menschlichen Körper erwärmen kann. Gesundheitlich schädliche Folgen treten allerdings erst ab einer gewissen Strahlungsstärke auf. International gültige Grenzwerte sollen die Bevölkerung davor schützen. Umstritten sind die sogenannten nicht-thermischen Wirkungen elektromagnetischer Strahlung. Diese können auch deutlich unterhalb internationaler Grenzwerte ausgelöst werden. Verschiedentlich wurden in Studien veränderte Gehirnaktivitäten beim Menschen, vermehrtes Auftreten von Tumoren bei Tieren oder Veränderungen von Zellaktivitäten festgestellt. Einige dieser Studien liessen sich jedoch nicht wiederholen, andere kamen zu widersprüchlichen Resultaten. Auch ist die Neutralität mancher Studien ein Problem – einige wurden von der Telekommunikations-Industrie gesponsert oder gar in Auftrag gegeben. Das Bundesamt für Umwelt kommt auf seiner Webseite zum Schluss, dass es «unbestritten» nicht-thermische Wirkungen gebe. Jedoch lasse sich noch nicht sagen, ob und unter welchen Bedingungen diese zu einem Gesundheitsrisiko werden. In der Schweiz gelten darum bisher strengere Grenzwerte als in den meisten anderen Ländern. Wer sich vor Strahlung schützen möchte, tut dies am besten, indem er auf sein Handy verzichtet, sagt Professor Jürg Leuthold von der ETH. «Zumindest sollte man das eigene Handy beim Telefonieren nicht ans Ohr halten.» Untersuchungen zeigen, dass dieses für rund neunzig Prozent der aufgenommenen Strahlung verantwortlich ist. Wer nicht sicher ist, ob Elektrosmog den eigenen Beschwerden zugrunde liegt, wendet sich am besten an die Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz (Aefu). EBA

«Es geht mir um die Umwelt» REBEKK A MEIER, 28, GRENCHEN

«Mein Vater war Informatiker und installierte Funk im ganzen Haus. Das war Ende der Neunzigerjahre, als ich sieben Jahre alt war. Danach war ich oft todmüde und hatte Schlafprobleme. Später wurde mir schlecht, wenn ich den Laptop einschaltete. Ich hatte zudem häufig Migräne, starke Konzentrationsprobleme oder kämpfte mit Entzündungen. Als mein Vater vor fünf Jahren auszog, schaltete er alles ab, kündete gar das Telefon. Auf einen Schlag waren die Symptome weg. Erst da wurde mir bewusst, dass meine Beschwerden etwas mit Elektrosmog zu tun haben könnten. Als Präsidentin vom «Verein 5G Moratorium» kämpfe ich an vorderster Front gegen 5G. Angefangen hat es mit einer Einsprache gegen eine geplante Antenne hier in der Umgebung. Mit meinem Engagement geht es mir nicht primär um mich selbst, sondern um die Umwelt. Ich glaube, dass wir dem gesamten Ökosystem schaden. Was richtet beispielsweise Strahlung wohl bei einer Biene an? Mit zwei Watt kann ein Amateur bis in den Südpol kommunizieren, weswegen also brauchen wir Funkleistungen von 2000 Watt, wie heute schon bei 4G üblich?»

«Ich konnte fast nicht mehr reden» PIERRE LOUIS, 54, L A NEUVEVILLE

«Lange litt ich unter Kopfweh, Magenproblemen, sah nicht mehr richtig und konnte zeitweise fast nicht mehr reden. Als selbständiger Geigenbauer arbeitete ich damals in einem Haus, neben dem sich eine grosse Antenne befand. Vor zwei Jahren fiel mir bei einem Spaziergang im Wald auf, dass die Beschwerden plötzlich weg waren. Auf 14

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FOTOS: ZVG

Macht Strahlung krank?


meinem Handy sah ich, dass es ein Ort war, an dem ich keinen Empfang hatte. Also zog ich um, in ein Haus mitten im Wald. Es ist der einzige Ort hier in der Umgebung, wo ich ohne Beschwerden leben kann. Heute geht es mir viel besser, aber meinen Alltag musste ich anpassen. Früher war ich Präsident des Orchesters sowie des Segelklubs in La Neuveville. Beides habe ich aufgegeben. Meine Freunde kommen nun zu Besuch. Raus gehe ich nur noch in speziellen Kleidern, und auch dann nur für eine Stunde. Ich wünsche mir, dass mehr Leute davon erfahren, wie es uns geht. Warum braucht es so viele Menschen, die krank werden, bis etwas geschieht?»

«Plötzlich ergab alles Sinn» K ARIN BERNHARD, 48, ZÜRICH

«Vor fünf Jahren kollabierte ich in meinem Unterrichtszimmer an der Musikschule, wo ich als Klavierlehrerin arbeite. Die Ärzte fanden trotz vieler zum Teil invasiver Untersuchungen keine Ursache und meinten, mein Leiden sei psychosomatisch. Seit Anfang 2018 führe ich die Probleme auf Elektrosmog zurück. Ich hatte mir ein Smartphone zugelegt und immer, wenn ich es einschaltete, bekam ich innert Minutenfrist starke Migräneanfälle. Ich fühlte mich konstant erschöpft, hatte Kreislauf- und Schlafprobleme sowie Stoffwechselstörungen. Ein ausgeliehenes Messgerät bestätigte mir: Das Kopfweh war immer dann stärker, wenn die Strahlung erhöht war. Plötzlich ergab alles Sinn: Am Ort, wo ich zusammengebrochen war, befindet sich eine grosse Mobilfunkantenne und ein starkes WLAN. Und meine Wohnung in der Altstadt von Zürich ist massiv durchstrahlt: 26 Netzwerke werden mir zeitweise angezeigt. Weil Badezimmer und Küche einigermassen strahlungsfrei sind, wurde die Küche zum Büro und das Bad zum Schlafzimmer. Mir ist klar, dass ich Zürich – meine geliebte Geburtsstadt – werde verlassen müssen.» Surprise 459/19

«Wegziehen ist nicht einfach» GABRIEL A AMREIN, 55, ZÜRICH

«Am schlimmsten ist es, wenn ich zu Stosszeiten mit dem öffentlichen Verkehr in der Stadt unterwegs bin. Von den vielen Handys um mich herum wird mein Tinnitus stärker, zudem bekomme ich Hitzeschübe im Kopf. Das fühlt sich an, als würde gleich mein Kopf explodieren. Auch in der Schulter und im Bein habe ich Schmerzen, und manch-

mal bekomme ich Herzklopfen. Lange konnte ich wegen der Schmerzen nicht in meinem eigenen Bett schlafen. Ein Baubiologe bestätigte mir schliesslich, dass die Strahlung im Schlafzimmer besonders stark ist. Ich überlegte mir wegzuziehen, doch das ist nicht so einfach. Hier in Zürich habe ich Arbeit, hier ist mein ganzes Leben. Also versuche ich mich zu arrangieren. Ich kaufte spezielle Abschirmstoffe, die ich an die Wände und unters Bett gespannt habe. An der Schule, wo ich arbeite, versuche ich meine Kolleginnen zu sensibilisieren. Ich engagiere mich zudem in einer Selbsthilfegruppe, sammle Unterschriften für die Petition gegen 5G und plane eine Info-Veranstaltung zum Thema. Die Öffentlichkeit muss mehr über Elektrosensible erfahren.» 15


Ein Leben in Extremen Mongolei Weil das Klima immer extremer wird, ziehen mongolische Nomaden

in die Hauptstadt Ulaanbaatar. Wie Chinzorig, der sich in den Slums durchkämpft. Einmal im Jahr bricht er auf in sein altes Leben. TEXT MARTIN THEIS

FOTOS SASCHA MONTAG

Dsawchan

Ulaanbaatar

MONGOLEI

Für die Nomaden ist die Jurte der Mittelpunkt der Familie. In der Steppe wird das Überleben jedoch immer schwerer.

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Bevor er sich auf den Trip in sein verflossenes Leben begeben kann, muss er noch 24 Stunden Dienst schieben. Wachmann Chinzorig, Sohn des Budsuren, liegt auf der Pritsche in seiner Kammer. Der Fernseher an der Wand zeigt ein Musikvideo: Pferde galoppieren durch die weite mongolische Steppe, ein Adler kreist am wolkenlos blauen Himmel und landet auf dem Arm eines Nomaden mit Fellmütze. Lieder der Pferdekopfgeige, die nach Sehnsucht klingen. Chinzorig zieht eine Zigarette aus der Schachtel. «Die Steppe ist mein Zuhause», sagt er und lächelt müde. «Aber zurück kann ich nur noch für ein paar Tage im Jahr.» Chinzorig bewacht eine kleine, heruntergekommene Krankenstation am Rande der mongolischen Hauptstadt Ulaanbaatar. Auch diesmal wird nichts passieren, weil nie etwas passiert. «Die Polizei liegt gleich um die Ecke», sagt er. Er tritt hinaus in die Dunkelheit und steckt sich die Zigarette in den Mund. Ringsum: Wohnblocks aus der Sowjetzeit. In einem Basketballkäfig werfen Jugendliche scheppernde Körbe. Die Feuerzeugflamme erleuchtet Chinzorigs weiche, kindliche Gesichtszüge. Er ist 37 Jahre alt. Vor siebzehn Jahren kam er mit Eltern und Geschwistern in die Stadt. Der «weisse Tod» hatte ihr Vieh dahingerafft. «Die Mongolei zuerst» Die Mongolen leben in einem Land klimatischer Extreme, vierzig Grad im Sommer und minus vierzig Grad im Winter sind normal. Als Nomaden ernähren sie sich von ihren Tieren, verkaufen Milchprodukte, Fleisch und Wolle. Doch der globale Klimawandel gefährdet ihre Tradition: Die Erderwärmung in der Mongolei ist doppelt so hoch wie

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im globalen Durchschnitt, Dürren nehmen zu, neunzig Prozent des überlebenswichtigen Weidelandes drohen langfristig zu verwüsten. Und wenn Schafe, Ziegen, Pferde und Yaks im Sommer nicht genug zu essen finden, überleben sie die kommende Kälte nicht. Auch diese fällt in den letzten Jahren extremer aus. Für die Nomaden ist das der Ruin. Chinzorig verdient 250 Euro im Monat, seine Eltern bekommen eine kleine Rente. Doch sein Vater hat Magenkrebs, und die mongolische Krankenversicherung deckt wenig mehr als einen Schnupfen ab. Seit sie in Ulaanbaatar leben, half Chinzorig auf dem Bau, schleppte Waren am Güterbahnhof und fuhr Taxi für ein bisschen Kleingeld, ohne Lizenz. Zwischendurch musste er vier Jahre lang in einer Möbelfabrik in Korea arbeiten und sah seine Familie nur für einen Monat pro Jahr. «Alles, was ich als Nomade auf dem Land gelernt habe, ist in der Stadt nutzlos», sagt er. Chinzorig ist wieder auf der Pritsche vor dem Fernseher angekommen. Die Slums in der Peripherie Ulaanbaatars, wo die Stadt in die Steppe ausfasert, fangen jene auf, die das Landleben aufgegeben haben. Vor dreissig Jahren lebten noch achtzig Prozent der Mongolen als Nomaden. Heute ist es noch ein Viertel. Die Regierung hat den unkontrollierten Zuzug längst verboten; wer jetzt noch kommt, ist illegal. Doch die Leute schlagen weiter ihre Jurten auf, die traditionellen weissen Rundzelte, zimmern Hütten, siedeln auch neben Müllkippen, Friedhöfen und gigantischen brummenden Strommasten. Mehr als die Hälfte der 1,5 Millionen Einwohner Ulaanbaatars lebt in den Jurtenvier-

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teln. Wer hier gestrandet ist, versucht sich mit einfachen Jobs über Wasser zu halten – oder gibt auf und ersäuft im Alkohol. Die Politik bekommt die Landflucht trotz diverser internationaler Hilfsprogramme nicht in den Griff. Die Mongolei ist eine junge Demokratie mit chronisch instabiler Führung – seit der neuen demokratischen Verfassung von 1992 gab es fünfzehn Regierungswechsel. Korruption ist ein Dauerthema, beide Präsidentschaftskandidaten der Wahl von 2017 waren in Skandale verwickelt. Der heutige Präsident Chaltmaagiin Battulga hatte gemäss seinem Motto «Die Mongolei zuerst» versprochen, dass alle Mongolen künftig stärker von den Bodenschätzen des Landes profitieren sollten. Doch in den Slums sind das nur Worte, die nichts zählen. In den neuen, illegalen Siedlungen ist es am schlimmsten. Hier leben sie unregistriert, ohne Gesundheits-, Strom- und Wasserversorgung. Weisse Jurten, bunte Hütten Chinzorig entkam dem Moloch immer einmal im Jahr. Mit seinen Eltern, seiner Frau und den Kindern war er in den Sommerferien stets zu Verwandten in seine Heimatregion Dsawchan in den Nordwesten des Landes gereist. Für einige Tage konnten sie dort saubere Luft atmen und mit ihren Kindern in die Steppe hinausreiten. Doch Chinzorigs Vater ist zu krank für die grosse Reise und die Frauen müssen ihn zuhause pflegen. Chinzorig soll dieses Mal allein fahren. Feierabend ist im Morgengrauen, mit dem ersten Kläffen der Hunde. Chinzorig geht auf den staubigen Wegen seines Viertels nach Hause, entlang zerfallener Bretterzäune, Mauern und rostiger Tore. Die ehemaligen Nomaden haben die Weite gegen kleine Parzellen eingetauscht. In den Jurten heizen Frauen die Kohleöfen an und setzen Milchtee auf, den die Familien den Tag über trinken. Im Winter legt sich dichter Kohlerauch aus den Ofenrohren der Slums über die ganze Stadt und macht sie zu einem der Orte mit den weltweit meisten Smogtagen. Von einer Anhöhe in der Nähe seiner Parzelle kann Chinzorig über den Flickenteppich aus weissen Jurten und bunt gestrichenen Hütten bis zur funkelnden Skyline im Tal blicken. Seine Mutter Sarantuya, eine gewichtige Frau mit kurzen grauen Haaren, schleudert eine Kelle Milchtee in Richtung Morgensonne, auf dass die Götter der Familie gewogen seien. Kinder jagen über den Hof. Ein kleiner Junge mit verfaulten Vorderzähnen zählt mit geschlossenen Augen rückwärts. Sie spielen Verstecken zwischen Reifenstapeln, Bauschutt und einer verwitterten Badewanne. «Ich werde mein ganzes Leben in diesem Viertel bleiben», sagt Chinzorig. «Aber wenn unsere Kinder sich in der Schule anstrengen, können sie einen guten Job finden und sich vielleicht eines Tages eine Wohnung leisten. Dann hätte sich alles gelohnt.» Er tritt durch die niedrige Holztür der Jurte, tief gebeugt mit einem weiten Schritt. Gegen den Türrahmen zu stossen, soll Unglück bringen. Die Jurte, in der sie schon in der Steppe lebten, ist der Mittelpunkt der Familie. Chinzorig lebt hier mit seinen Eltern, seiner Frau Munkhjargal und den sechs Kindern. Auch seine vier Schwestern bringen ihre Kinder in den 18

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1 Chinzorig im Kreise seiner Familie in Ulaanbaatar. 2 Bei der Nachtwache. 3 Leben, kochen, schlafen – alles im selben Raum. 4 Blick über das Jurtenviertel am Rande der Hauptstadt. 3

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«Alles, was ich als Nomade auf dem Land gelernt habe, ist in der Stadt nutzlos.» CHINZORIG, 37

Sommerferien morgens vorbei, damit sie zur Arbeit gehen können. Der Fernseher zeigt tonlos eine Gameshow. Mutter Sarantuya sitzt auf einem roten Drehstuhl, von dem aus sie alles Wichtige erreicht, ohne aufzustehen: Kohle, Ofen, Wassertonne, Schüsseln, Mehl. Vor ihr steht ein elektrischer Wok, in dem sie kocht und anschliessend auch abwäscht. Neben dem Altarschränkchen, mit Blick auf Bilder buddhistischer Lamas, liegt Vater Budsuren auf seinem Bett und raucht dünne Zigaretten. Der Magenkrebs hat ihn ausgezehrt. Er nimmt nur noch Brühe zu sich. Der Alte wartet auf eine Bluttransfusion, doch das Präparat ist knapp. Wer es haben will, braucht gute Beziehungen oder viel Geld. «Früher war ich ein wohlhabender Mann», sagt Budsuren mit weicher Stimme. Er hat sich im Bett aufgerichtet, seine Haut hängt schlaff vom Oberkörper. «Die Tiere waren mein Vermögen. Alles drehte sich um sie.»

Die Familie besass vierzig Yaks, zehn Pferde und hunderte Schafe und Ziegen. Nach dem Zerfall des Sowjetsystems gingen in der Mongolei die Herden in Privatbesitz über und der Staat verteilte Startkapital. Die Marktpreise für Fleisch, Milch und Wolle waren hoch. Weil sich das Nomadenleben lohnte, brachen viele junge Leute die Schule ab. Budsurens Sohn Chinzorig verliess seine Klasse nach vier Jahren. «Ich war glücklich mit den Tieren», sagt Chinzorig, eine Schale Milchtee in der Hand. «Ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen, als Nomade auf dem Land zu werden.» Nach einem besonders dürren Sommer im Jahr 1999 kam der Winter, der ihr Leben veränderte. Minus 55 Grad. Die Mongolen haben ein Wort für das Kälteextrem: Dzud – der weisse Tod. Die Tiere hatten sich während der Dürre nicht genug Fett anfressen können. Als Familienoberhaupt 19


Budsuren versuchte, mit ihnen umzuziehen und einen weniger kalten Ort zu erreichen, blieb ein Tier nach dem anderen im Schneesturm liegen. «Ein grosser Held kann durch eine kleine Kugel sterben», sagt Budsuren. «Und ein reicher Nomade kann in einer kalten Nacht zum armen Mann werden.» Es folgten zwei weitere Dzud-Jahre. Ein Drittel des mongolischen Viehbestands wurde ausgelöscht. Alle sehnen sich nach Regen Etwa 800 Kilometer liegen zwischen Chinzorig und seiner alten Heimat. Früh am nächsten Morgen macht er sich mit einem geliehenen Jeep auf den Weg. Im Gepäck hat er Kleidung und Medikamente für die Familie seines Cousins. Er fährt auf einer der wenigen befestigten Landstrassen Richtung Westen, lotgerade durch die menschenleere Steppe. Die Mongolei ist viermal so gross wie Deutschland,

hat aber nur rund drei Millionen Einwohner. Vereinzelt stehen Jurten, manchmal blockiert eine Ziegenherde den Weg. Das Gras kräuselt sich hellbraun auf dem trockenen Boden. «Um diese Jahreszeit sollte es schon etwa fünfzehn Zentimeter hoch und saftig grün sein», sagt Chinzorig. Stattdessen Dürre. «Die ganze Mongolei sehnt sich jetzt nach Regen.» Nach dreizehn Stunden Fahrt verlässt Chinzorig den Asphalt hinter einem kleinen Hüttendorf. Eine bucklige Piste führt ihn in der Dämmerung bis in ein weites Tal. Berge am Horizont. In der Steppe stehen Kreisformationen grob behauener Steine, die Gräber der Ahnen. Schafe und Ziegen weiden versprengt, der Geruch von verbranntem Dung weht durch die offenen Autofenster herein, und aus der Ferne hört man das tiefe Grunzen einer Yakherde. Am Fluss stehen drei Jurten, rosa im Abendlicht. Chinzorig fährt langsam auf sie zu.

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Die Erderwärmung in der Mongolei ist doppelt so hoch wie im globalen Durchschnitt, neunzig Prozent des überlebenswichtigen Weidelandes drohen langfristig zu verwüsten. 7 8

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Der Cousin wird bis zum nächsten Tag unterwegs sein, ein Bankgeschäft erledigen. Seine Frau Munja verteilt in der Jurte Schalen mit Milchtee und geflochtenes Gebäck. «Wie ist euer Sommer?», fragt Chinzorig, den Arm um seinen neunjährigen Lieblingsneffen gelegt. «Sehr schlecht», sagt Munja. «Die Tiere werden mager. Die Yaks können wir nur einmal am Tag melken, Ziegen und Schafe gar nicht.» Ihr Vater und ihr Bruder kommen in langen Mänteln von der Weide zurück und begrüssen Chinzorig mit Handschlag. Sie leben mit ihren Familien in den Jurten nebenan. Die Haut der beiden Männer ist dunkel und rau, geplatzte Äderchen ziehen sich über ihre Wangen. Sie verbringen die Tage bei den Tieren, in Wüstenhitze und Eiseskälte. Der Älteste reicht eine Schnupftabakdose herum. Bald wird es Zeit, die Tiere für die Nacht in ihre Gatter zu sperren. Der alte Mann treibt von einem Pferd aus Ziegen und Schafe zusammen. Sein dreizehnjähriger Enkel hilft ihm mit dem Motorrad. Es folgt eine tausendfach eingeübte Choreografie, in der jeder seine Rolle kennt. Chinzorig fügt sich wortlos ein. Sie umzingeln die Tiere und ziehen ihren Kreis immer enger. Wenn eines auszubrechen versucht, springen sie ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen: «Tschu! Tschu!» Um zehn Uhr abends geht der Arbeitstag der Nomaden zu Ende. Die Familie versammelt sich in der Jurte vor dem solarbetriebenen Fernseher. 6

5 Bei Verwandten von Chinzorig in der Zentralmongolei. 6/7 Gemeinsam fangen sie abends die Kälber ein. 8 Die Jungen wachsen im Sattel auf. 9 Schlachten ist Familienarbeit.

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Ziegen und Wodka Am nächsten Tag soll eine Ziege geschlachtet werden. Weil sein Cousin noch immer nicht da ist, steht Chinzorig in der Pflicht. Bevor die Tiere auf die Weide gelassen werden, geht er ins Gatter, treibt im Strom der aufgescheucht kreisenden Herde und packt eine Ziege bei den Hörnern. Er prüft, ob sie genug Fett hat, denn in der Steppe gilt: je fettiger das Fleisch, desto besser. Dann zieht er sie hinaus, ihren Kopf zwischen seinen Beinen. Chinzorigs Cousin Tsolmongerel kommt abends, als die Eingeweide der Ziege in einem grossen Topf auf dem Ofen köcheln. Er hat eine Flasche Wodka dabei und gute Nachrichten: Die Bank hat ihm drei Millionen mongolische Tugrik geliehen, umgerechnet rund tausend Euro. Damit will er im nächstgelegenen Dorf einen Reifenhandel eröffnen. «Auch wir wollten früher in die Stadt ziehen», sagt Tsolmongerel. «Ich bin mit meinem jüngsten Sohn damals vorgegangen und habe bei Verwandten gelebt.» Er schneidet den Darm durch, in dem das gekochte Blut schwarz und fest geworden ist. «Ein halbes Jahr habe ich versucht, Arbeit zu finden. Dann habe ich aufgegeben und bin zurückgekehrt.» Der Reifenhandel sei für ihn ein Mittelweg. «Wir bleiben Nomaden – aber werden ein Stück weit vom Wetter unabhängig.» Die Cousins haben nur diese Nacht zusammen. Dann muss sich Chinzorig wieder auf den Weg machen, aus der Steppe auf die Strasse, 800 Kilometer, zur nächsten 24-Stunden-Schicht in Ulaanbaatar. «Ich will mich nicht beklagen», sagt Chinzorig. «So haben die Götter mein Schicksal gezeichnet, und so bin ich zufrieden.» Er wuchtet einen schweren Karton voller Milch und Fleisch in den Kofferraum. 21


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Körper, die verschwanden Ausstellungen In den 80er-Jahren brach Aids über die Welt herein und traf die homosexuelle

Szene und Künstler-Communities besonders schmerzlich. Das Migros Museum für Gegenwartskunst und die Shedhalle Zürich zeigen die Auswirkungen auf die Kunstwelt. TEXT DIANA FREI

Vor fünfzig Jahren, am 28. Juni 1969, fand in der New Yorker Homosexuellen-Bar Stonewall Inn an der Christopher Street eine der üblichen Razzien statt, doch diesmal setzen sich die Schwulen, Lesben und Transsexuellen gewaltsam zur Wehr. Es kam zu Protesten, die den Anfang einer neuen Emanzipationsbewegung bildeten. Als sich in den 1980er-Jahren HIV verbreitete und Aids zur gesundheitlichen Katastrophe wurde, traf es dieselben Netzwerke, die oft auch Künstler-Communities waren. Freundschaften wurden ausgelöscht, Gemeinschaften gesprengt. Mit dem diesjährigen Stonewall-Jubiläum liegt das Thema in der Luft: Gleich zwei Museen setzen diesen Herbst grosse Ausstellungen zur sogenannten Aids-Kunst an. In der von Raphael Gygax kuratierten Ausstellung «United by AIDS» im Migros Museum für Gegenwartskunst zieht sich die Leerstelle durch viele Arbeiten. In der Werkbeschreibung von Félix González-Tor22

res’ «Untitled (Go-Go Dancing Platform)» von 1991 steht neben «Holz, Glühbirnen, Acryl» auch: «Go-go-Tänzer in Silberlamé-Slip, Sneakern und Walkman». Der fehlt aber (meistens). Und fast fühlt sich die Vorstellung des Performers, die blosse Beschreibung bleibt, wie eine Erinnerung an jemanden an. Der in Kuba geborene Konzeptkünstler Torres, 1996 an den Folgen von Aids gestorben, schüttete einst auch einen Bonbon-Berg mit dem Gewicht seines vor ihm verstorbenen Freundes auf – die Besucher durften die Bonbons weglutschen. Es geht um die Absenz des Körperlichen: Körper verschwinden, weil sie sterben. Körper verschwinden aus der Gesellschaft, weil man ihnen keinen Platz mehr gewährt. Sie verschwinden aus dem Alltag, weil man sie nicht mehr anzufassen traut. Die US-amerikanische Choreografin Anna Halprin kämpfte mit ihrem Community Dance genau dagegen an. Den Tanz verstand sie als Kunst mit heilender Wir-

kung. Sie führte mit Aids-Patienten Rituale durch, bei denen es darum ging, Körper zu berühren und die Entfremdung, die gesamtgesellschaftlich stattgefunden hatte, aufzuheben. Ein anderer Ansatz war der aktivistische. Aids sollte als gesellschaftliche Krise ernstgenommen werden. Künstler wie Avram Finkelstein oder die Gruppierung Group Material arbeiteten mit Schriften und Werbeästhetik. Donald Moffett reagierte mit der Arbeit «He Kills Me» auf die Tatsache, dass Aids von der Politik lange totgeschwiegen wurde. Das Poster zeigt Ronald Reagan, der erst 1987 offiziell auf das Thema zu sprechen kam. Eine neue Arbeit ist die Comic-Collage des 1975 geborenen Schweizers Marc Bauer. Er arbeitet mit Archivmaterialien: Fernsehdokumentationen fliessen ein, Benetton-Werbung, das letzte Abendmahl, Superhelden-Comics. Bauers subjektive Geschichtsschreibung fragt: Welche Bilder Surprise 459/19


FOTOS (1): SAMMLUNG MIGROS MUSEUM FÜR GEGENWARTSKUNST, (2): DONALD MOFFETT, MARIANNE BOESKY GALLERY NY/ASPEN, (3+5): FBM STUDIO AG, FRANZISKA & BRUNO MANCIA, ZÜRICH, (4): MARC BAUER. GALLERIE PETER KILCHMANN; LORENZO PUSTERLA

1 United by AIDS: Hudinilson Jr, Zona de Tensão III _ D, 1988. 2 United by AIDS: Donald Moffett, He Kills Me, 1987. 3 Performance «Connected» von JOKO: Augenblicke mentaler Vereinigung zweier Menschen in der Überwindung des Schmerzes. 4 United by AIDS: Marc Bauer, AAAARGH!!! Do you see my rage! ... A Recollection of Desire and Annihilation, 2019. 5 JOKO thematisieren mit ihren Performances den Schmerz, der in der Gesellschaft verdrängt wird: Reihe «Connected».

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sind (mir) geblieben? Eigene sexuelle Sehnsüchte stehen hier in Zusammenhang mit einem omnipräsenten Tod. Afrika kommt im Migros Museum bloss am Rande vor, obwohl Subsahara-Afrika die weltweit am stärksten betroffene Region der HIV-Epidemie ist. Quilts als Trauerarbeit und Mahnmal Auch die Zürcher Shedhalle zeigt im November eine Ausstellung zum Thema HIV und Aids. «1981 brach Aids in einer Zeit der absoluten Selbstbestimmung und Euphorie über uns herein», sagt Kuratorin Rayelle Niemann. Sie spricht konsequent von «wir» und zählt sich damit selbst ausdrücklich zur Community. «Hiv» und «Aids» möchte sie in Kleinbuchstaben geschrieben sehen. «Die Worte haben damit eine andere Mächtigkeit, das ist ein Statement. Wir wollen Hiv und Aids zu normalen Wörtern machen. Das ist eine Vereinbarung in der Community.» Niemann nutzt für die Ausstellung ihr über lange Jahre gewachsenes persönliches Netzwerk von Künstlerinnen und Künstlern, die sich für schwul-lesbische Anliegen und das Thema HIV engagieren. Neben Archiv- und Dokumentationsmaterial aus dem Zürich der 1980er- und 1990er-Jahre zeigt Niemann Arbeiten, die zum Teil eigens für die Ausstellung in Auftrag gegeben worden sind und eine historische Einbettung leisten oder die Stigmatisierung verhandeln. Das Künstlerduo Surprise 459/19

Monica Germann und Daniel Lorenzi arbeitet unter dem Titel «Mapping Hiv» die Geschichte von Aids anhand einer Timeline visuell auf. Ein Werk des Schweizer Malers Dieter Hall stammt aus den 1990er-Jahren, die er in New York verlebte. Es sind sechs Tableaus, «Tod in der Bar I-VI» mit Barszenen, die an die mexikanische Totenmalerei erinnern, der Tod ist Stammgast. «Das war die Realität damals. Man kam in eine Bar, und da waren schon wieder fünf Leute weniger», sagt Niemann. «Damit musste ein Umgang gefunden werden.» Auch wirtschaftliche Aspekte wird die Ausstellung in der Shedhalle aufzeigen – es gibt derer genug: die Frage nach Patenten, Zulassungen, Generika, nach Krankenkassen (gerade in den USA ein dringendes Thema), Versicherungen, Zugänglichkeit von Kondomen und Medikamenten. Trotzdem steht auch für Niemann der künstlerische Umgang mit HIV/Aids im Zentrum. Die Erinnerungskultur spielt dabei eine zentrale Rolle. Ab den 1980er-Jahren entstanden sogenannte Erinnerungsquilts, die «Aids Memorial Quilts». Handgefertigte Decken, die Verwandte, Freundinnen und Freunde einerseits als Trauerarbeit anfertigten, die aber auch als Mahnmal eingesetzt wurden, um den Kampf gegen Aids auf die politische Agenda zu setzen. So wurden Quilts auch vor dem Weissen Haus ausgelegt – die Politiker ignorierten

sie. Erst Präsident Clinton stattete ihnen einen Besuch ab. Zwei Quilts aus der Schweiz werden in der Shedhalle aufgehängt. Sechzehn Menschen erzählen zudem in Interviews, die für diese Ausstellung in der Schweiz geführt wurden, von ihren Erfahrungen: solche, die beruflich seit den ersten Stunden mit HIV und Aids konfrontiert waren, und solche, die seit zwanzig bis dreissig Jahren HIV-positiv sind oder seit ihrer Geburt mit dem Virus leben.

«United by AIDS — An Exhibition about Loss, Remembrance, Activism and Art in Response to HIV/AIDS», bis So, 10. November, Migros Museum für Gegenwartskunst, Limmatstrasse 270 migrosmuseum.ch «Problem gelöst? – Geschichte(n) eines Virus», Fr, 1. November bis So, 5. Januar 2020, Shedhalle Zürich, Seestrasse 395 shedhalle.ch «Engagement und visuelle Sprache in Zeiten von Hiv/Aids», gemeinsame Veranstaltung von Shedhalle / Migros Museum, Do, 17. Oktober, 18.30 Uhr, Migros Museum für Gegenwartskunst

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Lomaskos unorthodoxer Blick auf Russland Kunst Ob Blasphemie-Prozesse vor Gericht oder Proteste gegen Putin: Die Comiczeichnerin Victoria Lomasko zeigt russische Realitäten. Im Cartoonmuseum Basel ist ihre erste Retrospektive zu sehen. TEXT BENJAMIN VON WYL

«Zu Beginn des Prozesses gefielen ihnen meine Zeichnungen», erzählt die Comiczeichnerin Victoria Lomasko. 2011 erschien ihre erste Reportage «Forbidden Art», ein gezeichneter Prozessbericht darüber, wie der russische Staat wegen angeblicher Blasphemie gegen eine Moskauer Ausstellung vorging. Lomasko quetschte sich mit ihrem Zeichenblock in den überfüllten Gerichtssaal. Fast alle Zuschauer waren orthodoxe Kirchenaktivisten. Manchmal war Lomasko die Einzige, die auf der Seite der Kunst stand. Die Orthodoxen verkannten zuerst die kritische Dimension von Lomaskos illustriertem Protokoll. Das änderte sich schnell. Bald zogen sich Zuschauerinnen das Kopftuch ins Gesicht, um nicht gezeichnet zu werden. Zeichnungen als Aggression, gar als Gewalt? Im Weltbild von verletzten Gläubigen mag das Sinn machen – aber das rechtfertigt die verbale Gewalt der Orthodoxen nicht: Auf Schildern forderten sie die Todesstrafe für Gotteslästerung. Auch Lomasko selber wurde bedroht: «Ich sah mich in Gefahr. Oft waren im Gerichtssaal zwanzig Orthodoxe und ich. Dann musste ich allein nach Hause. Auf unsere Polizei kann man nicht zählen.» Die Stimmung, die Argumente des Gerichts, die Performances von angeklagten Künstlern: All das kann man, gefiltert von Lomasko und auf einem Zeichenblock festgehalten, im Cartoonmuseum in Basel nacherleben. Die Ausstellung «Other Russias» gibt einen Überblick über Lomaskos erstes Jahrzehnt als Dokumentaristin der russischen 24

Wirklichkeit: Sie begleitete protestierende LKW-Fahrer, Sex-Workerinnen in Nischni-Nowgorod, den Pussy-Riot-Prozess und Insassen einer Jugendstrafanstalt. Ihre Reportagen zeigen russische Realitäten, die das von Kirche und Staat propagierte Russland unterlaufen. Manche sind schmerzhaft, wie jene über die kasachischen und usbekischen Menschenhandelsopfer. Die Polizei deckte die Täter. «Was ist das für eine Gesellschaft, für ein Staat, der Sklavenhalter beschützt?», fragt die Comicreporterin rhetorisch. Im Cartoonmuseum, im Idyll der Grossbasler Altstadt, wirkt das unfassbar weit weg. Lomasko zeigt die Wirklichkeit, aber ihr Zeichenstil versucht nicht, die Realität nachzuahmen. Dicke Striche prägen ihre Arbeiten. Manche erinnern an frühe Sowjetpropaganda, andere an Holzschnitte. Mit ihrer Darstellung der Orthodoxen in «Forbidden Art» war Lomasko nicht ganz zufrieden. Sie wirkten auf den Zeichnungen wie «groteske Helden», wie sie heute sagt. «Es war mir nicht möglich, einen Kontakt zu ihnen aufzubauen.» Lomasko wollte aber Orthodoxe zeichnen und fand eine Gruppe von Kirchenaktivisten. Man habe sich gemocht. Sie wurde sogar in deren Gotteshaus eingeladen. Bis eines Tages orthodoxe Demonstranten kamen, die sie vom Gericht her kannte. Diese hätten sofort losgeschrien, sie sei weggerannt und nie wiedergekommen, erzählt Lomasko und befindet trotzdem: Mit orthodoxen Aktivisten sei es auch mal lustig. Man könne sie ironisch betrachten, sofern sie einen nicht mit dem Tod bedrohten. Surprise 459/19

FOTO(1,2+4): VICTORIA L0MASKO, FOTO(3): ZVG

«Haben Sie überhaupt den Segen zum Zeichnen erhalten?», wurde Victoria Lomasko von Orthodoxen gefragt.


Buch Der erste Band der Reihe «Gesichter der

administrativen Versorgung» verleiht Betroffenen ein Gesicht und eine Stimme.

FOTO: ZVG

Man stelle sich das vor: Man hat keine Straftat begangen und wird dennoch in eine Anstalt gesperrt, fremdplatziert, vielleicht sogar sterilisiert. Nur deshalb, weil man in den Augen von Behörden nicht den gesellschaftlichen Normen entspricht. Vor 1981 war dies das Schicksal einer grossen Zahl von Jugendlichen und Erwachsenen – ein von einer breiten gesellschaftlichen Akzeptanz getragenes Unrecht. Ende 2014 erhielt eine Unabhängige Expertenkommission (UEK) vom Bundesrat den Auftrag, das Unrecht der Administrativen Versorgung aufzuarbeiten. Nun legt die UEK, die sich aus Historikern, Experten aus Psychiatrie, Recht und Sozialwissenschaften und interdisziplinär Forschenden zusammensetzt, ihre Ergebnisse vor. Ein gewaltiges Unterfangen: zehn Bände, die die Facetten des Themas beleuchten, dazu gab es eine Wanderausstellung und Unterrichtsmaterial für Schulen. Während sich die Bände 2 bis 9 verschiedenen Fragestellungen widmen und Band 10 den Synthesebericht der UEK sowie Empfehlungen an den Bundesrat enthält, versammelt der erste Band Porträts von über sechzig Betroffenen. Noch leben viele von Zwangsmassnahmen Betroffene. Noch besteht also die Chance, diese als Zeitzeugen zu Wort kommen zu lassen – und ihnen damit eine späte Würdigung zu verschaffen. Die Quellenlage war in erster Linie behördenlastig. Die Akten, die die UEK vorfand, messen sich in Laufkilometern. Wenn es Fotografien gab, so dienten sie entweder ermittlungstechnischen Zwecken oder waren arrangierte Darstellungen. Anderes war seltener: literarische Texte, Briefe, Entlassungsgesuche, Beschwerdeschreiben. In der Regel wurde über den Kopf der Betroffenen hinweg verhandelt. Umso mehr war es der UEK ein Anliegen, die Perspektive der Betroffenen mit einzubeziehen. Exemplarisch dafür steht der erste Band. Die eindrücklichen Schwarz-WeissFotos von Jos Schmid entstanden, während die Betroffenen ihre Geschichte der Versorgung erzählten. Es sind mutige Statements, die dazu beitragen wollen, dass sich die Geschichte dieses Unrechts nicht wiederholt. Bilder und Texte, «Dokumente des HInschauens und Zuhörens», die den Porträtierten das Menschsein zurückgeben sollen, das ihnen frühere Bilder und Texte genommen haben. Wie bitter nötig und brennend aktuell dies ist, zeigt eine neue, gegen geltendes Bundesrecht verstossende (!) Verordnung im Kanton Aargau, die es ermöglichen soll, Flüchtlinge und Sozialhilfebezüger in Heime abzuschieben – anders gesagt: administrativ zu versorgen. CHRISTOPHER ZIMMER

Ruth Ammann, Thomas Huonker, Jos Schmid (Fotografien): «Gesichter der administrativen Versorgung», Vol. 1: Porträts von Betroffenen, Chronos Verlag 2019, CHF 52.90

Die Locke, die sich aus der Frisur löst Die Schweiz schreibt Die Schriftstellerin Julia

Weber erfüllt mit ihrem Literaturdienst an privaten und geschäftlichen Anlässen Textwünsche auf ihrer Schreibmaschine. Julia Weber ist seit 2012 hautnah dabei, wenn im Leben anderer Menschen Grosses geschieht: An Geburtstagen, Firmenjubiläen, Hochzeiten oder Eröffnungen nimmt die 1983 geborene Schriftstellerin mit ihrer Schreibmaschine mitten im Geschehen Platz und hält schriftlich ihre Beobachtungen fest. Das kann der Duft einer Suppe sein, eine Locke, die sich aus einer Frisur löst; auch Gesprächsfetzen finden den Weg aufs Papier. Weber macht sich während des Schreibens durchlässig für alle Eindrücke, die auf sie einwirken, und verbindet diese zu einem grossen Ganzen. So schafft sie einzigartige Erinnerungen an Momente und Details, die auch dem routinierten Auge eines Profifotografen entgehen können und für die den auf Instagram-Tauglichkeit bedachten Gästen oft die Aufmerksamkeit fehlt. «Festgemeinschaften liebevoll zu beobachten, hat mich gelehrt, Kategorisierungen aufgrund von äusseren Merkmalen zu vermeiden. Trotzdem ist es spannend, dass es an jeder Feier eine ganz bestimmte Rollenverteilung gibt: hier das Organisationstalent, da die Redenschwingerin, dort der Witze-Erzähler. Der besondere Reiz besteht für mich darin, in den fünf bis sieben Stunden, während denen ich anwesend bin, Charakterzüge zu erfassen und in literarischer Form wiederzugeben», sagt Weber, die ihre Texte auf Wunsch als Krönung am Ende einer Veranstaltung vorliest. Das sorge für viele heitere Momente, wenn sich jemand in den beschriebenen Situationen wiedererkennen könne. Die Texte können bis zu zehn Seiten lang werden und fesseln beim Lesen – wie wenn man durch ein Kaleidoskop schaut, in dem sich Glassteinchen zu immer neuen Mustern zusammenfügen. Wobei die Glassteinchen in Webers Fall die Festgäste sind. Dank den Literaturdienst-Engagements erhält Julia Weber für sie als Schriftstellerin wertvolle Einsichten, wie Traditionen in der heutigen Zeit gelebt werden. «Geburtstage sind generell etwas lockerer, während Hochzeiten nach wie vor von vielen Regeln umrahmt werden, um den Tag, an dem zwei Menschen Ja zueinander sagen, bedeutsam und gewichtig zu machen.» MONIK A BET TSCHEN

Infos unter: www.literaturdienst.ch

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ILLUSTRATION : TILL LAUER

Hinschauen und zuhören


BILD(1): SEBASTIAN KOLODZIEJCZYK, BILD(2): CHRGY & BILLY BEN, BILD(3): FRED DEBROCK

Veranstaltungen

Aarau/Luzern Fortuna Ehrenfeld, Mi, 2. Oktober, 19.30 Uhr, Kiff, Tellistrasse 118, Aarau; Do, 3. Oktober, 19 Uhr, Konzerthaus Schüür, Tribschenstrasse 1, Luzern. antispecht.de/fortuna

«Den Umfang eines Herzens kann man ganz genau berechnen, du drehst dich in den Schwindel und stoppst danach die Zeit.» Niemand weiss so ganz genau, was das bedeutet, und das ist gut so. Davon lebt die IndiePop-Band Fortuna Ehrenfeld um Musikwissenschaftler, Sänger und Gitarrist Martin Bechler. Gemeinsam mit Keyboarderin Jenny Thiele und Drummer Paul Leonard Weißert macht er leidenschaftlichen Pop mit poetisch-anrührenden Texten, in denen jeder finden kann, was gesucht wird: Trost, Spass, Träumereien. Fortuna Ehrenfeld pflegt den guten Klang: in kleinen Clubs, gern auch gepresst auf Vinyl. Manches wie «Helm ab zum Gebet» singen Bechler und Thiele im Duett, «denn es gibt einfach Momente, da macht die die Klappe auf und die Sonne geht auf», wie Bechler mit typisch Kölner Schnauze über seine Keyboarderin sagt. Konzerte zum Nahsein, Wohlfühlen, Mitsingen. WIN

Bern «Oh Body!», feministische Theater- und Performancetage, Mi, 2. Oktober bis So, 31. Oktober, Schlachthaus Theater Bern, Rathausgasse 20/22. schlachthaus.ch

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Der Körper als seltsame Hülle, die unser temporäres Dasein auf der Erde sicherstellt: Auch das ist eine Wahrnehmung, die man (und vor allem frau, in diesem Fall) haben kann. Ernestyna Orlowska probiert den Körper in ihrem PerformanceStück aus, macht ihn zu einem surrealen Fantasiewesen, betont, seziert, befreit ihn. In einer anderen Produktion, «Oh My» des Theaterkollektivs Henrike Iglesias, wird es dann recht handfest und angriffig. Hier wird gleich mal provokativ gefragt, wer weiss, wie eine Klitoris ausschaut, und wieso denn die weibliche Sexualität von Schuld und Scham geprägt sei. Das Theaterkollektiv lädt in seinem Stück auf sein eigenes Pornofilmset ein – es findet aber alles immer noch im Rahmen des subventionierten Kulturbetriebes statt. Und Körper ist ja auch nicht immer = Sex. In der Performance «Kür» geht es zum Beispiel um die Zurichtung des Körpers für den Sportwettkampf. DIF

Zürich/Winterthur «Chorkonzerte für die Sans-Papiers-Anlaufstelle Zürich Spaz», Fr, 20. September, 19.30 Uhr, So, 22. September, 18 Uhr, Saal Pfarreizentrum ZürichLiebfrauen, Weinbergstrasse 36, Zürich; Di, 26. November, 20 Uhr, Alte Kaserne Kulturzentrum, Technikumstrasse, Winterthur. dievogelfreien.ch Der Frauenchor Die Vogelfreien hat ein neues Programm mit Liedern von Schweizer Musikerinnen, unter anderem von Sophie Hunger, Corin Curschellas, Sina, Steff la Cheffe. Das Programm heisst «Inland» und ist anlässlich der Konzerte im September und November jenen gewidmet, die in unserem Inland keine Rechte haben und Unterstützung brauchen: den Sans-Papiers. Das Geld aus der Kollekte geht an die Sans-Papiers-Anlaufstelle Zürich Spaz, die einzige Organisation, die in Zürich und der Ostschweiz kostenlos Sans-Papiers berät. DIF

Zürich «Vaters Aktentasche – Fundstücke einer Flucht», Sa, 21. September, Do bis Sa, 26. bis 28. September, Do, 3. Oktober bis Sa, 5. Oktober, Sa und So, 19. und 20. Oktober, Mi und So, 23. und 24. Oktober, Sa, 26. Oktober, je 20 Uhr, Theater Winkelwiese, Winkelwiese 4. winkelwiese.ch Die Schauspielerin Nikola Weisse flüchtete 1945 mit ihrer Familie aus dem damaligen Pommern Richtung Westen. Nun öffnet sie Vaters Akten-

tasche: Da sind Briefe, Bücher, Fotos und Landkarten, die die Flucht überdauert haben. Weisse trägt diese Bruchstücke der Erinnerung im Zusammenspiel mit einem Archivar und einem Musiker zusammen und baut daraus die Geschichte einer Familie, die durch den Krieg ihre Heimat verloren hat. Es geht um Vertreibung, Verlust. Und die Frage, wieso die Eltern über diese Zeit immer geschwiegen haben. DIF

Zürich «Orest in Mossul», Theater, Sa, 5. Oktober, 20 Uhr, So, 6. Oktober, 18 Uhr, Schauspielhaus Zürich, Pfauen, Rämistrasse 34, ab 16 Jahren. schauspielhaus.ch

Milo Rau bringt mit seinem Ensemble aus deutsch-belgischen Schauspielern und Exilirakern die «Orestie» nach Aischylos auf die Bühne. Aber nicht einfach nur so, sondern als Resultat von mehreren Theaterreisen nach Mossul, wo er das Stück mit vom IS-Terror traumatisierten Menschen zu inszenieren versuchte. Die Proben wurden vor Ort aufgezeichnet, die irakischen Beteiligten bekamen kein Visum für Europa. Verknüpft mit dem aktuellen Konflikt stellt Rau die Frage: Wie lässt sich die Spirale der Gewalt aufhalten? Bei Aischylos war Athene als Friedensstifterin zur Stelle. Heute ist da keine Athene, sondern eine Terrormiliz. DIF

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Die Menschen sind unterwegs vom Umland in die Stadt, von einer Stadt in die nächste, von diesem in ein anderes Land. Sie pendeln, unternehmen Ferien- und Weltreisen. Unterscheidbar an der Kleidung und am mitgeführten Gepäck, insbesondere an der Grösse der Rollkoffer. Die einen sind erwartungsfroh und überschäumend, die anderen abgekämpft, auf der letzten Meile, die sich auf einmal endlos zieht. Ein australischer Musiker unterwegs nach Hamburg, mit Gitarre und Sporttasche. Keine Rollen. Profi halt, selbstgenügsam, wetterfest. Ein Lied anstimmend, zur Freude der Kinder. Ein hinkender Hund kämpft sich tapfer vorwärts.

Tour de Suisse

Pörtner am Basler Bahnhof Surprise-Standort: Bahnhof SBB, Haupteingang, Passerelle, Seiteneingang Einwohnerinnen und Einwohner Basel-Stadt: 200408 Anteil Ausländerinnen und Ausländer in Prozent: 37,7 Sozialhilfequote in Prozent: 6,7 Anzahl Spielplätze: 59

Auf der berühmt-berüchtigten Passerelle des Basler Bahnhofs, diesem Nadelöhr, durch das zu Stosszeiten Menschenmassen aneinander vorbeiwalzen und sich ineinander verkeilen, wirbelt der Surprise-Verkäufer das Heft durch die Luft, nach dem Vorbild der auf YouTube berühmt gewordenen Amerikaner, die aus der Aufgabe, Hinweisschilder am Strassenrand hochzuhalten, eine Kunstform schufen, Sign Spinning oder Flipping genannt. Ein Heft fliegt aber nicht so gut und lässt sich nicht so spektakulär rotieren wie ein Schild, entsprechend hat der junge Mann einen schweren Stand gegen die Handys, auf welche die Leute starren, und die Zeit, die sie nicht haben. Die Welt ist in Basel offener als andernorts, am Vierwaldstättersee zum Beispiel, für den unten, in der Eingangshalle, ein riesiges, hodlereskes Wandbild wirbt. Die Surprise 459/19

meisten Sitzgelegenheiten mussten einem Shop weichen, den Kindern ist das egal, sie setzen sich einfach auf den Boden, sie mögen jetzt nicht mehr. Die Reisenden ohne bestimmtes Ziel und die Freunde des Dosenbiers werden nur ausserhalb der Halle toleriert. Der Durchgang zum ehemaligen Bahnhof SNCF ist geschlossen. Dort, wo früher Frankreich war, wo die Willkürlichkeit von Grenzen und Zollstationen offensichtlich wurde, wo sich zwei Länder in einem Gebäude befanden, wo Reisen nach Paris mit Herzklopfen begannen und Spanienferien mit Ganzkörperkontrollen endeten, entsteht der Westflügel des Bahnhof SBB. Wie Frankreich wohl mit dem Verlust dieses Staats- und Hoheitsgebietes umgeht, die Grande Nation, schon wieder ein bisschen kleiner.

Oben in der Nische bei der Birke, die aus einem echten Stamm und einer künstlichen Krone besteht, gibt es Parkbänke und Tischchen, eine Mülltrennungssammelstelle und einen Defibrillator. Hier darf man sich ohne Konsumzwang ausruhen, eine Art offener Wartesaal. Die Zeit wird genutzt, um sich zu verpflegen, Karten zu spielen, zu zeichnen und, natürlich, aufs Handy zu schauen. Auf der Scheibe über der Rolltreppe klebt die Silhouette einer Ziege. Für einen Moment herrscht so etwas wie Ruhe, eine kurze Ebbe im Menschenstrom, der gelenkt wird von Ankunfts-, Abfahrts-, Öffnungs- und Arbeitszeiten. Eine Taube fliegt unter dem unregelmässig gewellten Dach hindurch, die ganze Länge, sie weiss genau, wo sie hinwill, im Gegensatz zu den beiden Teenagerinnen, eine davon im FC-Basel-Shirt, die schon zum dritten Mal hier entlanggehen.

STEPHAN PÖRTNER

Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Echtzeit Verlag, Basel

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Waldburger Bauführungen, Brugg

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Rhi Bühne Eglisau

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Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Philanthropische Gesellschaft Union Basel

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Mitarbeitende Forbo Siegling CH, Wallbach

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TopPharm Apotheke Paradeplatz

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Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti

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RLC Architekten AG, Winterthur

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

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LIVEG Immobilien GmbH, Adliswil

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VXL, gestaltung und werbung, Binningen

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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

14

Brother (Schweiz) AG, Dättwil

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

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Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

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Physiopraxis M. Spring/S. Zeugin, Basel

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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Cantienica AG, Zürich

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Madlen Blösch, Geld & so, Basel

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Schluep & Degen, Rechtsanwälte, Bern

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Ozean Brokerage & Shipping AG, Muttenz

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InhouseControl AG, Ettingen

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

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Wir alle sind Surprise

Strassenfussball

Strassenmagazin

Gestrickt und gewonnen Michael Rufer, Nati-Goalie und Captain des letzten Spiels der Surprise Nationalmannschaft am diesjährigen Homeless World Cup in Cardiff übergibt das Gewinnerstück der Schal-Aktion an sein Pendant aus Wales. Ruth Trachsel aus Zollikofen heisst die talentierte Designerin, deren Schal von den Spielern der Schweizer Surprise Nati unter zahlreichen Einsendungen ausgewählt und am letzten Spiel der walisischen Mannschaft überreicht wurde. Das Spiel gegen das Gastgeberland hat die Schweiz mit 3:2 gewonnen.

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Besten Dank für die immer gut recherchierten Artikel und die Sonderausgaben! A . GÜRTLER-WÜST, Effretikon

#454: Himmelhoch

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«Chapeau» Die Geschichten von Einzelschicksalen finde ich super. Beeindruckend, wie einem vor Augen geführt wird, dass es unheimlich schnell nach unten gehen kann, wenn man den Tritt in der Gesellschaft verliert. Ich hätte früher nie gedacht, dass man z.B. als Ingenieur mit Fachkompetenz auf einmal an der Migros-Ecke steht und Zeitungen verkauft. Oder wie es ist, wenn man sich als totaler «Fremdling» in diesem Land integrieren muss. Chapeau für die Menschen, die sich an diese Herausforderung heranwagen müssen. Da merke ich wieder, was es für ein Privileg ist, wenn man in der Schweiz leben kann. R. KUPSCH, St. Gallen

I. FERR ARO, ohne Ort

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Die Literaturausgabe «Himmelhoch» ist eine echte Surprise – die berührenden Bilder von Priska Wenger haben es mir besonders angetan. Auch die Geschichten dazu fand ich besonders schräg, amüsant. Ich freue mich bereits auf die neue Ausgabe.

Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Semhar Negash, Stephan Pörtner, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Amir Ali, Nicolas Duc, Alina Günter, Till Lauer, Sascha Montag, Martin Theis, Benjamin von Wyl Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name

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FOTO: KLAUS PETRUS

Surprise-Porträt

«Der beste Job der Welt» «Seit etwa dreizehn Jahren verkaufe ich Surprise, und ich bin sehr, sehr dankbar für die vielen Menschen, die ich bei dieser Arbeit kennengelernt habe und die mich immer wieder unterstützen. Ohne Surprise hätte ich diese Leute nicht in meinem Leben, deshalb ist es für mich der beste Job der Welt. Ich würde gerne mehr arbeiten und mehr verdienen, zum Beispiel in der Kinderbetreuung oder in der Altenpflege. Dann würde ich es ohne Sozialhilfe schaffen. Ich habe in Somalia bereits in einem Waisenhaus und in einem Spital gearbeitet, neben meiner Haupttätigkeit als Journalistin. Aber diese Berufserfahrung und meine Diplome bringen mir in der Schweiz nichts. Neben Somalisch spreche ich sehr gut Italienisch und Arabisch. Deutsch habe ich hier auf der Strasse gelernt, Unterricht hatte ich kaum. Als alleinerziehende Mutter von sechs Kindern ist das für mich sehr schwierig zu organisieren. Meine Jüngste ist 11, sie ist geistig behindert. Sie spricht nicht, geht auf eine Sonderschule und braucht mehrere Therapien. Obwohl sie in der Schweiz geboren ist, bekommt sie keine IV, das macht es nicht einfach. Ich weiss nicht, wie ich es ohne mein ‹Schweizer Mami› und meinen ‹Schweizer Papi› schaffen würde. Die beiden unterstützen mich bei der Familienarbeit, vor allem mit meiner Tochter. Sie sind wie Grosseltern für sie und meine anderen Kinder. Ich bin nicht aus wirtschaftlichen Gründen aus Somalia hierhergekommen, sondern weil dort Krieg herrscht. 1993 wurde ich bei einem Bombardement der US-Luftwaffe verletzt, meine versteifte linke Hand ist mir davon geblieben. Danach entschieden wir uns, mit unseren damals vier Kindern das Land zu verlassen. Wir reisten via Libyen über das Meer nach Italien, wo mein fünftes Kind zur Welt kam. Weil wir dort kein Asyl bekamen, reisten wir weiter in die Schweiz. Mein Mann hielt das eingeschränkte Leben mit Aufenthaltsstatus F nicht aus: keine Arbeit, keine Bewegungsfreiheit. Wir liessen uns scheiden, er lebt heute irgendwo in Europa. Wo genau, weiss ich nicht. Die Lage in Somalia ist immer noch schrecklich. Letzten Dezember wurde meine Mutter bei einem Anschlag verletzt. Sie sass in einem Bus und war unterwegs in das Dorf ihres Bruders, als die Bombe hochging. Zwei Tage später amputierte man ihr den linken Arm. Der Arzt, der sie operierte, ist mittlerweile auch einem Anschlag zum Opfer gefallen. Drei Monate war meine Mutter im Spital. Jedes Jahr spricht die UNO Millionenbeträge für Somalia, aber die Menschen müssen das Spital selbst 30

Seynab Ali, 47, verkauft Surprise in Winterthur, Effretikon und Zürich. Daneben betreut sie ihre Kinder, wobei ihr «Schweizer Mami» (rechts) sie tatkräftig unterstützt.

bezahlen. Das Geld landet am falschen Ort, Korruption ist ein grosses Problem. Meine Mutter hat niemanden dort, meine Geschwister sind im Ausland. Für mich war es sehr schwierig, dass ich nicht bei ihr sein konnte. Irgendwann sagte mein 18-jähriger Sohn Yusuf, er wolle dem nicht länger zuschauen. Er brach seine Lehre ab, um sich in Mogadischu um seine Grossmutter zu kümmern. Mein Sohn Ismail, 22, hat endlich eine Lehrstelle gefunden, in Basel. Er wird unter der Woche dort sein, und ich hoffe sehr, dass er jemanden findet, der ihn beim Lernen unterstützt. Der älteste Sohn, Hasan, hat gerade seine Lehre zum Werkhofmechaniker abgeschlossen und kann mit einer Festanstellung im Betrieb bleiben. Mein Ziel ist es, dass wir ohne Sozialhilfe leben können, jetzt wo er einen richtigen Lohn hat. Vor ein paar Wochen habe ich das Bürgerrecht von Illnau-Effretikon erhalten, wo ich seit Jahren lebe. Ich bin hier wirklich zuhause, gehe als Zuhörerin an die Sitzungen des Stadtparlaments, mache beim Markt mit und beim Stadtfest. Dieser erste Schritt zur Einbürgerung freut mich deshalb sehr. Auch dafür möchte ich Danke sagen.» Aufgezeichnet von AMIR ALI

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SAMSTAG, 26. OKTOBER PFARREISAAL BRUDER KLAUS, RHEINSTRASSE 20, 4410 LIESTAL PREISE: CHF 20.– (AHV, IV, KULTURLEGI, KINDER BIS 16 JAHRE: ERMÄSSIGT CHF 15.–) UNNUMMERIERTE PLÄTZE 19 UHR TÜRÖFFNUNG, 19.30 UHR APÉRO MIT JUBILÄUMSÜBERRASCHUNG, 20.15 UHR KONZERTBEGINN surprise.ngo

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Marta Górnicka «Hymne an die Liebe» © Magda Hueckel

Paweł Pawlikowski «Cold War» 2018 © Filmcoopi Zürich AG

SCAPES FILM · FOKUS · KUNST · LITERATUR MUSIK · THEATER · TANZ

5.10. – 6.12.

CULTURESCAPES.CH


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