Surprise Nr. 453

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Strassenmagazin Nr. 453 28 Juni bis 11. Juli 2019

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Sozialhilfe

Im Abseits Die Geschichte von einem, der nicht mehr dazugehört. Seite 8

Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass


Kultur

Solidaritätsgeste

STRASSENCHOR

CAFÉ SURPRISE

Lebensfreude

Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

Unterstützung

Job

STRASSENMAGAZIN Information

Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten

STRASSENFUSSBALL

Expertenrolle

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE Perspektivenwechsel

SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

GESCHICHTEN VOM FALLEN UND AUFSTEHEN Kaufen Sie jetzt das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» und unterstützen Sie einen Verkäufer oder eine Verkäuferin mit 10 CHF. «Standort Strasse» erzählt mit den Lebensgeschichten von zwanzig Menschen, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Porträts aus früheren Ausgaben des Surprise Strassenmagazins ergänzen die Texte. Der Blick auf Vergangenheit und Gegenwart zeigt selbstbewusste Menschen, die es geschafft haben, trotz sozialer und wirtschaftlicher Not neue Wege zu gehen und ein Leben abseits staatlicher Hilfe aufzubauen. Surprise hat sie mit einer Bandbreite an Angeboten dabei unterstützt: Der Verkauf des Strassenmagazins gehört ebenso dazu wie der Strassenfussball, der Strassenchor, die Sozialen Stadtrundgänge und eine umfassende Beratung und Begleitung. 156 Seiten, 30 farbige Abbildungen, gebunden, CHF 40 inkl. Versand, ISBN 978-3-85616-679-3 Bestellen bei Verkaufenden oder unter: surprise.ngo/shop Weitere Informationen T +41 61 564 90 90 | info@surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: Surprise NGO

Erlebnis


TITELBILD: LAURENT BURST

Editorial

Spiel des Lebens Daniel Krähenbühl hat sich vielleicht nicht immer perfekt durchs Leben gedribbelt. Vielleicht dachte er zu wenig strategisch, sah seine Chancen nicht, vielleicht hat er den Ball ein paar Mal zu oft ins Abseits rollen lassen. Er ist nie dem Erfolg hinterhergehechtet, und langsam hat er den Anschluss verloren. Nun hockt er auf der Ersatzbank und schaut den anderen beim Leben zu, weil man ihn selbst nicht mehr braucht.

Jahrhunderte und sozialen Schichten nach. Und zeigen auf, warum im Strassenfussball heute wichtig ist, was früher dem Adel als oberstes Gebot galt.

Krähenbühl ist Sozialhilfebezüger. Unser Reporter Andres Eberhard hat ihn in seiner Einzimmerwohnung mit Katze besucht und Eindrücke mit nach Hause genommen, die zeigen: Das Schlimmste, wenn man nicht mehr am Arbeitsleben teilnehmen kann, ist die Einsamkeit. Denn in unseren Breitengraden muss man sich auch das Dabeisein finanziell leisten können. Ab Seite 8.

In dieser Ausgabe erscheint die letzte Folge des Fortsetzungskrimis «Agglo Blues» (Seite 27). Der Täter wird nun abgeführt, aber an der ganzen Geschichte faszinierte mich im Grunde am meisten, wie präzise sich Stephan Pörtner in eine Frau einfühlen kann. Wüsste ich es nicht besser, ich wäre überzeugt, der Autor sei selbst eine. Sie können alle Folgen unter surprise.ngo/krimi nachlesen.

Das Dabeisein beim Homeless World Cup muss man sich mit Fairplay verdienen. Denn im Strassenfussball werden diejenigen an die WM geschickt, die bereit sind, an sich zu arbeiten. Ab Seite 14 zeichnen wir den Weg des Fairplays durch die

4 Aufgelesen 6 Vor Gericht

14 Homeless World Cup

Ein Spiel für Gentlemen

Fragen verboten

Fair produziert und erst noch ökologisch sind die Produkte von Shedia Art: Die griechische Strassenzeitung verarbeitet alte Ausgaben zu schickem Design. Tipp für Griechenlandreisende: ein Besuch vor Ort. Seite 22.

Weiter geht’s ab 9. August mit einem neuen Format von Pörtner. DIANA FREI

Redaktorin

22 Upcycling

Aus Abfall wird Design 24 Klanginstallation

Im Rhythmus des Regenwurms

7 Challenge League

Gleichstellung verstehen lernen

25 NIFFF

Fantastischer Film

27 Agglo-Blues

Das Geständnis 28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

8 Armut

Das einsame Leben eines Sozialhilfebezügers

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25 Die Schweiz schreibt 20 Urs Meier

«Wir brauchen Sündenböcke»

Spazieren mit Spitteler

30 Surprise-Porträt

«Für mich gilt: Leben ist arbeiten»

26 Veranstaltungen

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Aufgelesen

FOTOS: KAZUO UNNO

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

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Planet der Insekten «Bis heute hat man ungefähr eine Million Arten von Insekten klassifiziert», sagt Kazuo Unno aus Japan. «Zählt man die noch unentdeckten Spezies dazu, könnte die Anzahl 10 Millionen überschreiten. Es gibt etwa 6000 Arten von Säugetieren – und rund 110 000 Arten von Weichtieren. Insekten machen rund 80 Prozent der Tierarten auf der Erde aus. Es wäre nicht übertrieben, die Erde ‹Planet der Insekten› zu nennen.» Der 72-jährige Fotograf studierte das Verhalten von Insekten an der Universität von Tokio, bevor er auf der ganzen Welt die Camouflage-Techniken von Insekten in Bildern festhielt. BIG ISSUE JAPAN, TOKIO

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FOTO: KAZUHIRO YOKOZEKI

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1 Ein Siebenpunkt-Marienkäfer frisst eine Blattlaus. 2 Kazuo Unno, Insektenfotograf. 3 Der Rücken der Wanzenart Catacanthus incarnatus erinnert an ein menschliches Gesicht. 4 Diese Laubheuschreckenart ist im Moos gut getarnt. 5 Augen auf den Flügeln einer Seidenmotte. 6 Ein Blattroller-Weibchen bei der Arbeit, während zwei Männchen kämpfen.

Natur statt Alkohol «Das Schwierigste im Umgang mit Alkohol ist, dass er legal und überall erhältlich ist», sagt der Wohnungslose Carlin aus Seattle, USA. «Am Ende muss man einfach lernen, nein zu sagen.» Seit 2004 arbeitet Carlin als Strassenzeitungsverkäufer. Am liebsten verbringt er seine Zeit in den Olympic Mountains, einem Gebirgszug im Nordwesten der USA, wo er mit seiner Kamera Naturaufnahmen macht. Dies wird die nächsten zwei Jahre seine Hauptbeschäftigung sein: An seinem Verkaufsstandort kam er mit Aktivisten der Umweltorganisation «Conservation made simple» ins Gespräch, für die er seither als Fotograf arbeitet. Die Natur biete ihm Erholung von der Stadt und vom Alkohol. Denn in den Bergen trinke er nicht, so Carlin.

REAL CHANGE, SEAT TLE

Mehr Plastik als Plankton

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335 Millionen Tonnen Kunststoff wurden allein im Jahr 2016 weltweit hergestellt. Bis zu 13 Millionen Tonnen davon landen als Plastikmüll in den Meeren: in den Mägen von Meeressäugern, Fischen und Vögeln, in der Antarktis ebenso wie im 11 000 Meter tiefen Marianengraben. In weiten Teilen der Meere gibt es mittlerweile mehr Plastik als Plankton. In fünf riesigen Strudeln treiben über 140 Millionen Tonnen Plastikmüll durch die Ozeane. Selbst im menschlichen Blut lassen sich Rückstände davon nachweisen. Wenn die Vermüllung wie bisher voranschreitet, haben wir bis 2050 dreimal mehr Plastik als Fische im Meer. Gelöst werden kann das Problem nur global, doch die Welt schaut bloss zu: Die jüngste UNO-Umweltkonferenz in Nairobi ging im März ohne verbindliche Einigung zu Ende.

FIFTYFIFTY, DÜSSELDORF

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Millionen fürs Wohnen Nach über fünfzehn Jahren will das deutsche Bundesland Niedersachsen wieder mit eigenen Mitteln in den sozialen Wohnungsbau eingreifen. 400 Millionen will die Regierung dafür bereitstellen, bis in vier Jahren könnte der Betrag laut dem zuständigen Minister auf bis zu 1,7 Milliarden Euro erhöht werden. So sollen pro Jahr 4000 Sozialwohnungen gebaut werden können, insgesamt 40 000 bis ins Jahr 2030. Experten zum Thema Wohnungslosigkeit sprechen von einer «lang ersehnten Wende» – um das Ziel von 40 000 Wohnungen zu erreichen, seien jedoch zusätzliche Mittel nötig. Ende 2018 gab es in Niedersachsen noch knapp 75 000 Sozialwohnungen – 23 000 weniger als noch 2012.

ASPHALT, HANNOVER

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Steuerskandal I

Die Enthüllung der «Panama Papers» im Jahr 2016 bringt dem Bundesland Nordrhein-Westfalen 120 Millionen Euro Mehreinnahmen. Weltweit belaufen sich die Strafen und Steuernachzahlungen auf eine Milliarde Euro. Die Süddeutsche Zeitung hatte Dokumente des Offshore-Dienstleisters Mossack Fonseca zugespielt bekommen und mit einem internationalen Journalistennetzwerk Steuerflucht, Korruption und Geldwäsche in riesigem Ausmass öffentlich gemacht.

BODO, BOCHUM/DORTMUND

Steuerskandal II

In deutschen Jobcentern sind bundesweit über 2000 Ermittler angestellt, die möglichen Sozialbetrügern nachspüren und dazu in die Privatsphäre von tausenden Armutsbetroffenen eindringen. Die geschätzte Schadensumme: 50 Millionen Euro. Dem Verfahren im sogenannten Cum-Ex-Steuerskandal hingegen droht die Verjährung, weil es an Personal mangelt. Laut dem WDR sind gerade einmal fünfzehn Beamte mit der Untersuchung von Steuertricks betraut, mit denen sich Superreiche und Konzerne Steuern rückerstatten liessen, die sie gar nie bezahlt hatten. Die geschätzte Schadenssumme: 30 Milliarden Euro.

FREIE BÜRGER, FREIBURG

Viele Unterstützte

18,9 Millionen Menschen in Deutschland haben zwischen Januar 2007 und November 2017 HartzIV-Leistungen erhalten. Fast jeder Vierte hat Erfahrungen mit dieser Form der Sozialhilfe gemacht, darunter auch 5,8 Millionen Bezügerinnen und Bezüger unter fünfzehn Jahren.

BODO, BOCHUM/DORTMUND

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Vor Gericht

Fragen verboten Fragen darf man, so das Sprichwort, wenn man die Antwort nicht scheut. Kostet ja nichts, sagt ein anderes. Wie falsch da der Volksmund liegt, musste eine in der Liegenschaftsverwaltung tätige 34-Jährige kürzlich vor dem Obergericht Zürich zur Kenntnis nehmen. Die Vorgeschichte: Ein junger Bekannter der Beschuldigten gerät in einem Bandenzwist zwischen die Fronten. Verzweifelt wendet er sich an die Beschuldigte. Diese will vermitteln, die Eltern einschalten. Als der Junge nicht zu einem Treffen erscheint und auch danach unauffindbar ist, schwant ihr Ungutes. Sie ruft Arbeitskollegen an, erkundigt sich in der Moschee, durchsucht Facebook. Als sich der Gesuchte dann doch meldet, ist er wie verwandelt: Er droht ihr. Sie solle sich raushalten. Sie, erbost, zeigt ihn an. Um die Drohungen zu belegen, händigt sie der Polizei ihr Handy zur Datenanalyse aus. Die findet einen interessanten Chat: Die Beschuldigte habe einen befreundeten Polizeibeamten kontaktiert, sich nach den Namen und der Adresse der Eltern erkundigt und den Polizisten damit zur Amtsgeheimnisverletzung angestiftet – wofür sie in erster Instanz verurteilt wurde. Vor Obergericht macht die Beschuldigte den einleuchtenden Einwand: Der Beamte hätte ja einfach Nein sagen können. Und der Strafverteidiger stellt die berechtigte Frage: Kann die blosse Frage überhaupt eine Anstiftung sein? Entschieden nein, glaubt er und fordert Freispruch. Beim Tatbestand der Anstiftung wäre erstens zwin-

gend, dass Widerstände überwunden werden müssen. Der Polizeibeamte sei aber ein zuvorkommender Auskunftgeber gewesen. Seine Aussage, er habe sich durch die WhatsApps der Beschuldigten gedrängt gefühlt, auf das Informationssystem POLIS zuzugreifen, passt nicht dazu, dass er dreimal prompt antwortete. Zweitens fehlt der Vorsatz. Der Frau sei nicht klar gewesen, dass ihre Frage zu einer Amtsgeheimnisverletzung führen würde. Sonst hätte sie der Polizei ihre Handydaten nicht zur Verfügung gestellt. Und die Frau habe erwarten dürfen, dass ein Beamter Anfragen zurückweist, wenn sie das Amtsgeheimnis betreffen. Die Vorinstanz hatte sich bei der Verurteilung auf die bundesgerichtliche Praxis gestützt, die den Schutz von privaten Daten hoch gewichtet – schon die Frage danach ist strafbar. Diese harte Linie wird in juristischen Kreisen als absurd kritisiert oder gar als Grundrechtsverletzung. «Abenteuerlich», nennt sie der Verteidiger. Etwas widerwillig scheint auch das Obergericht bei der Bestätigung des Schuldspruchs. Der Verteidiger habe die juristischen Schwachpunkte der Bundesgerichtspraxis gut herausgeschält. Es sei aber nicht absehbar, dass das höchste Gericht im Land von seiner strengen Praxis abrückt. Und POLIS sei ja schon nicht einfach ein Telefonbuch, sondern eine geheime Datenbank. Auch der Beamte wurde bestraft. Sie, die Beschuldigte, habe bewusst den Umstand genutzt, dass dieser für sie schwärmte. Das Verschulden stuft das Gericht dennoch als sehr tief ein, die Sanktion ist gering: 25 Tagessätze zu 70 Franken bedingt. Doch alle Verfahrenskosten bleiben an ihr hängen: 6000 Franken kosten sie ihre verbotenen Fragen. Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin

in Zürich

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Challenge League

Gleichstellung verstehen lernen Vor zwei Wochen gingen Frauen in der ganzen Schweiz für ihre Rechte auf die Strasse. Gleichberechtigung ist ein Begriff, den ich in meinem Alltag oft höre, und ich denke, dass ich eine gute Vorstellung davon habe, was er bedeutet. Als ich das erste Mal damit in Kontakt kam, war der Begriff auf das Geschlechterverhältnis reduziert, auf die Gleichstellung von Mann und Frau. Das erste Bild, das ich damit verbinde, ist jenes eritreischer Frauen, die zusammen mit den Männern für die Unabhängigkeit ihres Landes gekämpft haben. Und damit auch für die Gleichstellung von Mann und Frau. Sie haben damals das Eis gebrochen und das Bewusstsein für Gleichstellung in Eritrea damit erst geschaffen.

nimmt, keine Autorität. Gleichwohl waren wir begeistert. Wir wollten wie die westlichen Länder sein, und unsere Männer sollten uns endlich auch im Haushalt helfen. Als ich auswanderte, dauerte es ein bisschen, bis ich begriff, wie es um die Gleichstellung von Mann und Frau hier in der Schweiz steht. Am Anfang war es verwirrend: Wir Eritreerinnen machten Witze darüber, dass die Männer in der Schweiz wie die Frauen in Eritrea sind.

Wir machten Witze darüber, dass die Männer in der Schweiz wie die Frauen in Eritrea sind.

Diese Mentalität verbreitete sich in der Gesellschaft und wurde institutionalisiert, zum Beispiel im umstrittenen Nationaldienst, den Männer wie Frauen «zum Aufbau des unabhängigen Landes» leisten müssen. Na ja, man wird nicht gefragt, der Dienst ist bis heute Pflicht, seine Dauer theoretisch unbeSEMHAR NEGASH grenzt – da geht es Männern und Frauen genau gleich. Der Nationaldienst ist zwar für viele ein Hauptgrund für die Flucht aus Eritrea, aber ich muss sagen, dass ich dadurch das Gefühl bekam, genauso viel zu leisten wie die Männer. Es gibt natürlich auch zentrale Themen in unserer Gesellschaft, bei denen noch viel getan werden muss: Chancengleichheit in der Schule etwa, sexuelle Gewalt, Zwangsheirat und Frauenbeschneidung. Als ich noch in Eritrea lebte, kamen manchmal Frauen aus dem Westen zu Besuch und erzählten uns unter anderem von der Gleichstellung von Frauen und Männern. Interessant fanden wir, dass Hausarbeit im Westen auch von Männern gemacht wird. Obwohl vor allem wir Frauen es sehr gut fanden, dass die Männer im Haushalt helfen, gab es auch Dinge, die wir schwer zu akzeptieren fanden. Ich erinnere mich gut an eine meiner Tanten, die in Deutschland lebte. Ihr war es peinlich, uns zu sagen, dass ihr Sohn, der mit einer deutschen Frau verheiratet war, auf die Kinder schaute, während seine Frau zur Arbeit ging. Das war für uns ein Tabu. Er tat uns leid, denn in unserer Wahrnehmung hatte ein Mann, der nicht die Rolle des Ernährers einSurprise 453/19

Ich wollte mehr erfahren und besuchte Seminare zum Thema Gender. Ich hoffte, dort etwas darüber zu lernen, wie die Gleichstellung von Mann und Frau zu erreichen wäre. Das war sehr optimistisch und unrealistisch, wie ich jetzt weiss. Am Anfang waren diese Seminare nicht leicht für mich, wegen der Sprache, aber auch wegen meines eigenen kulturellen Hintergrundes und meiner Erwartungen. In den Seminaren ging es um Dinge wie die Zuordnung von Geschlechtern, Geschlechteridentitäten und Orientierungen. Das alles war total abstrakt, und ich verstand nichts.

In Wahrheit hatte ich vor allem viel zu viele Stufen der Gleichstellungsdebatte übersprungen. Die Diskussion hier ist weit weg von mir, sie thematisiert Dinge, mit denen ich mich nicht leicht identifizieren kann. Ihr Ausgangspunkt ist nicht meiner, schliesslich ist die Gleichstellung von Mann und Frau hier schon erreicht. Wobei das auch nur auf dem Papier stimmt. Wenn es immer noch nicht gleichen Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit gibt, wenn sexuelle Gewalt Alltag ist, wenn Menschen aufgrund ihrer Geschlechtsidentität, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Rasse oder Ethnie diskriminiert werden, dann war meine Vorstellung von den westlichen Ländern wohl nicht ganz richtig. Dann ist es wohl doch ein globales Thema.

Die Berner Anthropologin SEMHAR NEGASH sieht viele Gründe zum Streiken. Und sie fragt sich auch nach dem Frauenstreik, welche Rolle sie als geflüchtete schwarze Frau im Kampf für die Gleichstellung spielen kann.

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Krähenbühl hat seine Zügelkartons so aufgebaut, dass Kater Buri darauf herumklettern kann.

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Das einsame Leben eines Sozialhilfebezügers Armut Vor drei Jahren verlor Daniel Krähenbühl Arbeit und Partnerin.

Wegen seines speziellen Werdegangs fiel er durch alle Maschen. Dank der Sozialhilfe bleibt er über Wasser. Doch er gehört nicht mehr dazu. TEXT ANDRES EBERHARD

Herr Krähenbühl, warum erzählen Sie uns Ihre Geschichte? «Ich habe nichts zu verlieren. Es gibt da eine Brücke hoch über der Schlucht, über die ich manchmal nachdenke.» Jeden Tag um 7.05 Uhr klingelt sein Wecker, doch meist ist Daniel Krähenbühl schon wach, bevor das Handy die Melodie einer Akustikgitarre abspielt. Er geht in die offene Küche seiner Einzimmerwohnung, kocht Wasser auf für eine Tasse Instantkaffee und eine Kanne Tee. Dann baut er das Bett zum Sofa um, damit er, wenn er aufgeräumt und die Katze gefüttert hat, darauf das Frühstück einnehmen kann. Krähenbühl ist 42 Jahre alt, kommt ursprünglich aus der Ostschweiz, seit zwei Jahren lebt er am Rand der Altstadt von Chur. Er hat die schlimmsten drei Jahre seines Lebens hinter sich. Doch wer weiss schon, wie weit ihn die Abwärtsspirale noch trägt. Heute lebt Krähenbühl, ein sympathischer Mann mit Brille und kurzen, dunkelblonden Haaren, von der Sozialhilfe. Und bekommt zu spüren, was der Preis für die finanzielle Überlebenshilfe ist: soziale Ausgrenzung.

«Ich wäre gerne spontan. Aber für einen Ausflug gehen schnell zwei Tagesrationen drauf. » DANIEL KR ÄHENBÜHL

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FOTOS LAURENT BURST

Herr Krähenbühl, sind Sie einsam? «Ich bin ein Einzelkind, ich kenne das. Aber keiner braucht niemanden.» Die Vormittage verbringt Krähenbühl meist zuhause in seinen 28 Quadratmetern. Neben dem Schlafsofa hat es gerade noch Platz für eine kleine Kommode mit ein paar Kleidern, alles andere steht in Plastikboxen und Zügelkisten verstaut an der Wand. Krähenbühl hat sie pyramidenförmig angeordnet, sodass der 7-jährige Stubenkater Buri darauf herumklettern kann. In einigen der Boxen befinden sich kleine Spielzeug- und Modellbaumaschinen, eine weitere ist gefüllt mit Sand. Bagger, Kräne und Stapler sind seine Leidenschaft, Krähenbühl wäre gerne wieder Baumaschinenführer, wie er es früher einmal war. Doch dafür fehlen ihm die Papiere und das Geld. Nach dem Aufstehen telefoniert Krähenbühl mit Behörden, geht zum Arzt oder auf die Ämter, kümmert sich so gut es eben geht per Telefon um seine demenzkranke Mutter zuhause am Bodensee. Er saugt die Wohnung gründlich, liest eine alte Ausgabe von 20 Minuten, die er vom letzten Ausflug in die frühere Heimat mitgenommen hat. Danach macht er sich etwas zu essen, am Mittag etwas Einfaches, Brot und Wurst, Spaghetti mit Tiefkühlgemüse, gleich im Nudelwasser mitgekocht, oder eine Fertigpizza, die aus dem Denner seien gut als Grundlage, belegt mit scharfer Peperoni, Mais oder Gemüse. Die Frage, was du beruflich machst Die Nachmittage verbringt Krähenbühl in der Bibliothek, bis zum Tonsignal, das die Schliessung um 17.30 Uhr ankündigt. Abends, wenn das Brot bei Aldi nur noch die Hälfte kostet und der Liter Apfelsaft in der Migros nur einen Franken, geht er ein-

kaufen. Montag bis Freitag ist das sein Alltag, Samstage und Sonntage unterscheiden sich nur wegen anderer Öffnungszeiten von Bibliothek und Läden. Es ist ein eintöniger, monotoner Alltag. Er sagt, bald halte er es nicht mehr aus. Aber ausbrechen geht nicht. «Ich wäre gerne spontan. Aber mache ich einen Ausflug oder gehe mit Leuten etwas trinken, gehen schnell zwei Tagesrationen drauf.» Eine Tagesration, das sind 30 Franken, der Betrag, der Krähenbühl aus dem Grundbedarf der Sozialhilfe zur Verfügung steht und mit dem er auch Essen, Kleider, Halbtax oder Handyreparatur zahlen muss – alles, ausser Miete, Krankenversicherung und Arztkosten. «Man kann damit halbwegs anständig leben», sagt Krähenbühl. Aber man müsse wissen: «Die Sozialhilfe ist zum Überleben, nicht zum Leben. Für Soziales bleibt kein Geld.» Leute treffen? «In der Schweiz kostet alles, was man in der Freizeit tut, ob Café, Fitness, Kino oder Disco.» Alte Freunde? «Ich lasse mich zwei-, dreimal einladen. Aber irgendwann fühle ich mich als Schmarotzer und gehe nicht mehr mit.» Neue Liebe? «Die Frage, was du beruflich machst, kommt sehr schnell. Und dann ist es meistens auch schon vorbei. Die inneren Werte gelten offenbar nur fürs Portemonnaie.» Dass Krähenbühl heute darüber nachdenkt, ob das alles noch Sinn macht, hat mit ein paar mutigen Entscheiden zu tun, die sich später als falsch herausstellten – aber auch mit der Entwicklung der Baubranche und nicht zuletzt auch mit Pech. Es begann damit, dass Krähenbühl im praktischen Teil der Lehrabschlussprüfung als Gartenlandschaftsbauer scheiterte. Da war er 19 Jahre alt. Unwissend darüber, dass ihm bei der Erstausbildung finanzielle 9


Unterstützung zugestanden wäre, fing er an zu arbeiten, statt das Lehrjahr zu wiederholen. Warum auch nicht? Mit seinem Chef verstand er sich nicht, er brauchte Geld, und die Baubranche boomte. Es war ein Leichtes. Herr Krähenbühl, waren Sie naiv? Krähenbühl heiratete früh, liess sich aber auch bald wieder scheiden. Mit 31 zog er von Kreuzlingen über die Grenze nach Konstanz, von wo aus er freiberuflich arbeitete. Er verdiente nicht viel, etwa 10 000 Euro im Jahr, aber er brauchte auch nicht viel, er war ja alleine, je 300 bis 350 Euro pro Monat für WG-Zimmer und Krankenversicherung. «Ich habe gearbeitet, um zu leben, und nicht gelebt, um zu arbeiten.» Ein paar Jahre später lernte er eine Frau aus dem Engadin kennen, zog mit ihr nach Scuol, fand dort aber keine feste Arbeit mehr. Die Zeiten hatten sich geändert, mit der globalen Wirtschaft kriselte plötzlich auch die Baubranche. Und im kleinmaschigen Engadin, wo jeder jeden kannte, tat sich der Exot aus dem Thurgau schwer.

Krähenbühl, ein geselliger und redseliger Mensch, nahm, was er kriegen konnte: Den Sommer über arbeitete er ein paar Monate aushilfsmässig für eine Baufirma, im Winter für ein Fünfsternehotel, für 3400 Franken brutto, stets übermüdet und überarbeitet. Doch Ende März war die Saison vorbei und keine weitere Arbeit in Sicht. Krähenbühl suchte staatliche Hilfe. Weil er lang in Deutschland gelebt und nie in die Schweizer Arbeitslosenversicherung eingezahlt hatte, landete er direkt im untersten Netz, der Sozialhilfe. Er bekam nur die Hälfte, weil er mit seiner Partnerin zusammenlebte. Es ging, die Freundin verdiente gut – die Miete und alle privaten Ausgaben konnte Krähenbühl gerade so selbst bezahlen. Doch die Beziehung ging in die Brüche. «Das Geld», sagt Krähenbühl und meint damit, dass ihr unterschiedliches Einkommen der Hauptgrund für die Trennung gewesen sei. Er verliess das Engadin daraufhin in Richtung Stadt. Seit zwei Jahren lebt Krähenbühl nun in Chur, findet keine Arbeit, keine Partnerin, keine

Freunde. Es waren zwei lange Jahre, aus Frustration wird zunehmend Resignation. «Andere machen erst ihr Ding und haben dann Kinder. Andere haben Kinder und machen dann ihr Ding. Bei mir ist es weder noch.» Herr Krähenbühl, waren Sie naiv? «Ich war mir etwas anderes gewohnt. Bis 2008 konntest du bei einer Baufirma zur Tür reinlaufen und gingst mit Arbeit wieder raus.» Hilfsjobs statt Weiterbildung Nachmittags in der Stadtbibliothek Chur setzt sich Daniel Krähenbühl an einen Computer, sucht nach Jobs und Adressen von Firmen, schreibt Bewerbungen und notiert sich Nummern von Behörden oder Informationen zum Staplerschein. Er checkt Facebook, Instagram und Youtube, liest Zeitungen, hört Musik. Der Kaffee am

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«Das Geld», sagt Krähenbühl und meint den Trennungsgrund in seiner letzten Beziehung.

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Automat kostet 80 Rappen, das Jahresabo 30 Franken – umgerechnet eine Tagesration, das lohnt sich. Und er leiht Comics aus – meistens solche für Erwachsene, manchmal aber auch Disney-Klassiker. «Der reiche Kapitalist Dagobert, der mit dem armen Donald verwandt ist. Heute lese ich sowas anders: Es gibt oben und unten und wenig dazwischen.» Die Sozialhilfe ist keine Integrationsversicherung, das weiss Krähenbühl. Trotzdem müsse er ein paar Sachen loswerden. Es könne doch nicht sein, dass die Sozialhilfe nicht unterscheide zwischen Menschen, die können, und solchen, die nicht können. Zwischen solchen, die wollen, und solchen, die nicht wollen. Als Krähenbühl in die Sozialhilfe kam, war er noch keine 40 Jahre alt, wollte wieder arbeiten, da kann man doch noch was machen! Doch man habe ihn in den gleichen Topf geschmissen, ihm dieselben Tipps gegeben, dieselben aufmunternden Sprüche gemacht wie bei jenen, die sich schon längst aufgegeben hatten. Wenn das so weitergehe, sei er bald auch so weit. «Die Sozialhilfe zieht nicht die Leute von unten nach oben. Sie zieht die von oben nach unten.» Pünktlich in den Aldi Und dann ist da noch die Sache mit den Integrationsprogrammen. Die Gesellschaft bezahle ihn und habe darum ein Anrecht darauf zu wissen, was da abgehe. Regelmässig wird Krähenbühl für Arbeitseinsätze auf dem zweiten Arbeitsmarkt aufgeboten. Für Tischlein deck dich verteilte er Lebensmittel, fürs Rote Kreuz sägte er Holz auf Mass, in einem Tierheim war er Hilfsarbeiter für alles. Diese Einsätze, die eine Tagesstruktur zum Ziel haben – also rechtzeitig kommen, durchhalten – kosten die Stadt ziemlich viel Geld. 1 500 bis 2 500 Franken pro Monat überweist sie den Anbietern monatlich – meist Nonprofits oder öffentliche Institutionen. Die Öffentlichkeit zahlt also ziemlich viel Geld dafür, dass Krähenbühl weitgehend anspruchslose Jobs ausübt. Dafür fehlt das Geld für Weiterbildungen, die seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern würden. Einen Baggerkurs beispielsweise wollte ihm niemand bezahlen. Auch Arbeitsversuche im ersten Arbeitsmarkt absolvierte Krähenbühl mithilfe staatlicher Programme. Doch hat er einen schlimmen Verdacht: «Davon profitieren nicht die Menschen, sondern die Firmen.» Als er zuletzt für Heineken PfandSurprise 453/19

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1, 2 Krähenbühl zur Frage, was ihn noch hier hält: «Mein Kater.» 3, 4, 8 Bescheidenheit und Bettsofa: Wohnen auf wenig Platz. 5, 6 Die Karriere in der Baubranche verlief im Sand. 7 Comics für Erwachsene: Einiges liest Krähenbühl heute mit anderen Augen.

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«Das ist doch Subventionierung eines Weltkonzerns.» KR ÄHENBÜHL ÜBER SEINEN ARBEITSEINSAT Z BEI HEINEKEN

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flaschen sortierte, kostete das den Bierkonzern gemäss Arbeitsvertrag gerade einmal 13 Franken 70 pro Stunde. Krähenbühl erhielt sein Sozialgeld weiterhin von der Stadt – für seine Bemühungen wurden ihm zusätzlich 300 Franken monatlich sowie Essensgeld in Höhe von 10 Franken pro Tag zugesprochen. Diese Extras bezahlte allerdings nicht der Bierkonzern, sondern die Stadt. Krähenbühl findet klare Worte: «Das ist doch Subventionierung eines Weltkonzerns.» Herr Krähenbühl, was hält Sie noch hier? – «Mein Kater und meine kranke Mutter.» – Ich meinte, hier in Chur, Sie kennen ja niemanden? – «Ach so, die Hoffnung, dass doch noch etwas geht mit einem Job. Dafür würde ich auch in die Westschweiz ziehen. Erst wenn es aussichtslos ist, gehe ich zurück an den Bodensee, in die alte Heimat.» Surprise 453/19


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9–13 Daniel Krähenbühl verbringt seine Tage in der öffentlichen Bibliothek. 14, 15 Das Essen richtet sich nach Rabattklebern aus. 16 Endlich ist es Abend in Chur.

17 Uhr 30, das Tonsignal kündigt die Schliessung der Bibliothek an. Krähenbühl geht nach Hause, Reste essen oder kalt, Brot und etwas für obendrauf, die Wäsche wechseln, die Wohnung saugen, das Katzenklo machen. Dann zum Aldi und zur Migros, zwischen 19 Uhr und 19 Uhr 30, ja nicht zu früh, bevor die 50-Prozent-Punkte drauf sind, aber auch ja nicht zu spät, wenn die guten Sachen schon weg sind. Auf dem Rückweg setzt sich Krähenbühl oft noch auf die Fensterbank draussen vor der Bibliothek, wo er mit seinem Handy WLAN-Empfang hat. Auf Youtube und Instagram schaut er sich Bilder und Videos über Baumaschinen an, schickt Massenmails weiter, ein paar Mal fragt er in der Facebook-Gruppe «Du bisch vo Chur, wenn ...», ob jemand Lust habe, mit ihm einen Spaziergang zu machen – stets ohne Erfolg, worauf er die Gruppe wieder verlässt. Surprise 453/19

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Krähenbühl deponiert die Einkäufe, um etwa 22 Uhr geht er noch einmal aus dem Haus. Er brauche seinen täglichen Abendspaziergang, «damit ich eine Bettschwere erreiche», wie er es nennt. Drei verschiedene Routen hat er, sie dauern je rund 30 Minuten. Zwei sind Rundgänge, bei der dritten geht er geradeaus und nimmt dann den Bus zurück, was ihm die Möglichkeit für einen Schwatz mit dem Busfahrer gibt, den einen kennt er mittlerweile etwas besser, das tut ihm gut. Zuhause duscht Daniel Krähenbühl, liest Comics oder spielt auf seinem alten Gameboy Tetris, das halte ihn geistig fit.

Einen Fernseher hat er nicht, das war nie sein Ding. Und den Deckel zur Box mit den Spielzeug-Baumaschinen macht er kaum noch auf, seit er in Chur lebt, er weiss gar nicht so recht, warum. Es ist Mitternacht, als er das Sofa wieder zum Bett umbaut, meistens schläft er unruhig, denn er weiss, dass dieser monotone und einsame Alltag, der ihn so zermürbt, am nächsten Morgen wieder von vorne losgeht. Guten Morgen Herr Krähenbühl, wie geht es Ihnen? «Nicht gut. Zwei Winter sind vergangen, die Bausaison geht los, ich hätte mich weiterbilden können, stattdessen sitze ich noch immer hier, muss ich hier sitzen.» – Was würde helfen? – «Eine sinnvolle Arbeit, die meinen Fähigkeiten entspricht.» – Und jetzt gerade? «Ein Gespräch. Damit ich das Gefühl habe, ein Mensch zu sein und nicht ein buchhalterisches Komma.» 13


Im Strassenfussball werden besonders faire Aktionen mit einer grĂźnen Karte belohnt.

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Ein Spiel für Gentlemen Homeless World Cup Als der Fussball erfunden wurde, durfte nur mitmachen,

wer ehrenhaft spielte. So blieb die Oberschicht unter sich. Heute sind es die sozial Schwachen, die am fairsten spielen. Was ist passiert? TEXT ANDRES EBERHARD

Die Torhüterin Griechenlands wirft einen Ball direkt in die Füsse der gegnerischen Stürmerin. Für diese wäre es ein Einfaches, den Ball ins Tor zu schiessen. Doch stattdessen passt sie den Ball zurück zur Goaliefrau. Und das nicht nur ein Mal, sondern immer wieder. Die Szene ereignete sich vor einigen Jahren an den Fussball-Weltmeisterschaften der Obdachlosen. Wenn Ende Juli in Wales erneut der «Homeless World Cup» stattfindet (siehe Box), werden es Gesten wie diese sein, die bei den Zuschauern am meisten Jubel und Begeisterung auslösen. «Respekt für den Gegner ist wichtiger als der Sieg», erklärt David Möller, Nationalcoach der Schweizer Strassenfussballer, die ebenfalls mit einem Team dabei sind. Dass Fairplay im Strassenfussball so wichtig ist, hat sicherlich damit zu tun, dass es nicht um Geld und um vergleichsweise wenig Ruhm geht. Aber nicht nur. Fairplay wird auch gezielt gefördert. Einerseits durch viele Gespräche neben dem Feld, andererseits durch Anpassungen im Reglement. In der Schweizer Liga beispielsweise können Schiedsrichter mit einer grünen Karte besonders faire Aktionen belohnen. Sie bringt Pluspunkte in der Fairplay-Wertung und ist damit auch für die Endrangliste relevant. Die Idee stammt aus dem Profi-Fussball. Die grüne Karte soll nicht nur Anreize setzen, Unsportlichkeiten zu vermeiden, sondern auch bewirken, dass sich die Spieler von sich aus fair verhalten. Durchsetzen konnte sie sich bislang aber nicht – im heutigen Profi-Fussball, wo von Sieg oder Niederlage Millionen abhängen, herrschen eben andere Gesetze als im Strassenfussball. Natürlich verstösst es gegen keine Regel, wenn wie im Eingangsbeispiel ein Fehler des Gegners ausgenützt wird. Doch werden heute auch unfaire Aktionen als Teil des Spiels akzeptiert, wenn diese zum Erfolg führen: ein taktisches Foul, in Führung liegend auf Zeit spielen, sich im Strafraum allzu schnell fallen lassen. Dabei war Fairplay im Fussball einst tatsächlich wichtiger als der Sieg. Die britischen Adligen, die den modernen Fussball Mitte des 19. Jahrhunderts erfanden, spielten aus reinem Selbstzweck. «Einem Aristokraten war der Surprise 453/19

FOTOS ROLAND SCHMID

Sieg gleichgültig, ja verdächtig. In der Presse genannt und gerühmt zu werden, galt als unfein», schreibt der Sportsoziologe Gunter A. Pilz. Nicht siegen zu müssen hiess, es sich leisten zu können, Sport allein zur Musse zu betreiben. Lange war es bei Sportwettkämpfen üblich, dass Spieler und Teams Handicaps in Kauf nahmen, um dem schwächeren Gegner reelle Gewinnchancen einzuräumen. Fairplay bedeutete auch Chancengleichheit. Objektiv fairer, subjektiv ungerechter Doch je wichtiger es wurde zu gewinnen, desto schwieriger wurde es, Fairplay aufrechtzuerhalten. Einerseits, weil nun auch die Arbeiterklasse teilnahm, und sie verstand die Sportwettkämpfe als eine Form von Klassenkampf. Andererseits wurde der Sport immer kommerzieller und politischer. Siege wurden wichtiger, denn mit ihnen war Geld und Ruhm verbunden. Die Grenzen der Regeln auszuloten oder sie gar zu überschreiten (beispielsweise durch Doping), gehörte dazu. Sogar im Amateursport lief das Siegen um jeden Preis dem Fairplay den Rang ab. «Sportlich sein hiess fortan sportlich erfolgreich sein», schreibt der Soziologe Pilz. Das hatte damit zu tun, dass viele Amateur- und Jugendsportler die Stars und damit auch deren Verhältnis zum Fairplay nachahmten. Allerdings ist es ja nicht so, dass den Zuschauern Fairplay egal wäre, im Gegenteil: Auch heute noch wollen sie faire Wettkämpfe sehen, gerechte Sieger und würdevolle Verlierer. Nur wird heute die Einhaltung von Anstand und Regeln an Schiedsrichter delegiert. In den Anfängen des modernen Fussballs waren es die Captains der beiden Mannschaften gewesen, die das Spiel leiteten. Bei einem Foul unterbrach der Captain der eigenen Mannschaft das Spiel und überreichte den Ball dem Gegner. Noch lange nachdem 1873 die Referees eingeführt wurden, sassen diese lediglich am Spielfeldrand und wurden nur in Streitfällen aufgerufen. Heute ist der Druck auf die Wächter des Fairplay derart gross geworden, dass ein ganzer Trupp von Unparteiischen – neben einem Schieds- und zwei Linienrichtern sind häufig auch noch Tor-, Video- und Ersatzschieds15


Zuschauer wollen auch heute noch gerechte Sieger und wĂźrdevolle Verlierer sehen.

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Das Vorbild des Strassenfussballs kann helfen, eine FairplayKultur zu entwickeln.

«Respekt für den Gegner ist wichtiger als der Sieg»: Eindrücke aus dem Schweizer Strassenfussball.

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Je älter sie werden, desto eher tolerieren Jugendspieler taktische Fouls oder Schwalben.

War das Foul schlimm, das Handspiel absichtlich? Solche Fragen wird auch der Videobeweis nicht beantworten können. Es sind Entscheidungen, die der Mensch treffen muss.

richter im Einsatz – nötig ist, um ein faires Spiel zu gewährleisten. Besonders heikle Szenen sehen sich die Unparteiischen auf einem Bildschirm in Superzeitlupe noch einmal an. Und tatsächlich, es hilft: Die Entscheide der Schiedsrichter werden immer besser. Das zeigt der amerikanische Journalist Michael Lewis in seinem Podcast «Against the Rules» am Beispiel der amerikanischen Basketball-Liga NBA eindrücklich. Er kommt allerdings zum Schluss, dass auch die Anzahl an Reklamationen und Anfeindungen gegenüber Schiedsrichtern steigt. Das Spiel wird also zwar immer gerechter, gleichzeitig aber als immer ungerechter empfunden. Womit ist dieser Widerspruch zu begründen? Lewis vermutet, dass die Stars sich gegen den Verlust ihrer Privilegien wehren – weil sie wegen ihrer Fouls immer häufiger überführt werden. Der Sieg der Unsportlichen Es gibt dafür eine weitere Erklärung: Fairplay ist keine objektive Wahrheit, sondern Ermessenssache. War das Foul schlimm, das Handspiel absichtlich? Solche Fragen 18

wird auch der Videobeweis nicht beantworten können. Die Technologie schafft nicht mehr Gerechtigkeit. Es sind die Menschen, die für Fairplay sorgen müssen. Was tun? Eine Möglichkeit ist es, das Regelwerk anzupassen. In manchen Fussball-Wettbewerben wurden deshalb sogenannte Fairplay-Wertungen eingeführt. Wer weniger foult, also weniger gelbe und rote Karten einsteckt, so die Idee, wird bei Punktgleichheit in der Rangliste bevorteilt. Welche Doppelmoral hinter dieser Massnahme steckt, zeigt ein Beispiel der WM 2018 in Russland. Damals traten die Teams von Japan und Polen gegeneinander an. Es war das letzte Gruppenspiel, es ging um den Einzug ins Achtelfinale. Japan konnte sich selbst bei einer Niederlage noch für die nächste Runde qualifizieren – nämlich, falls Kontrahent Senegal seine gleichzeitig ausgetragene Partie verlieren sollte. Dies, weil Japan in der Fairplay-Wertung deutlich besser dastand als Senegal. Kurz vor Schluss lag Japan gegen Polen 0:1 im Rückstand. Da die Japaner aber erfuhren, dass auch Senegal verlieren würde, sie sich also trotz einer Niederlage für die nächste Runde qualiSurprise 453/19


Der Homeless World Cup Die 17. Fussballweltmeisterschaften der Obdachlosen finden vom 27. Juli bis zum 3. August in Cardiff (Wales) statt. Organisator ist die Homeless World Cup Foundation. Mitmachen darf gemäss dem Veranstalter, wer obdachlos ist, seinen Lebensunterhalt als Strassenzeitungsverkäufer verdient oder wer noch keinen oder einen negativen Asylbescheid erhalten hat. Ausserdem darf ein Spieler nur einmal an einer WM teilnehmen. An der WM spielen also nicht nur Menschen ohne festen Wohnsitz, sondern generell sozial benachteiligte Menschen. Auch aus der Schweiz reist jedes Jahr eine Mannschaft an die WM. Verantwortlich für die Auswahl ist David Möller, Sportcoach bei Surprise. Surprise betreibt eine eigene Strassenfussball-Liga. Ziel ist es, armutsbetroffene Menschen über den Sport zu integrieren. An den Turnieren nehmen vorderhand Teams aus sozialen Institutionen teil. Wer für die Surprise Nationalmannschaft an die WM reist, entscheidet sich nicht aufgrund der spielerischen Qualität. Kriterien sind unter anderen ein gültiger Reisepass, ein stabiler gesundheitlicher Zustand oder die Motivation, in einer neuen Gruppe mitzumachen. EBA

fizieren würden, stellten sie ihre Angriffsbemühungen komplett ein und warteten auf den Schlusspfiff. Die Fairplay-Wertung belohnte ausgerechnet jenes Team, das sich dermassen unsportlich verhalten hatte. Fairplay lässt sich also dem Fussball nicht von aussen als Teil der Spielregeln aufdrücken. Vielmehr muss es von den Spielern verinnerlicht, als «Ehrensache» verstanden werden. Dass in diesem Punkt Handlungsbedarf besteht, zeigen wissenschaftliche Studien: Je älter sie werden, desto eher tolerieren Jugendspieler taktische Fouls oder Schwalben. Anders gesagt: Kinder haben zwar einen Sinn für Gerechtigkeit und Fairplay – doch sie lernen von Älteren, dass Siegen wichtiger ist. Einige Initiativen haben das erkannt. In Deutschland entstand aus einer privaten Initiative heraus eine Fairplay-Liga für unter 10-Jährige – ohne Rangliste und ohne Schiedsrichter. Indem sie selbst entscheiden, ob der Ball im Aus war oder ob sie ein Foul begangen haben, wird die Eigenverantwortung gestärkt. Ausserdem werden die Kinder vor dem Leistungsdruck von aussen geschützt. Eltern dürfen nur aus einer Fanzone zuschauen, die sich minSurprise 453/19

destens 15 Meter vom Spielfeldrand entfernt befindet. Ähnliches versucht in der Schweiz der nationale Fussballverband zu erreichen. Er hat ein Konzept für Kinderfussball entwickelt, das unter dem Motto «Erlebnis statt Ergebnis» steht. Auch das Vorbild des Strassenfussballs kann helfen, eine Fairplay-Kultur zu entwickeln. Natürlich wäre es vermessen, ihn als Blaupause für den Profi-Fussball zu nehmen. Zu unterschiedlich sind die Voraussetzungen zwischen der überschaubaren und von vielen Sozialarbeitern begleiteten Szene und dem globalen, durchkommerzialisierten Profi-Fussball. Doch wer bei der Fussball-WM der Obdachlosen zusieht, wird merken, dass sich Siegeswille und Fairplay nicht ausschliessen müssen. Denn der Strassenfussball ist, was der Fussball einmal war – ein Spiel von Gentlemen.

Spielplan und weitere Infos: homelessworldcup.org Die Spiele können auf dem offiziellen Youtube-Kanal live mitverfolgt werden: youtube.com/user/HomelessWorldCup

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FOTO: ZVG

«Mangelndes Fairplay ist ein spezifisches Problem des Fussballs. Rugby- oder Handballspieler etwa werden früh zu sportlichem Verhalten erzogen.» URS MEIER

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«Wir brauchen Sündenböcke» Profi-Fussball Als Schiedsrichter war Urs Meier dafür verantwortlich, dass das Fair-

play eingehalten wurde. Dafür wurde er manchmal heftig angefeindet.

Was bedeutet Fairplay für Sie? Urs Meier: In meinen Kursen definiere ich Fairplay als «das Denken vom Anderen her». Also sich stets zu fragen: Was bedeutet mein Verhalten für das andere Team? Und wenn immer ich damit dem anderen schade, dann ist es nicht fair. Wird das im Fussball gelebt? Viel zu wenig. Schon Jugendliche werden zu unfairem Verhalten angespornt: Lass dich doch fallen, provoziere den Gegner, steh beim Freistoss vor den Ball, damit er nicht schiessen kann. Das sind alles Dinge, die ein junger Mensch gar nicht machen würde, das Unfaire kommt also von aussen. Wichtig wäre, dass viel mehr Werte vermittelt werden – etwa indem ein Jugendtrainer seinen besten Spieler auch mal vom Feld nimmt, wenn dieser sich nicht fair verhält. Interessanterweise ist das mangelnde Fairplay ein spezifisches Problem des Fussballs. In anderen Sportarten wie etwa Rugby oder Handball werden Nachwuchsspieler schon früh zu sportlichem Verhalten erzogen. Sie wurden international bekannt, als Sie an der EM 2004 einen Treffer der Nationalmannschaft Englands annullierten, worauf diese ausschied. Daraufhin wurden Sie wochenlang von aufgebrachten Fans beschimpft, Ihnen wurde mit dem Tod gedroht. Mit dem Fussball sind unglaublich starke Emotionen verbunden. In diesem Fall waren die Erwartungen der Engländer enorm hoch gewesen. Und dann ist da diese Szene in der 90. Minute. Ein Richter, der ein Urteil fällt, ist für eine Seite immer der Idiot. So gesehen ist das ganz verständlich. Dass damals die Medien eine solche Kampagne fuhren, obwohl allen Aussenstehenden klar war, dass der Entscheid richtig war, ist natürlich fragwürdig. Wie erklären Sie sich mit etwas Distanz diesen Hass, der ja auf dem Gefühl beruht, ungerecht behandelt worden zu sein? Als Schiedsrichter ist man immer auch in der Rolle des Sündenbocks. Sündenböcke gelten ja historisch gesehen als wichtig für die Gemeinschaft, damit diese wieder neu anfangen kann, damit die Menschen wieder miteinander umgehen können. Das ist übrigens auch der positive Aspekt am Videobeweis. Ich glaube nämlich nicht, dass Surprise 453/19

es den Fussball gerechter macht, wenn man sich die Szene noch einmal am Bildschirm anschaut. Dort lässt sich nicht erkennen, ob ein Spieler den Ball absichtlich oder unabsichtlich mit der Hand berührt. Aber mit dem Videoassistenten ist nun eine weitere Instanz da, welche die Rolle des Sündenbocks übernehmen kann – und damit den Schiedsrichter davon entlastet. Sie pfiffen während zwanzig Jahren, auch viele internationale Topspiele. Was hat sich für die Schiedsrichter in dieser Zeit verändert? Schiedsrichter stehen stärker im Fokus, sie stehen sicher unter viel stärkerem Druck. Früher war ausserdem alles noch etwas hemdsärmeliger, menschlicher. Dafür hat eine gewisse Professionalisierung stattgefunden, allerdings reicht das noch nicht. Selbst in den professionellsten Ligen der Welt – England, Deutschland – fehlen nach wie vor professionelle Strukturen. Stattdessen wird viel Geld in Videotechnologie investiert. Haben Sie in Ihrer Karriere viele ausserordentliche Fairplay-Gesten erlebt? Zu wenige. Ich erinnere mich an ein Jugendspiel, als ich einen Penalty pfiff, worauf der Stürmer auf mich zukam und sagte, dass er nicht gefoult worden war. Ich dankte und nahm meinen Entscheid zurück. Aber leider ist so etwas die grosse Ausnahme.

Urs Meier Der heute 60-Jährige war über zwanzig Jahre lang ProfiSchiedsrichter. Er gehörte zu den international besten Schiedsrichtern und leitete als solcher internationale Topspiele an Welt- und Europameisterschaften sowie 2002 auch den Final der Champions League. Seit seinem Rücktritt 2011 ist er als selbständiger Berater, Referent und TVExperte tätig. In seinem Buch «Du bist die Entscheidung» schreibt Meier von seinen Erfahrungen auf dem Fussballplatz und will mit diesen Schilderungen «die verbreitete Scheu vor Entscheidungen» bekämpfen. Er ist dreifacher Vater und lebt mit seiner Familie in Andalusien.

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1 Zu Shedia, dem Strassenmagazin, gehört jetzt auch ein Lokal mit vielen Aktivitäten. 2 Im «Shedia Home» wird Kunstdesign aus alten Heftausgaben verkauft. 3 Shedia hat auch ein Restaurant und Café. 4 Fast wie in der griechischen Antike.

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Aus Abfall wird Design Upcycling Die griechische Strassenzeitung Shedia fertigt aus den nicht verkauften Heften

Schmuck, Schalen und Lampenschirme – und hilft damit den besonders Verletzlichen. TEXT YVONNE KUNZ

Das weit verwinkelte Altstadthaus steht an einer der schicksten Ecken Athens. Es ist das neue Domizil der Strassenzeitung Shedia, die Redaktion hat sich im obersten Stock eingerichtet. Vom Balkon seines Büros schaut Chefredaktor Chris Alefantis auf einen lauschigen Platz, wo ein paar Touristen unter Bäumen Cappuccino schlürfen. Ihm gefällt, dass die Verkaufenden ihre Hefte nun an dieser exklusiven Adresse abholen, die Organisation präsent ist mitten in der Stadt. «Aber es ist auch alles ein bisschen wahnsinnig», sagt er über die Expansion und Diversifizierung von Shedia zu Shedia Art, so das Label der Upcycling-Produkte. In den drei Stöcken unter ihm ist nun das Shedia Home: Im neuen Upcycling-Atelier schreddern ehemalige Strassenverkaufende die übriggebliebenen Exemplare des monatlich erscheinenden Magazins und verarbeiten sie zu allen möglichen Produkten weiter: zu Ohrringen, Obstschalen und Wanduhren etwa. Weiter sind da der Verkaufsladen, eine Bar und ein Restaurant. In der Küche führt Starkoch Lefteris Lazarou die Crew in die Arbeit ein – die meisten von ihnen sind ebenfalls ehemalige Heftverkäufer. Ursprünglich hatte Shedia Lazarou nur angefragt, ob er die Speisekarte entwickeln würde. Erst winkte er ab, und 22

als er dann doch mitmachte, war er so begeistert von dem Projekt, dass er die künftigen Köche gleich selbst einwies. Überhaupt engagieren sich etablierte Profis bereitwillig. Die Getränkekarte der Bar hat ein preisgekrönter Barmixer eigens für Shedia Art kreiert, ohne Bezahlung. Auch der Architekt hat gratis gearbeitet. Und die Journalisten stellen dem Magazin ihre Texte sowieso kostenlos zur Verfügung. Chefredaktor Alefantis, der in Griechenland und Australien aufgewachsen ist, meint: «Es gibt viele schöne Städte, aber die Menschen in Athen sind unschlagbar.» Lösungsorientiert zum Erfolg Als Chris Alefantis das Strassenmagazin 2013 startete, lautete die Devise: hochklassiger Journalismus. Der Sales-Profi, den er für die Schulung anheuerte, bläute den künftigen Verkaufenden ein: «Sagt ein Käufer, man solle das Rückgeld behalten: Tut es nicht! Die Kundschaft soll das Heft nicht aus Wohltätigkeit kaufen. Sondern weil Shedia eine unabhängige Publikation mit tollen Cartoons und einem konstruktiven Mindset ist.» Alefantis sagt: «Wir schreiben nicht einfach darüber, was alles schlecht ist auf der Welt und wie ausweglos die Situation. Eine Shedia-Geschichte benennt nicht nur das Problem, sondern auch, wie man es löst.» Surprise 453/19


FOTOS: YANNIS ZINDRILIS

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Das fand Anklang, und wie: Die Shedia-Macher hatten sich zum Ziel gesetzt, nach einem Jahr durchschnittlich 3500 Exemplare pro Monat zu verkaufen. Doch schon ab der dritten Ausgabe setzten sie über 10 000 Stück monatlich ab. Heute ist Shedia mit 20 000 bis 25 000 verkauften Heften pro Monat offiziell das viertbestverkaufte Magazin Griechenlands – obwohl es ausschliesslich auf der Strasse erhältlich ist und nur in den Städten Athen und Thessaloniki. Upcycling gegen Altersarmut Die Eröffnung von Shedia Home könnte die Pointe eines Shedia-Beitrags sein darüber, wie man aus Problemen Lösungen macht. Und wie so viele heutige griechische Geschichten findet sie ihren Anfang in der verheerenden wirtschaftlichen Krise der letzten Jahre. Ohne die Krise gäbe es dieses ganze soziale Unternehmen nicht. Es gäbe nicht einmal die Problemstellung, sagt Chris. Früher habe man in Athen selten Obdachlose gesehen. Heute leben Tausende auf der Strasse, Tendenz noch immer steigend. Offiziell ist die Krise vorbei, aber für viele Griechinnen hat sich das Blatt nicht gewendet. «Früher sagte ich immer, ich hätte das Heft mitten in der Krise gegründet», erzählt Chris. Aber das sei Blödsinn, die Krise sei noch längst nicht ausgestanden. «Und die Wucht, mit der sie viele Menschen traf, ist gewaltig», fügt er an. Anderswo sind die Ursachen von Obdachlosigkeit oft Drogen- und Alkoholmissbrauch oder psychische Krankheiten. Nicht so in Griechenland: «Die etwa 150 ShediaStrassenverkäuferinnen und -verkäufer sind alle direkte Opfer des wirtschaftlichen Zusammenbruchs», sagt Alefantis. Es sind Leute, die zuvor ein völlig normales Leben führten – dann ihre Jobs, ihre Häuser, alles verloren haben. Am Anfang waren es vor allem Menschen ohne AusbilSurprise 453/19

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dung, die das Heft verkauften. Heute finden auch arbeitslose Journalisten, Architektinnen oder Grafiker den Weg zu Shedia. Der Impuls zu Shedia Art kam schon vor Jahren, als man sich fragte: Was machen wir bloss mit all den alten Heften? Immer wegwerfen? Diese Frage dachten die Shedia-Macherinnen mit einem anderen Anliegen zusammen. Alefantis: «Wir suchten nach zusätzlichen Möglichkeiten, die Verkäuferinnen zu beschäftigen.» Besonders die älteren, für die es beschwerlich ist, stundenlang auf der Strasse zu stehen und Hefte zu verkaufen, vor allem während der Sommerhitze. Die noch Zeit, zwei, drei Jahre vielleicht, überbrücken müssen, bis sie eine Altersrente beziehen können. Auch bei der Belegschaft von Shedia Art wird diese Bevölkerungsgruppe, die besonders verletzlich ist, bevorzugt angestellt. In den alten, engen Redaktionsräumen von Shedia führten Chris Alefantis und seine Frau Katrin damals Workshops durch, durchliefen Testphasen und stellten schliesslich einen Webshop für die Upcycling-Produkte auf die Beine. Und voilà: 2017 konnte die Organisation bereits sechs Obdachlose – alle über Fünfzig – anstellen. Das Geschäft gedieh, die Idee wuchs weiter, nun ist sie in der Realität angekommen. Man kann sich wünschen, dass Shedia Home ein Erfolg wird wie das Heft. Selbstverständlich ist es nicht, das weiss auch Alefantis: «Nur weil du denkst, dass etwas super ist für die Gesellschaft, heisst das nicht, dass die Gesellschaft es auch so sieht.»

Online-Shop: shediart.gr Für Griechenlandreisende: Shedia Home, Kolokotroni 56, Athen 105 60 Geöffnet von 8 Uhr morgens bis 3 Uhr nachts.

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Klanginstallation Das Projekt «Sounding Soil» enthüllt, wie sich Schweizer Böden anhören.

Interessierte können mit einen Aufnahmegerät selber Tonproben beisteuern. TEXT JULIA SOMMERFELD

Links: Im Schiffscontainer kann man dem Alltag von Kleinstlebewesen horchen. Rechts: Künstler und Wissenschaftler Marcus Maeder von der ZHdK macht Tonaufnahmen.

Es knarzt, knistert, rauscht und tschirpt oder bleibt nahezu stumm. Die Klanginstallation des interdisziplinären Kooperationsprojekts «Sounding Soil» macht die Unterschiede zwischen gesunden, vor Leben strotzenden und verarmten Böden hörbar. Klangkünstler, Forscher und Komponist Marcus Maeder dokumentierte die unterirdischen Geräusche von über 25 Schweizer Böden – von Agrarflächen über Alpweiden bis Waldböden. Mithilfe einer akustischen Sonde, die 20 cm tief in die Erde gesteckt wurde, konnte Maeder gemeinsam mit einem Team der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) ein beeindruckendes Spektrum an Klängen zutage fördern. Quelle der dokumentierten und für unser Ohr 10 000-fach verstärkten Klangwelten sind Kleinstlebewesen, die aber grösser sind als 0,5 mm. Dazu gehören beispielsweise Springschwänze, Doppelfüssler und Regenwürmer. Ihre überraschend rhythmisch klingenden Aktivitäten können Besucherinnen und Besucher in der Klanginstallation erleben: Im Inneren eines Schiffscontainers, auf dessen Dach Maeder eine Wiese ge24

pflanzt und eine Wetterstation eingerichtet hat. Beim Betreten des Containers bekommen Besucher das Gefühl, sich selbst in den Boden zu begeben. Der dunkle Raum verschluckt das Tageslicht, und es erklingt eine Tonkomposition, die sich unmittelbar aus der Bodenfeuchtigkeit der Wiese über dem eigenen Kopf ableitet. Anhand einer interaktiven Karte der Schweiz – der «Soundmap» – lassen sich rund dreissig Bodenaufnahmen anhören. Die Vielstimmigkeit bleibt aus Bereits nach wenigen Klangproben wird deutlich, wie vielfältig sich Böden anhören können und wie gross die Unterschiede zwischen den aufgenommenen Gebieten sind. Unmittelbar wird der Einfluss unserer Spezies auf die Lebendigkeit von Ökosystemen deutlich: Wo intensive Landwirtschaft betrieben wird, steigen die Stickstoffeinträge, es kommt zu Überdüngung und Versauerung. Bodenorganismen können nur erschwert überleben, die Vielstimmigkeit bleibt aus. «Der Boden ist unsere Lebensgrundlage und verdient unsere Aufmerksamkeit», sagt Sabine Lerch von

der Biovision Stiftung für ökologische Entwicklung. Gemeinsam mit Künstler Marcus Meader koordiniert sie das Projekt. Ein «Citizen-Science-Projekt» ermuntert zudem die breite Bevölkerung, der eigenen Neugierde, die einst Marcus Maeder dazu brachte, eine Sonde in den Boden zu stecken, nachzugehen und mit Leihgeräten weitere Bodenaufnahmen für die «Soundmap» zu sammeln. «Sounding Soil» ermöglicht einen neuen, sinnlichen Zugang zum Thema Bodengesundheit. Kongenial wird ästhetische Praxis mit Methoden der naturwissenschaftlichen Forschung verbunden. So wird ein umfassendes Verständnis von Umweltbeziehungen möglich, wie es angesichts der Klimaerwärmung nötig ist: Denn die CO2-Speicherfähigkeit von gesunden Böden spielt auch hier eine zentrale Rolle. «Sounding Soil», Klanginstallation Chur, Plantahof Waldhaus, 28. Juni bis 31. Juli, Scientifica Zürich, 30. August bis 1. September, Olma St. Gallen 10. bis 20. Oktober; Citizen-Science-Projekt siehe online. soundingsoil.ch

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BILD(1): BIOVISION, BILD(2): FRITZ HAENI

Im Rhythmus des Regenwurms


«Starke Visionen unserer Zukunft» Kino Das Neuchâtel International Fantastic Film

Festival NIFFF sprengt die Grenzen des Realen. Direktorin Anaïs Emery sagt, wie.

Wo die Landschaft zu Poesie wird

Unter «fantastischem Film» stellen sich viele etwas zwischen Kinderfilm und Horror vor. Was ist er für Sie? Das Gebiet des Imaginären und des Experiments. Der fantastische Film erforscht das Feld der Möglichkeiten. Wir leben in einem historischen Moment, in dem sich das Genre von der Subkultur zur Hauptreferenz des Audiovisuellen entwickelt. Es ist ein Genre, in dem Individuen und Gemeinschaften starke Visionen unserer Zukunft, unserer Gesellschaft und unserer Ängste entwickeln. Paradoxerweise steht immer der Mensch im Zentrum des Fantastischen.

Die Schweiz schreibt Die Schweiz hat

«Anders als ein Krimi, den man an einem Stück verschlingen kann, ist Poesie sprachlich schwerer zugänglich. Man muss sie in kleinen Dosen geniessen, um ihre Qualitäten zu erkennen», sagt Niklaus Lenherr, der das Zentralschweizer «Literatur mobil»-Projekt leitet und zum 100-Jahr-Jubiläum von Carl Spittelers Literaturnobelpreis einen temporären Lyrik-Weg konzipiert hat. Der 1845 in Riehen bei Basel geborene Carl Spitteler war neben dem deutsch-schweizerischen Hermann Hesse der einzige Schweizer Autor, dem die hohe Ehre des Nobelpreises bisher zuteil wurde. Die von Lenherr angesprochenen «kleinen Dosen» sind im Fall des Lyrik-Weges Tafeln, die im Jubiläumsjahr temporär an verschiedenen Orten aufgestellt werden. Darauf stehen Hintergrundinformationen und poetische Kurztexte von über siebzig Schweizer Autorinnen und Autoren, die sich auf ganz unterschiedliche Weise mit Spittelers Werk auseinandergesetzt haben. Zur Inspiration diente ihnen unter anderem sein mythologisches Epos «Olympischer Frühling». «Heimat chunt und geit» steht auf der Tafel von Bernadette Lerjen-Sarbach. Je nach Umgebung hat ein solch feines Wortgebilde einen ganz anderen Effekt und schärft die Sinne. Liest man es in der Waldkathedrale Beromünster, schaut man vielleicht wehmütig einem Blatt zu, das sich aus einer Baumkrone löst und zu Boden schwebt. Oder dann am Carl-Spitteler-Quai in Luzern: Vor einem die viel befahrene Strasse, hinter einem der Vierwaldstättersee, von wo sich vielleicht das Horn eines Dampfschiffs in die hektische Geräuschkulisse mischt. «Vor hundert Jahren gab es bereits den Gotthardtunnel, aber es brauchte noch viel Zeit, um von einem Ort zum anderen zu gelangen. Carl Spitteler war einer, der oft zu Fuss unterwegs war und sich die Zeit nahm, die Umgebung in sich aufzunehmen. Das ist prägend für sein Werk, dem wir mit dem Lyrik-Weg unseren poetischen Tribut zollen», so Niklaus Lenherr. MONIK A BET TSCHEN «2019 meets 1919: Lyrik-Weg», Jubiläum Carl Spitteler 100 Jahre Literaturnobelpreis, temporäre Ausstellungen in der Zentralschweiz. Alle Daten und Orte unter: literatur-mobil.ch/lyrikweg.html

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FOTO: MIGUEL BUENO

einen Literaturnobelpreisträger, der ziemlich vergessen ist. Ein Lyrik-Weg begibt sich auf Carl Spittelers Spuren.

In letzter Zeit gab es einige Schweizer Filme, die man dem Fantastischen zuordnen kann, z. B. «Blue my Mind» oder «Aloys». Kommt das Genre bei uns neu auf? Bis vor Kurzem war das Fantastische bei uns so wenig anerkannt, dass man entsprechende Filme eher anderen Kategorien zuordnete. Dabei haben Alain Tanner, Claude Goretta, Fredi Murer, Daniel Schmid, Jean-Luc Godard oder Jean-Louis Roy sehr schöne fantastische Filme gemacht. Heute ändern sich die Dinge mit einer neuen Generation von Filmschaffenden, die zum Teil schon in ihrer Kindheit von New Hollywood geprägt wurden. Die Vertreter der Bewegung – Brian De Palma, Francis Ford Coppola, George Lucas, Martin Scorsese, Michael Cimino und Steven Spielberg – haben im Genre-Kino neue Wege eingeschlagen. Aufstrebende Schweizer Filmschaffende haben heute keine Angst mehr, sich zum Genre-Film zu bekennen. NIFFF ist ein Filmfestival, widmet sich aber auch Games oder Virtual Reality. Was hat das das Fantastische mit digitalem Storytelling zu tun? Der fantastische Film kann virtuos mit der Vorstellungskraft umgeDirektorin Anaïs Emery hen. Seit den Filmpionieren ist das Kino an die technische Entwicklung der Bilder gebunden. Das Fantastische nimmt in den neuen Medien somit automatisch eine Vorreiterrolle ein. Gleichzeitig lässt sich beobachten, dass die neuen Medien sich fast zwangsläufig mit der Welt des Fantastischen beschäftigen, weil sie unseren Zugang zur Realität erweitern und sich auf unsere Wahrnehmung auswirken. Nachgefragt von DIANA FREI Neuchâtel International Fantastic Film Festival NIFFF, Fr, 5. bis Sa, 13. Juli. nifff.ch

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Zürich «Halt die Ohren steif! Keep A Stiff Upper Lip! – Robert Frank & Gundula Schulze Eldowy in New York», Ausstellung, bis So, 7. Juli, Mi bis Sa 12 bis 21 Uhr, So 12 bis 18 Uhr, Sihlquai 125, 2. Stock. photobastei.ch

Gedicht und sein Double» des Fotografen Dirk Skiba. Er hat über Jahre hinweg Lyrikerinnen und Lyriker fotografiert – die dann mit einem Gedicht darauf reagierten. Die Ausstellung versammelt darüber hinaus Gedichtbände aller Beteiligten und inszeniert Gedichte sowie Video-Kommentare zu einzelnen Gedichten. Am Sonntag, 25. August ab 14 Uhr Poesie-Aktionen mit Jürg Halter, Fotostudio mit Oliver Zenklusen, Klang-Performance von Kinga Tóth und eine Gedichte-Jukebox mit Miriam Japp. DIF

Bern «Brodmann-Areale [39;40]: Texte. Löcher. Projektionen», Ausstellung, Mo, 1. bis So, 21. Juli, Sommer-Apéro mit Hybrido Unreim: Do, 4. Juli ab 18.30 Uhr, etkbooks store, Monbijoustrasse 69. unreim.ch Hybrido Unreim sind die Berner Schriftsteller Roland Reichen, Christian de Simoni und Hartmut Abendschein. Sie untersuchen seit einigen Jahren, woraus und warum Literatur entsteht: Was sind die Quellen, wo kommen die Ideen her, und wie und wohin verbreiten sie sich? Wie ist es möglich, mit Sprache eine Welt zu erschaffen? Was sehen wir, wenn wir etwas lesen? Nun schaffen sie eine Art begehbare Fiktion – damit die Fragen (und vielleicht Antworten) erlebbar werden. Ein Konvolut aus Fotos, Skizzen und Texten bietet Einblicke in das Funktionieren von Sprache. Wer sich für Plato, Schatten und Lacan interessiert, ist hier richtig. DIF

Die Photobastei widmet sich noch bis zum 7. Juli der Ostberliner Fotografin Gundula Schulze Eldowy und dem New Yorker Fotografen Robert Frank – zwei Kunstschaffenden aus ehemals verfeindeten Welten. Sie lernten sich 1985 in Ostberlin kennen. Nachdem er ihre Fotos angesehen hatte, fragte er sie, ob sie nicht in New York ausstellen wolle. Zwischen 1985 und 1989 schrieben sie sich über einen Westberliner Kontaktmann Briefe, die in wenigen Worten den jeweiligen Zeitgeist wiedergaben. 1988 schmuggelte Gundula Schulze Eldowy ihre ersten Fotografien nach New York. Im Herbst 1989 überschlugen sich mit dem Mauerfall die Ereignisse in Berlin, und ab 1990 wohnte Gundula Schulze Eldowy wochenlang bei Robert Frank und seiner Frau June Leaf in New York. Die Photobastei zeigt ihre Künstlerporträts von Robert Frank, Pablo Frank, June Leaf, Robert Wilson, Allen Ginsberg, Peter Orlowsky, Cindy Sherman, Bob Dylan und anderen. Auch Bilder von Robert Frank sind in der Ausstellung zu finden. Die Fotografien werden von Auszügen aus dem Briefwechsel zwischen Robert Frank und Gundula Schulze Eldowy, Texten aus ihrem Tagebuch und einem Video begleitet. DIF

Zürich «Openair Literatur Festival Zürich», Alter Botanischer Garten, Mo, 8. bis So, 14. Juli, Vorverkauf online literaturopenair.ch Veranstaltet wird das Festival von den beiden wichtigsten städtischen Institutionen für Literarisches: dem Literaturhaus Zürich und dem Kaufleuten. Nun kommt zum Beispiel Roxane Gay nach Zürich, feministische Star-Autorin und Literaturprofessorin aus den USA. Sie präsentiert den Essayband «Bad Feminist», mit dem sie berühmt wurde. Auch ihren neuen Bestseller «Hunger» hat sie dabei, die Geschichte ihres Körpers. Gay schreibt für die New York Times und den Guardian und ist Mitautorin des Marvel-Comics «World of Wakanda», der Vorlage für den Film «Black Panther». Auch Julian Barnes und Deborah Feldman sind zu Gast. Und die Philosophin und

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SRF-Sternstunden-Frau Barbara Bleisch unterhält sich mit der deutschen Bestseller-Autorin (und Buchgestalterin) Judith Schalansky über ihr neues Buch «Verzeichnis einiger Verluste». Unter freiem Himmel wird es um verhallte Echos und verwischte Spuren, Gerüchte und Legenden, Auslassungszeichen und Phantomschmerzen gehen. DIF

Zürich «Gedicht/Gesicht – Eine Ausstellung zur Gegenwartslyrik», bis So, 15. Sept., Di bis Fr 12 bis 18 Uhr, Do 12 bis 22 Uhr, Sa/So 11 bis 17 Uhr, Strauhof, Augustinergasse 9. strauhof.ch Ein Gesicht, ein Gedicht: Der Strauhof paart Person und Poesie und zeigt damit eine Momentaufnahme der deutschsprachigen Gegenwartslyrik. Die begehbare Installation basiert auf dem Buch «Das

dert Skulpturen aus, die auch gekauft werden können. Yola Kneubühler, eine junge Künstlerin aus Gümligen, zeigt in ihrem Ausstellungsdebut die begehbare Installation «Ich, in meinem Spiegelhaus», und die Lokalität «Eiskeller» wird mit einer Klanginstallation von Arthur Schneiter neu belebt. Mit dabei sind auch die Schule für Holzbildhauerei Brienz und die Keramikdesign-Fachklasse der Schule für Gestaltung Bern. Samstag, 31. August ist der «Tag der Holzbildhauerei», an dem Besucherinnen und Besucher unter Anleitung und Betreuung von Lernenden der Schule für Holzbildhauerei ihr eigenes Kunstwerk kreieren. Öffentliche Führungen am Mittwoch, 28. August um 17 Uhr und am Sonntag, 1. September um 13 Uhr. DIF

Muri bei Bern «Kunst zum Anfassen 2019», Skulpturen-Ausstellung, Fr, 16. August bis So, 15. Sept., täglich 9 bis 20 Uhr, Park der Villa Mettlen, Pourtalèsstrasse 35, freier Eintritt. kunstzumanfassen.ch Der Park der Villa Mettlen wird im Spätherbst zu einer FreilichtKunsthalle. 21 Schweizer Kunstschaffende stellen mehr als hun-

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BILDER(1+2): SCHULZE ELDOWY, BILDER(3+4): DIRK SKIBA, BILD(5): ZVG

Veranstaltungen


ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT

Agglo-Blues

Folge 36

Das Geständnis Was bisher geschah: Der Arbeitskollege des ermordeten Reto Schwander wird von Kriminalpolizistin Vera Brandstetter mit einer Tabelle konfrontiert, auf der es schlecht für ihn aussieht. Es sieht auch sonst schlecht für ihn aus. «Ich hatte Probleme mit einem Projekt. Der neue Abteilungsleiter, so ein junger Schnösel, der zwar einen MBA und ein PhD und was weiss ich was besitzt, aber nie eine Maschine bedient, sich nie die Hände schmutzig gemacht hat, änderte es ständig ab. Dazu unzählige Mails und Anrufe, auch am Abend und am Wochenende, aber Überstunden aufschreiben wäre als Illoyalität der Firma gegenüber aufgefasst worden. Schlussendlich ist das Projekt gescheitert. Ich konnte mir ja ausrechnen, was das bedeutet, auch wenn ich es nicht konkret wusste.» Kauer sah von Hofmann zu Brandstetter. «Meine Söhne studieren. Wissen Sie, was das kostet? Wir wohnen weit draussen auf dem Land, sie müssen in der Stadt wohnen, sie wollen das natürlich auch. Die Kleine, meine liebe kleine Chantal, isst nicht mehr richtig. Es zerreisst mir das Herz. Sie muss in die Therapie, wir müssen sie betreuen. Mit der Mutter hat sie sich vollkommen verkracht. Ich will das Haus verkaufen, aber mit diesen ÖV-Anschlüssen ist es nicht attraktiv. Und dann? Eine Vierzimmerwohnung hier in der Nähe kostet heute mehr, als ich für das Haus bekomme, von Mieten wollen wir gar nicht reden. Ich bin 56 Jahre und muss Ende Monat immer schauen, dass es reicht. Wenn mein Einkommen wegfällt, ist das eine Katastrophe. Ich weiss nicht, wie es weitergehen soll. Und das alles wegen ein paar so blöden Punkten.» «Schwanders Frau hat mir erzählt, dass ihr Mann vehement gegen dieses System war», wandte Brandstetter ein. «Ja, aber helfen wollte er mir trotzdem nicht. Er konnte es sich gut leisten, die Punkte zu teilen. Ich habe ihm die Liste gezeigt, trotzdem wollte er nicht. Er konnte es sich sogar leisten, das Projekt zu versieben. Das Risiko ging er lieber ein, als mir zu helfen. Er sagte, er habe Schiss, dass die Sache auffliegen und wir beide entlassen werden könnten, es sei doch auffällig, wenn er mich so kurz vor dem Stichtag an Bord hole. Ich habe gehofft, dass er privat mit sich reden liesse. Einmal bin ich zu ihm gefahren, aber seine Frau hat gesagt, er sei nicht zu Hause. Ich wusste, dass er an bestimmten Abenden am Schnabelweiher joggen ging, er hat Surprise 453/19

seine Streckenzeiten jeweils auf Facebook geteilt. Ich habe auf ihn gewartet und versucht, ihn zu überzeugen.» Kauer sackte in sich zusammen. «Angefleht habe ich ihn, aber es hat ihn einfach nicht interessiert. Er hat zwar gesagt, dass er das System abscheulich fände, aber bescheissen sei auch keine Lösung. Heutzutage müsse man eben in erster Linie für sich selber schauen. Es wäre tatsächlich unfair, wenn ich einem fähigeren Kollegen den Job wegnehmen würde. Seit er gewusst hat, dass er in der Liste fast zuoberst stand, fand er das System nicht mehr ganz so unfair. Er hat gedroht, zu melden, dass ich die Unterlagen habe, wenn ich ihn nicht in Ruhe lasse. Er hat mich einfach stehen lassen und ist wieder losgejoggt. Ich wollte ihn festhalten, er hat meinen Arm weggeschlagen. Da bin ich wütend geworden und habe ihm einen Schwinger verpasst. Er ging zu Boden und blutete aus der Nase. Ich zog ihn vom Weg, ins Schilf am Ufer. ‹Warum hilfst du mir nicht?›, habe ich gefragt und er hat so blöd gegrinst. Vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet, ich war völlig ausser mir und hab ihn unter Wasser gedrückt. Erst nach einer Weile merkte ich, dass er sich gar nicht mehr bewegt. Ich habe Panik bekommen und bin abgehauen.» «Albert, was machst du denn für Sachen?» Erika Hofmann griff über den Tisch nach seiner Hand. Er zog sie zurück. «Der Druck war einfach zu gross. Ich habe doch alles richtig gemacht. Ich habe immer gearbeitet, mich weitergebildet, Leistung gezeigt. Ich habe Kinder grossgezogen und Steuern bezahlt. Trotzdem stand ich auf der Abschussliste. Auf einmal zählte das alles nichts mehr.» Kauer starrte vor sich auf die Tischplatte. «Jetzt ist alles noch viel schlimmer. Was soll aus meinen Kindern werden, wenn ich ins Gefängnis muss?» Brandstetter schüttelte den Kopf. Was sollte sie darauf sagen, sie wusste es nicht, sie konnte es sich nicht leisten, darüber nachzudenken. «Herr Kauer, ich muss Sie bitten, mitzukommen», sagte sie bestimmt.

Dies war die letzte Folge von Agglo-Blues, nachlesen können Sie alles unter surprise.ngo/krimi. Autor STEPHAN PÖRTNER treffen Sie ab Ausgabe 456 wieder hier – mit einer neuen Kolumne.

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten 01

Mitarbeitende Forbo Siegling CH, Wallbach

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TopPharm Apotheke Paradeplatz

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Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti

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RLC Architekten AG, Winterthur

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

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LIVEG Immobilien GmbH, Adliswil

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VXL, gestaltung und werbung, Binningen

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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

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Brother (Schweiz) AG, Dättwil

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

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Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

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Physiopraxis M. Spring/S. Zeugin, Basel

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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Cantienica AG, Zürich

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Madlen Blösch, Geld & so, Basel

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Schluep & Degen, Rechtsanwälte, Bern

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Ozean Brokerage & Shipping AG, Muttenz

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Beat Vogel, Fundraising-Datenbanken, Zürich

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InhouseControl AG, Ettingen

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Infopower GmbH, Zürich

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Büro Dudler, Raum- und Verkehrsplanung, Biel

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Hedi Hauswirth Psychiatrie-Spitex, Oetwil a. S.

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SISA Studio Informatica SA, Aesch

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Stellenwerk AG, Zürich

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

Ricardo Da Costa verliess 2003 GuineaBissau, wo seine Familie immer noch lebt. Der Mechaniker arbeitete zuerst als Bauarbeiter in Portugal und Italien. 2013 kam er in die Schweiz. Wenige Tage nach seiner Ankunft wurden ihm alle Wertsachen gestohlen und er stand ohne Papiere da. Auf der Gasse lernte er einen Strassenmagazin-Verkäufer kennen und verkauft seither auch. «Ich bin froh, bei Surprise zu sein», erzählt Ricardo. «Manchmal komme ich traurig ins Büro und gehe mit einem Lächeln auf dem Gesicht wieder raus.» SurPlus ist für ihn eine grosse Unterstützung: Das ÖV-Abo ermöglicht Mobilität beim Heftverkauf und bei Schwierigkeiten stehen ihm die Mitarbeitenden mit Rat und Tat bei.

Weitere SurPlus-Geschichten lesen sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 15 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise Stadtrundgang Zürich

Stadtrundgang Bern

Zwei Jahre ist es her seit unserem Teamausflug nach Zürich. Stadtführer Hans Rhyner hatte uns «sein Züri» gezeigt; ein Blick hinter die nicht einfache Kulisse sozial benachteiligter Menschen. Hans hatte uns mit seinem Lebensmut und Durchhaltewillen tief beeindruckt. Die Verbindung ist geblieben, Ende Mai stattete er unserer Waldspielgruppe einen Besuch ab. Er half unseren «Flöhen» beim Kochen einer aromatischen Waldsuppe aus Naturmaterialien, erzählte beim gemeinsamen Znüni, wie es ihm in der Zwischenzeit ergangen ist, und bereicherte unseren Waldmorgen durch seine Anwesenheit.

«Vertiefte Informationen»

S. SPYCHER, Spielgruppe Flohsack, Dottikon

S. GRIEDER, über Facebook

Die spannende, persönliche Geschichte von Roger Meier wurde von ihm sehr lebhaft und mit grossem Engagement erzählt. Die vertieften Informationen haben meine eigene Sichtweise ergänzt. Da ich denselben Jahrgang wie Roger Meier habe, waren mir viele Situationen bekannt (vor allem bezüglich der Drogenszene in Bern). Ich hatte diese damals nur aus der Distanz wahrgenommen oder aus den Medien. Vielen Dank somit für die vertieften Insider-Informationen, welche meine Sicht auf das Geschehen von damals erweitert haben. Interessant war auch zu erfahren, wie sich die Obdachlosenszene vernetzt, sich gegenseitig hilft, und ebenso die Informationen über die Rückzugsmöglichkeiten in diverse Institutionen, welche meist durch Freiwilligenarbeit organisiert wird. Grossen Dank an all diese HelferInnen! M. (ohne Nachname), Bremgarten bei Bern Strassenmagazin

«Freut mich, freut mich nicht» Ich habe beim Surprise-Vorläufer Stempelkissen mitgewirkt und bei den ersten Ausgaben von Surprise – es freut mich, dass das Pflänzchen so schön gediehen ist. Es freut mich nicht, dass es so etwas wie Surprise immer noch braucht!

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Diana Frei (dif) Amir Ali (ami), Sara Winter Sayilir (win) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

Surprise 453/19

Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Georg Gindely, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Semhar Negash, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Laurent Burst, Ruben Hollinger, Roland Schmid, Julia Sommerfeld Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name

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Druck AVD Goldach PLZ, Ort

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Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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FOTO: RUBEN HOLLINGER

Surprise-Porträt

«Für mich gilt: Leben ist arbeiten» «Ich bin in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba aufgewachsen, habe dort bei einem Italiener Autoelektriker gelernt und arbeitete später in Äthiopien, Ruanda und Uganda für die UNO. Dass meine Eltern aus dem heutigen Eritrea stammten, interessierte bis in die Neunzigerjahre niemanden. Doch nachdem sich Eritrea die Unabhängigkeit von Äthiopien erkämpft hatte, wurden eritreischstämmige Leute wie ich in Äthiopien zunehmend schikaniert. Obwohl ich mit einer Äthiopierin verheiratet war, wurde ich des Landes verwiesen. Ich ging also nach Eritrea und versuchte dort zu leben. Bald schon wollte man mich dort zum Militärdienst zwingen. Das ging für mich gar nicht – da hätte ich ja früher oder später auf meine äthiopischen Brüder schiessen müssen. Ich kehrte nach Äthiopien zurück und führte dank Schmiergeld zunächst ein freies Leben. Irgendwann funktionierte auch das nicht mehr. Als man mich schliesslich in ein abgelegenes Flüchtlingslager für Eritreer bringen wollte, nahm ich das Geld, das ich noch von den UNO-Einsätzen hatte, und flüchtete nach Europa. Seit 2011 lebe ich nun in der Region Bern. Für mich gilt: Leben ist arbeiten. Deswegen habe ich mich nach meiner Ankunft sofort nach Arbeitsmöglichkeiten für Flüchtlinge umgeschaut und konnte bei der Reinigungsgruppe von Bernmobil anfangen. Nach ein paar Monaten wechselte ich zu Surprise, mittlerweile verkaufe ich das Strassenmagazin seit sieben Jahren. Ich bin glücklich, wenn ich arbeiten und mit Menschen in Kontakt treten kann, ich spreche gerne mit den älteren Leuten und mache Spässe mit den Kindern. Glücklich macht mich übrigens auch der Berner Fussballclub YB – ich verfolge die Spiele am Fernsehen, ab und zu leiste ich mir ein Ticket für das Stadion. Kevin Mbabu ist mein Favorit. Er gibt so viel Herzblut für sein Team. Schade, dass er YB verlässt, aber ich wünsche ihm viel Glück in Wolfsburg! Wenn ich am Arbeiten bin, fühle ich mich gesund, zuhause spüre ich dann die Schmerzen, die ich fast am ganzen Körper habe. Es begann vor 25 Jahren, als ich in Ruanda nach dem fürchterlichen Genozid als Automechaniker einen UNO-Hilfskonvoi begleitete. Ich spürte, dass es mir nicht nur schlecht ging, weil wir so viel Schlimmes sahen. Ich musste den Einsatz abbrechen und mich in Addis Abeba im staatlichen Spital untersuchen lassen. Ich hätte Gallensteine und müsse operiert werden, hiess es. Während der Operation ging das Narkosemittel aus, und ich wachte auf. Als ich meinen 30

Yemane Tsegaye, 57, verkauft Surprise am Berner Bärenplatz. Er ist eine Kämpfernatur – genauso wie sein derzeitiger Lieblingsfussballspieler von YB.

offenen Bauch sah, drehte ich durch und beschimpfte die Ärzte. Die Folge: Sie nähten schnell zu und vergassen Watte und Schere in meinem Bauch. Wenn sie mich danach im Spital des russischen Roten Kreuzes nicht notoperiert hätten, wäre ich gestorben. Bis heute leide ich an den Folgen der verpfuschten ersten Operation. Eins hat danach das andere nach sich gezogen, die Leber funktionierte nicht mehr richtig, und wegen der Diabetes hätte ich fast das Augenlicht verloren. Nach Monaten im Spital und in der Augenklinik in Bern geht es mir heute viel besser, und ich kann wieder mit beiden Augen sehen. Ich bin allen Beteiligten unglaublich dankbar, dass sie mich so gut versorgt haben. Zwischen den Klinikaufenthalten ging ich immer wieder zum Bärenplatz und verkaufte Surprise. Ich erhalte zwar jetzt eine IV-Rente, aber mir wäre es lieber, ich könnte wie früher selbst für mich sorgen. Ich würde gerne wieder als Autoelektriker oder -mechaniker arbeiten. Ich bin sicher, ich würde die neuen Systeme schnell verstehen, denn einmal Mechaniker, immer Mechaniker.»

Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN

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SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

ERLEBEN SIE BASEL, BERN UND ZÜRICH AUS EINER NEUEN PERSPEKTIVE. Menschen, die Armut, Ausgrenzung und Obdachlosigkeit aus eigener Erfahrung kennen, zeigen ihre Stadt aus ihrer Perspektive und erzählen aus ihrem Leben. Authentisch, direkt und nah. Buchen Sie noch heute einen Sozialen Stadtrundgang in Basel, Bern oder Zürich. Infos und Terminreservation: www.surprise.ngo/stadtrundgang


Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren. BETEILIGTE CAFÉS IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstrasse 18 | Bäckerei KULT «Elsi», Elsässerstrasse 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Café Bohemia, Dornacherstr. 255 Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 | Kiosk Amann, Claragraben 101 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Badischer Bahnhof | Rest. Manger & Boire, Gerbergasse 81 | Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 | Café Spalentor, Missionstrasse 1 | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | Treffpunkt Breite, Zürcherstrasse 149 IN LENZBURG feines Kleines, Rathausgasse 18 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4-Markt Baselstrasse, Baselstr. 66 | Restaurant Quai4, Alpenquai 4 | Quai4-Markt Alpenquai, Alpenquai 4 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbad Volière, Inseli Park | Restaurant Brünig, Industriestrasse 3 | Arlecchino, Habsburgerstrasse 23 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN BERN Café Kairo, Dammweg 43 | Café MARTA, Kramgasse 8 | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa Lorraineladen, Lorrainestr. 23 | Luna Llena Gelateria Rest. Bar, Scheibenstr. 39 | Rest. Genossenschaft Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Rest. Löscher, Viktoriastr. 70 | Rest. Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestrasse 20 | Becanto GmbH, Bethlehemstrasse 183 | Phil’s Coffee to go, Standstrasse 34 IN BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Quartiertreff Enge, Gablerstrasse 20 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 | Kafi Freud, Schaffhauserstrasse 118 | Kumo6, Bucheggplatz 4a | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistrasse 76 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestrasse 47 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11 IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique & café, Bernstrasse 2 IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstrasse 3a

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise


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