Surprise Nr. 452

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Strassenmagazin Nr. 452 14. bis 27. Juni 2019

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass

Gleichstellung

Was Frauen wollen Wofür Bäuerinnen, Kosmetikerinnen und Kita-Angestellte gemeinsam kämpfen. Seite 8


BETEILIGTE CAFÉS

Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren.

IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstrasse 18 | Bäckerei KULT «Elsi», Elsässerstrasse 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Café Bohemia, Dornacherstr. 255 | Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 | Kiosk Amann, Claragraben 101 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Badischer Bahnhof | Rest. Manger & Boire, Gerbergasse 81 | Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 | Café Spalentor, Missionstrasse 1 | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | Treffpunkt Breite, Zürcherstrasse 149 IN LENZBURG feines Kleines, Rathausgasse 18 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4-Markt Baselstrasse, Baselstr. 66 | Restaurant Quai4, Alpenquai 4 | Quai4-Markt Alpenquai, Alpenquai 4 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbad Volière, Inseli Park | Restaurant Brünig, Industriestrasse 3 | Arlecchino, Habsburgerstrasse 23 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN BERN Café Kairo, Dammweg 43 | Café MARTA, Kramgasse 8 | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa Lorraineladen, Lorrainestr. 23 | Luna Llena Gelateria Rest. Bar, Scheibenstr. 39 | Rest. Genossenschaft Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Rest. Löscher, Viktoriastr. 70 | Rest. Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestrasse 20 | Becanto GmbH, Bethlehemstrasse 183 | Phil’s Coffee to go, Standstrasse 34 IN BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Quartiertreff Enge, Gablerstrasse 20 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 | Kafi Freud, Schaffhauserstrasse 118 | Kumo6, Bucheggplatz 4a | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistrasse 76 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestrasse 47 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11 IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique & café, Bernstrasse 2 IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstrasse 3a

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise

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Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Erlebnis Erlebnis

Expertenrolle Expertenrolle

SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf2die Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Gesellschaft. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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TITELBILD: MARC BACHMANN

Editorial

Nach dem Streik ist vor dem Streik Wenn Sie dieses Heft in den Händen halten, ist der Frauenstreik entweder gerade in vollem Gange oder schon wieder vorüber. Es wird aus­ gerechnet worden sein, wie viele teilgenommen haben, es wird analysiert werden, was es ­gebracht hat. Und mutmasslich noch bringt. Der Mehrwert solcher Aktionen liegt in der ­vorhergehenden Mobilisierung: Die öffentliche Präsenz feministischer Anliegen war selten so dicht wie in den letzten Wochen. Lohnungleichheit, unbezahlte Carearbeit, Glasdecken, Me-Too, «my body, my rights», Gewalt gegen Frauen – nahezu alle Themen des politischen Frauseins wurden in den Medien, bei Abendessen und Frühstück, auf der Bühne und im Privaten debattiert. Die alte Losung, das Private sei politisch, bekam (wieder) eine ganz reale Dimension. Sogar die Skepsis der Jungen gegenüber dem blos­ sen Wort Feminismus und den Kämpferinnen von damals ist Respekt und Solidarität gewichen.

Eine Besonderheit dieses Streiks ist die dezen­ trale Organisation: So war es möglich, eine solche Vielfalt an Anliegen und Teilnehmer­ innen zu mobilisieren. Sie habe schon lang den Überblick verloren, es laufe so viel, sagt die ­Gewerkschafterin und Präsidentin der SP-Frauen* Natascha Wey im Interview deshalb auch mit e ­ iner Mischung aus Erstaunen und Stolz, ab Seite 14. Bleibt zu hoffen, dass nach dem Tag X genügend feministische Energie übrigbleibt, um nachhaltig und speditiv Verbesserung zu ­erwirken. Und dass gerade die jungen Frauen, wie jene auf unserem Cover, von denen viele erst nach und nach die vielen Dimensionen der Ungleichheit entdecken werden, dranbleiben und nicht müde werden, weiter für Gleich­stellung zu kämpfen. Aller Erfahrung nach ­brauchen wir einen langen Atem.

So jedenfalls erleben es jene, die sich engagieren. Wir haben mit Frauen aus ganz verschiedenen Gesellschaftsschichten und -gruppen gesprochen und gefragt, warum sie streiken, ab Seite 8.

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

Eine Frau explodiert

6 Moumouni …

... erzählt ein Märchen

SAR A WINTER SAYILIR

Redaktorin

14 Gleichstellung

20 Gentrifizierung

28 SurPlus

16 Wohnungslosigkeit

24 Festival

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

«Das Private ist politisch» Kein Problem in Belarus

Camp Second Chance Positive Firmen in der Tech-Metropole Mutige Pioniere statt Friedhofsgärtner

7 Die Sozialzahl

25 Die Schweiz schreibt

8 Gleichstellung

26 Veranstaltungen

Staatliche Umverteilung? Ausserordentliche Mobilisierung

Sprache als Experimentierfeld

30 Surprise-Porträt

«Ich stelle hohe Ansprüche an mich»

27 Agglo-Blues

Der Abstieg

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Aufgelesen

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Handarbeit gegen den Klimawandel Seit über neunzig Jahren baut die Familie von Maria Luisa Chaca im guatemal­tekischen San Antonio Sacatepéquez Kakao an. Maria Luisa gibt mit ihrer 73-jährigen Mutter Victoria und ihrer Schwester Aura die Kunst der Schokoladenherstellung nun an ihre Töchter weiter. Der Klimawandel macht ihnen Sorgen, ebenso die Abholzung des Waldes für Zuckerrohrund Kautschukplantagen. Es gebe immer weniger Regentage. «Das Wetter ändert sich, wir wissen nicht, was in Zukunft sein wird», sagt Maria Luisa. «Es ist gut, wenn die Kinder etwas haben, womit sie Geld verdienen können.» Die Familie pflanzt und erntet von Hand. Umgerechnet etwas über 80 Schweizer Franken verdient sie mit dem Verkauf der Pakete aus gemahlenem, mit Zucker vermischten Schokoladeblöcken dazu.

BIG ISSUE AUSTRALIA, MELBOURNE

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1 Tochter, Mutter und Grossmutter bei der Ernte im Hinterhof. 2 Maria Luisa beim Rösten. 3 Mutter und Tochter mahlen die Bohnen zu Pulver und mischen Zucker dazu. 4 Ein Pfund der so hergestellten Schokolade bringt der Familie rund 1.60 CHF ein. 2

FOTOS: CAROLINE TRUTMANN

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Geld für letzte Ehre

Beerdigungen kosten in Grossbritannien heute doppelt so viel wie 2004. Laut der Versicherungsgesellschaft SunLife liegen die Kosten für eine Kremierung oder Beerdigung bei 5 500 bis 6 000 Franken. Der staatliche Zuschuss hingegen, den Bedürftige beantragen können, ist in den letzten fünfzehn Jahren nicht angehoben worden. Bean­tragende müssen zudem weitgehende Einsicht in ihre ­Finanzen geben, um Unterstützung zu bekommen. Weil viele Briten die Kosten auch mit Zuschuss nicht selbst tragen können, richteten die Gemeinden im letzten Jahr «Armenbeerdigungen» für umgerechnet 6,8 Millionen Franken aus. Im März hat der Staat eine Untersuchung eingeleitet, welche die Bestattungs­ branche zwingen soll, die tatsächlichen Kosten von Beerdigungen und Einäscherungen offenzulegen. Zudem steht eine Reform der staatlichen Zuschüsse bevor.

THE BIG ISSUE, LONDON

Ohne Grund auf der Strasse

Das Gesetz im US-Bundesstaat ­Oregon erlaubt Räumungen durch den Vermieter ohne die Angabe von Gründen. Nachdem ein Räumungsbescheid zugestellt wurde, bleiben den Mietern 90 Tage Zeit, ihr Zuhause zu verlassen. Zwar kann der Rechtsweg beschritten werden, doch das kostet Zeit und Geld. Haben Mieter bereits Probleme mit Finanzen, Gesundheit, ­Arbeit oder Familie, kann ein solch unangekündigter Räumungsbescheid eine psychische Krise nach sich ziehen, mit teilweise fatalem Ausgang. Rund ein Prozent der Suizide in Oregon werden direkt mit Räumungsbescheiden in Verbindung gebracht.

STREET ROOTS, PORTLAND

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Vor Gericht

Eine Frau explodiert «Drei Stück», antwortet Sonja* auf die Frage des Richters nach Kindern. 12, 14 und 18 Jahre alt. Sie leben in Pflegefamilien, die Väter haben sich aus dem Staub gemacht. Bei Sonja weisen aufgedunsene Haut, struppiges Haar und ein lückenhaftes Gebiss auf eine längere Drogenkarriere hin. Die dürren Angaben zur familiären Situation könnten auf einen Abstand zu ihrer Vergangenheit schliessen lassen: Die Kinder als Bruchstücke eines Lebens, das Sonja hinter sich gelassen hat. Das Jetzt bleibt im Vagen, zur Erhellung dieses Falles ist es nicht nötig. Dafür ist die Straftat zu geringfügig. Vor anderthalb Jahren ging Sonja mit ihrem neuen Freund in ein Imbiss-Lokal zum Biertrinken und Pizzaessen. Dort traf sie auf ihren Ex, der allerdings kein Vater ihrer Kinder ist, mit seiner Neuen, der Bettina. Das Lokal hat nur vier, fünf Tische, so kam man sich näher als es gut tat. Gemäss Anklageschrift habe Sonja Bettina verbal angegriffen und dann den Worten Taten folgen lassen: Sonja verpasste Bettina eine Ohrfeige, riss ihr die Halskette ab, sorgte mit Tritten gegen das Schienbein für Hautabschürfungen und blaue Flecken und schlug ihr schliesslich den Rucksack so hart ins Gesicht, dass es zu heftigem Nasenbluten kam. Die 36-jährige Sonja, nun der einfachen Körperverletzung und Sachbeschädigung angeklagt, ist von grosser und breiter Statur, mit karierter Jacke und rosa Trainingshose gekleidet. Die Beschuldigung will sie so

nicht auf sich sitzen lassen und fordert einen Freispruch. Sie gibt zwar die Handgreiflichkeiten zu, aber nicht, dass sie als Erste zugeschlagen habe. Bettina habe angefangen, laut rumzupöbeln. «Sie sagte zu meinem Ex, ich sei eine Schlampe, so laut, dass ich es hörte.» Also sei sie zu ihr an den Tisch gegangen und wollte sie zur Rede stellen. Die Sache ist schneller passiert als erzählt. «Da hat mich die Andere weggestossen, dass ich zwei Schritte nach hinten getaumelt bin, in einen anderen Tisch, und wenn mich jemand anfasst, dann explodiere ich.» Schon möglich, dass «die Andere» dabei einen Kick ins Bein abbekommen habe. «Aber ihre blauen Flecken können genauso gut von meinem Ex stammen. Ich kenne den doch, der schlägt immer zu, wenn er besoffen ist, und das ist er dauernd.» Und überhaupt «wegen so einem Seich» Anzeige zu erstatten, ob «die Andere» denn nichts Gscheiteres zu tun habe? Und dann will sie auch noch Profit schlagen aus diesem Vorfall. «Diese billige Kette kostete niemals 1 000 Franken, wie will sie als Alkie so wertvollen Schmuck haben.» Und eine Genugtuung von nochmals 2 000 Franken, «das ist ja wohl ein Witz», schnaubt Sonja. Der Richter hält für die Körperverletzung und Sachbeschädigung eine bedingte Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu 50 Franken für angemessen, was den geringen Einkünften der Angeklagten entspreche. Dazu eine Busse von 400 Franken. Und während er die Akte zuklappt, ermahnt er Sonja, Konflikten zukünftig aus dem Weg zu gehen, bevor es zur Explosion kommt.

* persönliche Angaben geändert ISABELL A SEEMANN   ist Gerichts­reporterin

in Zürich. 5


ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

Ausser ...? Sie horchten auf. Nein, nichts! «Doch. War da was?» [... as, as ...] «Irgendetwas ist komisch», sagte der eine Typ, «das ist nicht normal!» [... nicht normal, icht ormal, mal, al, al …]. Und so beschlossen sie, dass es das, was sie gehört hatten, nicht gab. Bis es lauter wurde. «Was ist denn das für ein Lärm?!», riefen sie in ihren Wald hinein. Und komisch: fast genauso kam es zurück: «Verrückt!» [... ückt, ück, ück ...] Sie bekamen Angst und waren wütend zugleich: «Was ist das?» [... das, as, as ...] «Wer seid ihr?» [... eid ihr, ihr, ihr ...]

Moumouni …

… erzählt ein Märchen Es war einmal ein Typ. Ein Typ, der typisch für den Typ Typen war, der er war. Man konnte ihn also, wenn man dem Wort nicht allzu abgeneigt war, als ganz normalen Typen bezeichnen. Er sah normal aus, war normal gross, normal angezogen und wenn er sprach, dann sprach er ganz normal. Über verschiedene Dinge, aber allesamt ganz normal. Und atmen konnte er: Ganz normal! Ein und aus. In den Bauch und aus der Nase oder dem Mund, ganz normal halt. Hier ein kleiner Unterbruch zu Forschungszwecken: Wer stellt sich einen weissen Mann vor? Richtig. Oder egal! Ein richtiger Mann, aber irgendwie auch ein normaler Mann. Er mochte Hunde. Wenn er fettige Haare hatte, dann wusch er sie. Obwohl, ab und zu hatte er das Gefühl, dass sie besonders gut sassen, 6

wenn sie fettig waren, und weniger, wenn frisch gewaschen, und so zögerte er das Waschen manchmal noch ein oder zwei Tage heraus, um ein oder zwei Tage eine herausragende Friese zu haben. Aber das ist ja normal! Er blinzelte, wenn er in die Sonne schaute. Manchmal musste er dann auch niesen. Komisch, aber für ihn normal, denn er hatte sich daran gewöhnt. Der Typ hatte einen normalen Freund. Und manchmal trafen sie sich auf ein Bier, wie ganz normale Freunde das tun, und dann redeten sie und erzählten sich ganz normale Sachen. Eines Tages, als die beiden wie sonst manchmal auch im Wald spazieren gingen, passierte etwas Aussergewöhnliches: Sie hatten mal wieder über irgendetwas Normales gesprochen und hörten dabei um sich herum nichts [... nichts, nichts, ichts ...].

«Man kann ja gar nichts mehr sagen!» [... sagen, agen, agen, gen, gen ...], riefen sie laut und deutlich und ein bisschen empört – oder sagen wir: besorgt – in den Wald hinein. Und immer wieder kamen ein paar ihrer Silben zurück. Plötzlich erwachte der ganze Wald zum Leben: Vögel flogen auf, Vögel, die die Typen noch nie zuvor gesehen hatten (obwohl diese schon immer in dem Wald gewohnt hatten). Komische Vögel flogen auf in ihrer ganzen Pracht, und manch einer kackte den Typen einfach auf den Kopf. Manche zwitscherten laut oder krächzten oder piepsten oder machten: «Klackklackklack, klack! Klacklacklack!» Und es war so laut! Und das Kacken auf den Kopf, das war unausstehlich! Die Typen merkten gar nicht, dass sie unter einem Baum standen. Sie merkten auch nicht, dass sie einfach einen Schritt zur Seite hätten gehen können, dann wäre ihnen nicht so oft auf den Kopf geschissen worden. Doch sie blieben unter dem Baum. Weil sie schon oft und eigentlich immer auf ihrem Waldspaziergang dort gestanden hatten. «Darf man jetzt nicht mehr unter Bäumen stehen oder was?» [... was, as, as ...] «Das ist Zensur!» [ur, ur, ur …], riefen sie und blieben weiter unter dem Baum stehen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann stehen sie dort noch heute.

FATIMA MOUMOUNI  glaubt, dass diese Geschichte auf die eine oder andere Art allen passieren könnte, die auf die eine oder andere Art «normal» sind.

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INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK (2018): HAUSHALTSBUDGETERHEBUNG (HABE), NEUCHÂTEL

Die Sozialzahl

materielle Situation jedes Erwerbshaushaltes, sondern verändert auch die Einkommensverteilung in der Schweiz. Doch in welche Richtung und in welchem Ausmass?

Staatliche Umverteilung?

Tatsächlich ist die Einkommensverteilung in der Schweiz «nach Staat» etwas weniger ungleich als «vor Staat», wie ein Vergleich der beiden Einkommensverteilungen zeigt. Die 10 Prozent einkommensschwächsten Erwerbshaushalte kommen nun auf einen Anteil von 2,5 Prozent am gesamten Einkommen aller dieser Haushalte, während die 10 Prozent einkommensstärksten Erwerbshaushalte «nur» noch einen Anteil von 22,8 Prozent erreichen. Doch noch immer kommen die unteren 70 Prozent der Erwerbshaushalte etwa auf gleich viel Einkommen wie die oberen 30 Prozent. Die grosse Umverteilung im Steuer- und Sozialstaat Schweiz findet also nicht statt. Weder von oben nach unten noch von unten nach oben. Die tiefsten Einkommen werden etwas angehoben, die obersten Einkommen sehr moderat gesenkt. In der breiten Mittelschicht passiert praktisch nichts.

Ist der Steuer- und Sozialstaat Schweiz eine grosse Umver­ teilungsmaschine? Sind die Einkommen von Haushalten «nach Staat» gleichmässiger verteilt als «vor Staat»? Führt also staatliches Handeln zu einer Umverteilung von oben nach unten – oder doch eher von unten nach oben? Die Einkommen, die Haushalte erzielen, bevor sie ihren Obolus an den Staat abgeliefert haben und bevor sie Sozial­ leistungen vom Staat beziehen konnten, sind bekanntermassen unterschiedlich hoch, selbst dann, wenn man die Haushaltsgrösse berücksichtigt und die Rentnerhaushalte weg­lässt. Die 10 Prozent einkommensschwächsten Haushalte generieren gerade einmal 1,8 Prozent des gesamten Einkommens aller Haushalte, die einkommensstärks­­­­­­ten 10 Prozent rund 25 Prozent. Oder nochmals anders formuliert: Die unteren 70 Prozent der Erwerbshaushalte erzielen zusammen knapp gleich viel Einkommen wie die oberen 30 Prozent. Auf diese Einkommen wirkt nun der Steuer- und Sozialstaat ein. Die Erwerbshaushalte haben Steuern zu zahlen und leisten Sozialversicherungsbeiträge. Beides ist einkommensabhängig. Dazu kommt die Krankenversicherungsprämie, die sich als einzige Sozialabgabe nicht am Einkommen orientiert. Doch der Steuer- und Sozialstaat nimmt nicht nur, er zahlt auch: Renten und Taggelder an invalide oder arbeitslose Menschen, Kita-Subventionen, individuelle Prämienverbilligung, Ergänzungsleistungen oder Sozialhilfe. Mit diesem Nehmen und Geben beeinflusst der Steuer- und Sozialstaat nicht nur die

An diesen Einkommensverhältnissen hat sich über viele Jahre hinweg in der Schweiz wenig geändert, weder zum Guten noch zum Schlechten. Mit der aktuellen Einkommensverteilung steht die Schweiz im internationalen Vergleich im Mittelfeld der wirtschaftlich führenden Länder. Grossbritannien oder die USA haben wesentlich schiefere Einkommensverteilungen, die skandinavischen Länder kennen mehr Einkommensgleichheit. Den weltweit feststellbaren Trend zu einer Verschärfung der Einkommensungleichheit macht die Schweiz bis jetzt nicht mit.

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL  ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

25

25,0

Verteilung der Einkommen von Erwerbshaushalten vor und nach staatlichen Transfers in Prozent

22,8

20 Anteil «vor Staat» Anteil «nach Staat» 15

14,8 12,3 10,6

10

5

4,8

1,8 0

5,5

6,1

6,7

7,1

7,6

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9,4

14,3

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10,7

9,5

2,5

1. Dezil

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2. Dezil

3. Dezil

4. Dezil

5. Dezil

6. Dezil

7. Dezil

8. Dezil

9. Dezil

10. Dezil

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«70 Prozent der weiblichen Familienangehörigen in Bauernfamilien haben keine eigene Altersvorsorge. » GABI SCHUERCH-W YSS, BÄUERIN UND VERBANDSMITGLIED L ANDFR AUEN SCHWEIZ

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«Es geht nicht nur um mich» Gleichstellung Der Frauenstreik 2019 ist vielfältiger als der vor

28 Jahren, Solidarität ist das grosse Stichwort. Was bewegt diejenigen, die mitmachen, und was wird sie danach weiter bewegen? TEXT  MIRIAM SUTER FOTOS  MARC BACHMANN

«Wenn ich ausfalle, kann man mich nicht so hurti, hurti ersetzen», sagt Gabi Schuerch-Wyss und streicht über die Frauenstreik-Broschüre auf dem Esstisch, der im säuberlich aufgeräumten Wohnzimmer steht. Vor dem Gespräch hat die 46-Jährige noch «hurti» die Bezüge der Stuhlkissen mit den Katzenhaaren abgezogen und durch frische ersetzt, «was gmacht esch, esch gmacht». Schuerch-Wyss lebt auf einem Hof in Bütikofen bei Kirchberg zusammen mit ihrem Mann und ihren vier Kindern und ist seit einem Jahr Vorstandsmitglied des Schweizerischen Bäuerinnen- und Landfrauenverbands SBLV. Aufgewachsen ist Schuerch-Wyss in einem bürgerlichen Haushalt, «in diesen Kreisen gilt der Streik als zu laut, zu extrem», erzählt sie. Dass 2019 wieder ein Frauenstreik stattfindet, hat sie an einer Vorstandssitzung erfahren. Sie hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht sehr mit dem Thema auseinandergesetzt: «Es gab einen Streikzmorge in Erlenbach, da bin ich hin. Das war der Startschuss, mich zu solidarisieren.» Der Frauenstreik wird kantonal organisiert, daher hat der Dachverband SBLV keine eigene Aktion geplant, «aber wer mitmachen will, soll das unbedingt tun, es gibt viele Verbandsmitglieder, die auch an Demos teilnehmen». Bestrebungen für mehr Gleichberechtigung der Frauen in der Landwirtschaft laufen auch das ganze Jahr hindurch, etwa mit dem Projekt «Mehr Frauen in die Politik», das auf kandidierende Bäuerinnen und Landfrauen aufmerksam macht. Der Streik habe auf jeden Fall seine Berechtigung, betont Schuerch-Wyss. Denn es liegt noch einiges im Argen bei den Schweizer Bäuerinnen und Landfrauen: «Bäuerinnen haben kein Recht auf Mutterschaftsentschädigung, wenn sie nicht als Selbständige angemeldet oder auf dem Hof angestellt sind», erzählt sie. Wenn Schuerch-Wyss über die Ungerechtigkeiten spricht, die Frauen in ihrer Berufsbranche widerfahren, glänzen ihre Augen und ihre Gesten nehmen mehr Raum ein – man kann sie sich gut an einem Rednerpult im Nationalrat vorstellen: «70 Prozent der weiblichen Familienangehörigen in Bauernfamilien sind eben nicht angemeldet oder angestellt und arbeiten darum gratis. Und vor allem haben sie keine eigene Altersvorsorge.» Schuerch-Wyss erzählt von Frauen, die Landwirte heiraten und sich nicht nur in den Mann, sondern auch in den Hof und das Leben als Bäuerin verlieben – «dass sie über keine eigene soziale Absicherung verfügen, kann dabei schon mal vergessen gehen». Der Schock komme spätestens im Surprise 452/19

Alter, nach einer Scheidung oder wenn der Partner stirbt und die Frau nur mit minimaler sozialer Absicherung dasteht: «Dann ist plötzlich nicht mehr alles himmelblau und rosarot.» Den Vorschlag «AP+22» seitens des Bundesrats für eine Verbesserung der Situation der Bäuerinnen sieht Schuerch-Wyss als eine «Riesenchance, um auch diese Anliegen endlich zu diskutieren»: Die soziale Absicherung der Bäuerinnen ist Bestandteil dieses Vorschlags. Der Bund sieht vor, die Direktzahlungen für den Hof zu kürzen, wenn der Betriebsleiter seine Partnerin ungenügend sozial versichert. Seit bald zwanzig Jahren führt Schuerch-Wyss den Hof zusammen mit ihrem Mann, fast so lange, wie die beiden verheiratet sind. Das Paar lebt in eher klassischen Rollenverhältnissen: «Er ist draussen auf dem Feld und bei den Tieren, ich bin drinnen bei den Kindern und kümmere mich um Haushalt und Buchhaltung. Den Betrieb leiten wir partnerschaftlich, Entscheidungen bezüglich Strategie und Investitionen fällen wir gemeinsam.» Es sei aber beiden sehr wichtig, dass sie genügend Zeit für eigene Projekte haben – sie bei den Landfrauen, er im Gemeinderat: «Dass ich nicht nur den Hof habe, bedeutet mir viel. Meine Mutter hatte diese Möglichkeiten nicht.» Am Tag des Streiks wird Schuerch-Wyss an einem Anlass des Frauennetzes Burgdorf teilnehmen, am Abend gibt’s ein Treffen auf dem Kronenplatz – vor allem aus Gründen der Solidarität: «An dem Abend müssen die Kinder und der Mann halt selber schauen, dass das Znacht auf dem Tisch steht. Ich persönlich bin nicht von Missständen betroffen wie andere Landfrauen, ich brauche den Streik eigentlich nicht. Aber es geht ja nicht nur um mich in dieser Sache.» Doppelt unsichtbar Der Frauenstreik 2019 ist vielschichtiger aufgestellt als der von 1991. Das zeigt ein Blick in die Mitgliederlisten der kantonalen und regionalen Streikkollektive: Überall engagieren sich Frauen aus allen Arbeits- und Bildungsschichten. Die Bewegung hat den Anspruch, möglichst viele verschiedene Frauen miteinzubeziehen, vielerorts ist der Streiktag so organisiert, dass auch diejenigen teilnehmen können, die tagsüber arbeiten müssen und erst am Abend Zeit haben. Und: Es geht nicht mehr nur um die Rechte der Frauen, die hier geboren sind und ihr ganzes Leben in der Schweiz verbracht haben. 9


Die Beratungsstelle für Sans-Papiers in Bern bleibe deshalb am 14. Juni geschlossen, sagt Mitarbeiterin und Beraterin Karin Jenni. Etwa 2 500 Beratungen führe die regionale Beratungsstelle jährlich durch, darunter viele für Frauen und Familien, so die 37-Jährige. «Generell ist das Leben für alle Menschen, die ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz leben, nicht einfach. Sie sind mit zahlreichen Hürden konfrontiert.» Die Mehrheit der Sans-Papiers sind Frauen, und die Mehrheit dieser Frauen arbeitet in

«Viele haben Angst»: Silvia Monsalve.

der Haushaltshilfe. Aufgrund der fehlenden Bewilligung können sie sich kaum wehren, wenn der Lohn nicht bezahlt wird oder sie von Gewalt betroffen sind. Ein grosses Anliegen der Beratungsstelle ist es darum, die soziale und rechtliche Situation dieser Frauen zu verbessern. 2013 wurde dafür von verschiedenen Stellen die Kampagne «Keine Hausarbeiterin ist illegal» lanciert, die auf dieses Leben in doppelter Unsichtbarkeit aufmerksam machte, schon vorher zu einem Credo der Beratungsstellen wurde und Aufenthaltsbewilligungen für Hausarbeiterinnen ohne geregelten Aufenthalt forderte: «Wir streiken am 14. Juni nicht für unsere Arbeitsbedingungen, sondern möchten auf die Situation von Frauen ohne geregelten Aufenthalt aufmerksam machen. Auch wenn wir das ganze Jahr hindurch an der Verbesserung der Situation von Sans-Papiers arbeiten», sagt Jenni. Kein Streik wegen Stundenlohn Eine, die von der Arbeit der Beratungsstelle profitiert hat, ist Silvia Monsalve. Die 56-Jährige kam vor zwölf Jahren aus Kolumbien in die Schweiz. Seit März 2018 hat sie eine Aufenthaltsbewilligung. In Kolumbien arbeitete Monsalve als Assistentin eines Managers im Export. Als ihr Arbeitsbereich in ein anderes Departement verlegt wurde, verlor sie ihre Arbeit. Später folgte die 10

Scheidung von ihrem damaligen Ehemann. Monsalve hatte 1991 bereits in der Schweiz gearbeitet, damals mit Bewilligung: «Es war logisch für mich, dass ich wieder in die Schweiz gehe», sagt sie. Sechs bis acht Stunden pro Tag arbeitet sie heute als Hausarbeiterin und putzt Häuser und Wohnungen, angestellt bei privaten Arbeitgebenden. Als Sans-Papiers sei es fast unmöglich gewesen, eine Wohnung zu finden, erzählt sie: «Ich konnte nur mit Glück ein eigenes Bankkonto eröffnen, die meisten Sans-Papiers können das nicht. Aber ich konnte das Land nicht verlassen, meinen Sohn habe ich in den zwölf Jahren zweimal gesehen, als er mich während seinen Semesterferien besucht hat.» Am 14. Juni wird Monsalve zwar nicht streiken, sie wird im Stundenlohn bezahlt und ist auf das Geld angewiesen. Am Nachmittag hat sie aber frei und wird an der Demonstration in Bern teilnehmen. Wie sieht das bei anderen Frauen aus, die im Gegensatz zu ihr noch immer keine Aufenthaltsbewilligung haben? «Ich denke, viele haben Angst, sich am Streik zu beteiligen. Weil sie rechtlich kaum geschützt sind und ihren Job verlieren können.» Genau deshalb sei es ihr so wichtig, zu demonstrieren: aus Solidarität. «Ich will, dass jede Frau sich traut, für ihre Rechte einzustehen.» Tiefer Lohn, hoher Druck Auch für Monica Aponte ist die Solidarität mit Frauen, die nicht streiken können, zentral. Die 43-Jährige stammt ursprünglich aus Venezuela und arbeitet im Raum Zürich und Basel als Filialleiterin eines Warenhauses in der Kosmetikabteilung. Sie kam der Liebe wegen in die Schweiz, im Jahr 2003. Die Ehe ging in die Brüche, die Liebe zur neuen Heimat ist geblieben. «Ich denke nicht, dass viele Frauen aus meiner Branche streiken werden», sagt Aponte entschieden. Sie selber hat am Streiktag frei, wird am Tag an der Demo und am Abend an einem Anlass ihrer Gewerkschaft Syna in der Elisabethenkirche in Basel teilnehmen. Sie kämpft für einen minimalen Monatslohn von 4 000 Franken – welcher derzeit im Verkauf und in der Kosmetikbranche oft nicht erreicht wird, sagt Aponte. Aber nicht nur der Lohn ist ausbeuterisch in ihrer Branche: «Der psychische Druck, unter dem die Frauen in der Kosmetikindustrie stehen, ist enorm», erzählt sie. Vor allem im Verkauf sei es prekär: «Diese Frauen haben schon Angst davor, sich über ihre Rechte zu informieren, geschweige denn, sich gegen Ausbeutung zu wehren.» Flexibilität sei kaum möglich, für Mütter seien Schichtpläne nur schwer einhaltbar. Viele Marken verlangen einen Dresscode: «Diese Kleider müssen die Frauen selber bezahlen. Dazu kommt das ganztägige Stehen, das macht vor allem Frauen in der Menopause grosse Mühe.» Aponte trägt buntes Makeup zum Gespräch, die Haare sind sorgfältig frisiert, das Outfit farblich abgestimmt. «Die Schönheitsindustrie lebt davon, dass Frauen sich unsicher fühlen. Frauen, die in dieser Branche im Verkauf arbeiten, müssen jeden Tag komplett geschminkt sein – das tut der Haut nicht gut.» Aus diesem Grund beschäftigten viele Marken vor allem junge Frauen. «Bei junger Surprise 452/19


«Viele Kolleginnen machen so lange mit, bis es nicht mehr geht. Es ist nicht einfach, etwas Neues zu finden – schon gar nicht ab einem gewissen Alter.» MONICA APONTE, KOSME TIKERIN UND FILIALLEITERIN

Haut sieht das natürlich besser aus, ausserdem verdienen diese Frauen weniger. Ich kenne viele Frauen, die totale Komplexe entwickeln wegen dem Job. Man ist nie schön genug, nie jung genug.» Und oft nicht weiss genug. Aponte erzählt, wie sie, die Südamerikanerin, sich bei früheren Anstellungen als Verkäuferin schminken musste wie eine weisse, blonde Frau: «Natürlich fühle ich mich dann unwohl und nicht zugehörig.» Viele Frauen entwickeln gesundheitliche Probleme aufgrund des Drucks – Burn-outs sind keine Seltenheit. «Vielen Kolleginnen geht es ähnlich wie mir. Aber sie trauen sich nicht, sich zu wehren. Die machen so lange mit, bis es nicht mehr geht, und suchen sich dann eine neue Stelle. Aber es ist nicht einfach, etwas zu finden – schon gar nicht ab einem gewissen Alter.» Das Engagement für andere Frauen ist Monica Aponte wichtig, sie ist Mitglied der SP Basel und bei der Syna, einmal im Monat arbeitet sie bei Radio X, einem Sender, der Migrantinnen und Migranten Sendezeit gibt. Den Streik sieht sie vor allem als Möglichkeit, mehr Frauen für ihre Rechte zu sensibilisieren: «Wir Frauen müssen zusammenstehen, nicht gegeneinander arbeiten. Wir Surprise 452/19

können in der Schweiz nicht behaupten, dass alle die gleichen Möglichkeiten haben – die Realität ist ganz klar eine andere.» Rechte werden einem nicht geschenkt So vielfältig wie die Teilnehmerinnen sind auch die Anliegen des Frauenstreiks 2019: Aufwertung der Hausund Pflegearbeit, soziale und gesetzliche Absicherung aller Frauen, keine sexuelle Belästigung und keine Gewalt an Frauen mehr – und Lohngleichheit. Frauen verdienen in der Schweiz im Schnitt noch immer zwanzig Prozent weniger als Männer. 2016 sind die Lohnunterschiede zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder gestiegen. Dazu kommt, dass in Niedriglohnbranchen die Belastung oft enorm ist – und dort arbeiten mehrheitlich Frauen. Zum Beispiel in der Kinderbetreuung: «Ich habe vor zwei Jahren meinen Job in einer Kindertagesstätte gekündigt, weil ich einfach nicht mehr konnte», erzählt Rebecca Lüthi. Die 26-Jährige ist Mitglied der «Trotzphase», einer Gruppe in Zürich, die ausgebildete Fachpersonen in der Kinderbetreuung mit Unterstützung der Gewerkschaft 11


VPOD gegründet haben. Ihre Arbeit habe damals einer Massenabfertigung geglichen, erzählt Lüthi: Zusammen mit einem Lehrling betreute sie vierzehn Kinder – zu viele laut dem kantonalen Betreuungsschlüssel – für einen Monatslohn von rund 4 500 Franken auf hundert Prozent. «Ich kenne aber fast niemanden, der in diesem Bereich Vollzeit arbeiten kann. Die Belastung ist einfach zu gross» sagt Lüthi. Seit 2016 setzt sich «Trotzphase» für bessere Arbeitsbedingungen ein. Die Leiterin der privaten Kindertagesstätte, in der Lüthi heute arbeitet, ist selber Teil der Gruppe. Am 14. Juni bleibt die Kita deshalb ab 14 Uhr geschlossen: «Wir haben einen Brief an die Eltern geschrieben. Wir fordern die Väter dazu auf, dass sie die Kinder an diesem Tag betreuen, damit die Mütter am Streik teilnehmen können.» Die Reaktionen darauf waren durchzogen, erzählt Lüthi: «Es gibt diese mühsame Art von Schweizer Gehorsam, dass man sich nicht traut zu streiken und den Streik an sich nicht goutiert. Aber Rechte wurden einem noch nie geschenkt,

weil man lieb danach gefragt hat.» Allein mit dem Streik sei es aber noch lange nicht getan, sagt Lüthi. «Ich liebe meinen Job, darum will ich ja, dass die Arbeitsbedingungen besser werden.» Nicht alle sind sensibilisiert Auch Elena Flach arbeitet in der Kinderbetreuung, als Sozialpädagogin in einem Kinderheim, und streikt am 14. Juni. Bisher steht sie damit fast alleine da, obwohl sie in einer reinen Frauengruppe arbeitet: «Man muss akzeptieren, dass nicht alle Frauen gleich sensibilisiert sind für diese Anliegen. Aber ich setze grosse Hoffnungen in die jüngere Generation.» In ihrer Arbeit mit den Kindern versucht Flach, klassische Rollenbilder aufzubrechen: «Ich spreche mit ihnen darüber, dass es okay ist, wenn Mädchen Fussball spielen oder Buben Röcke tragen wollen.» Seit Kurzem ist sie zudem Präsidentin der SP Frauen Aargau. Wichtig seien sachpolitische Projekte, erzählt sie, weniger parteipolitische: «Die erhalten einerseits

«Ich liebe meinen Job, darum will ich ja, dass die Arbeitsbedingungen besser werden.» REBECCA LÜTHI, FACHFR AU BE TREUUNG

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mehr Aufwind aus der Bevölkerung, das sieht man ja beispielsweise am Klimastreik. Und Gleichstellung betrifft uns alle, egal, welcher Partei wir uns zugehörig fühlen.» Die einzelnen Streikkomitees betrachtet Flach als Chance, die Energie über den Streiktag hinaus zu nutzen: «Die sind so bunt gemischt, das ist grossartig. Man würde sich sonst nie in dieser Formation zusammensetzen.» Das Aargauer Komitee, dem Flach angehört, überlegt, sich auch nach dem 14. Juni weiterhin zu treffen. Stereotypen im Unterricht Auch Chiara Guasso ist Teil eines Streikkomitees. Die 28-Jährige lebt in Luzern und arbeitet als Primarlehrerin. Zusammen mit drei Kolleginnen hat sie Lehrmaterial erarbeitet, das sich thematisch mit Gleichberechtigung auseinandersetzt. Den Schülerinnen und Schülern werden verschiedene Aufgaben gestellt, die danach zusammen diskutiert werden. «Die Aufklärung über Ungleichheit unter Geschlechtern ist für mich zentraler Bestandteil meiner Arbeit. Immerhin begleiten wir die Kinder in einer Phase in ihrem Leben, in der sie stark von äusseren Einflüssen geprägt werden», sagt Guasso. Dies sei zwar auch im Lehrplan 21 so vorgesehen – die obligatorischen Lehrmittel im Kanton Luzern seien aber noch immer grösstenteils von Stereotypen bestimmt: «Wenn es um Hausarbeiten geht, sieht man oft die Mutter abgebildet, bei Reparaturarbeiten den Vater, und so weiter. Oder wenn es um das Thema Einwanderung geht, halt ein Bild des faulen Italieners», erklärt Guasso. 1991 gingen über eine halbe Million Frauen auf die Stras­­se. Bei der Umsetzung ihrer Anliegen allerdings war langer Atem gefragt: Erst 1996 verabschiedete das Parlament das Gleichstellungsgesetz, 2002 die Fristenlösung und 2005 die Mutterschaftsversicherung. Die politischen Mühlen in der Schweiz mahlen langsam. Und so klingen die Forderungen des Frauenstreiks 2019 noch immer ähnlich wie vor 28 Jahren – zu ähnlich. Immer noch wehren sich Politik und Wirtschaft gegen gesetzliche Lohntransparenz oder eine Frauenquote, der Bundesrat lehnte erst kürzlich einen zweiwöchigen Vaterschaftsurlaub ab. Wie viel von der Energie, die sich landesweit in der Vorbereitungszeit für den Streik angesammelt hat, langfristig erhalten bleibt, ist abzuwarten. Fest steht: Die Frauen in der Schweiz waren schon lange nicht mehr so stark vernetzt, so laut und präsent wie vor dem Frauenstreik 2019. War es früher für eine Frau aus ländlichen Gegenden, kirchlichen oder bürgerlichen Kreisen kein Thema, beteiligen sich heute ganze Verbände offiziell am Streik. Allein deshalb dürfte der Tag eine nachhaltige Wirkung haben und nicht «hurti» verpuffen.

«Stereotypen im Unterricht»: Primarlehrerin Chiara Guasso.

Hofft auf die Jungen: Elena Flach.

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«Frauen müssen sich mehr politisieren» Gleichstellung Die Zürcher SP-Politikerin und Gewerkschafterin Natascha Wey war intensiv

an der Vorbereitung des Frauenstreiks 2019 beteiligt. Im Interview erzählt sie, was heute anders ist als vor 28 Jahren – und warum das Private weiterhin politisch ist. TEXT  NATALIE AVANZINO FOTO  PASCAL MORA

Natascha Wey, vor 28 Jahren gingen am 14. Juni 1991 Hunderttausende auf die Strasse. Wie viele Frauen erwarten Sie beim aktuellen Frauenstreik? Natascha Wey: Wie viele das am Ende sein werden, ist schwierig abzuschätzen. Was ich sagen kann: Ich spüre eine Mobilisierung, die so in den vergangenen Jahren nicht da war. Es sprechen uns Frauen auf diesen Streik an, die bis vor Kurzem weder mit dem Wort «Feminismus» noch mit dem Wort «Streik» viel anfangen konnten. Viele Forderungen von damals sind bis heute nicht umgesetzt. Frauen verdienen im selben Beruf und bei gleicher Qualifikation immer noch weniger als ihre Arbeitskollegen. Weshalb ging es 28 Jahre, bis erneut gestreikt wird? 14

Die gesellschaftliche Grundhaltung, dass es wohl einfach lange braucht, bis alles umgesetzt ist, hat die Frauen viel zu lange vertröstet, obwohl die Frauenbewegung und die Gewerkschaftsfrauen durchgehend auf die noch nicht umgesetzten Forderungen hingewiesen haben. Ich denke, die in jüngerer Zeit erfolgte Thematisierung der systematischen männlichen Gewalt gegenüber Frauen durch die MeToo-Debatte hat heftige Diskussionen ausgelöst und viele jüngere Frauen aufgerüttelt. Warum gerade die MeToo-Debatte? Durch die erschütternde Offenlegung des strukturellen Sexismus in vielen öffentlichen Bereichen, gerade auch weil in den Sozialen Medien ja sehr harsche Reaktionen kommen, schlossen sich wieder mehr jüngere Frauen der feministischen Bewegung an, Surprise 452/19


gründeten eigene Kollektive oder wurden politisch aktiv. Doch es geht nicht nur um den 14. Juni. Der Kampf für mehr Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern muss auch nach dem Tag X weitergehen. Ganz im Sinn der Forderung des letzten Frauenstreiks: Das Private ist politisch. Wer steht organisatorisch hinter dem Frauenstreik? Unzählige Frauen, verschiedene Kollektive in den Kantonen. Darin sind unorganisierte Frauen, Frauen aus Parteien, Frauen aus Gewerkschaften und Verbänden. Ich habe den Überblick längst verloren, es läuft so viel. Was sind für Sie die aktuellsten Forderungen? Allgemein formuliert braucht es eine finanzielle und gesellschaftliche Aufwertung von Frauenbranchen. Das heisst: umgesetzte Lohngleichheit, bessere Bezahlung typischer Frauenberufe, mehr und bessere Gesamtarbeitsverträge beispielsweise in der Kinderbetreuung oder im Gesundheitsbereich. Dazu muss sich einiges verbessern im Bereich der unbezahlten Arbeit. Der Krippenbereich muss ausgebaut und finanziell viel besser alimentiert werden. Es braucht aber auch eine anständige Elternzeit, die Möglichkeit für vorübergehende Pensenreduktionen, Pflegeurlaube und letztlich eine Verkürzung der Gesamtarbeitszeit. Sowohl in den Spitälern und Heimen als auch bei der Kinderbetreuung und Bildung fehlt es an genügender Finanzierung, damit das meist weibliche Personal seine Arbeit gut erledigen kann. Hier läuft ganz viel falsch und muss dringend angegangen werden. Wie soll das finanziert werden? Über Investitionen der öffentlichen Hand, das bedeutet natürlich über Steuern. Die man ja für Unternehmen immer problemlos senken kann. Damit muss Schluss sein. Zudem ist es beispielsweise im Gesundheitsbereich wichtig, dass es keine Gewinnorientierung gibt. Investitionen sind in diesen Bereichen ja auch sinnvoll: eine Analyse des internationalen Gewerkschaftsbundes IGB hat beispielsweise ergeben, dass Investitionen in die Care-Ökonomie das wirkungsvollste Instrument sind, um Arbeitsplätze zu schaffen. Weshalb sind Berufe, in denen über 50 Prozent Frauen tätig sind, strukturell so viel schlechter gestellt? Weil ein Grossteil dieser Arbeit gesellschaftlich noch immer abgewertet wird. Nehmen Sie eine FaBe, kurz für Fachperson Betreuung, die in einer Kinderkrippe arbeitet. Es gibt ja viele Menschen in der Schweiz, die denken, das sei so ein wenig Babysitten, bitzli auf Kinder schauen und eigentlich machen diese jungen Frauen das ja gern. Dabei ist das ein anstrengender Knochenjob, der einen körperlich fordert und der auch eine gute Ausbildung braucht. Wieso genau es anspruchsvoller sein soll, selbständige Studierende zu betreuen als quengelnde Kleinkinder, ist erklärungsbedürftig. Wenn man aber die Löhne anschaut, ist es genau so: je kleiner die Kinder, umso schlechter die Löhne. Das ist absurd. Was ist die Rolle der Männer am Streiktag? Sie sollen den Frauen ermöglichen, zu streiken. Das heisst, sie sollen an diesem Tag – oder wenigstens für ein paar Stunden – die Arbeit der Frauen übernehmen, sei dies bei der Arbeit oder Surprise 452/19

zuhause. Wichtig dabei ist aber: Es ist der Tag der Frauen. Entsprechend erwarte ich, dass die Männer diskret sind und sich nicht in den Vordergrund stellen. Viele öffentliche Bereiche sind nach wie vor von Männern dominiert. Wie soll sich das ändern? Wir sind im Wahljahr. Frauen müssen sich mehr politisieren, sie haben es mit in der Hand, etwa eine andere politische Vertretung auf nationaler Ebene zu wählen. Seit Jahren ist die Zahl der Parlamentarierinnen auf allen politischen Ebenen stagnierend. Wer Verbesserungen möchte, muss sich für andere Mehrheiten stark machen. Wie kann eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie erreicht werden? Für mich ist klar, dass die Elternzeit paritätisch aufgeteilt werden muss. Männer müssen endlich Verantwortung übernehmen und dürfen sich nicht hinter der Ernährerrolle verstecken. Es kann nicht sein, dass immer noch Frauen die Doppelbelastung alleine tragen. Männer müssen sich endlich solidarisch zeigen, Familienarbeit muss geteilt werden, da gibt es keine Ausreden. Im Gegenzug wird die Erhöhung des Rentenalters der Frauen gefordert. Bald kommt die nächste AHV-Reform, darin will der Bundesrat das Rentenalter der Frauen auf 65 anheben. Aus meiner Sicht gibt es im Moment keinen Grund, das Rentenalter der Frauen zu erhöhen. Die Frauen müssen gleich viel verdienen wie die Männer, ihre Benachteiligung im Altersvorsorgesystem und bei den Renten muss korrigiert werden. Wir leben in einer Erwerbswelt, die Frauen diskriminiert, haben aber ein Rentensystem, dass massgeblich auf Erwerbsarbeit abstellt. Wieso die Frauen jetzt da als Allererstes länger arbeiten sollen, verstehe ich nicht. Was müssen Frauen in Zukunft anders machen, damit es in 28 Jahren nicht einen erneuten Streik braucht? Frauen müssen sich nicht ändern, die Gesellschaft soll sich ändern. Aber Frauen dürfen sich mehr zutrauen. Es steht ihnen ein Platz in der Gesellschaft zu, den darf frau sich nehmen, ohne Angst zu haben, zu scheitern oder etwas nicht ganz perfekt zu machen. Aber auch: Binäre Rollenbilder greifen immer zu kurz. Wichtig ist, dass die Gesellschaft miteinander die Zukunft gestaltet und die Geschlechter nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Natascha Wey Die 37-Jährige sitzt im Zürcher Gemeinderat und ist seit 2016 Co-Präsidentin der SP-Frauen. Diesen Herbst kandidiert sie auf der Liste der SP des Kantons Zürich für einen Sitz im Nationalrat. Beruflich ist sie als Zentralsekretärin beim Verband öffentlicher Dienste (VPOD) in Zürich tätig. Wey ist als Tochter einer alleinerziehenden Mutter im Aargau aufgewachsen und hat an der Universität Zürich Geschichte und Neue deutsche Literatur studiert. Sie lebt mit ihrem Partner in Zürich und erwartet im Juni ihr erstes Kind.

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Gefangen im Teufelskreis Wohnungslosigkeit Wer in Belarus kein Zuhause hat, wird als

alkoholabhängig gebrandmarkt und muss mit staatlicher Repression rechnen. Wer Menschen ohne Obdach hilft, ebenfalls. TEXT  EVA HIRSCHI FOTOS  MARCO FIEBER

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Die leeren Glasflaschen klirren leise, während Larissa ihren zusammengebastelten Handwagen über die Pflastersteine zieht. Sie ist in einen dicken roten Mantel gehüllt und hat sich eine Wollmütze über den Kopf gezogen, unter der graubraune Haarsträhnen hervorschauen. Es ist sonnig aber kühl an diesem Märztag in Gomel, der zweitgrössten Stadt von Belarus. Die 54-Jährige hat soeben bei den katholischen Nonnen zu Mittag gegessen. Larissa ist orthodox, aber das spielt keine Rolle. In der orthodoxen Kirche gibt es nur donnerstags Essen, dafür erhält sie dort Kleider. Bei den katholischen Nonnen hingegen kann sie neben fünf Mahlzeiten wöchentlich auch einmal pro Woche warm duschen. Schliesslich hat Larissa kein Badezimmer, keine Küche, nicht einmal ein Zimmer oder ein Bett. Nachts legt sie sich auf eine Decke im Hauseingang ihrer ehemaligen Nachbarn. «Sie kennen mich und lassen mich deshalb gewähren», sagt sie. Vor drei Jahren hat Larissa unerwartet ihre Stelle in einer staatlichen Fabrik verloren und damit auch ihr Zimmer im Ar16

beiterheim. Solche von Firmen angebotenen Wohnheime sind eigentlich als Zwischenlösungen für Arbeitende mit tiefen Löhnen gedacht, die sich keine andere Unterkunft leisten können. Doch oft mutiert das Zimmer im Wohnheim zu einer langfristigen Bleibe, da niemand mit einem Lohn, der gerade mal zum Leben reicht, für eine grössere Unterkunft sparen kann. «Seit dem neuen Mietrecht von 2013 darf man Arbeiter nun bei jeglicher Art von Kündigung oder Nicht-Verlängerung des Arbeitsvertrags gleichzeitig aus dem Arbeiterwohnheim ausweisen», sagt Ilja Sobol vom Belarussischen Helsinki-Komitee, einer europaweit aktiven Menschenrechtsorganisation. Vorher sei dies nur möglich gewesen, wenn die Person die Bestimmungen des Arbeitsvertrages verletzt hatte. Larissas Ersparnisse reichen nicht für eine neue Unterkunft und sie hat keinen Ehemann, keine Kinder, die sie unterstützen könnten. «Niemand braucht mich. Niemand braucht jemanden, der arm ist», sagt sie und schaut zu Boden. «Ich möchte ja arbeiten», beteuert sie und hebt den Kopf, «aber ich

finde einfach keinen Job.» Und weil sie keine Arbeit habe, wolle auch niemand sie bei sich wohnen lassen. Ein Teufelskreis. «Verlieren Personen mit tiefem Einkommen ihre Stelle und dazu noch die Unterkunft, ist die Gefahr sehr gross, dass sie obdachlos werden», sagt Ilja Sobol. Er ist Autor des landesweit ersten Berichts über «Obdachlose in Weissrussland und ihre Rechte». Dieser wurde Ende April publiziert und entstand in Zusammenarbeit mit den Menschenrechtsorganisationen Belarussisches Helsinki-Komitee und Human Constanta sowie der schweizerisch-deutschen Organisation Libereco. «Uns waren bereits mehrere Fälle von Menschenrechtsverletzungen an Obdachlosen bekannt und wir wollten herausfinden, wie deren Situation genau aussieht», ergänzt Lars Bünger, Präsident von Libereco Schweiz. Der Bericht zeigt auf, dass die Rechte von Obdach- und Wohnungslosen in Belarus immer wieder verletzt werden. Das bestätigt auch Aleksandr Schernitsky. Der 55-jährige Künstler setzt sich seit mehr als zwanzig Jahren für Bedürftige ein und beSurprise 452/19


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1 «Die Behörden misstrauen nicht-staatlichem Handeln»: Blick auf Minsk aus dem Büro des belarussischen Helsinki-Komitees. 2 Das Essen der Suppenküche ist für viele die einzige warme Mahlzeit. 3 Nebst der Suppenküche organisiert Aleksandr Schernitsky auch kostenlose Kleider und Möbel für Bedürftige. 4 Larissa verlor vor drei Jahren Job und Wohnung, seither übernachtet sie in einem Hauseingang.

treibt unter anderem eine Suppenküche in der Hauptstadt Minsk. Dort kommen jeden Tag an die achtzig bis neunzig Menschen zur kostenlosen Essensausgabe, im Winter sind es noch mehr. «Während der Eishockey-Weltmeisterschaft 2014 war es hier allerdings fast leer», erzählt Schernitsky. Für das internationale Sportereignis hatte sich das Land nämlich nicht nur im übertragenen Sinn herausgeputzt. Die Behörden von Minsk hatten im Vorfeld der Meisterschaft auf ihrer Website auch bekannt gegeben, die Strassen müssten von «anti-sozialen Elementen» gereinigt werden. In der Folge wurden Obdachlose, Sex-Arbeiterinnen, Alkoholiker und Aktivistinnen ins Gefängnis gesteckt. «Mir wurde erzählt, dass die Polizei Obdachlose im Auto mitgenommen und ausserhalb der Stadt ausgesetzt habe», sagt Schernitsky. Die belarussische Menschenrechtsorganisation Wjasna hat diese Fälle dokumentiert. Nicht nur die Wohnungs- und Obdachlosen selbst, sondern auch Initiativen, die ihnen helfen wollen, erregen mancherorts die Missgunst des Staates. So etwa das priSurprise 452/19

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vate Wohnheim für Obdachlose in einem Dorf nahe der Stadt Grodno. Aliaksei Shchadrou, ein Katholik, der von allen Bruder Luigi genannt wird, gewährt seit Ende 2011 immer wieder bedürftigen Menschen Unterschlupf in seinem Haus. Er wurde mehrmals von der Polizei kontrolliert, bis es schliesslich 2013 zu einer Razzia kam und rechtlich gegen ihn vorgegangen wurde – dies unter Berufung auf ein Gesetz, welches Aktivitäten «nicht registrierter religiöser Organisationen» unter Strafe stellt. Dabei handle es sich bei seinem Projekt gar nicht um eine religiöse Organisation, sondern lediglich um eine wohltätige Aktion, sagt Shchadrou. Einschüchterung und Gewalt Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International nahm den Fall auf und Shchadrou legte Berufung ein. Im September 2013 wurde das Gerichtsverfahren eingestellt, doch kämen weiterhin Polizisten regelmässig und ohne Vorwarnung zu ihm nach Hause – «bloss zur Kontrolle, wie sie sagen», erzählt Shchadrou. Er empfinde

dies als Einschüchterung. Erst kürzlich, im Januar dieses Jahres, wurde er bei einem Spitalaufenthalt von Polizisten festgenommen und geschlagen. Grund war ein Diebstahl, den man ihm anhängen wollte. Später konnte anhand der Überwachungskamera bewiesen werden, dass er sich gar nicht am fraglichen Ort aufgehalten hatte. Was hat der Staat gegen private Hilfs­ initiativen? Lars Bünger von Libereco sagt: «Ein Problem liegt darin, dass Belarus keine Demokratie ist und die Behörden nicht-staatlichem Handeln misstrauen oder es sogar als feindlich gesinnt wahrnehmen.» Dies hätten sie während der Feldforschung für den Bericht auch daran gemerkt, dass einige Gruppen, die Obdachlosen helfen, sich gar nicht mit ihnen treffen wollten, und fast alle mit ihren Äusserungen sehr vorsichtig waren. Die Behörden in Belarus negieren indes das Problem. Offizielle Statistiken zur Wohnungs- und Obdachlosigkeit werden keine geführt, und wo überhaupt Angaben zur Anzahl obdachloser Menschen auftauchen, widersprechen 17


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«Das Problem Obdachlose an sich existiert nicht – es ist ihre Wahl, ob sie Alkohol trinken oder eine Unterkunft haben möchten.» LILIJA SANJUKEWITSCH, LEITERIN DER STÄDTISCHEN DIREK TION FÜR ARBEIT UND SOZIALSCHUT Z IN GRODNO.

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sie sich. Schätzungen zufolge haben in dem Land mit 9,5 Millionen Einwohnern wohl über tausend Menschen keinen Zugang zu Wohnraum. Doch keine einheitliche Definition ergibt keine belastbaren Zahlen, kurz: kein Problembewusstsein. Die einzige staatliche Hilfe beschränkt sich auf Notschlafstellen, wo Betroffene die Nacht verbringen können und teilweise Unterstützung bei der Arbeitssuche erhalten. Doch längst nicht alle Städte verfügen über so eine Institution – und um aufgenommen werden, muss man in der gleichen Stadt registriert sein. Auch muss man einen aktuellen Gesundheitscheck eines Spitals nachweisen können und Tiere, Alkohol sowie Drogen sind verboten. Wegen der restriktiven Aufnahmekriterien können nicht alle von diesen Angeboten profitieren. In den öffentlichen Einrichtungen will man von staatlichen Repressionen gegen Obdachlose nichts gehört haben. Wie andere Behörden verneint auch Pawel Solotuchin, Leiter des Heimes mit 92 Betten in Minsk, ein Wohnraumproblem in Belarus – schlimmer noch, er gibt den Betroffenen selbst die Schuld: «Sie sind wie Parasiten, sie trinken Alkohol und sind dann beschämt, wenn sie ihr Leben nicht auf die Reihe kriegen. Viele investieren ihr Geld in Alkohol statt in eine Wohnung. Das ist ihre eigene schiere Dummheit.» Ähnlich klingt es im staatlichen Heim mit 50 Betten in Grodno. Lilija Sanjukewitsch, Leiterin der städtischen Direktion für Arbeit und Sozialschutz, unter deren Obhut das Heim steht, sagt: «Das Problem Obdachlose an sich existiert nicht – es ist ihre Wahl, ob sie Alkohol trinken oder eine Unterkunft haben möchten.» Wo kein Problem, da keine Lösung In der Tat herrscht in Belarus das Vorurteil, alle Obdachlosen seien Alkoholiker. Wer alkoholisiert in ein staatliches Wohnheim möchte, erhält keinen Zutritt, selbst wenn die Person dort bereits registriert ist. In seinem Heim in Minsk, erklärt Solotuchin, sei immer ein Polizist anwesend, der die Bewohnerinnen und Bewohner zuerst auf Alkoholflaschen oder Waffen absuche, bevor sie in ein Messgerät blasen müssten, um zu beweisen, dass sie nicht betrunken seien. Strenge Kontrollen, wie sie in entsprechenden Schweizer Einrichtungen nicht üblich sind. Selbst wenn eine hohe Zahl von Obdachlosen unter einer Alkoholsucht litte, so sei die Herangehensweise des Staates Surprise 452/19


5 Sieht kein Problem: Lilija Sanjukewitsch, Leiterin der städtischen Direktion für Arbeit und Sozialschutz. 6 Achtzig bis neunzig Menschen kommen jeden Tag in die Suppenküche von Minsk.

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falsch, findet Ilja Sobol vom Belarussischen Helsinki-Komitee. «Bei Obdachlosen wird eine Alkoholsucht nicht als Krankheit angesehen, sondern als Gewohnheit, so als hätten sie eine Wahl.» Eine obdachlose Person muss demnach zuerst selbst von der Sucht wegkommen, bevor sie Anrecht auf einen Schlafplatz hat. Für Sobol müsste es aber genau umgekehrt sein: «Zuerst sollte die Person eine Unterkunft haben und erst dann die Sucht behandeln müssen.» Damit folgt Sobol wie auch die im März in Basel publizierte, schweizweit erste Studie zu Obdachlosigkeit einem in Europa immer weiter verbreiteten Hilfsansatz, dem sogenannten Housing First. Im Grundsatz fordert Housing First bedingungslosen Zugang zu Wohnraum für alle und bietet erst im zweiten Schritt Therapiemassnahmen für sonstige Probleme wie Alkoholabhängigkeit an. Das staatliche Heim in Minsk hingegen befeuere das Problem des Alkoholismus, statt es zu lösen, sagt Sobol. Da man sich in diesen Unterkünften nur nachts aufhalten darf, müssen die Menschen tagsüber wieder auf die Strasse. Von öffentlichen Gebäuden wie Bahnhofshallen werden sie allerdings oft von der Polizei verscheucht. Und weil in Belarus die TemSurprise 452/19

peraturen im Winter tief unter den Gefrierpunkt fallen können, greifen viele zum Alkohol, um sich ein bisschen zu wärmen. Wer dann aber alkoholisiert ins Heim zurückkehrt, erhält keinen Zutritt und muss die Nacht in der Kälte verbringen. Auch ein Teufelskreis. Zudem ist Alkohol in Belarus nach wie vor spottbillig, es gibt kaum Rehabilitationsprogramme und somit kaum einen Ausweg für die Abhängigen. Mit wenigen Ausnahmen: Im Obdachlosenheim der katholischen Nonnen in Gomel gibt es auch ein paar Betten für Süchtige, die aussteigen wollen. «Nebst der Notschlafstelle haben wir eine Entzugsabteilung für Menschen mit Alkoholproblemen», erklärt Schwester Nereusha. Dort können die Betroffenen ein Rehabilitationsprogramm durchlaufen. Das Angebot werde rege genutzt. «Die Menschen brauchen Unterstützung. Wer seine Situation ändern will, dem helfen wir.» Für Menschenrechtler Ilja Sobol geht es zunächst darum, das Problem zuerst einmal als solches zu erkennen: Da es bisher an einer einheitlichen Definition, wer als obdachlos gilt, sowie an einer Statistik über die Anzahl der Betroffenen fehle, könnten auch keine Beschlüsse zur Lösung des Problems gefasst werden. Ein-

zelne Massnahmen wie etwa das Bereitstellen von Sozialwohnungen würden zu wenig weit greifen und sich an andere Adressaten wie kinderreiche Familien oder Kriegsveteranen richten, nicht aber an Obdachlose. Auch Lars Bünger von Libereco sieht das Problem «im mangelnden staatlichen Bewusstsein in Verbindung mit dem Fehlen einer konstruktiven, lösungsorientierten Politik». Während in der Schweiz ein breiter gesellschaftlicher Konsens bestehe, dass man Wohnungs- und Obdachlosen helfen sollte, und es eine Vielzahl an Notschlafstellen, Suppenküchen, Beratungsstellen und sonstigen Hilfsangeboten gebe, würden in Belarus Obdachlose in erster Linie stigmatisiert. «Zivilgesellschaftliche Gruppen, die sich engagieren könnten, gibt es unter den Bedingungen einer Diktatur kaum. Die allermeisten Hilfsangebote finden mit enger Anbindung und Kontrolle durch die Behörden statt», sagt Bünger. «Ein Strassenmagazin wie Surprise ist in Weissrussland kaum vorstellbar.» Der Bericht «Obdachlose und das Recht auf Wohnen in Belarus» ist hier einsehbar: lphr.org/obdachlose-und-das-recht-aufwohnen-in-belarus 19


Wer sich die hohen Mieten nicht leisten kann, landet zum Beispiel hier: HolzhĂźtte im Camp Second Chance.

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Wohnungslos in Seattle Gentrifizierung Seattle ist dank Unternehmen wie Amazon eine florierende Stadt. Doch

der Tech-Boom drängt immer mehr Menschen an den Rand. Nach Los Angeles und New York City gibt es hier am drittmeisten Wohnungslose in den USA. TEXT  GERD SCHILD FOTOS  CAROLYN BICK

Es sind kleine Szenen, die zeigen, wie gross die Not in Seattle ist. Ein christliches Männerwohnheim an der Ecke 1st Avenue und Pioneer Square, Downtown. 141 Betten stehen in dem alten Klinkerbau. Von morgens bis zur Kaffeezeit ist der Ort für Gäste offen, es gibt Frühstück, ein warmes Mittagessen, wer will, kann duschen oder sich bei Papierkram helfen lassen. Auf dem Gitterrost vor dem Haus liegt ein Mann, vielleicht 30 Jahre alt, nur mit dünner Stoffhose und Pullover bekleidet, bei 3 Grad und Sprühregen, das Gesicht auf dem Boden, er zittert. Als ein Mitarbeiter der Einrichtung darauf angesprochen wird, bedankt er sich, schaut nach draussen und spricht den Mann an. Der murmelt etwas. Nachdem er sich überzeugt hat, dass hier kein Notfall vorliegt, geht er wieder hinein. Im Jahr 2015 hat die Stadt Seattle den Notstand ausgerufen. Ein Eingeständnis des eigenen Versagens und ein Mittel, um weitere Gelder aus dem Stadt-Etat für den Kampf gegen die Wohnungsnot bereitstellen zu können. Rund 90 Millionen US-Dollar gibt die Stadt derzeit jährlich dafür aus. Immer weniger Menschen können sich das Wohnen in der Stadt ganz im Nordwesten der USA leisten. Seit 2011 hat sich die Durchschnittsmiete praktisch verdoppelt. Aus der Stadt, die früher vom Hafen und dem Flugzeugbauer Boeing lebte, ist eine Tech-Metropole geworden. Mit Microsoft im Vorort Redmond begann das in den Achtzigerjahren, der Aufstieg von Amazon mit seiner Zentrale in Seattle hat das Tempo in den letzten Jahren drastisch erhöht. Für die Mitarbeiter des Quasi-Internetmonopolisten, die jeden Morgen in die gläsernen Türme mit Namen wie Houdini oder Ruby strömen, sind die mehr als 2 000 Dollar Durchschnittsmiete meist überhaupt kein Problem. Wer aber für Amazon die Waren ausliefert, wer Surprise 452/19

Bäcker oder Krankenschwester ist, kommt selbst bei einer Vollzeitstelle mit dem neuen Amazon-Mindestlohn von 15 Dollar die Stunde nicht viel drüber. Grosse Teile der klassischen Mittelschicht können sich keine Mietwohnung mehr leisten. Mehr als 11 000 Menschen in Seattle und Umgebung sind wohnungslos. Ein Krankenhausaufenthalt, den die Kasse nicht bezahlt, eine Opioid-Abhängigkeit, deren weite Verbreitung längst auch die Mittelschicht erfasst hat, oder die Verdrängung, weil ein Mehrfamilienhaus einem Bürokomplex im Weg steht – es gibt vieles, das einen Menschen in Seattle die Wohnung kosten kann. Viele haben trotz eines Jobs oder sogar zweien keinen Wohnungsschlüssel in der Tasche. Die Hilfsorganisation Compass Housing Alliance kümmert sich um jene, die der überteuerte Wohnungsmarkt auf die Strasse spült. Die NGO betreibt Notschlafstellen und Suppenküchen und bietet dauerhafte Wohnungen an für Familien, Veteranen sowie ein Apartmenthaus speziell für Menschen über 70. Dazu kümmern sich die Mitarbeitenden um die Bankgeschäfte der Betroffenen. Auch ist der Sitz der Organisation in der Dexter Avenue für viele Wohnungslose die offizielle Wohnadresse, für Post und Bewerbungen. Downtown mit der Space Needle, Aussichtsturm und Wahrzeichen der Stadt, ist praktisch nebenan. Vor der Tür Denny Park, ein Grünstreifen, in dessen Mitte zur Mittagszeit eine Frau in einem Essensstand Quinoa-Bowls mit weissen Bohnen für 10 Dollar verkauft. In Sichtweite einige Amazon-Gebäude, nebenan ein neues Apartmenthaus. «Um dort wohnen zu können, braucht man 6 000 Dollar Einkommen», sagt Teena Ellison und fragt, wer sich das 21


Rund acht Quadratmeter haben die Bewohner der Holzhütten für sich.

Einige Zeltstädte toleriert die Stadt – die Frage ist, für wie lange.

denn bitte leisten können soll. Die Menschen, mit denen sie jeden Tag zu tun hat, jedenfalls nicht. Ellison ist bei Compass Housing Alliance für die Wohnungen der Organisation verantwortlich. Etwa hundert Obdachlose wohnen in dem Gebäude, wo auch Ellison ihr Büro hat – darunter viele Familien, Working Poor. Erfolg ist eine Frage der Perspektive Housing First nennt man den Ansatz: Ein Dach über dem Kopf, egal, welche Probleme die Betroffenen haben. Zudem steht ein enges Netz an Hilfsangeboten zur Verfügung. «Es braucht Zeit, Vertrauen aufzubauen», sagt Ellison. Menschen, um die sich lange niemand gekümmert hat, hätten oft Vorbehalte. Was wollen die von mir? Die angebotenen Hilfestellungen berühren alle Lebensbereiche – etwa, wie man Streit mit den Nachbarn schlichtet. «Gibt es auf der Strasse Stress, ziehen die Leute mit dem Zelt einfach weiter», sagt Ellison. In einem Wohnhaus geht das nicht. Sie könne viele Erfolgsgeschichten erzählen, sagt Ellison, und berichtet von einem Mann, den sie als 18-jährigen Obdachlosen traf und der später Immobilienmakler wurde. Aber Erfolg sei auch immer eine Frage der Perspektive. Wenn ein Obdachloser mit Nierenproblemen sich erst gegen eine medizinische Behandlung wehrt und sie ihn dann dazu bewegen kann, einmal in der Woche zur Dialyse zu gehen, sei das eben auch ein Erfolg. Rund die Hälfte der 11 000 Wohnungslosen lebt direkt auf der Strasse – in Zelten, in mit Planen überdeckten Baracken am Strassenrand, in Verschlägen, vor dem Eingang eines geschlossenen Geschäfts. In Downtown Seattle, 22

am Hafen, im hippen Capitol Hill: An fast jeder Ecke sitzt ein Mensch, der kein Zuhause hat. Wer abends durch die Strassen geht, sieht die beschlagenen Scheiben manch parkender Autos – Obdach für Menschen ohne Wohnung. Die meisten Zelte in Seattle stehen an Orten, die der Stadt gehören. Hier können die Obdachlosen mit mehr Milde rechnen als auf einem Privatgelände. Und es gibt die Zeltstädte. Viele der sogenannten illegalen Siedlungen liess die Stadt immer wieder räumen, wie den berüchtigten «Jungle» an einem Hang unterhalb der Schnellstrasse Interstate 90 im Stadtteil Beacon Hills. Irgendwann hat die Verwaltung dann eingesehen, dass immer mehr Verdrängung keine Lösung ist. Heute toleriert sie zumindest einige der Camps, ein halbes Dutzend sind es momentan. Eines ist das Camp Second Chance. «Please don’t sweep our safe solution» steht auf einem Holzschild am Zaun, eine Bitte, das Camp nicht zu räumen. Es liegt am Meyers Way im Süden der Stadt, unweit der beiden Flughäfen. Wer ins Second Chance will, muss am Sicherheitsdienst vorbei. Am Eingang ein offenes Zelt, in dem die Bewohnerinnen und Bewohner kochen können, hier stehen auch Kühlschränke und Regale voller Essensspenden. Ein Zelt weiter befindet sich die Kleiderkammer, daneben ein Zelt mit Computern, gegenüber eines mit Notschlafplätzen. In der Mitte ein Weg aus Kies und Matsch, dann beginnen die privaten Zelte und Häuser, in denen die Bewohnerinnen und Bewohner des Camps wohnen. Das Camp Second Chance gilt in der Stadt als Erfolgsgeschichte. 60 Menschen leben hier. Ihre Zelte und die alten, undichten, muffigen Holzhütten werden nach und Surprise 452/19


nach durch neue Holzhäuser ersetzt. Es ist auch ein Ort gegen die Einsamkeit. «Wir sind hier eine Gemeinschaft», sagt Camp-Manager Eric Davis. Er hat das Camp mit zwei Mitstreitern gegründet. «Wir nehmen dich an, ob du willst oder nicht», sagt der breitschultrige Mann. Davis ist die gute Seele des Camps, das sagen eigentlich alle, die an diesem Dienstagmorgen auf Sesseln und Plastikstühlen in dem offenen Zelt sitzen, einer Art überdachter Veranda. Er schaut herein, wenn sich jemand länger nicht mehr blicken lässt, er klopft an eine der Hütten, wenn er glaubt, der Bewohner könnte die Jobsuche intensiver angehen. Vor Davis gibt es kein Entrinnen. Der Mann, der lange selbst auf der Strasse gelebt hat und die Sucht kennt, wohnt heute in der kleinen Hütte mit der Nummer 1. «Schau mal rein, wie gemütlich das sein kann», sagt er. Neben seinem Bett hängt links an der Wand des vielleicht acht Quadratmeter grossen Holzhauses ein grosser Flachbild-Fernseher, dem Davis mit Holzleisten einen edlen Rahmen verpasst hat. Fast die Hälfte arbeitet Vollzeit Es ist ein demokratisches Camp, das ist Davis wichtig. Jeden Mittwoch um 18 Uhr treffen sie sich zur Versammlung. «Die Leute sollen hier auch lernen, dass ihre Stimme zählt, dass sie ein Mensch sind, der etwas wert ist», sagt Davis. Fast die Hälfte der Bewohnerinnen und Bewohner von Camp Second Chance arbeitet Vollzeit, viele besuchen eine Schule oder Fortbildungen. Im Camp sind Alkohol und Drogen verboten. «Die Menschen sollen hier klarkommen», sagt Davis. Viele haben wie er Suchterfahrungen, und davon sollen sie wegkommen, sich stabilisieren. Surprise 452/19

Die Bewohner kümmern sich um ihr Camp, die Stadt versorgt es mit dem Nötigsten, zahlt etwa die Klohäuschen und lässt die Wassertanks auffüllen. Wie so oft in den USA, geht auch in Seattle nichts ohne «volunteers». Tomasz Biernacki ist einer der Freiwilligen im Camp Second Chance. Gemeinsam mit anderen möchte er aus dem Zeltlager langsam eine Siedlung mit festen Holzhäusern machen. Biernacki kam als Zehnjähriger mit den Eltern aus Polen nach Amerika, am Anfang war die Familie illegal im Land. Er kennt das Leben an der Armutsgrenze, sein Vater kümmerte sich um den Abriss von Asbest-verseuchten Häusern, seine Mutter putzte in reichen Haushalten, das Geld war meistens knapp. Vor zwei Jahren, mit vierzig, verkaufte Biernacki seine Firma, die 3D-Animationen für Unternehmen herstellte, und machte sich an sein Herzensprojekt – einen Dokumentarfilm über soziale Verdrängung und die Obdachlosen seiner Heimatstadt Seattle. Während der Arbeit an «Trickle Down City» merkte Biernacki, dass er nicht nur Beobachter sein wollte. «Es ändert nichts, wenn man nur eine Meinung hat – man muss auch etwas machen», sagt er. Biernacki beobachtete die Menschen, die im Camp Second Chance Holzhäuser bauten. Freiwillige mit viel Enthusiasmus, aber wenig Ahnung. Biernacki hatte lange als technischer Zeichner im Architekturbereich gearbeitet, 3D-Modelle erstellt und selbst Häuser ausgebaut. Er merkte: Hier kann ich helfen. In den letzten Monaten habe er den Arbeitsprozess so umgestaltet, dass möglichst viele Ungelernte mitarbeiten können, ohne sich dabei zu verletzen, sagt Biernacki und lacht. Zwei angefangene Häuser stehen gerade in dem grossen weissen Halbrundzelt mit den Heizstrahlern an der Decke. Drei Tage braucht das Team für ein Haus. Woody ist die Nächste auf der Liste, ihr Haus hat schon ein Dach und Fenster und einen hölzernen Fussboden, indirektes Licht unter der Decke und ein Lüftungssystem, damit es in dem kleinen Raum nicht schimmelt. Woody liebt den Comic-Specht Woody Woodpecker so sehr, dass sie von allen nur so genannt wird. Sie trägt einen rosa Trainingsanzug und Fellstiefel. Es geht ihr körperlich nicht gut, eine Operation steht bald an, Details will sie nicht verraten und auch nicht jammern, sagt sie. Die Bustickets, die sie hier gratis bekommt, kann sie nicht nutzen, weil sie wegen ihrer posttraumatischen Belastungsstörung Menschenmengen meidet. Sie hat ein Auto, aber kein Geld für Benzin. Sie wird es schwerhaben, eine Arbeit zu finden. Nun freut sie sich auf ihr neues kleines Zuhause. Auch wenn sie so wenig wie die anderen weiss, wie lange sie hierbleiben kann: Immerhin hat die Stadt kürzlich bekannt gegeben, das Camp für weitere sechs Monate zu dulden. Wie es dann weitergeht? Das ist unklar. Vielleicht wird das Camp dann geräumt, ein «sweep», wie man das nennt, durchgeführt von der Polizei und einem Aufräumtrupp. Woody, Eric Davis und all die anderen könnten dann nur hoffen, dass ihre Holzhäuser an einen anderen Standort irgendwo am Stadtrand gebracht werden. Ein Ende der Wohnungskrise ist in Seattle derzeit nicht in Sicht. 23


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1

BILD (1+2): LANGJAHR FILM, BILD (3-5): ZVG

1 Reni Mertens / Walter Marti: «Die Selbstzerstörung des Walter Matthias Diggelmann», 1973. 2 Mertens / Marti: «Requiem», 1993.

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Verfechter der Wahrhaftigkeit Festival Das Bildrausch Filmfest in Basel würdigt in einem Spezialprogramm das Werk der beiden Schweizer Filmpioniere Reni Mertens und Walter Marti. TEXT  MONIKA BETTSCHEN

«Warum wird man Demonstrant? Man könnte ja auch Friedhofsgärtner werden», sinniert Walter M. Diggelmann, während er vor laufender Kamera darüber nachdenkt, warum ein Mensch – er selber eingeschlossen – tut, was er tut. Und ob das alles überhaupt Sinn macht. Der Autor hatte sich 1974 auf Anfrage der Dokumentarfilmer Walter Marti und Reni Mertens dazu bereit erklärt, auf der leeren Bühne des Théâtre du Jorat im waadtländischen Mézières eine Stunde lang über sich selbst zu sprechen. Der Titel dieses filmischen Experiments: «Die Selbstzerstörung des Walter Matthias Diggelmann». Selbstzerstörung, weil das Aussprechen der Wahrheit über die eigene Person einer solchen gleichkommen würde, 24

wie die schriftliche Anfrage von Marti an Diggelmann erklärte. Entstanden ist ein Filmschauspiel, in dem Diggelmann tiefe Selbstzweifel, Erinnerungen und ganz profane Dinge ausspricht – zum Beispiel, dass er für diesen Dreh extra neue Schuhe gekauft habe oder dass ihm Friedrich Dürrenmatt noch 20 Franken schulde. Fast fünfzig Jahre später stellen sich Menschen auf virtuellen Bühnen zur Schau, darauf bedacht, die Fassade zu wahren. Hier aber steht einer, der diese Mauer einreisst und die Möglichkeit zur totalen Selbstdarstellung dazu nutzt, sich mit seinen Makeln zu zeigen. Ohne Filter, dafür ausgerüstet mit einer guten Flasche Rotwein, um der Kälte während der Dreharbeiten zu trotzen.

Das Bildrausch Filmfest widmet den vor zwanzig Jahren verstorbenen Filmemachern Reni Mertens und Walter Marti, die ab den 1960er-Jahren solche formal und inhaltlich radikalen Werke schufen, eine Reihe mit vier langen Dokumentarfilmen, einem Kurzfilmprogramm und Gesprächen mit Weggefährten wie Fredi M. Murer oder Rolf Lyssy. «Mertens und Marti waren beeindruckt und beeinflusst vom Menschenbild und der Wahrhaftigkeit des italienischen Neorealismus. Sie fragten sich bei jedem Film, was die wesentliche Frage war, und vertrauten auf die Kraft der Bilder, um diesen Kern freizulegen», sagt Festivaldirektorin Nicole Reinhard. «Sie gingen an jedes Projekt mit der gleichen konsequenten Surprise 452/19


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3 Eindrücke aus den Wettbewerbsfilmen: Die Schwedin Anna Odell demontiert Geschlechterrollen in ihrem Film «X&Y». 4 Oscar Wildes «Salome», hochstilisiert auf eine Militärbasis im Nahen Osten versetzt: Lluís Miñarros «Love me not». 5 Paramilitärs im südamerikanischen Regenwald: Alejandro Lanes «Monos».

Mut zu starken Bildern Das Filmfest Bildrausch in Basel zeigt zum neunten Mal Werke, die an den grossen internationalen Filmfestivals durch ihre mutige Herangehensweise für Aufsehen gesorgt haben, da sie inhaltlich und formal aussergewöhnliche Ansätze zeigen. Es ist eine Plattform für innovatives Filmschaffen, das dem Publikum mit betörender, bewegender und manchmal auch aufrüttelnder Bildgewalt neue Perspektiven eröffnet. Das Rahmenprogramm mit Podiumsdiskussionen und kura­-tierten Filmreihen greift diesen Ansatz abseits der Wettbewerbe auf. In diesem Jahr richtet sich der Fokus auf das Schweizer Autorenpaar Reni Mertens und Walter Marti. Im internationalen Wettbewerb «Cutting Edge» stehen zwölf Spiel- und Dokumentarfilme aus elf Ländern, die als Schweizer Premieren gezeigt werden.

Haltung heran. Mit ihrem avantgardistischen Mut beeinflussten sie eine ganze Generation Schweizer Filmschaffende.» Dieser Mut zeigt sich auch in ihrem letzten Film «Requiem» aus dem Jahr 1992, in dem kein Wort gesprochen wird. Erhabene Aufnahmen von europäischen Soldatenfriedhöfen stehen für den Schrecken und die Sinnlosigkeit des Krieges, damals wie heute. In schier endlosen Reihen erstrecken sich weisse Kreuze über stille Landschaften. Auf einem Grabmal liegt ein welkender Blumenstrauss. – Man könnte ja auch Friedhofsgärtner werden.

ILLUSTRATION : TILL LAUER

Sprache als Experimentierfeld Die Schweiz schreibt Das Junge Literaturlabor

JULL ermutigt Jugendliche, frei darüber zu schreiben, was sie bewegt. Was beschäftigt junge Menschen wirklich? In den Texten, die im Jungen Literaturlabor JULL entstehen, würden die in dieser Lebensphase drängenden Themen wie Liebe, Schulalltag oder Mobbing im Vordergrund stehen, sagt die Kulturmanagerin Gerda Wurzenberger, die das JULL 2015 im Auftrag der Kulturabteilung der Stadt Zürich gemeinsam mit dem Autor Richard Reich gegründet hat. «Krieg oder Terror sind ebenfalls häufig ein Thema – inspiriert weniger von der aktuellen Weltlage als von Video-Games oder Filmen. Trotzdem schwingt eine reale Grundangst zwischen den Zeilen mit.» Über persönliche Probleme würden die Jugendlichen in den Kollektivtexten kaum explizit schreiben. Brisantes wie Pornografie oder Vergewaltigung fliesse eher ein, wenn diese Themen in Medien oder im Schulhaus gerade aktuell seien. Im JULL können Jugendliche von der Primar- bis zu Berufsschule und Gymnasium alleine, in losen Gruppen oder, ähnlich wie beim Projekt «Schulhausroman», im Klassenverband unter Anleitung von Schreibprofis mit der Sprache experimentieren und herausfinden, wie man einen Erzähltext gestaltet. Unter den Coaches sind Namen wie Lorenz Langenegger oder Ulrike Ulrich. Letztere hat kürzlich mit Axmed Cabdullahi, der als unbegleiteter Minderjähriger aus Somalia in die Schweiz kam, einen Essay publiziert. Ulrich hat ihn im JULL kennengelernt. Das JULL, das sich als Kunstprojekt versteht mit dem Ziel, jungen Menschen das kreative Schreiben näherzubringen, erreicht auch Jugendliche aus bildungsferneren Schichten, für die Schreiben sonst eher eine Pflicht ist. «Unsere Coaches arbeiten besonders gerne mit ihnen, weil sie sich weniger um Textkonventionen kümmern als Gymischülerinnen und -schüler. Ihre Texte sind mutiger, voller Kraft und Drive», sagt Wurzenberger. Online laden die Menüpunkte «Reinlesen» und «Tagebuch» Interessierte dazu ein, in Auszügen JULL-Texte MONIK A BET TSCHEN zu entdecken. JULL Junges Literaturlabor, Bärengasse 20, Zürich. jull.ch schulhausroman.ch

Bildrausch Filmfest Basel: Mi, 19. bis So, 23. Juni bildrausch-basel.ch Surprise 452/19

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BILD (1): SWANK PHOTOS/CHRISTIAN KAUFMANN; KALI GALLERY, BILD (2): ZVG, BILD (3): DANNY WILLEMS BILD (4): SIR ROBIN

Veranstaltungen Luzern «Krištof Kintera: Am I also responsible? For all that shit around?», Ausstellung, bis 6. Juli, Do, Fr 17 bis 19 Uhr, Sa 15 bis 17 Uhr, Finissage 6. Juli, 19 Uhr, KALI Gallery, Lädelistrasse 4. kaligallery.com

Krištof Kintera ist ein Mann der Readymade Pops und der mechanischen Skulpturen – weshalb sein Werk bestens ins Basler Tinguely-Museum passte, wo es vor fünf Jahren ausgestellt war. Das Luzerner Ausstellungsprojekt konzentriert sich zum einen auf die belebte Strasse, in der sich die Galerie befindet, und zum anderen auf globale Themen. Kitera tastet sich mit Metaphern, Übertreibungen und schwarzem Humor an die Welt heran. Da ist ein umgedrehter Baum, der einen Globus als Kopf der Welt trägt und sich nervös von Ort zu Ort im Raum bewegt. «Nervous Tree» heisst das arme Lebewesen, das von den ökologischen Ereignissen der Gegenwart getrieben scheint. Mit seinen «Drawings» wiederum stellt uns Kitera Fragen – direkt, offen, schonungslos wie ein Kind. Es sind seine natürliche Verspieltheit und Energie, die die Kommunikation mit der Umgebung aufrechterhalten. DIF

Basel «E. T. A. Hoffmann: Das Fräulein von Scuderi», Lesung, Musik und Apéro, Di, 25. Juni, 19.30 Uhr, Allgemeine Lesegesellschaft Basel, Münsterplatz 8. lesegesellschaft-basel.ch

E. T. A. Hoffmann hat uns mit seinen schauerromantischen Erzählungen beschenkt und darüber hinaus das geschaffen, was als die erste deutsche Kriminalnovelle gilt: «Das Fräulein von Scuderi». Es geht um eine rätselhafte Mordserie im Paris des 17. Jahrhunderts. Dolchstiche mitten ins Herz. Immer sind die Opfer adlige Männer, die mit einem Schmuckgeschenk

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auf dem Weg zu ihrer Geliebten sind, wobei der Schmuck gestohlen wird. Das Fräulein von Scuderi – eine Schriftstellerin und mit 73 Jahren ein schon etwas angejahrtes Fräulein – berät den König in der Sache und findet einfach mal lakonisch: «Ein Liebhaber, der Diebe fürchtet, ist der Liebe nicht würdig.» Sie bemüht sich dann doch noch um Aufklärung. Doch aus heutiger Sicht interessant ist die Vorstellung, dass im damaligen Paris offenbar recht viele Männer mit Schmuckgeschenken durch die Strassen geschlichen sind. Lesung in Basel mit der Schauspielerin Graziella Rossi und der Pianistin Andrea Wiesli. DIF

Fribourg Belluard Festival, Do, 27. Juni bis Sa, 6. Juli, verschiedene Spielorte in Fribourg belluard.ch

Siwani aus Südafrika inszeniert ein performatives Ritual, und Alessandro Schiattarella und Jonas Gillmann aus Basel entwickeln eine Tanz- und Konzertperformance über Männlichkeit. 24 Projekte aller künstlerischen Genres und Disziplinen sind zum Belluard Festival eingeladen: Konzerte, Theater, Tanz, Performances und Partys – davon 15 Premieren. Leitmotiv ist in diesem Jahr die Frage nach der Wirkung von Kunst. Muss die messbar sein? Oder liegt gerade im Unsichtbaren, im Unermesslichen der künstlerische Nutzen? Fragen, die sich auch in den Alltag eingraben sollen, und so hat das Festival sogar eine eigene Währung entwickelt: 4 000 Franken, die normalerweise für die Distribution von Plakaten ausgegeben werden, verschenkt das Festival in Form von «Belluards» an das Freiburger Publikum. Beim Festival kann man überall damit bezahlen. Wichtig ist am Belluard auch die kulturelle Teilhabe und der Zugang aller: Zum Teil ist der Eintritt frei, und dazu gibt es die «tickets suspendus»: Jemand, der es sich leisten kann, kauft zwei Billette – damit einer, der es sich nicht leisten kann, damit eine Vorstellung besuchen kann. DIF

Zürich «Stilles Zürich», Veranstaltungsreihe, So, 23. bis So, 30. Juni, diverse Orte in Zürich, Programm online stilles-zuerich.ch

Was haben eine Glühwürmchen-Pirsch, Kalligrafie und Mandala für Kinder in der Altstadt, der Drehtanz der Derwische, eine stille Nacht am Käferberg und eine Herzmeditation gemeinsam? Die Suche nach der Stille, der sich der Verein Stilles Zürich widmet. So werden am See Silent Hugs verteilt, auf dem Platzspitz verwurzelt man sich mit der Erde, und etliche Veranstaltungen finden auf der Stras­ ­se statt. Es ist eine Suche nach Ruhepolen in der Getriebenheit der Stadt. Kirchgemeinden, Meditationsschulen, Stadtführerinnen, Bewegungslehrer und Kunstschaffende bieten kostenlos über 60 verschiedene Veranstaltungen an. Initiiert wurde die Veranstaltungswoche «Stilles Zürich» von der Reformierten Kirche Kanton Zürich, unterstützt wird sie auch von der katholischen Kirche, und so wird mancherorts meditiert und Mittagsgebete stehen auf dem Programm. Aber die Glühwürmchen zum Beispiel lassen sich ganz säkularisiert beobachten. DIF

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ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT

Agglo-Blues

Folge 35

Der Abstieg Was bisher geschah: Am Arbeitsort des Mordopfers Reto Schwander findet Kriminalkommissarin Vera Brandstetter heraus, nach was für einem fiesen Punktesystem die Mitarbeitenden gegeneinander antreten müssen. Nun konfrontiert sie den Bürokollegen des Opfers. «Frau Brandstetter, was machen Sie denn hier?», fragte Albert Kauer, als sie sein Büro betraten. «Ich muss mit Ihnen reden. Über Reto Schwander.» Kauer schaute hilfesuchend zu Hofmann, die sanft den Kopf schüttelte. «Ich habe alles gesagt, was ich weiss», nuschelte er. Brandstetter legte die Papiere auf seinen Schreibtisch. «Davon haben Sie mir nichts gesagt.» «Sag, dass du nichts damit zu tun hast», hielt es Erika Hofmann nicht mehr aus. «Ich habe dir die Liste doch nur gegeben, damit du dich auf die Hinterbeine stellst. Fünfzig Punkte trennen dich vom Strich.» Kauer schlug mit der Faust auf den Tisch. Brandstetter wich einen Schritt zurück. «Ja, verdammt. Lausige fünfzig Punkte. Mein ganzes Leben, meine ganze Arbeit. Reduziert auf fünfzig Punkte.» Er nahm das Bild seiner Familie in die Hand. «Dieses Foto ist der Beweis, dass nicht alles nur ein Traum war. Ich war einmal ein erfolgreicher Mann. Wir waren eine glückliche Familie. Uns ging es gut. Mit 45 Jahren hatte ich alles erreicht, was ich im Leben erreichen wollte. Ich habe mich hochgearbeitet, mein Vater war ein einfacher Bürogummi. Nach der Lehre habe ich den Ingenieur gemacht, in der Abendschule, während die anderen feierten. Ich habe erst geheiratet, als ich wusste, dass ich eine Familie ernähren kann.» Er tippte mit dem rechten Zeigefinger auf das Bild. «Der Jonas, der Älteste, hatte gerade die Gymiprüfung bestanden. Nach den Ferien fing die Mittelschule an. Der jüngere, der Alexander, hatte nur Fussball im Kopf, er ging in den Verein und hat sogar eine Zeit beim Nachwuchs eines Nationalliga B Clubs trainiert.» Liebevoll ruhte sein Finger auf dem Mädchen. «Das ist die Chantal, das Nesthäkchen, die Nachzüglerin. Sie ist mir besonders nah, und wahrscheinlich habe ich sie auch ein bisschen verwöhnt. Dass ausgerechnet sie solche Probleme haben würde …» Kauer Surprise 452/19

stellte das Bild wieder auf den Tisch. «Kennen Sie dieses Gefühl, Frau Brandstetter, wenn man glaubt, es geschafft zu haben, und dann alles zu bröckeln beginnt?» Brandstetter wusste, dass sie nur aufmunternd zu lächeln brauchte. Er hatte lange genug auf eine Gelegenheit gewartet, jemandem seine Geschichte zu erzählen. Sie lächelte. «Zuhause ist alles schwieriger geworden. Meine Frau, die ursprünglich Krankenschwester war, ist von der Alternativmedizin in die Esoterik abgedriftet. Sie besucht ständig Kurse, braucht ein Auto, hat sich einen Therapieraum in Gründorf gemietet. Was das alles kostet! Chantal hat wahrscheinlich am meisten darunter gelitten, dass ich nach dem Umzug der Firma weniger Zeit hatte, weniger Energie und Geduld. Die Buben waren mit Schule und Training beschäftigt. Der Druck bei der Arbeit nahm zu, es gab Rückschläge mit neuen Projekten. Langjährige Angestellte wurden durch Zeitarbeiter ersetzt. Just in Time war das Schlagwort. Doch ohne gute Produkte nützt das alles nichts, und die zu entwickeln ist unsere Aufgabe. Ständig wurde uns dreingeredet, die Arbeit wurde immer mühsamer. Wenn einer vom Management eine Idee hatte, mussten alle springen, auch wenn es bei Tageslicht betrachtet doch nichts als eine Furzidee war. Ich habe immer gerne gearbeitet, glauben Sie mir, Frau Brandstetter, ich bin ein Chrampfer. Wenn einem aber immer dreingeschnorrt wird von jungen Schnöseln, die viel studiert, aber nie richtig gearbeitet haben, dann kann es sogar mir verleiden. Dann die Übernahme, das war ein Schock. Wir wussten bis zwei Tage, bevor es publik wurde, von gar nichts. Und jetzt das! Fünfzig Punkte, die ich nicht mehr aufholen konnte, selbst wenn ich die Aufgabe, an der ich arbeite, erfolgreich zu Ende führe.» Kauer stützte den Kopf in die Hände und schwieg für eine Weile. «Schwander hat an einem Projekt gearbeitet, das genau in mein Spezialgebiet fällt. Ich wusste, dass er Schwierigkeiten damit hatte. Ich habe ihn gebeten, mich an Bord zu holen, zusammen hätten wir es geschafft, davon bin ich überzeugt. Mit den Punkten, die ich dafür bekommen hätte, wäre ich aus dem Schneider gewesen.»

STEPHAN PÖRTNER  schreibt und lebt in Zürich. Alle bisher

erschienenen Folgen des Fortsetzungskrimis gibt es zum Nachlesen und -hören unter www.surprise.ngo/krimi 27


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TopPharm Apotheke Paradeplatz

03

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05

Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

06

LIVEG Immobilien GmbH, Adliswil

07

VXL, gestaltung und werbung, Binningen

08

Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

09

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10

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11

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12

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13

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15

Cantienica AG, Zürich

16

Madlen Blösch, Geld & so, Basel

17

Schluep & Degen, Rechtsanwälte, Bern

18

Ozean Brokerage & Shipping AG, Muttenz

19

Beat Vogel, Fundraising-Datenbanken, Zürich

20

InhouseControl AG, Ettingen

21

Infopower GmbH, Zürich

22

Büro Dudler, Raum- und Verkehrsplanung, Biel

23

Hedi Hauswirth Psychiatrie-Spitex, Oetwil a. S.

24

SISA Studio Informatica SA, Aesch

25

Stellenwerk AG, Zürich

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Ricardo Da Costa verliess 2003 GuineaBissau, wo seine Familie immer noch lebt. Der Mechaniker arbeitete zuerst als Bauarbeiter in Portugal und Italien. 2013 kam er in die Schweiz. Wenige Tage nach seiner Ankunft wurden ihm alle Wertsachen gestohlen und er stand ohne Papiere da. Auf der Gasse lernte er einen Strassenmagazin-Verkäufer kennen und verkauft seither auch. «Ich bin froh, bei Surprise zu sein», erzählt Ricardo. «Manchmal komme ich traurig ins Büro und gehe mit einem Lächeln auf dem Gesicht wieder raus.» SurPlus ist für ihn eine grosse Unterstützung: Das ÖV-Abo ermöglicht Mobilität beim Heftverkauf und bei Schwierigkeiten stehen ihm die Mitarbeitenden mit Rat und Tat bei.

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Wir alle sind Surprise #450: «Ich wünsche mir mehr fröhliche Menschen»

#450: Krise? Kunst!

«Bewegend und anregend» Während ich am Muttertag in der Kirche war und anschliessend meine lange schon verstorbenen Eltern an ihrem Grab um Beistand auf verschiedenen «Baustellen» im Leben meiner Kinder und Enkel bat, habe ich heute beim Morgenessen die 450. Nummer des Surprise aufgeschlagen und mich danach damit aufs Sofa gelegt, ganz in den Bann der sehr spannenden Beiträge gezogen. Sie sind von A–Z bewegend, informativ und anregend. E. STADLER R AHMAN, Winterthur

«Gewinnbringend» Wir hatten Personen in der Gruppe, die nicht so gut zu Fuss sind, sowie eine gehbehinderte Person. Die beiden Führerinnen haben von Anfang an die Tour der Gruppe angepasst und immer wieder geeignete Sitzgelegenheiten gesucht. Sie haben sofort erkannt, was mit der Gruppe möglich ist und waren sehr flexibel. Die Gruppe war sehr beeindruckt, wie offen die beiden Frauen über ihre persönlichen Schicksale berichtet haben. Es wurden viele Fragen gestellt, die offen beantwortet wurden. Die Führerinnen konnten uns für die Themen Armut und soziale Ausgrenzung sehr gut sensibilisieren und sind beide sehr sympathisch, äusserst kompetent, gut gebildet und gewinnend. Künftig werden Institutionen bei Spenden berücksichtigt, die vielen Personen der Gruppe zuvor nicht bekannt waren. C. ZÜRCHER, Verein WittiKultur, Wittinsburg

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Grad lese ich im neusten Heft, wie sich Daniel Inglin ein EC-Gerät für den Heftverkauf wünscht. Vielleicht können wir schon in zwei bis drei Jahren mit der Visa-Karte oder PayPal spenden. Dies scheint mir sinnvoller zu sein, solange der Surprise-Verkäufer auch ein Mobile hat, wie meine Verkäuferin. U.W. WINTERBERGER, Uster

Frauenarmutstour Basel

Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel

«In zwei bis drei Jahren»

Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Georg Gindely, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Semhar Negash, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Natalie Avanzino, Marc Bachmann, Monika Bettschen, Carolyn Bick, Marco Fieber, Eva Hirschi, Pascal Mora, Gerd Schild, Miriam Suter

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse

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Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage  28 800 Abonnemente  CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:
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Anm. d. Red.: Tatsächlich ist es in einigen Ländern mittels verschiedener Techniken bereits möglich, Strassenzeitungen per App oder mit der Kreditkarte zu kaufen. Eine Einführung für die Schweiz ist bisher noch nicht konkret geplant, im Rahmen des Internationalen Netzwerks der Strassenzeitungen INSP tauschen wir uns jedoch regelmässig mit den Kollegen dazu aus und behalten die Bedürfnisse der Verkaufenden und Kunden dabei im Blick. Spenden per Kreditkarte (siehe www. surprise.ngo/spenden) ist hingegen bereits möglich, was bei uns losgelöst vom Heftverkauf auf der Strasse behandelt wird.

Rechnungsadresse:

Strasse PLZ, Ort Telefon E-Mail Datum, Unterschrift 452/19

Bitte heraustrennen und schicken an: Surprise, Münzgasse 16, CH-4051 Basel, info@surprise.ngo

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FOTO: MATTHIAS WILLI

Surprise-Porträt

«Ich stelle hohe Ansprüche an mich» «Ich habe schon als Baby mit dem Leben gerungen. Gleich nach der Geburt mussten mich die Ärzte ans Beatmungsgerät anschliessen. Auch heute ringe ich noch mit dem Leben, aber auf eine andere Art. Ich hinterfrage die Strukturen unserer Gesellschaft und die vielen Zwänge, denen wir uns unterwerfen. Es scheint heute allen so unglaublich wichtig, integriert zu sein: in den Arbeitsmarkt, die Familie, den Freundes­ kreis. Menschen, die anders sind, verurteilt die Gesell­ schaft – wie zum Beispiel mich. Geboren wurde ich mitten in den Kriegswirren im da­ maligen Jugoslawien. Wir flüchteten in die Schweiz, aufgewachsen bin ich in der Umgebung von Zürich. Ich polarisierte schon als Kind – dass ich anders war, kam bei manchen Menschen nicht gut an. Doch es hat mich stärker gemacht, mich in meiner Eigenart be­ haupten zu müssen. Die Vergangenheit ist ohnehin die Vergangenheit. Für mich gibt es nur die Gegenwart und die Zukunft. In der Gegenwart verkaufe ich Surprise. Seit über einem Jahr arbeite ich am Bahnhof Basel, und viele Menschen sagen, dass ich ihnen auffalle. Dabei mache ich nur das, was ein guter Verkäufer tun sollte: Ich preise das Magazin an. Ich tue das vielleicht auf eine unorthodoxe Art und Weise. Ich fasse den Inhalt des Magazins in prägnanten Worten zusammen, zeige das Heft den Leuten, werfe es in die Luft, jon­ gliere, tänzle, lächle den Menschen zu. Das kommt bei vielen gut an. Es gibt aber auch Menschen, die mich kritisieren und sagen, ich solle das Heft konventionell verkaufen. Jedem das Seine. Meiner Meinung nach braucht es eine Menge Kreativität und Ideen, um in meinem Job erfolgreich zu sein. Dafür gebe ich jeden Tag mein Bestes, denn ich verkaufe ein gut gemachtes Magazin, das Menschen, die nicht so gut in die Gesellschaft integriert sind, ein Auskommen und eine Heimat bietet. Zudem will ich mit meinem Auftreten dazu beitragen, dass die Menschen mehr Respekt vor uns Surprise-Ver­ kaufenden haben. Ich glaube, dass mir das gelungen ist, wenigstens hier in Basel. Ich bin ein sehr genügsamer Mensch, Materielles hat für mich nicht die erste Priorität. Den Grossteil meines Verdienstes verwende ich, um eine Familie zu unterstützen, die im Moment in finanzieller Not ist. Es ver­ schafft mir ein gutes Gefühl, helfen zu können, aber es ist auch eine Belastung, weil ich weiss, dass andere 30

Radomir, 28, verkauft Surprise am Bahnhof Basel. Er fällt auf, weil er das Heft mit einer Art Performance anpreist. Mit seiner Arbeit unterstützt er eine Familie in Not.

von mir abhängig sind. Wenn ich einmal eine Stunde lang kein Heft verkaufe, spüre ich den Druck. Ich stelle hohe Ansprüche an mich. Was die Zukunft angeht, habe ich viele Ideen. Eine davon ist, dass ich Schriftsteller werde. Eigentlich bin ich es bereits. Ich schreibe seit fünf Jahren, etwa drei Romane habe ich verfasst, aber ich bin noch nicht zufrieden damit. Ich will ein Werk schreiben, das alles vereint: Unterhaltung, Gesellschaftskritik, Fantasie, Detailtreue, Vielschichtigkeit, Authentizität. Es geht mir nicht einmal darum, das Buch zu veröffentlichen. Ich schreibe für mich. Das Faszinierende am Schreiben ist, dass so viel Ungeahntes, Neues entsteht, von dem ich oft selbst überrascht bin. Als ich mit dem Schreiben be­ gann, dachte ich, mir mangle es an Kreativität. Das Gegenteil ist der Fall. Ich bin von Kindesbeinen an ein Philosoph gewesen. Seit Kurzem schreibe ich auch für andere. Ein Kunde, dem ich von der Schriftstellerei erzählt hatte, hat mich gebeten, eine Geschichte für seine Enkelkinder zu verfassen. Ich habe zugesagt und bin gespannt, was dabei entsteht. Das einzige Problem ist, dass ich neben der Arbeit so wenig Zeit zum Schreiben habe.»

Aufgezeichnet von GEORG GINDELY Surprise 452/19


GESCHICHTEN VOM FALLEN UND AUFSTEHEN

Porträts der Surprise Verkaufenden in Buchform

Kaufen Sie jetzt das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» und unterstützen Sie einen Verkäufer oder eine Verkäuferin mit 10 CHF. «Standort Strasse» erzählt mit den Lebensgeschichten von zwanzig Menschen, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Porträts aus früheren Ausgaben des Surprise Strassenmagazins ergänzen die Texte. Der Blick auf Vergangenheit und Gegenwart zeigt selbstbewusste Menschen, die es geschafft haben, trotz sozialer und wirtschaftlicher Not neue Wege zu gehen und ein Leben abseits staatlicher Hilfe aufzubauen. Surprise hat sie mit einer Bandbreite an Angeboten dabei unterstützt: Der Verkauf des Strassenmagazins gehört ebenso dazu wie der Strassenfussball, der Strassenchor, die Sozialen Stadtrundgänge und eine umfassende Beratung und Begleitung.

156 Seiten, 30 farbige Abbildungen, gebunden, CHF 40 inkl. Versand, ISBN 978-3-85616-679-3 Bestellen bei Verkaufenden oder unter: surprise.ngo/shop Weitere Informationen T +41 61 564 90 90 | info@surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: Surprise NGO Surprise 452/19

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SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

ERLEBEN SIE BASEL, BERN UND ZÜRICH AUS EINER NEUEN PERSPEKTIVE. Menschen, die Armut, Ausgrenzung und Obdachlosigkeit aus eigener Erfahrung kennen, zeigen ihre Stadt aus ihrer Perspektive und erzählen aus ihrem Leben. Authentisch, direkt und nah. Buchen Sie noch heute einen Sozialen Stadtrundgang in Basel, Bern oder Zürich. Infos und Terminreservation: www.surprise.ngo/stadtrundgang 32

Surprise 452/19


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