Surprise Nr. 451

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Strassenmagazin Nr. 451 31. Mai bis 13. Juni 2019

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Rohstoff

Schlimmer Glimmer Die schmutzige Geschichte hinter dem Glanz, der in unseren Kosmetika steckt Seite 10

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BETEILIGTE CAFÉS

Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren.

IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstrasse 18 | Bäckerei KULT «Elsi», Elsässerstrasse 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Café Bohemia, Dornacherstr. 255 | Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 | Kiosk Amann, Claragraben 101 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Badischer Bahnhof | Rest. Manger & Boire, Gerbergasse 81 | Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 | Café Spalentor, Missionstrasse 1 | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | Treffpunkt Breite, Zürcherstrasse 149 IN LENZBURG feines Kleines, Rathausgasse 18 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4-Markt Baselstrasse, Baselstr. 66 | Restaurant Quai4, Alpenquai 4 | Quai4-Markt Alpenquai, Alpenquai 4 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbad Volière, Inseli Park | Restaurant Brünig, Industriestrasse 3 | Arlecchino, Habsburgerstrasse 23 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN BERN Café Kairo, Dammweg 43 | Café MARTA, Kramgasse 8 | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa Lorraineladen, Lorrainestr. 23 | Luna Llena Gelateria Rest. Bar, Scheibenstr. 39 | Rest. Genossenschaft Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Rest. Löscher, Viktoriastr. 70 | Rest. Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestrasse 20 | Becanto GmbH, Bethlehemstrasse 183 | Phil’s Coffee to go, Standstrasse 34 IN BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Quartiertreff Enge, Gablerstrasse 20 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 | Kafi Freud, Schaffhauserstrasse 118 | Kumo6, Bucheggplatz 4a | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistrasse 76 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestrasse 47 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11 IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique & café, Bernstrasse 2 IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstrasse 3a

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise

Kultur

Solidaritätsgeste

STRASSENCHOR

CAFÉ SURPRISE

Lebensfreude

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BEGLEITUNG UND BERATUNG

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STRASSENMAGAZIN Information

Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten

STRASSENFUSSBALL

Erlebnis

Expertenrolle

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE Perspektivenwechsel

SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf2die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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TITELBILD: DANIEL FÖLLMI

Editorial

Verantwortung Was haben Lippenstift, Shampoo, ein Toaster und Autoreifen gemeinsam? Diese Produkte sind alltäglich für uns – und in allen ist Glimmer enthalten, ein Mineral, das zum grössten Teil in Indien abgebaut wird, unter gefährlichen Bedingungen, oft von Minderjährigen und Kindern. Diese Rohstoff-Geschichte zeigt einmal mehr: Selbst die banalsten Phänomene unseres Lebens wirken sich anderswo mitunter verheerend aus. Wer trägt dafür die Verantwortung? Wir Konsumentinnen? Die indische Politik? Die globalen Händler? Industriegiganten wie L’Oréal und H&M bemühen sich zwar um eine saubere Lieferkette. Dass diese kaum zu gewährleisten ist, zeigt unsere Reportage ab Seite 10. Am Schauplatz unserer zweiten Reportage sehen wir, dass jene, die Verantwortung übernehmen, mitunter an unerwarteten Orten zu finden sind. Der Bieler «DitschTreff» ist wohl wohl der einzige selbstverwaltete Alkitreff der Schweiz. Und mit

4 Aufgelesen 6 Vor Gericht

Reine Interpretationssache

10 Rohstoff

Glanz und Glamour aus Indiens Gruben 18 Eigeninitiative

Gerne gemütlich 7 Challenge League

Wenn aus Hoffnung Trauer wird

dieser Bezeichnung sind wir mitten in der Geschichte: An heissen Tagen verkauft sich Mineralwasser dort besser als Bier, dennoch werden Gäste und Betreiber bloss «Alkis» genannt. Darüber philosophiert man unter anderem an diesem Stammtisch, der normaler ist, als man meinen könnte (Seite 18). Auch unsere Autorin Marie Baumann hat sich in ihrer Kolumne «All Inclusive» immer wieder mit dem Thema Verantwortung auseinandergesetzt. Oder mit der Frage, wem in unserem Sozialstaat überhaupt ermöglicht wird, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Jetzt hat sie entschieden, dass sie sich künftig erfreulicheren Dingen als der Sozialpolitik widmen möchte und ihre Kolumne bei uns beendet. Wir bedanken uns herzlich für Maries intelligente Texte und die gute Zusammenarbeit. AMIR ALI

Redaktor

22 Theater

Der gemeinsame Boden

Die Liste 28 SurPlus Positive Firmen

25 Literatur

Maschinen schaffen kostbare Momente

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

26 Veranstaltungen 30 Surprise-Porträt

8 Die Sozialzahl

Das Altern ist uns teuer

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27 Agglo-Blues

«Ich erfüllte mir einen Herzenswunsch»

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FOTO: KEN MARTIN

Aufgelesen

FOTO: TYLER NIX / UNSPLASH

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 34 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

FOTO: KEN MARTIN

Architektur gegen Wohnungslose Wer einmal in einem Park genächtigt hat, wo nachts um drei die Sprinkleranlage alles durchnässt, schläft kein zweites Mal dort. Viele Behörden in den USA nutzen architektonische Massnahmen, um gegen Wohnungslose im Stadtbild vorzugehen, wie diese Bilder zeigen. «Diese Art von feindlicher Architektur transportiert implizit die Haltung, dass Menschen, die draussen schlafen, nicht Teil der Gemeinschaft und nicht unsere Nachbarn sind, und dass es deswegen in Ordnung sei, sie zu ächten», kommentiert die Geschäftsführerin der Strassenzeitung The Contributor aus Nashville, Tennessee. THE CONTRIBUTOR, NASHVILLE

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FOTOS: FRANK DZIAMSKI / ULI BEUTTENMÜLLER

Langohren auf dem Motorrad Es ist ein Motorrad-Club der besonderen Art, eine Hilfsorganisation in Leder und Plüsch: Die rund 400 Mitglieder der Streetbunny Crew verpflichten sich beim Eintritt in die Gang zur Beteiligung an drei bis vier karitativen Aktionen pro Jahr. In rosa Plüschkostümen belustigen die Biker die Bewohner eines Altersheims, sammeln für krebskranke Kinder oder Kinder- und Jugendwohnungen. Entgegen den Traditionen vieler

anderer Biker-Clubs gilt für die Streetbunny Crew ein striktes Alkoholverbot im Kostüm sowie die Einhaltung der Strassenverkehrsordnung. Zehn Regionalgruppen gibt es mittlerweile, rund 400 Biker sind deutschlandweit als wohltätige Hasen unterwegs.

STRASSENKREUZER, NÜRNBERG

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Legal und gefährlich

Getarnt als Kräutermischung, Badesalz oder Duftstoff sind in Europa derzeit rund tausend verschiedene synthetische Designerdrogen, sogenannte Neue Psychoaktive Substanzen (NPS), unterwegs. Ihre Entwicklung und Verbreitung geht so schnell vonstatten, dass die Behörden mit Analyse und Eindämmung kaum hinterherkommen. Kaum haben sie bestimmte Inhaltsstoffe gesetzlich erfasst und verboten, werden die Produkte häufig gering modifiziert erneut in Umlauf gebracht. Laut Angaben des deutschen Bundeskriminalamts starben 2017 185 Menschen an NPSÜberdosen. Da die genaue Zusammensetzung und Wirkungsweise der Präparate oft nicht bekannt ist, wissen Mediziner im Ernstfall häufig nicht, wie Vergifteten zu helfen ist. Die Zahl der Konsumenten in Deutschland wird derzeit auf 460 000 geschätzt, die meisten zwischen 18 und 20 Jahren.

FIFTYFIFTY, DÜSSELDORF

Jung ohne Wohnung

Seit 2006 ist die Zahl der jungen Wohnungslosen in Australien um 26 Prozent gestiegen. Insgesamt sind 38 Prozent der Wohnungslosen dort unter 25 Jahren. Knapp Zweidrittel davon leben in Gemeinschaftsunterkünften, 18 Prozent in Notunterkünften für Wohnungslose, 10 Prozent in anderen Haushalten, 9 Prozent in Internaten und 3 Prozent auf der Strasse. Die Hälfte aller Jugendlichen, die mit 18 aus dem staatlichen Versorgungssystem herausfallen, werden im darauffolgenden Jahr arbeitslos, kommen ins Gefängnis oder werden Eltern. Ein Viertel der jungen Wohnungslosen haben häusliche Gewalt erfahren. Kinder bis 14 Jahre mit Aborigine-Herkunft haben zudem ein elfmal höheres Risiko, wohnungslos zu werden, als andere Kinder.

BIG ISSUE AUSTRALIA, MELBOURNE

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Vor Gericht

Alles Interpretationsfrage Des Beschuldigten Liegenschaft, das älteste Haus im Kern eines kleinen Dorfes im Zürcher Säuliamt, war und ist der Schandfleck des Orts. War, weil sich auf dem Areal lange der Gerümpel türmte, bis er auf die angrenzenden Grundstücke überquoll und sich die Nachbarn bei der Gemeinde beschwerten. 32 Mulden à 30 Kubikmeter Abfall kamen zusammen, als diese zwangsräumen liess. Ist, weil das Haus 2017 brannte – und die Ruine bis heute mit ausgebranntem Dachstock und nur noch drei Aussenmauern dasteht. Daneben haust der Beschuldigte in einem Wohnwagen. Des einen Müllhalde, des anderen Requisitenlager. Ein ganz exquisites sogar. Der Beschuldigte stattete die Bühnen der Zuger Freilichtspiele aus, Ausstellungen über den früheren Bauernalltag. Auch von der Kunstgewerbeschule kamen sie vorbei, wenn sie was brauchten. Was die Gemeinde wegräumte, sei sein Lebensunterhalt, sein Lebenswerk gewesen, sagt der Beschuldigte. Erschiessen würde er die Verantwortlichen, den damaligen Gemeindepräsidenten und ein Gemeinderatsmitglied, und dann sich selbst richten: So rapportierte ein Nachbar die Worte des Beschuldigten, und es wurde ihm derart unwohl, dass er die Behörden informierte. «Alles Interpretationsfrage», sagt der Beschuldigte an der Gerichtsverhandlung. Der Vorwurf: Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte. In diesen Worten habe er das nicht gesagt. Einfach darauf bestanden, dass die Gemeinde «in Ordnung

bringen müsse, was sie angerichtet hat». Sonst kämen sie dran. Nur einmal, als ihn der fromme Nachbar eindringlich beschwor zu verzeihen, sei er ausgeflippt. Als «impulsive Äusserung im Zustand der Verzweiflung» beschreibt es sein Strafverteidiger. Bei den Räumungen sei die Gemeinde rücksichtslos vorgegangen. Sogar die Steinplatten seines Gartensitzplatzes wurden abtransportiert. Er fordert einen Freispruch, der Beschuldigte sei krank, nicht kriminell. Ein Messie. Hier eine schwere Form, seit Jahrzehnten chronifiziertes pathologisches Horten. Der Rentner, früher in der Guggemusig und der Feuerwehr aktiv, verlor den Überblick, geriet in die soziale Isolation. Die KESB wurde eingeschaltet. «Zunehmend verwahrlost und immer rabiater», so sagt es der Staatsanwalt. In einer «situativen Zuspitzung», so stuft es das psychologische Gutachten ein, sei die Gefahr hoch, dass der Beschuldigte die Drohungen in die Tat umsetze. Der Staatsanwalt verweist darauf, dass der Mann schon zuvor im Umgang mit Behörden aggressiv war. Etwa als ihn die Polizei zur Vorführung beim Betreibungsamt abholen wollte. Von den Bussen und bedingten Vorstrafen liess er sich nicht beirren – jetzt soll er acht Monate ins Gefängnis. Am wichtigsten sei, sagt der Einzelrichter in seinem Urteil, künftig einen Konsens mit der Gemeinde zu finden. Er rechnet es dem Beschuldigten hoch an, dass er sich beim einen Opfer persönlich entschuldigte. Ebenso anerkennt er die schwierige Lebenssituation und eine verminderte Schuldfähigkeit. Trotzdem folgt er dem Strafantrag des Staatsanwalts: Im Lichte der Vorgeschichte sei die Prognose schlecht. Auch mit der zusätzlich verordneten Therapie. Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin

in Zürich

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Challenge League

Wenn aus Hoffnung Trauer wird Ich sitze im Studio meines Arbeitskollegen, mit dem ich zusammen ein Projekt mache. Im Computer sucht er nach den Videos, an denen wir arbeiten möchten. Während er schaut und ich warte, ertönt aus seinem Rechner plötzlich laut die eritreische Nationalhymne, mit der ich hier und in Zusammenhang mit ihm niemals gerechnet hätte. Bis er herausfindet, woher der Sound kommt und ihn stoppen kann, dauert es ein paar Sekunden – Zeit genug, dass mich die Musik in Gedanken aus dem Studio trägt, in eine andere Welt. Als mein Kollege sich für die plötzliche Lautstärke entschuldigt und mich anschaut, sieht er Tränen in meinen Augen. Ich kann die Trauer nicht kontrollieren, die Eritreas Hymne in mir auslöst. Er ist neugierig und will wissen, weshalb diese Hymne bei vielen Eritreerinnen und Eritreern solche Gefühle auslöst. Er habe dies schon häufiger beobachtet.

aus der Bevölkerung die Früchte der Unabhängigkeit zu ernten. Da es in Eritrea zu dieser Zeit (und bis heute) keinen Raum für Austausch und Kommunikation zwischen der Bevölkerung und den entscheidenden Stellen in der Politik gab, erwarteten wir Jahr für Jahr mit grosser Hoffnung die Rede unseres Präsidenten, die er jeweils am Unabhängigkeitstag hielt. Ich erinnere mich genau, wie ich mit meiner ganzen Familie stundenlang aufmerksam seinen Reden lauschte, immer in der Hoffnung, darin eine gute Nachricht zu entdecken, wie wir endlich zu einem freien Leben in unserem freien Eritrea kämen.

Mit Hoffnung sangen wir Tag für Tag die Hymne und warteten das erste, zweite, dritte, und viele weitere Jahre.

Der Monat Mai hat eine symbolische Bedeutung in Eritrea. Nach Jahren der Kolonial- und Fremdherrschaft SEMHAR NEGASH kämpften die Eritreer dreissig Jahre lang mit grosser Hoffnung für ihre Unabhängigkeit von Äthiopien. Dieser Krieg war eine ungeheure Herausforderung, hat wahnsinnig viel Leben und Zeit gekostet. Am 24. Mai 1991 endlich wurde der Krieg mit der Einnahme Asmaras durch die Unabhängigkeitskämpfer beendet. Genau zwei Jahre später wurde Eritrea offiziell unabhängig, seitdem ist es auch offizielles Mitglied der Vereinten Nationen. Das war ein grosses Ereignis für das Land, die Bevölkerung hat lange dafür gekämpft und wurde damals ein Vorbild für Afrika genannt. Als Kind der Neunzigerjahre bin ich mit dieser Mentalität aufgewachsen, Patriotismus wurde zu einem grossen Teil meiner Sozialisierung. Als Kinder haben wir in der Schule, durch die Medien und von unseren Familien gelernt, sehr stolz auf unser Land und die Regierung zu sein, die es uns geschenkt hatte. Der 24. Mai wurde zum Feiertag, und wir nahmen den ganzen Monat als speziell wahr. In den Jahren nach der Unabhängigkeit geschah dies mit grosser Freude, wir zeigten gern unsere Bereitschaft, das Land gemeinsam aufzubauen. Wir freuten uns darauf, in ein paar Jahren nicht mehr nur das Ereignis zu feiern, sondern auch als Kämpferinnen und Kämpfer Surprise 451/19

Ein Highlight des 24. Mai war eben auch die Nationalhymne, die als Eröffnung der Feierlichkeiten gespielt wurde. Wir sangen sie jeden Tag in der Schule, hörten sie in den Medien. Sie erinnert uns an den Unabhängigkeitskampf, der uns die Hoffnung gab, endlich in Frieden in einem freien Land zu leben. Mit dieser Hoffnung sangen wir Tag für Tag die Hymne und warteten das erste, zweite, dritte, vierte und viele weitere Jahre auf die Grosse Rede unseres Präsidenten. Am Anfang war es sehr ermutigend, wir freuten uns auf die Umsetzung der erkämpften Freiheit. Doch nach und nach zeigte sich, dass die Rede nur dem Schein diente und nichts mit der Realität zu tun hatte, in der wir lebten. 26 Jahre später sind die Hymne und der Präsident immer noch dieselben. Ich befinde mich mittlerweile Meilen von Eritrea entfernt und lebe in einer Zeit, wo die Bevölkerung Eritreas, die einst mit grosser Hoffnung für ein freies Land gekämpft hat, nicht in der Lage ist, die Früchte zu ernten – sondern eines der Länder repräsentiert, aus dem am meisten Menschen fliehen. Da kommen mir schon mal die Tränen.

SEMHAR NEGASH ist traurig darüber, dass Eritrea so viele Menschen in die Flucht treibt und träumt von einer besseren Zukunft, wo die Bevölkerung in Frieden leben kann.

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Chronisch-Kranke treffen, die auf regelmässige Gesundheitsleistungen angewiesen sind, und Menschen mit wenig Einkommen. Beides trifft auf eine grosse Zahl von Rentnerhaushalten zu. Ähnliche Befürchtungen kommen auf, wenn man sich die Entwicklung bei den Prämienverbilligungen ansieht. Auch hier können Sparmassnahmen in einzelnen Kantonen dazu führen, dass Rentnerhaushalte aus dem Kreis der Anspruchsberechtigten herausfallen.

Das Altern ist uns teuer Der Übergang von der Erwerbstätigkeit in den Ruhestand verändert die Einkommens- und Ausgabensituation gravierend. Die Renteneinkommen fallen oft deutlich tiefer aus, und viele erreichen die anvisierten 60 Prozent des früheren Erwerbseinkommens nicht. Auf der Ausgabenseite nehmen insbesondere die Aufwendungen für den Erhalt der Gesundheit, die Betreuung und Pflege im Alter deutlich zu.

Ein besonderes Merkmal des Gesundheitsmarktes in der Schweiz ist der hohe Anteil an anfallenden Gesundheitskosten, die neben den Franchisen und dem Selbstbehalt in den Krankenversicherungen zusätzlich aus dem eigenen Portemonnaie beglichen werden. 2016 beliefen sich diese sogenannten Selbstzahlungen auf rund 24,5 Milliarden Franken oder 30 Prozent der gesamten Gesundheitskosten. 5,4 Milliarden Franken wurden für Zusatzversicherungen ausgegeben, 3 Milliarden entfielen auf selbst bezahlte Arztleistungen, weitere 2,8 Milliarden gaben die Leute in der Schweiz beim Zahnarzt aus und nochmals 1,6 Milliarden Franken wurden für den Kauf von Medikamenten verwendet.

2016 betrugen die gesamten Gesundheitskosten in der Schweiz rund 80,5 Milliarden Franken. 15,7 Milliarden wurden für die stationäre Behandlung in den Spitälern ausgegeben, 21,4 Milliarden für die ambulante Behandlung in den Arztpraxen und weitere 15,6 Milliarden für die Langzeitpflege. Überproportional viel kosten – wenig überraschend – Personen im Rentenalter. So verursachen Neurentnerinnen und Neurentner im Schnitt erstmals mehr als 1 000 Franken Gesundheitskosten pro Monat, bei den 76- bis 80-Jährigen sind es schon 2 000 Franken. Obwohl die Rentnerinnen und Rentner nur 17 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, lösen sie 44 Prozent der gesamten Gesundheitskosten aus.

Besonders wichtig für Ältere sind die Ausgaben für die Hotellerie und die Betreuungstaxen in den Pflegeheimen, die sich auf rund 5,5 Milliarden Franken beliefen und ebenfalls, soweit sie nicht von den Ergänzungsleistungen übernommen werden, selbst bezahlt werden müssen. Es erstaunt darum nicht, dass das Eintrittsalter in Pflegeheime stetig ansteigt und die durchschnittliche Aufenthaltsdauer kürzer und kürzer wird.

Ein guter Teil der anfallenden Gesundheitskosten wird über die Prämien der obligatorischen Krankenversicherung abgedeckt. Die Höhe der Prämie orientiert sich bekanntermassen nicht wie bei den anderen Sozialversicherungen am Einkommen. Dies führt bei vielen Rentnerhaushalten zu spürbaren finanziellen Belastungen und Einschränkungen bei anderen Ausgaben. Dazu kommen die selber zu tragenden Franchisen und der Selbstbehalt. Laufende Diskussionen zur Eindämmung der steigenden Gesundheitskosten können zu weiteren Belastungen führen. So würde die kürzlich im Nationalrat vorgeschlagene Erhöhung der Mindestfranchise auf 500 Franken vor allem

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

8701

Gesundheitskosten nach Alter. Kosten in Franken pro Kopf und Monat

5731

8000

3841

6000

455

415

435

490

500

525

593

704

0-5

6-10

11-15

16-20

21-25

26-30

31-35

36-40

41-45

46-50

51-55

56-60

1980

1558

1023

380

832

270

2000

1255

2665

4000

269

INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK (2018): GESUNDHEITSKOSTEN NACH ALTER UND GESCHLECHT (SCHÄTZUNG).

Die Sozialzahl

0

8

61-65

66-70

71-75

76-80

81-85

86-90

91-95

96+

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Jederzeit kann der Stollen Ăźber dem Arbeiter zusammenbrechen.

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Schmutziger Glanz Rohstoff In Indien bauen die Ärmsten der Armen Glimmer ab,

der bei uns in Kosmetika, Lack und Elektronik landet. In den Minen arbeiten auch tausende Kinder unter Lebensgefahr. TEXT MARIUS MÜNSTERMANN

FOTOS CHRISTIAN WERNER

ILLUSTRATIONEN DANIEL FÖLLMI

Jhumri Telaiya INDIEN

Mit sechs kroch Badku Marandi zum ersten Mal in einen der Stollen, tief unter der knochenharten Erde. Unten war es heiss und stickig, im Schein einer Kerze haute Badku mit einem Hammer auf das Gestein ein. «Die Erde vibrierte bei jedem Hammerschlag», erzählt er. Eines Tages passierte, wovor Badku sich immer gefürchtet hatte: Einer der Stollen stürzte ein, dicke Gesteinsbrocken begruben ihn unter sich. «Ich hatte Todesangst», sagt Badku. Der schüchterne Junge sitzt umringt von den Einwohnern seines Heimatdorfs im Nordosten Indiens. Alle lauschen gebannt seiner Erzählung: «Ich wollte schreien, um Hilfe rufen, aber ich konnte kaum atmen.» Seine Brüder, die mit ihm arbeiteten, schoben die Felsen beiseite. Andere Arbeiter eilten in den Stollen, gemeinsam trugen sie Badku hinauf. «Sie brachten Wasser für mich und ich kam wieder zu mir», sagt Badku. «Ich habe nur mit Glück überlebt.» In den trockenen Monaten vor dem Monsun, wenn die Reisfelder verdorrt darniederliegen, gibt es für die Menschen hier im Bundesstaat Jharkhand nur eine Einnahmequelle: Tag für Tag verlassen sie ihre Dörfer, um in den Wäldern ihr Glück zu suchen. Feine Partikel lassen die Hügel in der Sonne glitzern. Die Erde steckt voller Glimmer, schimmernden Mineralen. Je tiefer man gräbt, desto grösser werden die Glimmer-Brocken. Doch mit jedem Meter und mit jedem Hammerschlag steigt auch die Gefahr, unter der Erde begraben zu werden. Surprise 451/19

Glimmer ist ein Sammelbegriff für eine Gruppe von Mineralen. Häufig wird die englische Bezeichnung «mica» verwendet. Der Name entstammt dem lateinischen Wort «mico», was «funkeln» oder «schimmern» bedeutet. Auf den Produktetiketten verstecken sich die Glimmer-Minerale oft hinter dem kryptischen Farbstoffkürzel CI 77 019. Verarbeitet wird Glimmer in vielen Industrien: Zu feinen Partikeln gemahlen, verleiht er Kosmetikartikeln wie Lippenstift oder Nagellack, aber auch Autolack

und anderen Farben einen eleganten Schimmer. Zu dünnen, gleichmässigen Plättchen geschnitten, wird Glimmer in der Elektroindustrie als Isoliermaterial verwendet, etwa in Toastern oder Haartrocknern. Glimmer findet sich ausserdem in Asphalt, Plastikteilen, Gummiprodukten wie etwa Pneus, in Fugen von Gipskartonplatten, in Shampoos und Duschgels, in Bohrflüssigkeiten bei der Erdölförderung sowie in vielen weiteren Produkten.

Indien verfügt weltweit über die reichsten Vorkommen besonders hochwertigen Glimmers. Der Grossteil kommt aus dem Grenzgebiet der beiden Bundesstaaten Jharkhand und Bihar, die zu den ärmsten Regionen des Landes gehören. Die Menschen in Jharkhand und Bihar fördern etwa ein Viertel der weltweiten Glimmerproduktion – in hunderten kleinen, illegalen Minen und unter lebensgefährlichen Bedingungen. Schätzungsweise 20 000 Kinder schuften in den Glimmer-Minen – obwohl Jugendliche unter vierzehn Jahren laut Gesetz nicht arbeiten dürfen, schon gar nicht im gefährlichen Bergbau. 3,50 Franken am Tag Am Abend kehren die Arbeiterinnen und Arbeiter in ihre Dörfer zurück. Ihre Tagesausbeute transportieren sie in Säcken auf schwer beladenen Fahrrädern oder in Körben auf ihren Köpfen nach Hause. Händler aus den Städten kaufen ihnen das Material ab, transportieren das Material in regionale Glimmer-Zentren wie die Stadt Jhumri Telaiya, wo es für den Export vorbereitet wird. Bevor der Glimmer allerdings dort landet, wechseln die Minerale nicht selten mehrfach den Besitzer. Die Arbeiter geben an, dass sie – je nach Qualität des Glimmers – gut 10 bis 15 Rappen pro Kilogramm verdienen. Bei acht Stunden Arbeit kommen sie so an guten Tagen auf einen Lohn von knapp 3,50 Franken. Auf dem Weltmarkt wird das Material später für rund 1,90 Franken pro Kilogramm gehandelt. 11


Seit seinem Unfall hat Badku Marandi nie wieder eine Mine betreten.

Ein Drittel der Bevölkerung in den Bundesstaaten Jharkhand und Bihar kann nicht lesen und schreiben. Die meisten Kinder sind zwar in der Schule eingeschrieben, viele von ihnen nehmen aber nicht am Unterricht teil. Stattdessen müssen sie ihren Eltern bei der Arbeit helfen, um zum Einkommen der Familien beizutragen. Im Glimmer-Abbaugebiet leben ganze Dorfgemeinschaften von den Mineralen, die sie in den Wäldern aus der Erde holen. Die Recherche-Organisation Centre for Research on Multinational Corporations (SOMO) mit Sitz in Amsterdam hat berechnet, dass rund 80 Prozent des Glimmers in der Region aus informellen Minen stammen. Hunderte gibt es davon in den Hügeln von Jharkhand und Bihar, einige klein wie Kaninchenlöcher, andere so gross, als seien 12

sie von Baggerschaufeln ausgehoben worden. Manche sind weithin vom Strassenrand einsehbar, die meisten aber liegen tief versteckt im Wald. Mit der Hilfe eines Lokaljournalisten, der seit Jahren über den Glimmer-Bergbau berichtet, erhalten wir nach ein paar Tagen Zugang zu einigen der Minen. Viele Arbeiter, vor allem die Kinder, rennen zunächst weg und verstecken sich, sobald sie uns und unsere Kameras sehen. Sie haben Angst, dass wir sie an die Polizei verraten. Erst das Versprechen, ihre Namen nicht zu nennen, ermutigt einige Arbeiter, offen zu reden. Manche von ihnen sind schliesslich sogar bereit, sich fotografieren zu lassen. Die Armut treibt ganze Familien in die Minen. Mädchen hocken mit den Frauen und den älteren Männern zusammen. Sie

zerbröseln den Glimmer und sortieren die Stückchen. Die Jungen schaffen den Glimmer aus den Stollen in Körben ans Tageslicht. Bis sie selbst kräftig genug sind, um stundenlang zu hämmern. Wenn sie keinen Glimmer mehr finden, ziehen die Menschen weiter. Zurück bleiben Kuhlen, die

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wie kleine Mondkrater aussehen. Stossen die Arbeiter jedoch auf eine vielversprechende Glimmerader, graben sie tiefer. Mit Hammer und Brecheisen treiben sie Stollen in den Boden, die von keinem Gebälk gestützt werden. Schürfwunden und Staublunge Die Nichtregierungsorganisation Bachpan Bachao Andolan (BBA), deren Gründer Kailash Satyarthi für seinen Kampf gegen Kinderarbeit 2014 den Friedensnobelpreis erhielt, verfolgt die Situation im Glimmer-Bergbau seit Jahren. Monat für Monat dokumentiert BBA zwischen zehn und zwanzig Todesfälle in eingestürzten Glimmer-Stollen. Ein Informant von BBA, der namentlich nicht genannt werden möchte, sagt, das Glimmer-Geschäft sei von einer «Kultur des Schweigens» umgeben. Er erzählt vom Schicksal einer Frau, die in einem der Stollen ihr Leben liess. Ein Arzt habe stattdessen als Todesursache auf dem Totenschein «Sturz vom Dach eines zweigeschossigen Hauses» notiert. «Dabei gibt es auf den Dörfern keine Häuser mit mehr als einem Stockwerk», sagt der Informant. Schürfwunden und Knochenbrüche gehören in den Glimmer-Minen zum Alltag. Die Arbeiter haben Angst vor Skorpionen, die sich unter den Steinen verstecken. Und dann ist da noch der Quarzstaub, den sie einatmen. Abends kehren sie mit rasselndem Husten heim, viele erkranken an Asthma und Staublunge, wodurch sie wiederum anfälliger für Tuberkulose und Krebs sind. Um sich Medikamente und Krankenhausaufenthalte leisten zu können, verschulden sich viele Familien. Um die Schulden begleichen zu können, müssen sie noch mehr Glimmer abbauen. Auch Kinder wie Badku Marandi: «Als ich neun Jahre alt war, starb mein Vater. Deshalb hatten wir nicht mehr genug Geld zum Leben.» Surprise 451/19

Heute ist Badku sechzehn Jahre alt. Von dem Unfall im Stollen vor zehn Jahren sind ihm Narben am Rücken geblieben, sein rechtes Auge ist von den Quetschungen lädiert. Nach dem Unfall weigerte er sich, jemals wieder eine Mine zu betreten. Stattdessen wollte er lernen. Und Badku hatte Glück. BBA, die Organisation gegen Kinderarbeit, bezahlte ihm den Schulbesuch. Davon profitierte nicht nur Badku. Er engagierte sich auch für die anderen Kinderarbeiter: «Ich habe alle Leute aus meinem Dorf davon überzeugt, wie wichtig Bildung ist. Nun gehen alle Kinder aus meinem Dorf zur Schule und müssen nicht mehr arbeiten.» Doch in den rund 300 anderen Glimmer-Dörfern von Jharkhand und Bihar läuft das Geschäft weiter. In einer Seitengasse

auf dem Markt von Jhumri Telaiya, einem der wichtigsten Glimmer-Handelszentren der Region, haben die Händler ihre Läden. Schnell sind wir umringt, erst von zwanzig, bald von dreissig Männern. Kinderarbeit? Gebe es hier nicht, behaupten alle. Offen will nur einer der Händler reden: Sandeep Jain, ein Mann Ende vierzig mit Weste und stattlichem Schnauzer, nimmt uns beiseite und setzt sich in seinen Laden. Die anderen Händler stehen im Halbkreis in unserem Rücken. Sie tuscheln, unterbrechen ihren Kollegen, wenn er etwas erzählt, das ihnen nicht gefällt. Zunächst preist Jain den Glimmer als Wohltat: «In dieser Gegend gibt es keine andere Arbeit. Hier dreht sich alles um Glimmer», sagt Jain. «Mein Grossvater und mein Vater arbeiteten beide im Glimmer-

Selbst die ganz Kleinen müssen mit anpacken.

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Geschäft. Ich selbst habe mit Glimmer gearbeitet, solange ich denken kann.» Wenn die Menschen hungern, würden sie in die alten Stollen steigen und auf eigene Faust Tunnel graben. «Sie verkaufen Glimmer, um nicht zu verhungern.» «Die beste Qualität wird vor allem nach Deutschland und in die USA exportiert. Kleine Brocken gehen nach China», erklärt Jain. Aus einer indischen Handelsdatenbank gehen für das Jahr 2016 auch Glimmer-Exporte in die Schweiz hervor: 27 Lieferungen per Flugzeug aus Kalkutta. Gesamtwert: rund 20 000 US-Dollar. Die Namen der importierenden Schweizer Unternehmen sind in der Datenbank nicht aufgeführt. Einer anderen indischen Exportdatenbank zufolge wurden allein im ersten Quartal 2017 über den Hafen von Kalkutta an Unternehmen in Deutschland über 1 300 Tonnen Glimmer verschifft.

10 bis 15 Rappen pro Kilo bekommen die Arbeiterinnen.

Konzernverantwortung? Detaillierte Auskünfte über Glimmer und glimmerhaltige Produkte auf dem Schweizer Markt sind rar. Das hat vor allem zwei Gründe: Erstens werden viele Produkte, die Glimmer enthalten, in anderen Ländern produziert und dann in der Schweiz vermarktet. Zweitens: Selbst Glimmer, der von Schweizer Unternehmen verarbeitet wird, gelangt in der Regel nicht auf direktem Weg aus Indien in die Schweiz. Der Import erfolgt grösstenteils über Drittländer wie Deutschland. Ein Versuch, die Bedingungen im Glimmerabbau zu verbessern, ist die 2017 ins Leben gerufene «Responsible Mica Initiative». Grosse Glimmer-Verarbeiter wie Merck, H&M, L’Oréal, Chanel und der Elektronikhersteller Philips gehören dazu. Ziel der Initiative: Bis 2022 soll Schluss sein mit Kinderarbeit in den Glimmer-Minen, die Unternehmen wollen dann nur noch Glimmer aus legalen Quellen kaufen. Ein ambitioniertes Vorhaben. Doch die grossen

Stundenlang im Hocken Gestein sortieren.

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Sein Ursprung ist schwer zu verfolgen: Glimmerbrocken.

Unternehmen haben eine beachtliche Marktmacht, mit der sich tatsächlich in der Lage wären, Druck zu machen auf andere Glieder in der Lieferkette. Tatsächlich ist vor allem die fehlende Transparenz in der Lieferkette ein grosses Problem: Lassen sich die Lieferanten kontrollieren? Oder müssten die Unternehmen eigene Minen betreiben, um gute Arbeitsbedingungen gewährleisten zu können? Ein Mitglied der Initiative ist der chinesische Farbpigmenthersteller Kuncai – neben Merck der grösste Glimmer-Abnehmer in der Region. Kuncai kauft nach eigenen Angaben Glimmer aus Minen, von denen Merck wiederum behauptet, sie würden ausschliesslich Merck beliefern. Einer von vielen Widersprüchen, die sich nicht auflösen lassen. Zu unübersichtlich Surprise 451/19

und intransparent ist der Glimmer-Handel. Die Modekette H&M wiederum will «aus gesetzlichen sowie vertraglichen Gründen keine Details zu den Transportwegen bekanntgeben», wie es auf Anfrage heisst. Es sei jedoch «schwierig, den genauen Ursprung zu verfolgen». Zwar sei Kinderarbeit für H&M «völlig inakzeptabel». Dass H&M Produkte mit Glimmer aus Kinderarbeit führt, scheint das Unternehmen dennoch nicht auszuschliessen: «Da ein grosser Teil der Weltproduktion von Glimmer aus Indien stammt und in der Lieferkette gemischt wird, können wir nicht ausschliessen, dass unsere Produkte Glimmer aus Indien enthalten.» Die Schweizer Pressestelle des Kosmetikherstellers L’Oréal hingegen sagt, das Unternehmen habe beschlossen, «eine

nachhaltige Beschaffungspolitik in Indien umzusetzen» und Glimmer «nur aus legalen bewachten Minen zu beziehen, wo die Arbeitsbedingungen genau verfolgt und die Menschenrechte geachtet werden können. Dank dieser Strategie stammen heute 98 Prozent unseres Glimmers aus gesicherten Quellen.» Als Vorreiter in Hinblick auf die Beschaffung von Glimmer aus fairen Quellen sieht sich der deutsche Chemieriese Merck, der zu den grössten Bezügern von indischem Glimmer gehört. Weil auf die Behörden wenig Verlass sei, habe Merck selbst bereits vor zehn Jahren selbst die Initiative ergriffen: Man habe inzwischen verantwortungsvolle Lieferanten gefunden, die Arbeitsschutzstandards einhielten und in deren Minen keine Kinder arbeite15


ten. Zwar verarbeitet Merck laut eigenen Angaben an keinem seiner Schweizer Standorte Glimmer. Doch von Deutschland aus werden Pigmente mit Glimmer-Anteilen in der Schweiz vertrieben. «Dieses Geschäftsvolumen in der Schweiz ist bezogen auf den Gesamtumsatz jedoch nahezu vernachlässigbar», so Merck. Dass der von Merck verarbeitete Glimmer aus fairen Quellen stammt, sollen firmeninterne Dokumente beweisen, in die Merck für diese Recherche Einsicht gewährt hat. Im Widerspruch dazu steht die Einschätzung der indischen Behörden, wonach es in der Region gar keine legalen Glimmer-Minen gibt. Schweigen bei Von Roll Kein Mitglied der «Responsible Mica Initiative» ist das namhafte Schweizer Unternehmen Von Roll, auf dessen Webseite es heisst: «Von Roll steht voll und ganz hinter Glimmer.» Die Minerale sind wichtige Bestandteile in Isolationsprodukten, Verbundswerkstoffen und Elektrogeräten – jener Industriesparte also, in der Von Roll sich selbst als «Weltmarktführer» bezeichnet. Die Unternehmenssparte Von Roll Insulation verarbeitet Glimmer unter

Roll auch an seinen Firmenstandorten in der Schweiz Glimmer aus Indien verarbeitet. Doch trotz mehrmaliger Nachfrage bezog Von Roll keine Stellung dazu. Von nachhaltigem Abbau ist die indische Glimmerbranche offenbar noch weit entfernt. Das zeigen auch die Angaben des indischen Bergbauministeriums, nach denen es in Bundesstaat Jharkhand in den Jahren 2013 und 2014 keine legalen Glimmer-Minen gab. Und gleichzeitig führt dieselbe Statistik Buch über die Glimmer-Produktion in Jharkhand: 2013 waren es 782 Tonnen, 2014 sogar fast 2 000 Tonnen. Nun wollen die Behörden aufräumen. Der Plan: Das Bergbauministerium soll neue Lizenzen vergeben, ausschliesslich an Minenbetreiber, die Arbeits- und Umweltschutzstandards einhalten und Kinderarbeit

ausschliessen. Wer weiterhin illegal Glimmer abbaut, soll verfolgt und bestraft werden. Spüren die indischen Behörden den Druck der internationalen Unternehmen, die angeben, nur noch legalen Glimmer aus Indien beziehen zu wollen? Geht die Regierung gegen die illegalen Minenbetreiber vor, um durch geregelte Steuereinnahmen mehr am Ressourcenreichtum des Landes beteiligt zu werden? Unsere Fragen zu den Motiven und zur Strategie der Behörden bleiben unbeantwortet. Klar ist nur: Die Ankündigung der Behörden, mit harter Hand gegen den illegalen Glimmer-Markt vorzugehen, hat die bisherige Grauzone noch ausgeweitet. Minen, die bislang geduldet waren, nun aber unter dem Druck der Regierung schliessen mussten, werden illegal weiter betrieben.

«Die beste Qualität wird vor allem nach Deutschland und in die USA exportiert. Kleine Brocken gehen vor allem nach China.» anderem für Isolierbänder. Aus Datenbankauszügen gehen einige Glimmer-Exporte aus dem Hafen von Kalkutta an Von Rolls Tochterfirma in den USA (Von Roll Isola USA, Inc.) hervor: sieben Lieferungen im Juni 2015 und zwei weitere Lieferungen im Januar 2017. Allein die beiden Lieferungen im Januar 2017 beliefen sich auf über sechzehn Tonnen Glimmer. Lieferant war ein indisches Unternehmen mit Sitz im Bundesstaat Jharkhand. Wir hätten gerne mehr über die Glimmer-Lieferungen aus Indien erfahren. Unter anderem, ob Von 16

SANDEEP JAIN , HÄNDLER

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Ein Beispiel scheint die Sharda-Mine im Süden Bihars zu sein, eine der grössten Minen der Region. Nachdem der alte Betreiber die Mine schloss, sollen Menschen aus den umliegenden Dörfern dort weiter Glimmer abbauen, darunter Dutzende Kinder. Ein Augenschein vor Ort ist zu gefährlich, die Mine sei jetzt in den Händen Krimineller, erzählen uns Händler. Aus Angst vor der Polizei graben die Menschen ihre Löcher nun noch tiefer im Schutz der Wälder. Auf der Suche nach Glimmer-Resten klettern sie in Stollen, die vor Jahrzehnten aufgegeben wurden. Unfälle wie jener, den Badku Marandi mit Glück überlebte, werden seltener gemeldet, seit die Menschen Angst vor Strafverfolgung haben. Unterdessen läuft das Geschäft weiter – noch unübersichtlicher und noch gefährlicher.

Vom Ressourcenreichtum sieht die Bevölkerung wenig.

Ist eine Mine leergeräumt, bleibt eine Mondlandschaft zurück.

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Hat hier jemand «Alkitreff» gesagt? Zum harten Kern des Bieler Ditsch gehören auch Leute, die kaum je trinken.

Ob mit oder ohne Bier Eigeninitiative Im Ditsch-Treff in Biel haben sich Randständige selbst organisiert.

Sie wirten an sechs Tagen pro Woche, ganz ohne Lohn. Als «Alkitreff» gegründet, ist das Ditsch mittlerweile für alle da, die wenig haben. TEXT BENJAMIN VON WYL

Aus den Uralt-Boxen tönen nonstop Gitarren, es läuft Radio Rock Antenne. Hinter der Bar türmen sich CDs neben dekorativen Totenköpfen. Daneben das Hinweisschild: Alkoholausschank erst ab 18. Draussen hält ein kleines Grüppchen um eine Feuerstelle der nächtlichen Kälte stand. Der Ditsch-Treff könnte auch das Gemeinschaftslokal einer Schrebergartensiedlung sein, stattdessen trägt es den Stempel «Alkitreff». «Wenn du jeden Tag dein Bier trinkst, bist du Alkoholiker», sagt Markus, stellt die Dose melodramatisch auf den Tisch, verwirft die Hände und sucht Unterstützung in den Blicken der Umstehenden. Die bekommt er, denn das Thema beschäftigt alle im Ditsch-Treff in Biel: Die Frage nach der Sucht und vor allem die Verurteilung, die mit dem Stempel «Alkoholiker» einhergeht. Der Raum steht vor Rauch; auf der Eckbank sitzen vier Leute und würfeln; an Stehtischen drängen sich etwa zehn. Es ist eigentlich das Fumoir, aber fast alle Ditsch-Gäste drängen 18

FOTOS JONATHAN LIECHTI

sich an diesem Freitagabend im umgebauten Container – auch weil die anderen beiden Räume nicht geheizt werden können. Die Rückwand ist bloss eine unbemalte Spanplatte, es hängt kaum Deko: ein «Hopp Schwiiz»-Schal, ein Poster der Stoner-Rock-Band Groove Druids. Der Ölofen macht’s heimelig. Auf Geld und Arbeit kommt es an «Das weiss ich von Ärzten! Ich trinke viel Bier, also bin ich auch ein Alkoholiker.» Pause: Markus vergewissert sich, dass ihm alle zuhören. «Aber ich gehe meinen Verpflichtungen nach und schade keinem. Ich geh nie aus dem Haus, ohne zu duschen.» – «Wir wollen von dem Klischee wegkommen, weil früher immer vom Alkitreff gesprochen wurde», wirft Willy Tschan erklärend ein. Dann wieder Markus: «Alkitreff, das sagt man, weil wir alle kein Geld und viele keine Arbeit haben.» – «Man muss immer auch die Hintergründe der Leute kennen. Ich hab hier Leute Surprise 451/19


«Wir sind eine andere Randgruppe.» Was für eine Randgruppe seid ihr denn? «Eine, die es gerne gemütlich hat.» JIM KLOSSNER

kennengelernt, die ihr Bier trinken, aber Top-Leute sind», rundet Tschan, der Finanzchef des Ditsch, Markus’ Monolog ab. Tschan selbst ist der lebende Beweis dafür, dass zum engsten Kreis des Ditsch-Treffs auch Leute gehören, die kaum je trinken. Der Ditsch-Treff wurde vor mehr als zwei Jahren gegründet, als wahrscheinlich einziger selbstverwalteter Alkitreff der Schweiz. Dieser kostet Stadt und Kanton fast nichts. Der Umbau der ehemaligen Wäscherei der Stadtgärtnerei kostete einmalig 18 000 Franken. Zum Vergleich: Für den Alkitreff La Gare in Bern – eine Anlaufstelle für Abhängige mit Beratungsangebot – zahlt der Kanton 250 000 Franken pro Jahr. Tschan sagt, sie hätten eigenes Geld vorschiessen müssen, damit sie vor Betriebsbeginn «überhaupt die eine oder andere Dose Bier» einkaufen konnten. Den Verein gegründet hat Jim Klossner, der früher einen nicht ganz legalen Treff auf dem Robert-Walser-Platz hinter dem Bahnhof betrieb, mit Festzelten und Surprise 451/19

einem Container, den ihm die Stadt zur Verfügung stellte. Damals hätten sich auch Drogenabhängige zur Gruppe gesellt, es gab Pöbeleien. 2010 schloss die Stadt diesen Treff, worauf Klossner selbst bei der Stadt vorsprach. «Die waren eigentlich ganz freundlich mit mir. Das hat mich positiv überrascht», so der heute 54-Jährige. Anfangs habe ihn die Gassenarbeit noch vermittelnd unterstützt, aber bald ging Klossner ohne Begleitung zu den Besichtigungsterminen. Viele der besichtigten Locations seien ungeeignet gewesen. Mal waren die Räumlichkeiten nicht an die Kanalisation angeschlossen, mal sei der einzige Eingang ein breites Garagentor gewesen. Da hätte an kalten Tagen kein Ölofen vor dem Bibbern bewahrt. Nach mehrjähriger Suche fanden sich hier in der ehemaligen «Lavage» endlich Räumlichkeiten – vorläufig befristet auf fünf Jahre, denn später sollen die Baracken am Bahndamm einer geplanten Autobahn weichen. Bald ist also Halbzeit fürs Ditsch. Aber vielleicht verzögert sich der Baubeginn noch, denn über 600 Einsprachen sind gegen die Autobahn eingegangen. «Wir lassen uns überraschen», sagt Klossner. Obwohl das Ditsch an heissen Sommertagen mehr Mineralwasser verkaufe als Bier, werden Gäste und Betreiber in Zeitungsberichten bloss «Alkis», «Alkoholiker» oder «Alkoholkranke» genannt. Bei der Eröffnung lobte der Bieler Sozialvorsteher Beat Feurer (SVP) die Eigeninitiative der «Alkoholiker». Im Fumoir ist man sich aber einig: Auch in anderen Beizen hätten abends alle Gäste den «Gring voll», und die müssten sich nicht «Alkis» schimpfen lassen. Der Grund dafür liege am Geld und an der Arbeit. «Weil wir randständig sind, nennt man uns Alkis», sagt Markus. Man darf es ja auch aussprechen Im Ditsch sind Drogen und harter Alkohol verboten, und man traut es dem Gründer zu, dieses Verbot rigoros durchzusetzen. Jim Klossner, Truckerbart, schwarze Jacke, gebrochene Nase, hat die Körperhaltung eines Türstehers, egal ob er ein Bier trinkt, seine Runden dreht oder hinter der Bar steht. Mit Drogen wolle man nichts zu tun haben, sagt er: «Wir sind eine andere Randgruppe.» Was für eine Randgruppe seid ihr denn? «Eine, die es gerne gemütlich hat», sagt Klossner, seine Mundwinkel deuten dabei ein Lächeln an. Auch Ditsch-Gäste bezeichnen sich selbst als randständig. Man darf es ja auch aussprechen, wenn einen die Gesellschaft an den Rand drängt. Weil man keine Arbeit hat oder wenig Geld, weil man jeden Tag Bier trinkt oder weil all das zusammenkommt. All das schliesst aber nicht aus, dass man verantwortungsbewusst ist. Das Ditsch ist sechs Tage pro Woche offen. Auch an Weihnachten und Silvester werden vor dem Mittag das Gittertor und der Eingang des Containerbaus aufgesperrt, bis 22 Uhr bleibt der Treff geöffnet. Am siebten Tag, dem Montag, erledigen Klossner und Tschan die Getränkeeinkäufe, rechnen ab und putzen. Es ist eine unentgeltliche Vollzeitbeschäftigung, der der IV-Rentner Klossner und der pensionierte Kleinunternehmer Tschan nachgehen. Der Ditsch-Treff ist ihr Ort, in den sie ihre Energie kanalisieren. Für alle anderen Gäste ist das Ditsch der 19


Ort, wo man gesellig sein kann, ohne dass man es schmerzhaft im Portemonnaie spürt. Die teuersten Dosenbiere kosten 2 Franken 50, viele trinken Gralsburg, das billigste für 1 Franken 20. Wer ins Ditsch kommt, muss Vereinsmitglied werden. Zehn Franken verlangt der Verein pro Jahr, dafür gibt es an der Generalversammlung sogar noch eine Bratwurst. Hin und wieder veranstaltet Klossner Konzerte oder verpflichtet den AltHippie-DJ. Die Gagen und die Bewilligungen für längere Öffnungszeiten gehen ebenso ins Geld wie die dringenden Reparaturen des Containerbaus. Bald breche der Boden durch, wenn sie nichts unternähmen. «Wir sind noch lange nicht fertig», sagt Klossner. Doch er ist zufrieden: «Ich habe, was ich immer wollte.» An diesem Freitagabend hat Jim Klossner Barschicht. Wenn niemand etwas bestellt, macht er seine Runde, sammelt leere Dosen ein, sein Schlüsselbund schwingt dabei an der Kette mit. Ist alles Leergut entsorgt und keine Bestellung ausstehend, steht er aufrecht in der Ecke und beobachtet die Redenden, Rauchenden, Trinkenden. Mit zufriedenem Grinsen, immer bereit, ins Gespräch einzusteigen. Wenn es wirklich was zu sagen gibt. Klossner ist gelernter Forstwart und hat auch auf dem Bau gearbeitet. Seit sein Rücken kaputt ist, verbrachte er seine Tage auf dem Robert-Walser-Platz: Das Bier verwaltet, getrunken und versucht, bei Streit zu schlichten. Drei Mal hat er sich dabei innert eines halben Jahres ein gebrochenes Nasenbein geholt. Schon damals, hinter dem Bahnhof, ging es auch um das Hobby, das heute im Namen des Ditsch-Treffs anklingt: Pétanque. Ditsch nennt man die kleine Kugel beim Pétanque, einer Variante des Boule-Spiels. Tschan imitiert, wie frenetisch hier «Ditsch!» gerufen wird, wenn die grosse Kugel auf die kleine trifft. Vielleicht wird der Ditsch-Treff irgendwann dafür bekannt sein – und nicht nur dafür, dass viele Stammgäste gerne Bier trinken.

Traumjob als Bäcker-Konditor, dem er nach der Lehre wegen seiner Mehlallergie nicht mehr nachgehen konnte. Davon, wie er vom Rheinknie nach Olten und schliesslich nach Biel gezogen ist. Hier machte er sich als Vermieter von Festzelten selbständig. Vom geerdeten Berndeutsch wechselt der 68-Jährige während der Erzählung in einen Basler Zungenschlag, den er den ganzen Abend nicht mehr loswird. Leute stellen sich dazu oder gehen weg, machen wertvolle und weniger wertvolle Zwischenkommentare: «Das Beste an Basel? Der Wegweiser nach Biel!» – «Gibt es den überhaupt?» Wenn die Sprüche besonders doof sind, reagiert der 68-jährige Tschan mit einem liebevollen «Stürmicheib». Wie in einer Beiz. Ob sie hinter der Bar stehen oder nicht, Tschan und Klossner sind fast immer hier. Nur zwei weitere Leute übernehmen Schichten. Tschan und Klossner ziehen das schon über zwei Jahre durch, für nichts als ein einziges Gratis-Getränk pro Einsatz. Probleme gebe es kaum je,

«Wir wollen von dem Klischee wegkommen, weil früher immer vom Alkitreff gesprochen wurde.» WILLY TSCHAN

Traumteam vor und hinter dem Tresen Tschan, der Nicht-Trinker, sass früher häufig etwas abseits der Gruppe, auf einem langen Bänkli. Über einen gemeinsamen Freund war er bereits mit Klossner bekannt, aber wirklich kennengelernt haben sie sich erst, als es um die Organisation des heutigen Ditsch ging. «Den Willy wollte ich von Anfang an dabeihaben, weil ich wusste, dass er früher selber gschäftet hat.» So wurde Tschan zu Klossners rechter Hand. Die beiden wirken wie ein Traumteam: Tschan wacht über die Finanzen, Klossner setzt die Hausregeln durch. «Er weiss, was ich mache, und ich weiss, was er macht», beschreibt Tschan die Zusammenarbeit, die sich längst zur Freundschaft entwickelt hat. Beiden liegt viel am Ditsch. Man merkt aber auch, dass der Treff mit ihnen steht und fällt. «Wir vertrauen einander. Wir sind beide Zugrössli, er zieht mich und ich ihn», sagt Tschan. Einen Ditsch-Treff kann es nicht überall geben. Willy Tschan, der Finanzchef, trinkt Cola um Cola und erzählt seine Lebensgeschichte: «Ich hatte eine sehr schlimme Jugend und weiss, wie es ist, ganz unten zu sein.» Tschan erzählt von Pflegefamilien in Basel, vom 20

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Hausverbote habe man bisher bloss zwei erteilen müssen. Die Polizei komme nur noch vorbei, wenn sie einen neuen Kollegen einarbeiten und in der Stadt rumführen. «Um die Notausgänge zu zeigen und so weiter», so Tschan. Am Nachmittag ist der Vorplatz des Ditsch jeweils ein Treffpunkt wie jeder andere auch. Die Gäste sitzen an der Sonne, es wird gewürfelt, Honigwaffeln und Chips werden geteilt. Grosse Hunde fläzen sich auf dem Asphalt, kleinere sitzen brav auf Plastikstühlen, teils in Decken gehüllt. Auch Mütter verkehren hier, deren Kleinkinder zwischen den Beinen der Gäste umherspringen. Es seien die Eltern dieser Kinder und die Berufstätigen, die ab 17 Uhr eintrudeln, die am meisten unter den Vorurteilen gegen den Ditsch-Treff leiden, sagt Tschan. «Was willst du denn jetzt mit den Alkis?», sei auch er anfangs von Bekannten gefragt worden. Die Vorurteile habe er zumindest bei denen abbauen können, die sich das Ditsch selbst angeschaut haben.

«Das Beste an Basel? Der Wegweiser nach Biel!» Auch im Ditsch klopft man Sprüche und einen Jass.

Im Sommer wird hier frenetisch «Ditsch!» gerufen, wenn beim Pétanque die grosse Kugel auf die kleine trifft.

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Wo wir uns alle treffen Theater Der äthiopische Regisseur Aron Yeshitila ist in Afrika eine wichtige Stimme.

Er hat aber auch in der Schweizer Lokalkultur Fuss gefasst. TEXT DAVID HUNZIKER

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FOTOS MARKUS FORTE

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Die Revolte wird nur angedeutet, aber der Funke ist gezündet. Wir schreiben das Jahr 2032, der afrikanische Kontinent wird von einem totalitären Regime regiert, dem African State of Emergency. Als die Anti-Terror-Einheiten des Regimes sich daranmachen, die letzte widerständige Radiostation zu schliessen, beginnen überall kleine Handgemenge mit den Sicherheitskräften. Jeden Tag hat die Stimme des aufmüpfigen Radiomoderators Hoffnung gegeben; erst als sie verstummt, scheint den Menschen ihre politische Verantwortung vollends bewusst zu werden. Die Szenen stammen aus «Dagu», einem Kurzfilm des im aargauischen Windisch lebenden Regisseurs Aron Yeshitila. Dagu ist ein von den in Nordostafrika lebenden Afar praktiziertes Ritual: Wenn sich zwei treffen, erzählen sie einander alles, was sie an diesem Tag bisher erlebt haben. Die Premiere im Zürcher Kino Xenix war eigentlich schon organisiert, doch der Regisseur hat gerade andere Sorgen. Wegen eines persönlichen Notfalls muss er kurzfristig in sein Geburtsland Äthiopien reisen. Ein paar Tage vor Abreise sitzen wir im Restaurant eines Kulturzentrums in Zürich Wiedikon, Yeshitila wirkt etwas gestresst. Die letzte Woche war er auch noch mit der Bewerbung für den Master Film Editing an der Zürcher Hochschule der Künste beschäftigt. Neben seinen eigenen Projekten will er in Zukunft auch von Aufträgen für grössere Produktionen leben. Die Fragen, die «Dagu» aufwirft, beschäftigen Yeshitila in seinen Werken immer wieder: Was hält autoritäre Regierungen am Leben? Wieso werden sie von der Bevölkerung geduldet? Und was braucht es, um sie zu beseitigen? Für ihn sind diese Fragen keine theoretische Spielerei, sein Leben wurde entscheidend geprägt von erfahrener Unterdrückung. ARON YESHITIL A 2010 flüchtete er aus der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba, wo er aufgewachsen war, als Journalist gearbeitet und Theater studiert hatte. Äthiopien, seit Mitte der Neunzigerjahre auf dem Papier eine parlamentarische Demokratie, wurde faktisch autoritär regiert von einer Koalition aus Parteien, die 1991 die realsozialistische Diktatur von Mengistu Haile Mariam gestürzt hatten. An freie Kunst war nicht zu denken. Offene Kritik an der Regierung oder der äthiopischen Kultur sei vor 2018 nicht geduldet worden, erzählt Yeshitila. «Die Situation war erstickend, mit meiner politischen und künstlerischen Haltung hätte ich unter diesen Bedingungen nicht arbeiten können», sagt Yeshitila. In seiner Wut beginnt er im Jahr seiner Flucht ein Theaterstück zu schreiben: «Kings of Interest». Acht Jahre später wurde es im Theater Tuchlaube in Aarau uraufgeführt. Das Stück rollt, ausgehend von einer Diskussionsrunde am Küchentisch, die moderne Geschichte des Landes auf. Im Zentrum steht die Frage, warum Äthiopien, das als einziges afrikanisches Land nie vollständig kolonisiert wurde, dennoch stets Monarchen und Diktatoren unter-

worfen war. Darauf hat Yeshitila eine klare Antwort: «Das hat nicht nur mit den Interessen der Herrschenden in Äthiopien zu tun, sondern auch mit denen der westlichen Mächte.» Ein gutes Beispiel dafür ist die Schweiz, wo der äthiopische Kaiser Haile Selassie 1954 pompös empfangen wurde – auch weil sich die Waffenfirma Bührle gute Geschäfte mit seinem Regime versprach. Yeshitila führt auf der Bühne auch als Erzähler durch die Geschichte und ordnet die Ereignisse ein. Dennoch ist «Kings of Interest» keine politische Belehrung, eher demaskiert es beschönigende Fortschrittserzählungen oder schädliche Einflussnahmen westlicher Staaten. Ein Frauenfelder und die Schlacht von Adua Als Yeshitila in die Schweiz kam, musste er bei null anfangen. «Doch ich wusste immer, dass ich Filme und Theater machen wollte», erzählt er. Mittlerweile ist sein Werk um einige Stücke und Filme angewachsen, «Dagu» wird demnächst am African Film Festival in Luxor gezeigt. Dass er es geschafft habe, an die hiesige Theater- und Filmszene anzuknüpfen, habe auch mit Zufällen zu tun. Zum Beispiel die Bekanntschaft mit dem Theaterpädagogen und Regisseur Jonas Egloff. Mit ihm arbeitet Yeshitila bis heute zusammen, auch bei «Kings of Interest». Das Stück setzt am Ende des 19. Jahrhunderts ein, bei einem der wichtigsten Ereignisse der äthiopischen Geschichte. Die europäischen Kolonialmächte hatten zu diesem Zeitpunkt fast ganz Afrika unter sich aufgeteilt, nicht aber Äthiopien. Italien verfolgte den Plan, dort ein Protektorat einzurichten, was König Menelik II nicht hinnehmen wollte. So kam es bei Adua zur entscheidenden Schlacht, aus der Äthiopien als Sieger hervorging. Als erfolgreicher Widerstand gegen eine versuchte Kolonisierung ist dieser Sieg bis heute ein Grundpfeiler des nationalen Selbstverständnisses. Es ist bemerkenswert, dass Aron Yeshitila diese Geschichte von der Schweiz aus erzählt und hier aufführt. Er hängt sie im Stück nämlich an einem Schweizer Protagonisten auf, dem in Frauenfeld geborenen Ingenieur Alfred Ilg. Dieser reiste 1879 nach Äthiopien, wurde ein Vertrauter des Königs und war unter anderem am Aufbau der neuen Hauptstadt Addis Abeba beteiligt. Und er hatte nicht unwesentlichen Anteil am Sieg in der Schlacht von Adua, indem er Maschinen zur Herstellung von Waffen und Munition entwickelte. Nun ist Yeshitila gespannt, wie das Stück in Addis Abeba ankommt. Das dortige Nationaltheater hat nämlich Interesse gezeigt, «Kings of Interest» im nächsten September zu zeigen. «Ich erwarte zwar keine starken Reaktionen, aber warten wir es ab.» Bewusst habe er ethnische Konflikte im Stück umgehen wollen, das Thema sei einfach zu gross und kontrovers. Doch so einfach sei es nicht: «Unter Menelik II entstand das moderne, vereinte

«Ich will mir nicht anmassen, die gesellschaftliche Realität hier in der Schweiz zu kennen.»

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Was hält autoritäre Regierungen am Leben? Wieso werden sie von der Bevölkerung geduldet? Das sind die Fragen, die Yeshitila beschäftigen.

Äthiopien. Die Kehrseite davon sind die Opfer seiner Eroberungen, etwa die Oromo, die im Süden leben und einen Drittel der äthiopischen Bevölkerung ausmachen. Es ist nicht möglich, über diese Dinge eine neutrale Geschichte zu erzählen, die alle Äthiopierinnen und Äthiopier teilen.» Spuren der Herrschaft Doch erlaubt es die politische Situation in Äthiopien, aber auch in Ägypten, wo «Dagu» aufgeführt wird, machtkritische Werke zu zeigen? Seit dem Regierungswechsel im März 2018 sei die Stimmung in Äthiopien viel liberaler, sagt Yeshitila, das sei also kein Problem. Und in Luxor trage das Festival die Verantwortung. «Aber es ist schon merkwürdig, dass der Arabische Frühling damals mit so viel Optimismus gestartet war, und Sie mich jetzt zu Recht wieder fragen, ob man noch solche Werke zeigen könne.» Auch wenn in Äthiopien keine Zensur mehr zu befürchten ist, haben die Jahre autoritärer Herrschaft doch ihre Spuren hinterlassen. Es wäre dringend nötig, dass es mehr alternative Kultur gibt, findet Yeshitila, aber die müsse erst entstehen. Bis vor einem Jahr habe das Kulturschaffen vor allem auf den grossen Bühnen und in den grossen Kinosälen stattgefunden, die Werke hätten sich an melodramatischen Stoffen aus Hollywood orientiert. In alternative Kultur hingegen wolle niemand investieren. «Ein Grossteil der äthiopischen Bevölkerung lebt auf dem Land und hat gar keinen Zugang zu institutionalisierter Kultur. Und von denen, die in der Stadt leben, interessiert sich nur ein Bruchteil für Kultur abseits des Mainstreams.» 24

Doch es gibt eine populäre Kunstform, die Yeshitila in diesem Gespräch immer wieder erwähnt: Poetic Jazz. Die in den letzten fünf bis sechs Jahren entstandene Szene organisiert Abende in Hotellobbys oder Kinos, an denen Gedichte gelesen werden, begleitet von einer Jazzband. «Die Leute in Äthiopien sind verrückt nach Gedichten – Facebook ist voll davon.» Obwohl die Gedichte meist das vereinigte Äthiopien zum Thema hätten und nicht direkt Kritik üben würden, stimme ihn das optimistisch, weil da zumindest eine alternative Kultur entstehe. Und in der Zeit der riesigen Proteste gegen die Regierung in den Jahren 2016 und 2017 sei in den Gedichten sogar hier und dort etwas Kritik aufgetaucht. In seinen Werken zielt Aron Yeshitila stets auf die grossen politischen Fragen. «Ich will mir nicht anmassen, die gesellschaftliche Realität hier in der Schweiz zu kennen», erklärt er. «Daher suche ich nach dem kleinen gemeinsamen Boden, auf dem wir uns alle treffen.» Sein nächstes Theaterstück, das 2020 aufgeführt werden soll, besteht erst in Grundzügen. Doch wird es gleich um die ganze Menschheit gehen. «Es ist die Geschichte von drei Eiern im Bauch einer Mutter, die darüber diskutieren, wer oder was sie sein wollen und wie eine gerechte Welt aussehen soll.» Yeshitila konfrontiert uns so mit einem Gedankenexperiment: Was für eine Welt würden wir uns wünschen, wenn wir von unserer Identität und von unserem Interesse absehen? «Kings of Interest», 31. Oktober, 20.15 Uhr, Phönix Theater, Im Feldbach 8, Steckborn. Aron Yeshitilas Dokumentarfilm «In the Face of God» (2013) gibt es auf Youtube: https://bit.ly/2YG8JtN

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Mit fliegenden Blumenröcken Buch In «Margarethe geht» schickt Autor Ralf Schlatter eine neugierige Wiese auf eine Reise mit wunderbar poetischem Ende.

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Ein Wesen – ganz gleich, ob Pflanze, Mensch oder Tier – ist nicht zufrieden mit dem, was es hat, mit dem Ort, an dem es lebt, oder mit dem, was es ist. Gründe für Unzufriedenheit und Sehnsüchte, heimliche oder ausgesprochene, finden sich immer. Wird daraus eine Geschichte, folgt sie meist einem gängigen Muster: Nach Auf- und Ausbruch und allerlei Abenteuern auf der Reise an den Ort, an dem alles anders und besser sein soll, wird der Protagonist von der Realität eingeholt. Das Ferne erfüllt nicht die Erwartungen, Wünsche und Hoffnungen. Am Ende steht die Rückkehr in das zurückgelassene Vertraute, und der Held übt sich in Einsicht und Selbstbescheidung. «Margarethe geht» von Ralf Schlatter hält sich nicht an gängige Muster. Das beginnt schon mit der Protagonistin seiner Geschichte: einer Wiese! Und auch noch einer, die Margarethe heisst. Nun, auch diese Wiese ist unzufrieden und entwickelt Neugier und Sehnsüchte: nach dem, was hinter dem Hügel liegt, nach dem Fluss, den sie rauschen hört, und danach, wie die Welt wohl von oben aussieht. Also beschliesst Margarethe, auszuwandern. Sie fasst ihre vier Ecken, rafft ihre bunten Blumenröcke zusammen und … geht auf und davon. Viel mehr soll hier nicht verraten werden. Nur, wie eingangs schon angedeutet: Es geht ganz anders aus als erwartet, und das Ende ist so poetisch wie der Beginn. Und was gäbe es schon Poetischeres als eine Wiese auf Reisen. Eine Wiese mit fliegenden Blumenröcken, die jeden Frühling gleich jung ist und jeden Herbst gleich alt. Ralf Schlatter, bekannt als Autor, zuletzt 2017 mit «Steingrubers Jahr», und als Kabarettist mit dem Duo «schön&gut», hat mit seinem ersten Kinderbuch «Margarethe geht» eine fantasievolle Geschichte für Gross und Klein geschrieben, für das stille Schmökern, das gemeinsame Blättern oder zum Vorlesen. Eine Geschichte, die nicht zuletzt wegen ihrer wunderbaren Pointe eigentlich auch den Stoff zu einem Chanson liefern könnte. Einem Chanson, wie es etwa ein Berner Troubadour hätte ersinnen und singen können. Und dann ist diese Geschichte auch noch von Ralf Schlatter eigenhändig illustriert worden. Mit einer gelungenen Mischung aus schlichter Skizze, detailfreudiger Naturtreue und eindrücklichen Gestaltungsideen. Und so farbenfroh, dass man sich allzu gerne Margarethe anschliessen möchte, um mit ihr gemeinsam, mit fliegenden Blumenröcken, gängigen Mustern zu entgehen. CHRISTOPHER ZIMMER

Die Schweiz schreibt Das Kunstprojekt «Literatur

für das, was passiert» erfüllt an Festivals und im öffentlichen Raum Textwünsche.

«Literatur für das, was passiert» erfüllt Textwünsche, Sa, 15. Juni, am Literaturfestival Lauschig in Winterthur. Infos auf Facebook unter: facebook.com/Literatur-für-das-was-passiert

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FOTO: ZVG

«Eine Schreibmaschine im öffentlichen Raum sorgt schon für Aufsehen», sagt Autorin Ulrike Ulrich, die regelmässig für das gemeinnützige Kunstprojekt «Literatur für das, was passiert» Textwünsche erfüllt. «Diese reichen von Liebesbriefen über Gedichte bis hin zu Kündigungsschreiben, und wir bekommen oft gleich ein Feedback», sagt Ulrich. «Mit unmittelbaren Reaktionen ist man in meinem Beruf sonst selten konfrontiert. Indem wir in der Öffentlichkeit schreiben, verlassen wir die Einsamkeit des Schreibtisches, unsere Komfortzone, und lassen uns auf Wünsche, Themen und andere Leben ein, was auch inspirierend ist.» Wenn sie zum Beispiel im Tram oder am Zürcher Bellevue in die Tasten griffen, komme es zu interessanten Begegnungen und spannenden Gesprächen: «Durch die Schreibmaschinen bekommen wir viel Aufmerksamkeit, und mit uns das Thema ‹Menschen auf der Flucht›.» Die Wirkung der mechanischen Maschinen wird noch gesteigert durch die Tatsache, dass die Autorinnen und Autoren ihre Texte – nicht wie sonst üblich – redigieren können. Die Auftragsarbeiten entstehen direkt vor Ort und spontan. So wird jener kostbare Moment beim Schreiben festgehalten, indem eine Idee zum allerersten Mal auf dem Blatt Gestalt annimmt. Initiiert haben «Literatur für das, was passiert» die beiden Autorinnen Julia Weber und Gianna Molinari im Jahr 2015, als sich die Flüchtlingskrise wegen dem Syrienkrieg zuspitzte. Sie beschlossen, mit ihrem Schreiben Geld für Organisationen zu sammeln, die vor Ort Hilfe leisten. Mit befreundeten Autorinnen und Autoren begannen sie, an Festivals und im öffentlichen Raum auf Wunsch Texte zu schreiben, und sind seitdem mit ihren emsig klappernden Schreibmaschinen in der ganzen Deutschschweiz präsent. Im Vorfeld von brisanten Abstimmungen beziehen sie gerne auch politisch Stellung und leisten schreibend Kampagnenarbeit, wie zum Beispiel letztes Jahr gegen die «No Billag»-Initiative. MONIK A BET TSCHEN

Ralf Schlatter: Margarethe geht Limbus 2019, CHF 25.90.

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BILD(1): FRANZISKA STIER, BILD(2): CENTRE D’ART LA PANERA, JORDI V. POU, BILD(3): ALEKSANDRA SIGNER, BILD(4): ZVG, BILD(5): PASCAL TRIPONEZ

Veranstaltungen

Basel «Performances zum Manifest des Frauen*Streiks am 14. Juni», Di, 4. Juni, 19 Uhr, Rossstall II, Kaserne Basel, Klybeckstr. 1b, Eintritt frei. kaserne-basel.ch

«We are the granddaughters of the witches you were never able to burn» – «Wir sind die Enkelinnen der Hexen, die ihr nie verbrennen konntet». Das ist mal eine Ansage der Frauenstreiktag-Performerinnen, und sie macht ein ganzes Fass an Assoziationen auf: Dass das Bild der Frau – speziell derjenigen, die nicht den gesellschaftlichen Erwartungen entspricht (früher bekannt als: Hexe) – sich immerhin grundsätzlich stark gewandelt hat. Oder dass da Frauen sind, die Selbstbewusstsein haben. Und dass sie eine Energie besitzen, die sich manch einer vielleicht ausgerottet wünschte. In der Kaserne Basel machen Performances, Musik und Theater nun weitere Fässer auf: Zehn Tage vor dem Frauen*Streik am 14. Juni nehmen sich Künstler*innen der Forderungen der feministischen Bewegung an und das Frauen*Streik Komitee Basel lädt dazu ein, ganz im Sinne von Rosa Luxemburg: «Zu sagen was ist, DIF bleibt die revolutionärste Tat.»

St. Gallen Ella Littwitz: «The Promise», Ausstellung, Di bis Fr, 12 bis 18 Uhr, Sa/So 11 bis 17 Uhr, bis So, 4. August, Kunst Halle Sankt Gallen, Davidstrasse 40 kunsthallesanktgallen.ch

Ella Littwitz, geboren 1982 in Haifa, Israel, macht politische Kunst und interessiert sich dabei unter anderem für Pflanzen. In der Terminologie der Botanik entdeckt sie gesellschaftspolitische Parallelen, was im filigranen Bronzeguss einer sogenannten Pionier-Pflanze, die keine anderen Gewächse neben sich

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duldet («Muşah», 2019), deutlich wird. Oder in der Arbeit «Uproot» (2014), einer Installation botanischer Zeichnungen, die der Liste von 143 Pflanzenarten aus Dr. Michael Zoharys Buch «The Weeds of Palestine and Their Control» (Die Unkräuter von Palästina und ihre Bekämpfung) von 1941 folgen. Littwitz richtet ihren Fokus auf die Territorialisierung: Ihre Installationen, Skulpturen, Zeichnungen und Stickereien erzählen von beanspruchtem und erobertem Gebiet, vom Niemandsland, gemischten Territorien und nicht zuletzt von Grenzüberschreitung und Migration. So ist «The Promise» ein Bronzeguss eines Baumes, den Theodor Herzl, der Hauptbegründer des politischen Zionismus, einst im palästinensischen Arza als Zeichen der jüdischen Siedler gepflanzt hat. Oder Littwitz stickt die Grundrisse von Getreidemühlen in Tuch, die sich im Laufe der Jahre von palästinensischen Mühlen zu jüdischen Walkmühlen und wieder zurück zu palästinensischen Getreidemühlen gewandelt haben. DIF

Zug «Roman Signer – Neue Skulpturen, Videos und Installationen», Ausstellung, Di bis Fr, 12 bis 18 Uhr, Sa/So 10 bis 17 Uhr, bis So, 15. September, Kunsthaus Zug, Dorfstrasse 27. kunsthauszug.ch

Wir kennen ja alle den Sprengstoff-Signer, der gerne allerlei Alltagsgegenstände zum Explodieren oder anderweitig Durch-die-LuftFliegen bringt. Roman Signer, der Bastler, den ehrlich interessiert, was die Welt im Innersten zusammenhält (und eben auch: was sie am schönsten zum Bersten bringt). Im Kunsthaus Zug ist er nun leiser unterwegs und schickt einen Rasenmäher, zwei Stiefel, ein Fass, sechs Kajaks und eine Feuerwehrhose ins Rennen. Seine Skulpturen seien Worte, sagt er, und aus Worten entstehen Sätze, immer in neuen Kombinationen, wie Bausätze, die sich verschiedentlich zu einem Sinn zusammensetzen lassen. Und hier fängt die Arbeit der Zuschauer dann an – wenn sie denn bereit sind, der Umlaufbahn des Rasenmähers zu folgen. DIF

Zürich «Value the Process», Ausstellung, Do/Fr 12 bis 19 Uhr, Sa 12 bis 17 Uhr, Finissage Sa, 15. Juni, 12 bis 17 Uhr, Gotthardstrasse 54. tartart.ch «Value the Process»: Der Ausstellungstitel ist ein Zitat von Robert Rauschenberg, dem Wegbereiter der Pop-Art: Es geht um die Idee, den Prozess der Herstellung sichtbar zu machen. Zentral ist dabei, dass speziell die Collage kein abgeschlossenes Kunstwerk eines Einzelnen ist. Die Collagen und Assemblagen sind kollektive Prozesse der Aneignung und damit ein permanenter Prozess kultureller Erneuerung, die etablierten Machtstrukturen entgegensteuert. So weit, so grundsätzlich. Die Künstlerin Olga Titus verknüpft verschiedene Bildquellen zu farbpral-

len Bildteppichen, Matthias Gubler und Eirini Sourgiadaki/Anna Rubi beschäftigen sich mit digitalem Storytelling, Huber.Huber collagieren das ambivalente Verhältnis zwischen Natur und Kultur, und Enrico Nagel mischt den digitalen Einheitsbrei von Hochglanzmagazinen mit eigenständigen Collagen auf. DIF

Bern «electroboy», Album, Party und Ausstellung, «Born this Way – electroboy Special», Sa, 8. Juni, Türöffnung 23 Uhr, Gaskessel, Sandrainstrasse 25; electroboy Ausstellung (Freier Eintritt), So, 16. Juni, 12 bis 17 Uhr, Sattelkammer, Zähringerstrasse 42. electroboy.ch Florian Burkhardt wuchs in der Innerschweiz in beengenden Familienverhältnissen auf, wurde erfolgreicher Snowboarder, ging mit 21 nach Hollywood und wurde als internationales Topmodel bekannt. Danach ging es für ihn weiter als Internetpionier und Partyveranstalter in der Zürcher Clubszene. Sein Leben auf der Überholspur fand ein abruptes Ende in der psychiatrischen Klinik, als Burkhardt an einer schweren Angststörung erkrankte. Das Leben in der Öffentlichkeit war damit nicht zu Ende, es folgte ein Dokumentarfilm über ihn, er selbst schrieb zwei Bücher und während zwei Jahren die Kolumne «Randnotiz» für das Surprise Strassenmagazin. Nun gibt’s noch ein Abschlussfeuerwerk mit einem Mini-Musikalbum («Das fliegende Spaghettimonster»), einer allerletzten Queer-Party und einer kleinen Ausstellung. Danach zieht sich Florian Burkhardt aus dem öffentlichen Leben zurück. DIF

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ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT

Agglo-Blues

Folge 34

Die Liste Was bisher geschah: Bei den Ermittlungen im Mordfall Schwander tritt Vera Brandstetter einem hohen Tier auf die Füsse und der Chef droht, ihr den Fall wegzunehmen. Wegen Personalmangels kommt es jedoch nicht so weit. «Ich habe Ihren Chef kennengelernt», sagte Brandstetter zu Erika Hofmann, als sie ihr einmal mehr im vierten Stock des Comartec-Firmensitzes gegenübersass. Hofmann lächelte. «Ich habe es vernommen. Ehrlich gesagt, hätte ich sehr gerne sein Gesicht gesehen, als er auf den Posten gebracht wurde.» «Sagen wir mal, er war nicht begeistert.» Brandstetter winkte ab. «Das ist aber nicht der Grund, warum ich hier bin. Ich muss mit Ihrer Rechtsabteilung sprechen. Sie weigern sich, die Zugangsdaten von Schwanders Computer herauszurücken.» «Wozu brauchen Sie die Daten?» «Ich muss endlich herausfinden, was es mit diesem Bewertungssystem auf sich hat.» «Glauben Sie wirklich, das Schwanders Tod damit in Verbindung steht?» «Wie soll ich das beurteilen, wenn ich nicht weiss, wie es funktioniert hat?» Erika Hofmann sah sie zögernd an, ehe sie sich ihrem Bildschirm zuwandte. Der Drucker begann zu summen, sie stand auf und entnahm ihm ein paar Blätter, die sie vor Brandstetter auf den Tisch legte. «Was ist das?» Hofmann antwortete nicht, Brandstetter sah sich die erste Seite an, eine Tabelle. Die Spalten waren mit ‹Name›, ‹Geburtsdatum›, ‹Funktion› und ‹Score› überschrieben. Sie enthielt etwa vierzig Einträge, in der Mitte verlief ein dicker roter Querstrich. Schwanders Name stand an dritter Stelle. Auf der nächsten Seite waren Projekte beschrieben, neben dem Titel jeweils eine Punktzahl. «Können Sie mir das erklären?» Erika Hofmann schaute sich um, als fürchte sie, beobachtet oder gehört zu werden, obwohl sie alleine im Büro waren. «Das sind die Namen der Mitarbeitenden, die teilnehmen, die meisten sind 45 oder älter. Das Programm läuft seit fünf MonaSurprise 451/19

ten. Die Leute wissen nur, dass sie während eines halben Jahres bewertet werden. Wie die Punkte genau verteilt werden oder wie viele sie auf dem Konto haben, wissen sie nicht. Damit sollen Schummeleien verhindert werden. Den Betroffenen werden Projekte vorgelegt, sie müssen entscheiden, ob sie die übernehmen wollen oder nicht. Für pünktliche und erfolgreiche Durchführung gibt es Punkte. Das Perfide daran ist, dass die Mitarbeitenden nicht wissen, wie viele. Wenn sie zu spät fertig werden oder Probleme bekommen, gibt es weniger oder gar keine Punkte. Es kann sich lohnen, ein wichtiges Projekt zu zweit durchzuführen und die Punkte zu teilen, anstatt alleine daran zu scheitern. Damit sollen Selbsteinschätzung und Kooperationsfähigkeit geprüft werden. In zwei Wochen ist Stichtag. Wer dann über dem Strich ist, kann bleiben, wer darunter ist, erhält die Kündigung.» «Das ist doch nicht Ihr Ernst?» «Doch, leider. Ich habe mir das auch nicht vorstellen können.» «Wer ausser Ihnen kennt diese Liste?» «Nur Bloom und ein paar Kadermitglieder. Ich dürfte Ihnen die gar nicht zeigen. Ich riskiere meinen Job.» «Warum tun Sie es trotzdem?» «Wenn Schwanders Tod etwas mit diesem System zu tun hat, ist es möglich, dass ich mitschuldig bin.» Hofmann stand auf und sah aus dem Fenster. «Ich habe die Liste einem unserer Mitarbeiter gezeigt.» Sie trat neben Brandstetter und deutete auf den Namen, der unmittelbar unter dem roten Strich stand. «Warum ausgerechnet ihm?» «Er ist schon fast so lange in der Firma wie ich. Ich musste ihn einfach warnen, er bedeutet mir etwas. Ich weiss noch, wie er frisch vom Tech zu uns gekommen ist. Ein Feiner, das habe ich gleich gemerkt. Ich verrate Ihnen jetzt etwas, Frau Brandstetter, aber das bleibt unter uns, das müssen Sie mir schwören! Wir haben einmal, an der ersten Betriebsfeier, etwas gehabt miteinander. Wir waren jung und betrunken. Wir waren beide in festen Händen. Morgens um drei haben wir uns in einem der Lagerräume gefunden. Am Montag war es uns beiden peinlich, und so haben wir, ohne uns abzusprechen, die Sache nie wieder erwähnt. Wir taten einfach so, als sei gar nie etwas passiert. Nur das Duzis haben wir nicht mehr zurückgenommen.» «Kommen Sie mit?» fragte Brandstetter. «Es ist vielleicht besser», antwortete Hofmann. STEPHAN PÖRTNER schreibt und lebt in Zürich. Alle bisher

erschienenen Folgen des Fortsetzungskrimis gibt es zum Nachlesen und -hören unter www.surprise.ngo/krimi

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten 01

Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti

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RLC Architekten AG, Winterthur

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Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

04

LIVEG Immobilien GmbH, Adliswil

05

VXL, gestaltung und werbung, Binningen

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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

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Brother (Schweiz) AG, Dättwil

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

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Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

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Physiopraxis M. Spring/S. Zeugin, Basel

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Maya-Recordings, Oberstammheim

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Cantienica AG, Zürich

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Madlen Blösch, Geld & so, Basel

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Schluep & Degen, Rechtsanwälte, Bern

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Ozean Brokerage & Shipping AG, Muttenz

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Beat Vogel, Fundraising-Datenbanken, Zürich

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InhouseControl AG, Ettingen

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Infopower GmbH, Zürich

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Büro Dudler, Raum- und Verkehrsplanung, Biel

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Hedi Hauswirth Psychiatrie-Spitex, Oetwil a. S.

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SISA Studio Informatica SA, Aesch

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Stellenwerk AG, Zürich

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grafikZUMGLUECK.CH, Steinmaur

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Waldburger Bauführungen, Brugg

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

Ricardo Da Costa verliess 2003 GuineaBissau, wo seine Familie immer noch lebt. Der Mechaniker arbeitete zuerst als Bauarbeiter in Portugal und Italien. 2013 kam er in die Schweiz. Wenige Tage nach seiner Ankunft wurden ihm alle Wertsachen gestohlen und er stand ohne Papiere da. Auf der Gasse lernte er einen Strassenmagazin-Verkäufer kennen und verkauft seither auch. «Ich bin froh, bei Surprise zu sein», erzählt Ricardo. «Manchmal komme ich traurig ins Büro und gehe mit einem Lächeln auf dem Gesicht wieder raus.» SurPlus ist für ihn eine grosse Unterstützung: Das ÖV-Abo ermöglicht Mobilität beim Heftverkauf und bei Schwierigkeiten stehen ihm die Mitarbeitenden mit Rat und Tat bei.

Weitere SurPlus-Geschichten lesen sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 15 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise Stadtrundgang Basel

Stadtrundgang Bern

«Hut ab!»

«Hohe Professionalität»

Danke für die Offenheit und für den Einblick in die Leben der beiden Stadtführerinnen Lilian Senn und Danica Graf. Ich empfand es als sehr kurzweilig, authentisch, sympathisch und offen. Ich hätte noch länger zuhören können. Die Geschichten hinterlassen einen bleibenden Eindruck und lassen nachdenken. Hut ab vor so viel Stärke und Mut! Bewundernswert und eindrucksvoll, wie die beiden Frauen ihr Leben meistern.

S. HASLER, Basel

Ich habe die offene Art der Diskussionen mit den Stadtführern André Hebeisen und Hanspeter Deflorin sehr geschätzt. Es kam dabei eine selbstverantwortliche, selektive Transparenz zu tragen, die von einer hohen Professionalität und einem enormen Engagement gezeugt hat. A . PFAMMAT TER, Berner Bildungszentrum Pflege

Stadtrundgang Zürich

Stadtrundgang Zürich

«Geschichtlicher Zusammenhang»

«Aus dem Leben»

Es war eine spannende Tour mit Stadtführer Hans Peter Maier. Ich habe einige neue Aspekte im Zusammenhang mit Obdachlosigkeit, Armut, Drogen und der Stadt Zürich kennengelernt. Gefallen hat mir, dass die Aussagen immer in den geschichtlichen Zusammenhang eingeordnet wurden. Gut war auch, dass zweimal andere Fachleute vor Ort gesprochen haben.

A . KOHLER, Volksschulamt Zürich

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Diana Frei (dif) Amir Ali (ami), Sara Winter Sayilir (win) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Georg Gindely, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Semhar Negash, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Daniel Föllmi, Markus Forte, David Hunziker, Jonathan Liechti, Marius Münstermann, Christian Werner, Benjamin von Wyl

25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name

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Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik

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Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage 28 500 Abonnemente CHF 189, 25 Ex./Jahr

S. GERBER, Pestalozzihaus Räterschen

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Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

Druck AVD Goldach

Stadtführer Peter Conrath hat sehr anschaulich und offen von seiner persönlichen Situation berichtet. Die verschiedenen Unterstützungsangebote und Schlafplätze zu sehen, war sehr interessant, und sie wurden von Peter Conrath differenziert erläutert. Seine witzige Art hat mir gefallen, und auch die Anekdoten, die er erzählt hat, waren direkt aus dem Leben gegriffen.

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FOTO: LUNGISA MNQWAZI

Internationales Verkäuferinnen-Porträt

«Ich erfüllte mir einen Herzenswunsch» «Ich stamme aus der Ostkap-Provinz. Nach Kapstadt zog ich der Liebe wegen, mein Mann arbeitete hier. Bald gründeten wir eine Familie und bekamen zwei Söhne. Wir wohnten in Khayelitsha, einem der grössten Townships des Landes, und das Leben war schön und angenehm. Mein Mann war ein liebenswerter Vater, der sich sehr um die Kinder kümmerte, und ein liebenswerter Ehemann. Ich war Hausfrau, und er kümmerte sich um alles andere. 2003 kam mein Mann bei einem verheerenden Brand in Khayelitsha ums Leben. Im ersten Moment fühlte ich mich völlig verloren. Doch ich hatte nicht lange Zeit zu trauern, denn Kinder können keine Tränen essen. Also rappelte ich mich auf. Im Nachhinein kann ich sagen: So schlimm der Tod meines Mannes auch war, er hat mich stark gemacht. Bis dahin hatte ich noch nie in meinem Leben gearbeitet. Ich überlegte hin und her, was ich tun sollte, bis mir jemand riet, das Strassenmagazin The Big Issue South Africa zu verkaufen. Um ehrlich zu sein, tat ich mich zu Beginn sehr schwer damit. Ich fand, es sei unter meiner Würde, diese Arbeit zu machen. Aber ich musste meine Ängste und meinen Stolz überwinden und tun, was eine Mutter für ihre Kinder tun muss. 2012 fand ich einen Job als Hausangestellte. Die Arbeit gefiel mir sehr gut, doch der Verdienst reichte nicht aus zum Leben, weil ich nur drei Tage in der Woche arbeitete. Deshalb verkaufte ich nebenbei weiterhin das Strassenmagazin. Zum Glück, denn vor einem Jahr verlor ich meine Stelle, weil meine Arbeitgeber nach England zogen. Seither bin ich wieder täglich vor dem Einkaufszentrum Victoria & Alfred Waterfront anzutreffen, wo ich The Big Issue South Africa verkaufe. Seit sechzehn Jahren mache ich das jetzt, und zwar immer noch mit grosser Freude Dankbarkeit. Das Magazin hat mir geholfen, mein Leben nach dem Tod meines Mannes in den Griff zu bekommen. Ich konnte für den Unterhalt meiner Familie sorgen, und durch den Kontakt mit den Kundinnen und Kunden auf der Strasse konnte ich mein Englisch markant verbessern. Vorher war es schwierig für mich, nur schon einen Satz auf Englisch zu sagen. Heute kann ich mich problemlos mit den Menschen unterhalten. Mit dem Geld aus dem Heftverkauf konnte ich die Ausbildungen meiner Kinder bezahlen. Beide Söhne haben die Matura geschafft, und ich konnte sie auf den Abschlussball schicken, den Matric Dance. Das ist in Südafrika ein grosser Moment für Schüler und Mütter. Mein Ältester, Masixole, hat die Matura sogar mit Aus30

Nondumismo Zigana, 49, verkauft seit dem Tod ihres Mannes das Strassenmagazin The Big Issue South Africa in Kapstadt, Südafrika.

zeichnung bestanden und ein Stipendium bekommen. Heute ist er 24 und studiert Elektrotechnik an der Universität von Durban. Lwandile ist 22 und Koch, er hilft mir viel im Haushalt. Mit seinem Einkommen hilft er mit, für seine kleine Schwester zu sorgen. Meine Tochter Sisipho ist 13 Jahre alt. Sie ist noch in der Schule und scheint in die Fussstapfen ihres ältesten Bruders zu treten, zeigt sie doch bereits jetzt ein grosses Interesse an Technik und Wissenschaft. Ich glaube, sie ist ein Genie: Letztes Jahr hat sie an der Schule gleich zwei Auszeichnungen erhalten für ihre Leistungen. Ich bin sehr stolz auf sie. Ich habe mir einen Herzenswunsch erfüllt, meine Kinder zu guten Menschen zu erziehen. Das ist nicht selbstverständlich in unserer Gesellschaft, die ich oft ‹The devil’s playground› nenne, Spielplatz des Teufels. Viele Jugendliche in Kapstadt rutschen in die Kriminalität ab und tun schreckliche Dinge. Meine Kinder hingegen haben auf mich gehört und sind daran, sich ihre eigenen Träume zu erfüllen.»

Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von THE BIG ISSUE SOUTH AFRICA

Aufgezeichnet von LUNGISA MNQWA ZI Übersetzt von GEORG GINDELY

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GESCHICHTEN VOM FALLEN UND AUFSTEHEN

Porträts der Surprise Verkaufenden in Buchform

Kaufen Sie jetzt das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» und unterstützen Sie einen Verkäufer oder eine Verkäuferin mit 10 CHF. «Standort Strasse» erzählt mit den Lebensgeschichten von zwanzig Menschen, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Porträts aus früheren Ausgaben des Surprise Strassenmagazins ergänzen die Texte. Der Blick auf Vergangenheit und Gegenwart zeigt selbstbewusste Menschen, die es geschafft haben, trotz sozialer und wirtschaftlicher Not neue Wege zu gehen und ein Leben abseits staatlicher Hilfe aufzubauen. Surprise hat sie mit einer Bandbreite an Angeboten dabei unterstützt: Der Verkauf des Strassenmagazins gehört ebenso dazu wie der Strassenfussball, der Strassenchor, die Sozialen Stadtrundgänge und eine umfassende Beratung und Begleitung.

156 Seiten, 30 farbige Abbildungen, gebunden, CHF 40 inkl. Versand, ISBN 978-3-85616-679-3 Bestellen bei Verkaufenden oder unter: surprise.ngo/shop Weitere Informationen T +41 61 564 90 90 | info@surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: Surprise NGO Surprise 451/19

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SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

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