Surprise Nr. 446

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Strassenmagazin Nr. 446 15. bis 28. März 2019

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass

Unser Autor jetzt auch. Bericht einer Selbstfindung in Sachen Klimawandel. Seite 8


BETEILIGTE CAFÉS

Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren.

IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstrasse 18 | Bäckerei KULT «Elsi», Elsässerstrasse 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Café Bohemia, Dornacherstr. 255 | Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 | Kiosk Amann, Claragraben 101 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Badischer Bahnhof | Rest. Manger & Boire, Gerbergasse 81 | Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 | Café Spalentor, Missionstrasse 1 | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | Treffpunkt Breite, Zürcherstrasse 149 IN LENZBURG feines Kleines, Rathausgasse 18 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4-Markt Baselstrasse, Baselstr. 66 | Restaurant Quai4, Alpenquai 4 | Quai4-Markt Alpenquai, Alpenquai 4 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbad Volière, Inseli Park | Restaurant Brünig, Industriestrasse 3 | Arlecchino, Habsburgerstrasse 23 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN BERN Café Kairo, Dammweg 43 | Café MARTA, Kramgasse 8 | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa Lorraineladen, Lorrainestr. 23 | Luna Llena Gelateria Rest. Bar, Scheibenstr. 39 | Rest. Genossenschaft Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Rest. Löscher, Viktoriastr. 70 | Rest. Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestrasse 20 | Becanto GmbH, Bethlehemstrasse 183 | Phil’s Coffee to go, Standstrasse 34 IN BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Quartiertreff Enge, Gablerstrasse 20 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 | Kafi Freud, Schaffhauserstrasse 118 | Kumo6, Bucheggplatz 4a | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistrasse 76 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestrasse 47 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11 IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique & café, Bernstrasse 2 IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstrasse 3a

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise

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Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Erlebnis Erlebnis

Expertenrolle Expertenrolle

SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf2die Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Gesellschaft. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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TITELBILD: BODARA

Editorial

Heiter bis wolkig Es gibt sie noch, die Klimaleugner. Sie wit­ tern hinter der Sorge um den Zustand des Planeten eine grosse Verschwörung, die darauf abzielt, freie Bürger zu bevor­ munden. Oder sie verweisen auf einen an­ geblichen Schuldkult linker Gutmenschen, die es nicht ertragen, dass der Mensch für das Fressen gemacht ist, nicht für die Moral. Lange Zeit war der Klimawandel ein Prob­ lem, von dem alle wussten und über das kaum jemand sprach. Das ändert sich ge­ rade – und manche fühlen sich davon derart angegriffen, dass sie verbal auf eine 16-jährige Schwedin eindreschen. Ihr Feindbild: eine Jugend, die ihr Schicksal nicht länger saturierten Babyboomern überlässt. Man kann das als Zeichen lesen, dass sich endlich etwas zu ändern beginnt. Noch vor den Klimademos, den National­ ratsdebatten und dem Hitzesommer 2018 schlichen sich bei unserem Reporter Simon Jäggi Fragen ein: Warum sprechen

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

Der falsche Fahrer

6 Moumouni …

... ist betroffen

7 Die Sozialzahl

Lohn und Geschlecht

8 Klimawandel

Ich will nicht länger schweigen

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16 Zukunft

«Einmal den ResetKnopf drücken»

wir so wenig über die drohende Katastro­ phe? Was kann ich dagegen tun – gegen das Schweigen, gegen den Klimawandel? Und vor allem: Können wir die Erderwär­ mung innerhalb unserer wachstumsgetrie­ benen Ordnung bremsen? Seinen sehr ­persönlichen Bericht lesen Sie ab Seite 8. Ganz anders geht ETH-Professor Dirk ­Helbing an das Problem heran. Er hat die Pilgerströme von Mekka und das Unglück an der Love Parade 2010 untersucht. Sein Wissen aus der Komplexitätsfor­ schung, sagt er, helfe auch mit dem Klima­ wandel. Der herkömmliche Kapitalismus sei dabei nicht zielführend. Er fordert nichts weniger als einen «neuen Zeitgeist» (Seite 18). Ich wünsche Ihnen eine unbequeme Lektüre!

AMIR ALI

Redaktor

22 Sadcoms

Depressionen bei Netflix und Co

24 Film

Grenzen des Ego-Traums

25 Buch

Erfolg dank Glück und Interpunktion

26 Veranstaltungen 27 Agglo-Blues

Die Problemzone

28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt

«Mit zehn war ich erwachsen»

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Aufgelesen

FOTO: HIDEAKI TAKAMATSU

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 34 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Arbeit, aber kein Zuhause Offiziell gibt es in Japan 5534 Obdachlose, 499 davon in Tokio. So viele zählten zumindest die Behörden, die sich tagsüber in Parks, auf den Strassen, an Flüssen und Bahnhöfen umschauten. Die Organisation ARCH wollte es genauer wissen und zählte nach – und zwar in der Nacht. Die Freiwilligen ent­­deckten in der Hauptstadt 1307 Obdachlose, also mehr als doppelt so viele. Der Grund: Über die Hälfte aller Obdachlosen gehen tagsüber einer Arbeit nach.

THE BIG ISSUE JAPAN, TOKIO

Behördlich beglaubigte Not Im November 2018 klopften zwei obdachlose Männer an die Tür der norwegischen ­Heilsarmee in Trondheim. Jan Arild und Nils fragten nach einem Bett in der einzigen Notschlafstelle der Stadt. Draussen sanken die Temperaturen unter Null, drinnen waren genügend Betten frei. Doch nur Jan Arild wurde eingelassen. Nils schickte man mit einem Schlafsack zurück auf die Strasse. Die Begründung: Er benötige eine behördliche Bestätigung, die beweist, dass er obdachlos sei, aus der ­Region stamme und drogenabhängig sei. Recherchen ergaben, dass es diese behördliche Beweispflicht gar nicht gibt. 2017 wurden dennoch 69 Betroffene abgewiesen, bis im Oktober 2018 weitere 34. Die Behörden und die Heilsarmee wollen das Missverständnis nun klären.

SORGENFRI, TRONDHEIM

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Das «Dekret Salvini» verschlechtert die Situation für Asylbewerber in Italien massiv. Im Dezember wurde das von Innenminister Matteo ­Salvini entworfene Einwanderungs­ gesetz vom Parlament verabschiedet. Die Auswirkungen zeigen sich auch bei den Verkaufenden der Südtiroler Strassenzeitung Zebra. 11 der 60 Verkaufenden sind direkt be­ troffen, darunter Geoffrey Onudu. Der 35-Jährige war 2011 übers Mittel­ meer nach Italien geflohen, wo er dank eines humanitären Visums bleiben durfte. Da und dort fand er Arbeit, für eine feste Stelle reichte es aber nicht. Wegen des neuen ­Gesetzes müsste Onudu nun einen Arbeitsvertrag vorlegen, damit er in Italien bleiben darf – der Heftver­ kauf alleine reicht nicht. «Ich habe die Sprache gelernt, bezahle meine Miete und möchte etwas für die Gesellschaft tun», sagt Onudu. «Wenn sie mich jetzt ausweisen, war das alles für nichts.»

ZEBRA, SÜDTIROL

FOTO: VANJA HOLST SKOTNES

Umweltungerechtigkeit

Menschen mit geringem Einkom­ men wohnen häufiger an lauten Hauptstrassen, Besserverdiener oft in ruhigen Seitenstrassen, wie eine wissenschaftliche Studie aus Hamburg zeigt. Das bedeutet auch, dass Arme vermehrt unter Schad­ stoffbelastung und Lärm leiden. «Umweltungerechtigkeit» nennen das die Studienautoren. Eine ­Lösung könnte Tempo 30 sein, das diese Belastungen nachweislich ­vermindert und damit Erkrankun­ gen vorbeugt. Doch wer für seine Strasse Tempo 30 will, muss für den Antrag bei der Stadt 360 Euro ­aufbringen – viel Geld für Gering­ verdiener. Von 431 Hamburgern, die einen Antrag einreichten, ­bezahlten am Ende gerade einmal 49 die Gebühr.

HINZ & KUNZT, HAMBURG

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Plötzlich illegal

Vor Gericht

Der falsche Fahrer Der Morgen graute, als Sonja* per Smart­ phone einen Uber-Wagen ins Zürcher Aus­ gehviertel orderte. Die junge Frau hatte die Nacht durchgefeiert und wollte nun sicher nach Hause kommen. Anders als gängige Taxis sind Uber-Autos nicht als solche zu erkennen: Sie haben kein Schild auf dem Dach. Ein Mann in Lederjacke, Typ Bolly­ wood-Beau, der neben seinem Auto stand und rauchte, winkte ihr zu. Ob er der Fahrer sei, fragte sie. Er nickte. Sie stieg vorne ein und nannte ihm ihre Adresse in der Agglo. Eine Fahrt in den Alptraum begann. Nach wenigen Kilometern betatschte er Sonjas Oberschenkel, griff ihr zwischen die Beine. Starr vor Angst, dass er in die Tunnelwand fahren würde, wehrte sie sich kaum. Auf der Autobahn grabschte er nach ihren Brüs­ ten. Sie stiess seine Hand weg und schickte ihrem Mann eine Whatsapp-Nachricht: «Hilfe! Lüüt mer aa!» Sie telefonierten, sie gab ihm ihren Standort durch. Er hörte, wie sie mehrmals rief: «Hör uuf!» An ihrem Wohnort angekommen, verlangte der Mann Geld für die Fahrt, riss sie an den Haaren und zog ihren Kopf zu seinem Schritt, sie könne ihn auch so entschädigen. «Damit habe ich nichts zu tun», sagt ­Saravan P.* zwei Jahre später am Bezirks­ gericht Zürich. Der falsche Fahrer ist an­ geklagt wegen sexueller Nötigung. Der Staatsanwalt fordert eine Freiheitsstrafe von zwölf Monaten auf Bewährung und ei­ nen Landesverweis von fünf Jahren. «Ich würde nie gegen eure Gesetze verstossen», gibt der Übersetzer Savarans Beteuerungen

wieder. «Die Schweiz hat mir Schutz gebo­ ten, als ich wegen meiner Mitgliedschaft bei den Tamil Tigers verfolgt, inhaftiert und gefoltert wurde», sagt der 40-Jährige und demonstriert gestenreich, wie ihm die Fin­ gernägel ausgerissen wurden. «Ich habe die Dame zu keinem Zeitpunkt angefasst.» Er habe ihr einfach helfen wollen, als er sie alleine auf der Strasse sah. «Herr Richter, ich habe eine wunderschöne Frau und eine wunderschöne Tochter.» Allzu harmonisch wird das Familienleben jedoch nicht sein: Der Küchengehilfe ist arbeitslos und hat insgesamt 180 000 Franken Schulden bei Vermieter, Krankenkasse und Bekannten angehäuft. Selbst den Putzfrauenlohn der Gattin verzockte er im Casino. «Aber ich werde zwei Jobs annehmen, um alles zu­ rückzuzahlen», gelobt er. Sein Verteidiger versucht in seinem ­Plädoyer die Glaubwürdigkeit des Opfers zu demontieren. Er wirft der Frau Wider­ sprüchlichkeiten vor und verheddert sich dabei selbst in solchen. Auch der Richter kann seiner Argumentation wenig abgewin­ nen und spricht den Angeklagten schuldig. Zur Begründung nennt er die Whatsapp-­ Nachricht, Saravans DNA-Spuren im Schritt von Sonjas Jeans und schliesslich das Fehlen eines Motivs, ihn falsch zu beschuldigen. Der Angeklagte habe im Auto eine Zwangs­ situation geschaffen, aus der die Frau nicht entkommen konnte. Die Strafe von 180 Ta­ gessätzen à 30 Franken fällt bedingt aus. Obgleich bei sexueller Nötigung «zweifellos eine Katalogtat vorliegt», wie der Richter festhält, sieht er von einem Landesverweis ab. Saravan P. sei ein Härtefall. Seine Fas­ sade aber ist ein Trümmerhaufen. * alle Namen geändert ISABELL A SEEMANN   ist Gerichts­reporterin

in Zürich. 5


ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

sonst die rechten Bewegungen Auf­ schwung erhielten. Hah! Das heisst, die Rechten haben schon gewonnen. Aber viel interessanter als das ewige ­Geplärre der Rechten ist ja eigentlich der Rest. Diejenigen, die per Gesinnung ­Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit mega­ wichtig finden. Ich zum Beispiel: Ich bin immer so betroffen, wenn es um Ge­ flüchtete geht. Zack, sofort. Wie ein ­Reflex. Und doch habe ich in letzter Zeit nicht viel mehr als einen Screenshot der Spendennummer von Sea Watch ge­ macht, um Geflüchteten zu helfen oder um mich gegen die Politik zu wehren, die den Umgang mit Geflüchteten bedingt oder gar zu Fluchtursachen beiträgt. Inte­ ressiert es mich denn nicht wirklich? Was ist nur los mit mir, dass mich das mit den Flüchtlingen kein bisschen juckt? Also ein bisschen natürlich schon. Der tote Junge am Strand auf dem Foto, das um die Welt ging zum Beispiel, der war viel zu süss zum Sterben.

Moumouni …

... ist betroffen Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit: Ich muss, wenn ich ganz ehrlich bin, ­zugeben, dass ich keine Ahnung habe, was diese Begriffe bedeuten. Ich merke es daran, dass ich immer ein bisschen zusammenzucke, wenn Leute anfangen, darüber zu reden – weil ich mich vor dem leeren Pathos ekle, das dann häufig mitschwingt. Und dann schäme ich mich, weil ich ja selbst weiss, wie megawichtig Freiheit und Frieden und Gerechtigkeit tatsächlich sind. Mein Problem – oder sagen wir Privileg – ist, dass ich die Begriffe hauptsächlich aus Philosophie­seminaren kenne: trocken und staubig. Und in Philosophiesemi­ naren, zumindest in denen, die ich be­ sucht habe, geht es selten um die ­Kontexte, in denen Freiheit und Frieden wirklich eine Rolle spielen. Es ging zum Beispiel nie um Waffenlieferungen und nie um geflüchtete Menschen. 6

Die Frage ist also, was die grossen Worte Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit ­wirklich wert sind, wenn wir ihre Bedeu­ tung nicht fühlen, sie nicht mit Inhalt ­füllen können. Wenn sie lediglich als prot­ zige Trophäe in der Vitrine unserer ­Demokratie stehen. Und wenn dann Menschen kommen, die wirklich wissen, was all diese Werte ­heis­sen, weil sie ihnen vorenthalten wer­ den, sagen wir: «Neeein!», und machen die Vitrine zu wie eine strenge Mutter den Süssigkeitenschrank. Um dann umge­ hend zu behaupten, das wahre Problem sei, dass die Leute in Afrika Smart­ phones hätten und sich gegenseitig Fotos von unserer Vitrine zeigten. Inzwischen gibt es ja tatsächlich Leute, die argumentieren, wir könnten nicht so viele Geflüchtete ins Land lassen, weil

Ich fand es damals absurd, dass das Foto um die Welt ging, weil es doch veröf­ fentlicht worden war, um «uns» aufzurüt­ teln. Um Mitleid zu erregen. Widerlich, dass es das braucht. Aber ehrlich gesagt habe ich seitdem öfter Kommentare von Leuten gehört, die sich selbst bemit­ leidet haben, weil ihnen die Bilder aus den Nachrichten nicht mehr aus dem Kopf gingen, als Leute getroffen, die sich tat­ sächlich engagiert haben. Also hat das Bild des toten Jungen vielleicht nicht einmal seinen Zweck erfüllt. Wie viele Menschen sind inzwischen schon im Mittelmeer ertrunken? Wie viele wurden von unserer Polizei verprügelt? Wie viele von Ämtern gedemütigt? Wie viele genau? Warum weiss ich das nicht? Ich habe die Freiheit, wegzuschauen. Den Frieden, mich nicht darum kümmern zu müssen. Und ich darf dabei sogar noch die Selbstgerechtigkeit haben zu behaup­ ten, es mache mich betroffen.

FATIMA MOUMOUNI  hat die Spendennummer von Sea Watch unter sea-watch.org gefunden. Vielleicht fühlt sich ja jemand inspiriert ...

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INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK (2019): LOHNUNGLEICHHEIT: 2016 VERDIENTEN FRAUEN 19,6% WENIGER ALS MÄNNER. MEDIENMITTEILUNG VOM 31.1.2019. NEUCHÂTEL

Die Sozialzahl

Lohn und Geschlecht 71,8 %

62,7 %

82,0 %

37,3 % 28,2 % 18,0 %

unter 4000 Franken

unter 8000 Franken

über 16 000 Franken

Anteil Männer und Frauen an Lohnsegmenten in der Privatwirtschaft (Vollzeitbruttolohn).

Die Diskussion über unterschiedlich hohe Löhne für Frauen und Männer reisst nicht ab. Noch macht die Differenz 20 Prozent aus. Weniger beachtet wird ein strukturelles Problem des privat­ wirtschaftlich organisierten Arbeitsmark­ tes. Frauen und Männer sind in un­ gleicher Verteilung in den verschiedenen Branchen erwerbstätig. In Tieflohn­ branchen wie dem Gastgewerbe, der ­Hotellerie oder dem Detailhandel arbei­ ten deutlich mehr Frauen als in Hoch­ lohnbranchen wie dem Banken- und Versicherungswesen oder der pharma­ zeutischen Industrie. Diese branchenspezifischen Unter­ schiede spiegeln sich im Lohnvergleich zwischen den Geschlechtern. Rund zwei Drittel aller Erwerbstätigen, die in einem Monat weniger als 4000 Franken (auf eine Vollzeitstelle gerechnet) brutto verdienen, sind Frauen. In den mittleren und höheren Lohnsegmenten sieht es ganz anders aus. Der Anteil der Frauen, die mehr als 4000 Franken, aber weniger als 8000 Franken brutto bei einem ­Beschäftigungsgrad von 100 Prozent ver­ dienen, beträgt noch 28,2 Prozent. Und Surprise 446/19

bei einem Verdienst für eine Vollzeitstelle von über 16 000 brutto monatlich macht der Anteil der Frauen noch 18 Prozent aus. Die Gründe für diese Unterschiede sind vielfältig. Tieflohnbranchen sind ­typischerweise auch Teilzeitbranchen. Frauen arbeiten gerade während der Familienphase überdurchschnittlich oft Teilzeit. Tieflohnbranchen sind ­zudem häufig von einfacher Arbeit ge­ prägt, für die es keine lange Ausbildung braucht. In diesen Branchen – Gastge­ werbe, Hotellerie, Reinigung, Privathaus­ halte – finden sich darum auch sehr viele Frauen mit Migrationshintergrund und prekärem Aufenthaltsstatus. Diese Situation kommt den Unternehmen in diesen Wirtschaftszweigen entgegen. Zugleich tun sich die Gewerkschaften bis heute schwer, in diesen Bereichen der Privatwirtschaft Fuss zu fassen. Schwieriger ist es, den geringen Anteil der Frauen in Branchen zu erklären, in denen hohe Löhne erzielt werden kön­ nen. Der Verweis auf die Bildungsunter­ schiede zieht immer weniger, denn

in den letzten zehn Jahren haben die Frauen in grossen Schritten aufgeholt. Der Anteil der Frauen mit tertiärem ­Bildungsabschluss gleicht sich zuneh­ mend jenem der Männer an. Allerdings lassen sich hier durchaus noch ge­ schlechts­spezifische Muster beobachten. So ist die Anzahl der Frauen, die in den sogenannten MINT-Fächern ab­ schliessen, nach wie vor gering. Mathe­ matik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik sind noch immer nicht jene Wissensgebiete, in die Frauen glei­ chermassen streben wie Männer. Und dies, obwohl hier die Lohnaussichten be­ sonders gut sind. Schliesslich zeigen sich auch geschlechts­ spezifische Unterschiede in den Kar­ riereverläufen. Frauen sind seltener in Kaderfunktionen als Männer. Wie viel das mit der vielzitierten gläsernen Decke zu tun hat, wonach Frauen wegen den ihnen fehlenden sozialen Netzwerken in den Betrieben nur schwer nach oben kommen, und wie sehr dies auf die unter­ schiedlichen biografischen Verläufe von Frauen und Männern zurückzufüh­ ren ist, muss an dieser Stelle offen­ bleiben. Fakt aber ist: Männer k ­ önnen eine Familie mit ihrem Lohn sehr viel häufiger durchbringen als Frauen. Das alte Familienmodell – der Mann als ­vollzeitlich beschäftigter ­«Ernährer», die Frau als teilzeitbeschäftigte Erwerbs­ tätige sowie Kinder be­treuende, Angehö­ rige pflegende und die sozialen Bezie­ hungen unterhaltende Person – ist nach wie vor das Mass aller Dinge.

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL  ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der FHNW.

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ARTWORK: BODARA

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Das Klima und ich Klimawandel Wir stehen vor der vielleicht grössten Umweltkatastrophe

in der Geschichte der Menschheit. Weshalb tun wir alle so, als ginge uns das nichts an? TEXT  SIMON JÄGGI

Ein Text über den Klimawandel? Na, dann viel Glück. Etwa so klangen die Reaktionen in den letzten Monaten. Viel zu kompliziert, warnten einige. Andere fürchteten, ich könnte zur Anklageschrift ansetzen. Dabei wollte ich lediglich zwei Fragen nachgehen, die mir seit einiger Zeit keine Ruhe lassen: Was bedeutet der Klimawandel für mich, als Mensch, als Konsument? Und warum sprechen wir kaum darüber? Vom Klimawandel hörte ich erstmals in der Schule. Ich erinnere mich an Skizzen mit roten Pfeilen, welche die Sonnenwärme symbolisierten. Sie trafen auf die Erdoberfläche, wurden von dort reflektiert und dann erneut von der Atmosphäre auf die Erde zurückgeworfen. Das Resultat: Es wird wärmer auf unserem Planeten. Seit meiner Schulzeit blieb der Klimawandel für mich eine rationale Angelegenheit. Ein abstraktes Pro­blem, das aus Gründen der Vernunft gewisse Anpassungen erfordert. Ich verzichte deshalb seit einiger Zeit grösstenteils auf Fleisch und importierte Lebensmittel. Und ich fliege so wenig wie möglich, letzteres mit mässigem Erfolg. Ich habe meine Flugreisen der letzten zehn Jahre gezählt: Es waren knapp 40. Die meisten davon aus beruflichen Gründen, doch die Umwelt kümmert das nicht. Dünnhäutig am Küchentisch Meine Gefasstheit angesichts des drohenden Klimawandels verlor ich an einem milden Frühsommermorgen im vergangenen Jahr. Die Schülerproteste waren damals noch in weiter Ferne. Ich erwachte nach wenigen Stunden Schlaf auf dem Fussboden in der Wohnung von Freunden und wankte in die Küche. Wir waren am Abend zuvor von einem kleinen Festival in der Westschweiz zurückgekehrt. Auf dem abgewetzten Küchentisch entdeckte ich eine Zeitung des Vortages. Ich blätterte müde durch das Papier, als ein Interview mit dem deutschen Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber mich aus meiner Benommenheit weckte. Surprise 446/19

In drastischen Worten, wie ich sie von einem Wissenschaftler zuvor noch nie gelesen hatte, warnte der Leiter des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung vor dem Klimawandel. Er sprach vom Irrsinnstempo, mit dem wir uns gerade in eine Heisszeit beamen, von 140 Millionen Klimaflüchtlingen bis 2050, von sterbenden Korallenriffen, schmelzenden Eisschilden und einer Erderwärmung um – im Extremfall – sechs bis acht Grad. Er klagte, wir hätten uns alle viel zu lange aus der Verantwortung gestohlen und forderte, jeder solle «verdammt noch mal» etwas beitragen. Wenn wir den Klimawandel nicht in den Griff bekämen, warnte er, «brauchen wir über Einkommensverteilung, Rassismus und guten Geschmack nicht mehr nachzudenken». Wohl die allermeisten in unserer Informationsgesellschaft haben sich einen wirksamen Filter zugelegt, der unsere Gefühlswelt zuverlässig vor der Nachrichtenflut schützt. Angesichts der täglich vermeldeten Krisen und Katastrophen könnten wir anders kaum funktionieren. An jenem Morgen am Küchentisch bahnten sich die Worte des Klimaforschers jedoch ungehindert ihren Weg in mein emotionales Zentrum und setzten sich fest. Vielleicht lag es an den durchfeierten Nächten, die mich dünnhäutig gemacht hatten. Ich stellte mir in den folgenden Wochen immer wieder die Frage: Wenn wir die Prognosen der Wissenschaftler ernst nehmen, können wir dann weiterhin konsumieren, wie es uns gefällt? Die erwähnten Freunde, bei denen ich an jenem Morgen erwachte, waren erst kurz vorher von einer einjährigen Reise zurückgekehrt. Rund um die Welt im Flugzeug, von Europa nach Südamerika, Ozeanien und Asien. In Japan verbrachten wir ein paar Wochen zusammen, über den Umweltaspekt unserer Reisen sprachen wir so gut wie nie. Nun hatte das Thema für mich mit einem Mal eine Dringlichkeit entwickelt, wie ich sie zuvor nicht gespürt

hatte. Und ich vermutete still: Vielleicht hat das auch damit zu tun, dass im Bauch meiner Partnerin ein kleiner Mensch heranwächst, der sein Leben auf einem möglichst gesunden Planeten verbringen soll. Im Aktionstraining Ein paar Wochen später sitze ich auf dem Betonboden eines verlassenen Industriegebäudes. Es ist August, die Luft heiss und trocken, der letzte Regen liegt mehrere Wochen zurück. Ich sitze Schulter an Schulter, Rücken an Rücken mit Frauen und Männern. Die Arme ineinander verschränkt, bilden wir eine Menschenkette in der leeren Halle. Von der gegenüberliegenden Seite des Raums nähert sich mit raschen Schritten eine weitere Gruppe, in ihren Händen halten sie lange Rohre aus Pappkarton. «Polizei, verlassen Sie sofort den Platz!», rufen sie mit glaubhaft gespielter Aggressivität. Als uns die Spiel-Polizisten erreichen, packen sie uns an Händen und Füssen, ziehen uns auseinander, fesseln unsere Hände und tragen uns zur Seite.

Ich befinde mich an einem sogenannten Aktionstraining in der Agglomeration von Basel. Umweltaktivistinnen und -aktivisten haben hier auf einem alten Fa­ brikareal für eine Woche ein Klimacamp errichtet. Eine kleine Zeltstadt mit Vorträgen, Workshops und Trainings. Ich bin gekommen, um jene Menschen kennenzulernen, die sich für mehr Klimaschutz einsetzen und zum Thema machen wollen, worüber die meisten von uns schweigen. Über den Klimawandel sprechen, das ist für viele der Aktivistinnen und Aktivisten im Camp nicht genug. Für den nächsten Tag ist eine Blockade des Basler Ölhafens vorgesehen, über den rund ein Drittel des gesamten Mineralöls in die Schweiz gelangt. Niemand von den Anwesenden weiss, wie die Polizei auf diese illegale Aktion reagieren wird. Wird es Verhaftungen geben, Tränengas eingesetzt werden, zu einer Räumung kommen? Auf diese Möglichkeiten soll uns das 9


Aktionstraining in der Fabrikhalle vorbereiten. Wir lernen, wie sich Reizgas aus den Augen spülen lässt, weshalb wir eine Bezugsgruppe brauchen und wie wir unsere persönlichen Grenzen setzen. «Jeder muss für sich selber herausfinden, wie weit er bereit ist zu gehen», sagt der Leiter des Trainings. Es sind mehrheitlich junge Menschen zwischen 20 und 30, die an diesem Nachmittag zu Dutzenden das Areal bevölkern. Sie sind aus der ganzen Schweiz angereist, einige auch von weiter weg, aus Deutschland und Österreich. Das Küchenteam hat Reis mit Gemüse gekocht, den Helfer für einen kleinen Unkostenbeitrag in einem Zelt ausgeben.

Wie ich in Gesprächen feststelle, verbinden viele der Aktivisten und Aktivistinnen die Forderung nach effektivem Klimaschutz mit grundsätzlicher Kritik am Kapitalismus. Marco Jenni, der beim Aufbau des Klimacamps mithalf, sagt mir bei einem Becher Kaffee: «Was wir wollen, ist eine soziale Revolution.» Der 27-Jährige arbeitet als Umweltwissenschafter, ist seit vielen Jahren Teil der Umweltbewegung und international gut vernetzt. Den Glauben, dass die etablierten Machtstrukturen die Menschen rechtzeitig zu einem Umdenken zwingen wird, hat er aufgegeben. «Wir leben in einem kapitalistischen System, wo nur der kurzfristige Profit zählt. Wenn wir den Wachstumszwang nicht überwinden,

Irgendwie gehöre ich dazu Als ich am nächsten Morgen am Ölhafen ankomme, sind die Zufahrtsstrassen bereits blockiert. Knapp 100 Klimaschützer sitzen in weissen Schutzüberzügen auf dem Boden, ein paar Transparente flattern von hohen Zäunen im Morgenwind. «Climate Justice», steht darauf und «System Change not Climate Change». Die Morgensonne verspricht erneut einen drückend heissen Tag, keine Wolke steht am Himmel. Der Hitzesommer 2018 bestimmt auch die Schlagzeilen: Die Zeitungen berichten von Bächen, in deren warmem Wasser die Fische ersticken. Von Bauern, die wegen der Trockenheit so viel Heu importieren wie nie zuvor. Und von den Wäldern, deren Bäume bereits jetzt, im August, ihre Blätter verlieren.

Im Ölhafen treffe ich auf eine Gymnasiastin aus Basel, die sich zum ersten Mal an einer Aktion von Klimaschützern beteiligt. Auf einen 40-Jährigen aus Zürich mit einem regenbogenfarbenen Einhorn auf dem T-Shirt, der seit vielen Jahren als Aktivist lebt und dafür sein grosses Erbe verbraucht. Eine junge Frau aus Köln, die einen dezidiert pessimistischen Blick auf unseren Planeten pflegt und dennoch nicht einfach so aufgeben will. Eine ältere Frau mit Brille und ergrauendem Haar, die zu mir sagt: «Der Klimawandel hat mir keine Ruhe mehr

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ARTWORK: BODARA

werden wir auch unseren Planeten nicht retten können.» Zu dem Zeitpunkt wirkt das auf mich noch ziemlich realitätsfremd und ich frage mich, ob diese radikale Haltung nicht vielmehr potenzielle Sympathisanten verschreckt.


Kollektive kognitive Dissonanz In mir wächst der Eindruck, dass wir in einem Zustand des kollektiven Verdrängens leben. Wir stehen womöglich vor der grössten Umweltkatastrophe in der Geschichte der Menschheit. Ich stelle mir vor, wie das Thema regelmässig unsere Gespräche bestimmen könnte. Wir uns in kleinen Gruppen treffen und darüber diskutieren, was wir gegen den Klimawandel tun könnten, und gemeinsam an Demonstrationen teilnehmen. Wir könnten die Schönheit der Natur feiern, gemeinsam Planet Earth Surprise 446/19

FOTO:  SASKJA ROSSET

gelassen. Als ich merkte, dass in meinem Umfeld niemand darüber sprechen will, habe ich mich dieser Bewegung angeschlossen.» Langsam verstehe ich: Das hier ist ein Sammelbecken für all jene, die nicht länger zuschauen wollen. Und irgendwie gehöre wohl auch ich hier dazu. Die Blockade zeigt Wirkung: Der Hafen bleibt an diesem Tag geschlossen, und Medien aus der ganzen Schweiz berichten darüber. Die Polizei beobachtet die Aktion aus der Distanz, alles bleibt ruhig. Gegen Ende des Nachmittags machen sich einige Aktivistinnen und Aktivisten auf den Rückweg ins Camp, andere blockieren die Zufahrt bis zum nächsten Morgen. Ich setze mich aufs Fahrrad und kehre, ermutigt von den vielen Gesprächen, in meinen Alltag zurück. Während ich durch den Wald fahre, fasse ich einen Vorsatz: Ich will nicht länger über den Klimawandel schweigen. In den kommenden Wochen greife ich bei gemeinsamen Essen oder an Abenden an der Bar immer wieder das Thema auf. Dass ich damit nerve, nehme ich in Kauf. Ich höre von Freunden, dass sie ihr eigenes Gemüse anpflanzen und nach streng ökologischen Kriterien leben, Klimaschutz aber als Privatsache betrachten. Andere, die in ihren Ferien regelmässig ans andere Ende der Welt reisen, zucken auf ihre CO2-Bilanz angesprochen nur mit den Schultern. Ich stelle fest: Wirklich über das Thema sprechen mag kaum jemand. Bei einem Abendessen unter freiem Himmel kommt für einmal tatsächlich eine etwas längere Diskussion zustande. Alle am Tisch sind bewusste Konsumenten, bemühen sich um ein nachhaltiges Leben. Doch einsetzen für mehr Klimaschutz mag sich niemand. «Das muss die Politik lösen», lautet der Konsens.

Stefan Müller-Altermatt, 42, Nationalrat CVP

«Die Debatte im Nationalrat war sehr ideologisch geprägt, die Lager weit voneinander entfernt. Es fehlte insgesamt an der nötigen Sachlichkeit. Der Klimaschutz ist ein Feld, auf dem sich leider nur zu gut eigene Positionen markieren lassen. Die einen wollen die Umwelt schützen, die anderen die Wirtschaft. Ich habe mich für ein starkes Gesetz eingesetzt, das hat mit meiner persönlichen Affinität zu tun. Aber auch die Partei setzt sich seit jeher für die Umwelt ein. Der Erhalt der Schöpfung ist uns ein Anliegen. Beim Klima merkt man, dass der Mensch nicht nur Gutes tut. Mir war es wichtig, dass wir ein Gesetz verabschieden, das im Fall eines Referendums auch vom Volk unterstützt würde. Das hatten manche Umweltpolitiker während der Debatte offenbar nicht vor Augen. Als die Vorlage am Schluss scheiterte, war ich sehr frustriert. Wir hatten wichtige Zeit verloren, die man gebraucht hätte. Wir sind alle in der Verantwortung, alle Nationen. Da darf und kann sich die reiche Schweiz nicht herausstehlen. Um den politischen Graben zu verkleinern, braucht es das zivilgesellschaftliche Engagement, das wir jetzt sehen. So steigt der Druck auf die Parteien, sich für mehr Klimaschutz einzusetzen. Am Ende müssen alle etwas beitragen. Für mich ist die Politik der stärkste Hebel, den ich habe. Ich verzichte zudem so weit wie möglich auf Flugreisen, in die Ferien reise ich mit meiner Familie im Nachtzug, als Auto besitze ich ein kleines Elektromobil. Nur Fleisch habe ich einfach wahnsinnig gern.»

«Als die Vorlage scheiterte, war ich sehr frustriert.»

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FOTO:  SASKJA ROSSET

Marco Jenni, 27, Klima-Aktivist

«Im vergangenen Jahr blockierten wir die Geleise einer Kohlebahn in Deutschland, die Braunkohle aus dem Abbaugebiet zu den Kraftwerken führt. Wir sassen etwa 30 Stunden dort, einen Tag und eine Nacht. Unter ständiger Bewachung der Polizei, die uns mit Flutlicht anstrahlte. Solche Aktionen wie «Ende Gelände» oder die Blockierung des Rheinhafens sind wichtig. Man kann damit hunderttausenden Menschen zeigen, dass sich andere nicht einschüchtern lassen und mit Leib und Seele für Klimaschutz einstehen. Das ist ein mächtiges Zeichen. Ich glaube nicht daran, dass die Entscheidungsträger aus Wirtschaft und Politik alleine die Umwelt retten. Es braucht eine Bewegung von unten, dafür setze ich mich ein. Ich habe jede Woche Sitzungen und Treffen, vernetze Menschen miteinander und plane neue Projekte. Wir wollen Aufmerksamkeit erzeugen und Menschen für den aktiven Klimaschutz gewinnen. Wir wollen ihnen Mut zusprechen, nicht nur das eigene Konsumverhalten zu überdenken, sondern selber etwas zu unternehmen. Wichtig ist, dass man dabei niemanden verurteilt, auch ich esse manchmal Fleisch. Aber wir müssen realisieren, was nicht mehr geht. Jedes Jahr fliegen zum Beispiel. Wir erzeugen jenen Druck, der nötig ist, um die Politik zum Handeln zu bewegen. Es geht um den Klimawandel, aber auch um unser System, in dem wir leben. Nur wenn wir das kurzfristige Gewinndenken überwinden, können wir auch die Klimakatastrophe verhindern.»

«Ich glaube nicht daran, dass die Politik alleine die Umwelt rettet.»

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schauen und uns vergegenwärtigen, an was für einem wunderbaren Ort wir leben. Oder unsere Wut darüber zum Ausdruck bringen, wie wenig in den vergangenen 20 Jahren geschehen ist, dass immer tiefere Erdöllagerstätten angezapft und die Flugtickets Jahr für Jahr billiger werden. Doch statt uns mit dem Klimawandel auseinanderzusetzen, haben wir ihn über Jahre totgeschwiegen. Ignoriert, aus unseren Köpfen und Gesprächen verbannt. Dieses irrationale Verhalten erklärt die Psychologie mit dem Modell der kognitiven Dissonanz, auf das ich im Netz gestossen bin. Es beschreibt, wie wir damit umgehen, wenn unterschiedliche Gedanken oder Wünsche nicht oder nur schwer miteinander vereinbar sind. In der Tat stellt uns auch der Klimawandel vor nur mit grosser Mühe überwindbare Widersprüche. Als Kinder einer kapitalistischen Gesellschaft wurden uns die grossen Konsumversprechen in die Wiege gelegt. Wir wollen schön wohnen, gut essen, uns hübsch kleiden und in den Ferien in fremde Länder fliegen. All diese Versprechen haben aber, so wie die breite Masse sie sich erfüllt, einen entscheidenden Haken: Sie zerstören den Planeten. Bio einkaufen, Abfall trennen, E-Bike fahren: Das alles mag uns ein gutes Gewissen verschaffen. Aber machen wir uns nichts vor. Die Wissenschaft lässt keinen Zweifel daran, was jeder Einzelne ändern müsste: weniger Kinder haben, nicht mehr fliegen, auf Fleisch und aufs Auto verzichten. Wenn wir uns ernsthaft mit dem Klimawandel und unserer Rolle darin auseinandersetzen, bleibt keine andere Möglichkeit: Wir müssen unser Konsumverhalten grundlegend ändern. Und da wird es existenziell. Denn was bleibt von uns übrig, wenn wir nur noch ein Kind haben und auf die Ferien in Sri Lanka verzichten? Wofür arbeiten wir dann noch fünf Tage die Woche von morgens bis abends? Längst nicht alle haben erkannt, dass sich herrliche Ferienorte auch mit dem Zug erreichen lassen und Essen auch ohne Schnitzel hervorragend schmeckt. Und selbst wenn: Lässt sich dieses Dilemma überhaupt lösen in einem System, das auf stetig wachsenden Konsum ausgerichtet ist? Oder liegen die Aktivisten vom Basler Ölhafen richtig, wenn sie behaupten, wirksamer Klimaschutz brauche einen Systemwandel? Diese Überlegungen begleiten mich in den Herbst. Surprise 446/19


Über dem Mittelland hängt eine zähe Nebeldecke und für die Schweizer Politik steht eine wichtige Prüfung bevor. Im Bundeshaus in Bern beginnt Anfang Dezember 2018 die Wintersession. Hauptgeschäft im Nationalrat: das neue CO2-Gesetz. Mit diesem will der Bundesrat die Grundlage dafür schaffen, dass die Schweiz die Klimaziele von Paris einhalten und die Treibhausgas-Emissionen bis 2030 um 50 Prozent gegenüber 1990 reduzieren kann. Nun soll der Nationalrat über das Gesetz befinden. Es geht im Kern um die Frage, wo wir Treibhausgase reduzieren sollen und mit welchen Massnahmen. Der Gesetzesentwurf sieht vor, dass die Schweiz in Zukunft 60 Prozent der Treibhausgase im Inland einspart. Dafür will der Bundesrat unter anderem die CO2-Abgaben erhöhen und die Anforderungen an Gebäude und Neufahrzeuge verschärfen.

ARTWORK: BODARA

Kindergarten im Bundeshaus Die Debatte im Nationalrat beginnt an einem Montagnachmittag. Ich liege mit Grippe im Bett und verfolge die Diskussionen mit schweissnasser Stirn im LiveStream. Ich will wissen: Können wir Konsumenten uns tatsächlich entspannt zurücklehnen und uns in Sachen Klimaschutz auf die Politik verlassen?

Gleich zu Beginn der Debatte wird klar, wie tief die politischen Gräben beim Klimaschutz sind. Eine Gruppe von SVP-Parlamentariern findet die Vorlage des Bundesrats zu drastisch und fordert Nichteintreten. Auf der anderen Seite des politischen Spektrums kritisieren grüne Politiker, die Vorlage sei viel zu mild; sie wollen das Gesetz deshalb an den Bundesrat zurückweisen. «Leider ist die Vorlage, wie sie der Bundesrat präsentiert, ungenügend», kritisiert der Grüne Bastien Girod. Er fordert schärfere Bestimmungen für den Rückbau von Erdölheizungen, Vorschriften für den Finanzplatz und klare Reduktionsziele im Inland. Christian Imark von der SVP erklärt dem Parlament, «dass wir das Weltklima von der Schweiz aus praktisch nicht beeinflussen können» und warnt vor den Folgen für die Industrie. «Ich beantrage Nichteintreten. Wir plädieren dafür, dieses Gesetz weiter abzuschwächen.» Gegensätzlicher könnten die Perspektiven nicht sein. Das Parlament entscheidet trotz den Anträgen, auf das Gesetz einzutreten. Insgesamt zwölf Stunden diskutieSurprise 446/19

ren die ­Volksvertreterinnen und -vertreter in den folgenden Tagen darüber, was die Schweiz zum Klimaschutz beitragen soll. Über die Zulassung von Gaskraftwerken, Ölheizungen und Flugticketabgaben. Besonders umstritten ist die Frage, wo die Schweiz den Ausstoss von Treibhausgasen einsparen soll – in der Schweiz oder im Ausland. Einer bürgerlichen Allianz aus SVP und FDP gelingt es in den nächsten Tagen, den Gesetzesentwurf des Bundesrats Schritt für Schritt zu demontieren. Zuerst verhindert sie ein verbindliches Reduktionsziel, dann den Einbezug der Finanzindustrie und ihrer Investitionen, wie es das Klimaabkommen von Paris eigentlich vorsehen würde. Zuletzt beschliesst eine äus­ serst knappe bürgerliche Mehrheit, dass die Schweiz alle ihre Emissionen mittels Zertifikaten im Ausland kompensieren kann. Das ist Lichtjahre von dem entfernt, was der Bundesrat vorgeschlagen und die linken Parteien gefordert hatten. Zusehends kippt die Stimmung im Saal. SP-Nationalrätin Jacqueline Badran tritt wütend ans Rednerpult. Den Bürgerlichen sei jeglicher Mut abhandengekommen, kritisiert sie. «Es geht hier um die Rettung unseres Planeten, mit allen Lebewesen darauf, um die Lebensgrundlage von uns allen – um nicht mehr und sicher um nicht weniger!» Weitere Politiker schliessen sich

in ihrer Entrüstung an. Ganz zum Schluss der Debatte meldet sich nochmals CVP-Nationalrat Stefan Müller-Altermatt zu Wort. Er hatte das Parlament als Sprecher der vorberatenden Kommission während der vorhergehenden Tage durch die komplexe Vorlage gelotst. «Bitte verhalten Sie sich so, wie man es von räsonablen Volksvertreterinnen und -vertretern erwarten kann», appelliert er noch einmal an den Rat. «Einigen wir uns doch jetzt auf ein CO2-Gesetz, welches seiner Funktion als Klimaschutzgesetz auch gerecht wird. Stimmen wir ihm daher in der Gesamtabstimmung so zu!» Doch sein Appell verhallt ungehört im Saal, auch der Auftritt der damaligen Bundesrätin Doris Leuthard kann daran nichts mehr ändern. Als es zur Schlussabstimmung kommt, ist die Vorlage so stark verwässert, dass die linken Parteien dem Gesetz ihre Unterstützung verweigern. 69 Ja-Stimmen zu 90 Nein-Stimmen. So lautet am Ende das ernüchternde Abstimmungsergebnis. Rückblickend wirkte der Nationalrat auf mich während dieser vier Tage wie ein Haufen überforderter Kinder, die gemeinsam ein Schloss aus Bauklötzen errichten sollen. Die einen wollen starke Mauern, die anderen Schlupflöcher und heimliche Hinterausgänge. Am Ende sind alle unzufrieden und stossen das Gebilde um.

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FOTO:  SASKJA ROSSET

Kurz nach dem Jahreswechsel trete ich aus der Zürcher Bahnhofshalle unter den Winterhimmel und stapfe durch den Schnee aufwärts in Richtung der ETH. An der Hochschule bin ich mit Reto Knutti verabredet, Atmosphärenphysiker und einer der führenden Klimaforscher im deutschsprachigen Raum. Er hat vor wenigen Monaten die Klimaszenarien für die Schweiz publiziert und gehört zu den Hauptautoren des fünften Klimaberichts des IPCC, des Weltklimarats. Nach der wirren Nationalratsdebatte bin ich auf der Suche nach einer nüchternen Stimme. Ich möchte erfahren, wie die Wissenschaft auf die gesellschaftliche Debatte blickt. Handeln Politik und wir Konsumenten aus wissenschaftlicher Sicht vernünftig? Ich bezweifle es.

Reto Knutti, 45, Professor für Klimaphysik

«Wir wissen, was zu tun wäre: wegkommen vom CO2. Gemäss wissenschaftlichen Berechnungen wäre das technisch möglich und bezahlbar. Eine völlig andere Frage ist, ob der politische Wille besteht. Im Moment sieht es nicht sehr gut aus. Die Politik hat sich im Klimaschutz von einem faktenbasierten Dialog verabschiedet, so meine persönliche Interpretation aus den letzten Jahren. Es ist salonfähig geworden, sich seine eigene Realität zusammenzubasteln, Fakten werden immer mehr zur Interpretationssache. Es bräuchte mehr Einbindung der Wissenschaft in politische Prozesse. Nicht um Entscheide zu treffen, aber wir könnten den Stand der Wissenschaft in die Debatten einbringen und dafür sorgen, dass die Fakten eine Stimme erhalten. Zurzeit ist das nicht der Fall. Dabei wussten wir noch nie so genau über unseren Einfluss auf das Klima Bescheid wie heute. Bereits vor 100 Jahren warnten die ersten Wissenschaftler, dass mit dem Klimawandel ein Problem auf uns zukommen könnte. Heute haben wir so genaue und verlässliche Computermodelle wie noch nie. Es gibt keinen Zweifel, dass unser CO2-Ausstoss das Klima deutlich verändert. Wie wir konsumieren, fällt extrem ins Gewicht. Einmal nach Australien in die Ferien fliegen entspricht dem durchschnittlichen CO2-Jahresausstoss eines Schweizers. Man kann als Einzelner einen Unterschied machen. Aber das allein löst nicht das Problem. Es braucht Rahmenbedingungen der Politik. Die grosse Masse wird sich nicht freiwillig bewegen.»

«Die grosse Masse wird sich nicht freiwillig bewegen.»

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Ein Vortrag für drei Nationalräte Reto Knutti erwartet mich in einem der oberen Stockwerke des Departements für Umweltsystemwissenschaften. Auf einem Whiteboard in seinem Büro sind Verlaufsdiagramme und Formeln aufgezeichnet, daneben steht eine grosse Zimmerpflanze. Knutti, in Jackett und weissem Hemd, setzt sich an den runden Tisch in der Mitte des Raums, seine Augen blicken müde an diesem Morgen. Auf die Debatte im Nationalrat angesprochen, zieht er die breiten Schultern in die Höhe und lässt sie wieder fallen. «Ich war leicht frustriert. Was wir da gehört haben, war zu einem grossen Teil losgelöst von jeglichen Fakten.»

Damit spricht er insbesondere die Frage an, ob die Schweiz den CO2-Ausstoss im In- oder Ausland reduzieren soll. Zu behaupten, es spiele keine Rolle, wo die Schweiz reduziere, sei faktisch falsch. «Wir können den Klimawandel nur dann aufhalten, wenn jedes Land innerhalb der eigenen Grenzen den Ausstoss reduziert», sagt Knutti. Politische Entscheide in Sachen Klimaschutz müssen auf der Grundlage von wissenschaftlichen Erkenntnissen getroffen werden. Davon ist er überzeugt und dafür setzt er sich ein. Offenbar mit wenig Erfolg. Knutti erzählt mir, wie er zusammen mit weiteren Wissenschaftlern vor der Wintersession die Nationalrätinnen und Nationalräte zu einem Vortrag eingeladen hatte. «Wir wollten den aktuellen Stand der Forschung aufzeigen und darlegen, welche Klimaschutz- und Kompensationsmassnahmen aus wissenschaftlicher Sicht wirksam sind.» Zu der Veranstaltung in der Nähe des Surprise 446/19


ARTWORK: BODARA

Bundeshauses seien etwa drei Nationalräte erschienen. «Wenn ich sehe, wie unzureichend der wissenschaftliche Konsens in den politischen Klimadebatten repräsentiert wird, kann man sich fragen, weshalb es uns Forscher überhaupt noch braucht.» Reto Knutti erinnert mich an den deutschen Klimatologen, dessen Interview am Anfang dieser Recherche stand. Ein Forscher, der mit wachsender Verzweiflung beobachtet, wie die wissenschaftlichen Erkenntnisse im öffentlichen Diskurs verhallen. «Als Forscher haben wir eine Verantwortung, dafür zu sorgen, dass unsere Erkenntnisse gehört werden», sagt Knutti. Angetrieben von dieser Überzeugung und seiner Sorge um die Zukunft, ist Knutti während der vergangenen Jahre zu einer lauten Stimme in der Klimaschutzdebatte geworden. Er verteidigt die Fakten, und dafür wird er von verschiedenen Seiten immer wieder kritisiert. Er gibt fast jede Woche ein Interview, äussert sich auf dem Surprise 446/19

ETH-Blog und in den Sozialen Medien. Er weiss um den schmalen Grad zwischen Forschung und Aktivismus, auf dem er sich bewegt. «Uns läuft die Zeit davon. Dabei wüssten wir seit vielen Jahrzehnten, was zu tun wäre: Weg kommen vom CO2!», sagt er. Inzwischen tun es ihm viele seiner Forscherkollegen gleich und setzen sich dafür ein, dass die Fakten gehört werden. Ohne wirkungsvolle politische Vorgaben, ist Knutti überzeugt, werden wir eine Erwärmung von mehr als zwei Grad nicht mehr abwenden können. «Vielleicht ist deshalb die entscheidendste Frage, welche Politiker wir in die Ämter wählen.» Eine Gewissheit, die Mut macht Ich fahre im Zug durch das verschnei­te Land und denke zurück an die vergangenen Monate. Versagende Politiker, Freunde, die das Thema verdrängen, Forscher, die an der Wirkung ihrer eigenen Arbeit zweifeln. Dieser Text könnte pessimistisch en-

den, wäre da nicht jene neue Klimabewegung, die sich in den vergangenen Monaten gebildet hat. Bereits zu Beginn meiner Recherchen las ich von einer Schülerin aus Schweden, die jeden Freitag vor dem Parlament mehr Klimaschutz fordert und dafür die Schule schwänzt. Das war im Spätherbst und Greta Thunberg noch weitgehend unbekannt. Inzwischen ist die 16-Jährige das Gesicht einer weltweiten Bewegung, die mehrheitlich von Jugendlichen und jungen Erwachsenen angetrieben wird. Noch vor einem Jahr hatte ich mich gefragt, wo die Demonstrationen für mehr Klimaschutz bleiben. Heute streiken in ganz Westeuropa Schülerinnen und Schüler für mehr Klimaschutz. Als ich vor ein paar Tagen den demons­trierenden Jugendlichen durch die Stadt folgte, standen plötzlich mein elfjähriger Göttibub und seine ältere Schwester neben mir und skandierten den Slogan, der sich quer durch die westliche Hemisphäre verbreitet: «What do we want? Climate Justice! When do we want it? Now!» Die Schülerinnen und Schüler haben bereits viel bewirkt. Die Medien füllen sich mit Berichten und Diskussionen zum Klimaschutz. Die FDP, welche im Nationalrat zuletzt half, ein wirksames CO2-Gesetz zu verhindern, denkt im Wahljahr 2019 mit einem Mal laut über einen Richtungswechsel nach. Die Stadt Basel hat vor wenigen Wochen in einem primär symbolischen Akt den Klimanotstand ausgerufen. Und meine ehemals vielfliegenden Freunde reisen nun in ihren Ferien mit dem Nachtzug nach Italien. Während meiner Recherche ist der Klimawandel mitten in unserer Gesellschaft angekommen. Endlich hat ein breiter Dialog darüber begonnen, wie wir ihn stoppen können. Es ist an der Zeit, dass wir alle in den Spiegel schauen und uns fragen: Wie gross ist meine Verantwortung? Und was kann mein Beitrag gegen die Erwärmung unseres Planeten sein? In mir ist eine Gewissheit herangereift, die mir Mut macht: Die Zeit des Verdrängens ist vorbei. Niemand kann sich dem Thema mehr entziehen. Die Auseinandersetzung mit unserer Verantwortung – sei es laut und sichtbar an einer Demo, sei es still und eingekehrt mit sich selbst – ist unausweichlich geworden. Es bleibt die Frage: Werden aus unseren Gedanken und Worten auch Taten? Die Antwort darauf müssen wir selber finden. Jeder Einzelne von uns. 15


«Der Alarm ist ausgelöst. Entscheidend ist, wie wir reagieren»: Dirk Helbing warnt vor Dominoeffekten.

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«Es braucht uns alle» Zukunft ETH-Professor Dirk Helbing hat Staus und Massenpaniken untersucht. Er glaubt, dass uns das Wissen aus der Komplexitätsforschung auch bei Problemen wie dem Klimawandel helfen kann. TEXT  ANDRES EBERHARD FOTOS  JONATHAN LIECHTI

Herr Helbing, Ihr neues Buch beginnen Sie mit einer Metapher. Wir sitzen im Kino, als der Feueralarm losgeht. Unsere erste Reaktion sei es, schreiben Sie, sitzen zu bleiben und abzuwarten. Genau, denn es könnte ja ein Fehlalarm sein. Niemand möchte der Dumme sein, der als Einziger davonrennt. Darum sehen wir uns erst einmal um und schauen, was die anderen machen. Nicht sehr weise. In der Gruppe verhalten sich Menschen eben anders, als es jeder für sich tun würde. Wir kennen dieses Phänomen gemeinhin als Gruppendynamik. Mit der Metapher vom Feuer im Kinosaal spielen Sie auf den Zustand der Welt an. Brennt es? Das wissen wir im Grunde genommen schon lange. Seit den 70er-Jahren ist bekannt, dass die Begrenztheit der Ressourcen auf der Erde irgendwann zum Problem werden wird. Um bei der Metapher zu bleiben: Der Alarm ist also schon lange ausgelöst. Doch entscheidend ist, wie wir darauf reagieren. Wie viele Personen das Feuer überleben, hängt nämlich von der Zeit bis zur Evakuation ab – also der Zeit, bis die Ersten aus dem Kinosaal flüchten. Das klingt dramatisch. Was macht Sie so sicher, dass es sich nicht um einen Fehlalarm handelt? Surprise 446/19

Wir sehen das beispielsweise an den Migrantenströmen. Die Menschen fliehen, weil die Welt bei ihnen nicht mehr funktioniert. Die Probleme kommen näher, es fällt uns immer schwerer, sie vor den Toren zu halten. Das gilt für die Finanzkrise genauso wie für den Klimawandel und die Migration. Das sind Dinge, die für uns alle spürbar werden, rund um den Globus. In Ihrer Forschung sind Sie den Ursachen von Staus oder Massenpaniken auf den Grund gegangen. Was nützt das, um die Probleme der Welt zu verstehen? Wenn etwas schiefläuft in unserer Gesellschaft, versuchen wir oft, monokausale Erklärungen dafür zu finden, die Probleme zu personalisieren. Oft sind aber Systemfehler die Ursache. Menschenmassen, Verkehrsströme, aber auch die Wirtschaft und die Gesellschaft als Ganzes sind komplexe vernetzte Systeme. Wenn sie falsch konstruiert sind, geraten sie früher oder später ausser Kontrolle, selbst wenn alle immer versuchen, das Richtige zu tun. Wie ein Stau oder eine Massenpanik können eben auch Finanzkrisen oder Kriege Folgen von instabilen Systemen sein. Wie kann verhindert werden, dass ein System ausser Kontrolle gerät? Die Probleme entstehen meist durch Kaskadeneffekte. Das heisst, ein Problem löst ein anderes aus, das zu einem 17


nächsten führt, und so weiter. Wir müssen also die gegenseitigen Abhängigkeiten untersuchen, damit wir die Dominoeffekte antizipieren und stoppen können. Viele Systeme lassen sich durch multidimensionale Echtzeit-Feedbacks stabilisieren. Ein Beispiel: Wir haben ein selbststeuerndes Ampelsystem entwickelt, wo der Verkehr die Ampeln steuert, nicht umgekehrt. In der Stadt Dresden konnten wir zeigen, dass sich die Verkehrsflüsse so viel effizienter steuern lassen. Die heute üblichen Ampelsysteme sind zu starr, sie orientieren sich oft an vorprogrammierten, typischen Szenarien, die aber meist nicht perfekt zum tatsächlichen Verkehrsaufkommen passen. Wie soll das für globale Probleme wie den Klimawandel funktionieren? Wir haben vor einigen Jahren ein solches Projekt skizziert. Man könnte einen Echtzeit-Weltsimulator bauen, der mit Daten aus dem Internet sowie aus Archiven gefüttert wird und politische und wirtschaftliche Krisen vorausberechnen kann. Die Simulationen könnten dann von Entscheidungsträgern genutzt werden, um Katastrophen zu ­verhindern.

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Ihr Buch heisst «Toward Digital Enlightenment». Glauben Sie, dass die Digitalisierung uns dabei helfen wird, die Probleme der Welt zu lösen? Wir stehen unter dem Druck, das System in Richtung Nachhaltigkeit zu verändern. Im Prinzip gibt uns die Digitalisierung jetzt eine Möglichkeit, die wir jahrzehntelang nicht hatten: Wir können noch einmal auf den Reset-Knopf drücken, unser Leben und unsere Gesellschaft neu organisieren, indem wir unsere Erfahrungen und die neuen digitalen Mittel nutzen. Das ist eine riesige Chance. Ganz konkret: Wie können wir dank der Digitalisierung das Umweltproblem lösen? Wenn wir nicht grosse Rohstoffmengen im Weltall erschliessen können, dann geht es nur mit der Kreislaufwirtschaft und der Sharing Economy, die wir dank digitaler Mittel organisieren können. Wir müssen aufhören, Ressourcen anzuhäufen, die wir die meiste Zeit nicht nutzen. Im Dachgeschoss haben wir lauter Kram, wir besitzen Dinge wie die Bohrmaschine, die wir ein- bis zweimal im Jahr brauchen. Und das Auto steht meistens in der Garage oder in der Stadt herum. Was für Dinge gilt, gilt auch fürs Geld: Es muss dann verfügbar sein, wenn wir es brauchen – etwa für konkrete Projekte. Hier stecken wir in unserem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Denken fest. Wir brauchen ein neues Denken, ein neues Bewusstsein, ein neuer Zeitgeist. Es ist ja paradox. Roboter teilen alle Daten untereinander und machen gerade deswegen so rasant Fortschritte. Wir Menschen aber leben in einem System, das auf einer Konkurrenz von jedem gegen jeden beruht. Es braucht die Bereitschaft zum Teilen.

Was aber passiert, wenn diese Daten in die falschen Hände gelangen? Vielleicht ist das schon passiert. Ich hätte Bedenken, ein solches System einem Geheimdienst zu überlassen. Anstatt es wie einen «War Room» zu betreiben, schlage ich das Prinzip eines «Peace Rooms» vor. Das bedeutet, es braucht einen demokratisch legitimierten Handlungsrahmen, genügend Transparenz, interdisziplinäre Teams von Spitzenforschern, ethische Begleitung, einen multiperspektivischen Ansatz und partizipative Gelegenheiten, Die Digitalisierung hat aber auch Schattenseiten, sie beispielsweise für Zivilgesellschaft und NGOs, etwa wird vermutlich viele Jobs vernichten. Schätzungen crowd-basierte Ansätze. zufolge wird rund die Hälfte der Menschen ihre Arbeit verlieren. Deswegen müssen wir unser Sozialsystem rechtzeitig an die Anforderungen der digitalen Gesellschaft anpassen. Bei ähnlichen Umbrüchen wie etwa der industriellen Revolution gab es eine ziemlich katastrophale Übergangszeit, bis politische Massnahmen gefunden wurden, um die Not zu lindern. Man vergisst heute leicht, dass es damals Revolutionen und Kriege gab. Die möchten wir dieses Mal gerne vermeiden. Dafür müssen wir aber proaktiv handeln.

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Die Vermutung liegt nahe, dass die Digitalisierung vor allem die niedrig Qualifizierten treffen wird. Ich glaube, dass es fast alle Qualifikationsgrade treffen wird, auch Ärzte, Rechtsanwälte, Verwaltungsangestellte und so weiter. Wenn superintelligente Systeme eines Tages existieren, dann werden vielleicht die letzten Bastionen fallen. Was also tun? Brauchen wir das bedingungslose Grundeinkommen?

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Dirk Helbing

«Die Digitalisierung wird alle treffen, auch Ärzte, Anwälte, Verwaltungsangestellte.»

Der 54-Jährige ist seit 2007 ordentlicher Professor an der ETH Zürich. Sein Fachgebiet ist Computational Social Science, eine relativ junge Forschungsdisziplin, die mit Computersimulationen soziale Phänomene untersucht. Helbing, in Deutschland geboren und wohnhaft in Berlin, studierte und habilitierte sich in Physik. In seiner Doktorarbeit befasste er sich mit sozialer Selbstorganisation. Unter anderem dank seiner Forschung konnten die Pilgerströme von Mekka so geleitet werden, dass es zu keinen Massenunglücken mehr kommt. Helbing untersuchte auch das Unglück an der Love Parade 2010. Nicht eine psycho­logisch bedingte und daher schwer vorhersehbare «Panik», sondern zu viele Menschen auf engem Raum seien die Ursache für die Katastrophe gewesen, bilanzierte er. Soeben ist die von ihm herausgegeben Essaysammlung mit dem Titel «Towards Digital Enlightenment. Essays on the Dark and Light Sides of the Digital EBA Revolution» bei Springer erschienen.

DIRK HELBING

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Ja, aber nur als eine von mehreren Massnahmen. Es braucht auch Anreize, etwas für die Gemeinschaft zu tun. Ich schlage deswegen eine Investitionsprämie vor, die jedem zur Verfügung stünde. Diese dürfte man nicht für sich ausgeben, sondern müsste sie an andere verteilen. Damit könnte man soziale, ökologische und kulturelle Projekte finanzieren – vom Pflanzen von Bäumen in der Nachbarschaft bis zum Renovieren von Schulen und zur Finanzierung der Entwicklung neuer Medikamente. Was realisiert wird, würde in einer Art Crowdfunding entschieden. Das halte ich für sinnvoll, weil die Leute vor Ort am besten wissen, was nötig ist. Wir definieren uns heute stark über unsere Arbeit. Wer keine hat, wird von der Gesellschaft ausgegrenzt. Was wird geschehen, wenn in Zukunft jeder Zweite keinen Job mehr hat? Es ist ja nicht so, dass diese Menschen nichts tun möchten. Sie wollen an der Gesellschaft teilhaben, am politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Leben. Und zwar nicht nur als Konsumenten, sondern auch gestaltend. Wenn ich nun sehe, wie stark begrenzt meine eigenen Möglichkeiten sind, die Gesellschaft mitzugestalten – als Professor mit gutem Gehalt –, dann frage ich mich, wie viel begrenzter diese wohl erst für Menschen in anderen gesellschaftlichen Positionen sein müssen. Wenn wir viele Millionen Menschen ihrer Gestaltungsmöglichkeiten berauben, wie sollen wir dann die grosse Strukturtransformation auf den Weg bringen, welche die gesamte Gesellschaft betreffen wird? Es braucht uns alle, und deswegen müssen wir es schaffen, die gesellschaftlichen Kräfte gemeinsam kreativ und konstruktiv zu ­erschliessen. Bisher haben wir leider nicht den Weg gefunden, das erfolgreich zu tun. An genau dieser Baustelle müssen wir arbeiten.

«Wir haben es bislang nicht geschafft, die Ressourcen vernünftig zu verteilen.» DIRK HELBING

Lassen Sie uns diesen Gedanken noch etwas vertiefen. Was passiert mit unserer Gemeinschaft, wenn die Hälfte der Menschen arbeitslos ist? Spaltet sich dann die Gesellschaft noch stärker oder werden wir solidarischer, weil Arbeitslosigkeit in die Mitte der Gesellschaft rückt? Lassen Sie uns optimistisch sein. Wir könnten ja tatsächlich zu einem Szenario kommen, wo uns die schweren, schmutzigen, gefährlichen Arbeiten abgenommen werden. Und wo wir plötzlich Zeit haben für die Natur, unsere Umwelt, für Soziales und Kulturelles, für Kreativität und Spiritualität. Das Leben besteht ja nicht nur aus Arbeit. Die Frage ist natürlich, wie wir zu einer Verteilungsgerechtigkeit kommen. Denn bisher hat Rationalisierung oft dazu geführt, dass die verbleibende Arbeit von immer weniger Menschen erledigt wurde. Diese haben wenig Zeit und deswegen nur begrenzt etwas von ihrem Einkommen. Alle anderen haben keine Arbeit und entsprechend kein Geld. Wir haben es bislang wirklich nicht 20

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­ eschafft, die Ressourcen vernünftig zu verteilen. Das ist g schon sehr traurig. Denn es gibt ja sehr viel unerledigte Arbeit, gerade im sozialen und ökologischen Bereich. Gleichzeitig gibt es viele Arbeitslose, vor allem in anderen Ländern. Ein Grund, warum wir es nicht schaffen, dies besser zu koordinieren, liegt unter anderem in unserem eindimensionalen Wirtschaftssystem, das von Geld und Profit angetrieben wird.

«Die Politik muss den Katalysator für die digitale Gesellschaft bauen», fordert Dirk Helbing.

Müssen wir also den Kapitalismus abschaffen? Wir müssen ihn demokratischer machen. Das alte Geld-, Finanz- und Wirtschaftssystem, die alten Geschäftsmodelle haben uns zwar lange genützt, aber sie haben auch unseren Planeten gegen die Wand gefahren – die Erdölwirtschaft, die Autoindustrie oder die Finanzwirtschaft beispielsweise hatten daran einen grossen Anteil. Der ­Kapitalismus 1.0, der alleine auf Gewinnmaximierung und Konkurrenz beruht, jeder gegen jeden, ist nicht zielführend, es braucht neue Lösungen. Aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass unsere Gesellschaft insgesamt vom Wettbewerbsprinzip profitiert hat. Es braucht also einen demokratischeren Kapitalismus. Wie meinen Sie das? Wir müssen von einem Monopoly hin zu einem Soziopoly kommen. Neben Geld brauchen wir weitere Währungen. Auch unser Körper braucht ja nicht nur Kohlenhydrate, sondern auch Wasser, Proteine, Vitamine, Mineralstoffe und so weiter. Notwendig ist also ein digitales Upgrade unseres Geld-, Finanz- und Wirtschaftssystems. Dieses sollte umwelt- und sozialverträgliche Produktion belohnen. Dann können wir auch die Ressourcen, die meiner Meinung nach für die ganze Weltbevölkerung reichen, besser organisieren. Was wären die ersten Schritte dahin? Die Politik muss sozusagen den Katalysator für die digitale Gesellschaft bauen. Jede Gesellschaftsform braucht öffentliche Infrastrukturen und Services, um gut zu funktionieren: Bei der Industriegesellschaft waren es Strassen, bei der Servicegesellschaft Schulen und Bibliotheken, die digitale Gesellschaft braucht öffentliche Plattformen. Das bedeutet nicht nur ein schnelles Internet, sondern auch Daten und Services. Über solche Plattformen könnte etwa das bereits erwähnte Crowdfunding für alle im Rahmen der Investmentprämie stattfinden. Aber auch der Zugang zu Daten – einschliesslich unserer persönlichen – könnte über eine öffentliche Plattform geregelt werden. So könnten Menschen entscheiden, welche Firmen welche ihrer Daten verwenden dürfen und welche nicht. Alle könnten von den Daten profitieren und es könnte eine Art Informationsökosystem entstehen. Ausserdem gäbe es einen Vertrauenswettbewerb um unsere Daten, und das würde zu einer digitalen Vertrauensgesellschaft führen. Eine vielversprechende Perspektive, wie ich finde.

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1 1 Tig Notaro und Noah Harpster in «One Mississippi» (2015) 2 Milo Ventimiglia, Mandy Moore: die Pearsons in «This is Us» (2016) 3 Desmin Borges, Kether Donohue u. a. in «You´re the Worst»(2014) 4 Phoebe Waller-Bridge in «Fleabag» (2016)

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Tiefpunkte am Bildschirm Sadcoms Mit der Darstellung von psychischen Krankheiten taten sich Film und Fernsehen lange schwer. Durch den Boom von TV-Serien ändert sich das gerade. Sie könnten helfen, depressive Menschen besser zu verstehen. TEXT  MURIÈLE WEBER

In psychisch kranken Menschen spielen sich oft drama­ tische Szenen, geradezu epische Kämpfe ab. Dass diese meist nicht nach aussen dringen, macht es für Film und Fernsehen schwer, sie akkurat darzustellen. Äusserlich wirken Menschen mit Depressionen oft apathisch. Filme und Serien aber wollen unterhalten, und Apathie ist selten unterhaltsam. Audiovisuelle Medien haben sich deshalb lange damit schwergetan, psychische Krankheiten darzustellen. Dabei prägen Filme und Serien unsere Vorstellung der Welt 22

massgeblich mit. Die Darstellung verläuft oft in zwei Ka­ tegorien: der Freak oder das Genie. Während etwa ein Film wie «Silver Linings Playbook» mit Bradley Cooper und Jennifer Lawrence von 2012 die beiden Protagonisten als verquere Exzentriker darstellte, porträtierte die Serie «Dr. House» den von Hugh Laurie verkörperten Arzt als depressives Genie mit Ecken und Kanten. Ihre Probleme damit, Beziehungen aufzubauen oder aufrechtzuerhalten, werden thematisiert, aber ihr Unterhaltungswert liegt nun mal in ihrem Unangepasstsein, und darauf fokus­ Surprise 446/19


FOTOS: ZVG

sierte die Darstellung. Dabei eignet sich eine Serie grund­ sätzlich besser zur Darstellung von Depressionen als ein Film. Denn was Filme nur schlecht vermitteln können, sind die langen Jahre, die es oft braucht, bis sich jemand Hilfe holt oder bis eine Therapie zu wirken beginnt. Ob die jahrelange Qual mit Zeitsprüngen innerhalb von 90 Minuten dargestellt wird oder über 50 Stunden Serien­ material, macht in der Wahrnehmung der Thematik einen Unterschied. Das Genre der Sadcom vermag dabei die treffendste Darstellung. Sadcoms sind Sitcoms, die nicht mehr auf die nächste Pointe spielen, sondern sich der Studie von komplexen Charakteren widmen, wobei oft Misserfolge und Tragödien im Mittelpunkt stehen. Wenn die Komi­ kerin Tig Nataro in ihrer Serie «One Mississippi» ihre Darmkrankheit thematisiert, dann sieht man sie von Toi­ lette zu Toilette rennen, aber nie ist es ein billiger Witz, sondern eine abgrundtiefe Misere. Interessanterweise sind es in den meisten Filmbeispie­ len Frauen, die an Depressionen leiden. Dafür gibt es zwei Erklärungen. Erstens werden Frauen öfter als Depressive gesehen, weil es für sie noch immer einfacher ist, sich ver­ letzlich zu zeigen. Auf Männern lastet häufig der Druck, stark zu sein. Genau dies thematisiert die Serie «This Is Us», wo ausnahmsweise ein Mann an Depressionen leidet und dies auch mit seinen Kindern bespricht. Andererseits gilt das Fernsehen, im Gegensatz etwa zum Kino, als typi­ sches Frauenmedium. Die Hilflosigkeit der Aussenstehenden Zwei Sadcoms, die sich besonders darin hervortun, De­ pressionen akkurat darzustellen, sind «You’re the Worst» des amerikanischen Senders FX und «Fleabag» der BBC. In «Fleabag» hat die gleichnamige Protagonistin ihre beste Freundin verloren, mit der zusammen sie ein Café geführt hatte. Seither quält sich Fleabag durch die Tage, flüchtet sich in bedeutungslosen Sex, um überhaupt wie­ der etwas zu spüren, und hält sich die Menschen mit sar­ kastischen Kommentaren und gelegentlichen Einblicken in ihr düsteres Seelenleben vom Hals. Vor allem aber ist sie alleine. Weder Familie noch Freunde wissen wirklich, was in ihr vorgeht. Ab und zu bricht der schwarze Abgrund dann in den unpassendsten Momenten aus ihr heraus. Zum Beispiel, als sie in einem Taxi sitzt und der Fahrer sie im Small Talk fragt, warum sie das Café allein führe. «Es ist eigentlich eine lustige Geschichte», beginnt sie. «Meine Freundin hat sich unabsichtlich getötet.» Die Freundin wollte ihren fremdgehenden Partner bestrafen und beabsichtigte, sich selbst zu verletzen und ihm dann zu verbieten, sie im Spital zu besuchen. Deshalb lief sie vor ein Fahrrad, wurde aber auf die Strasse geschleudert und verstarb. «Sie ist so ein Arsch!», beendet Fleabag ihre Geschichte mit beissen­ dem Lachen. Der Taxifahrer schweigt betreten. Sie erzählt ihm die Geschichte, weil da niemand ist, der ihr wirklich zuhören würde. Viele Menschen funktionieren auch mit Depressio­ nen. Sie gehen arbeiten, treffen Freunde, betreuen ihre Kinder – nur dass sie es ungleich viel mehr Energie kos­ Surprise 446/19

tet, eine Normalität aufrechtzuerhalten, die es in ihrem Leben eigentlich schon lange nicht mehr gibt, die der Rest der Welt aber erwartet. Genau das zeigt die Serie «You’re the Worst» besonders gut. Darin treffen sich Jimmy (Chris Greer) und Gretchen (Aya Cash) an der Hochzeit seiner Ex-Freundin, deren Feier er stören will und an der Gretchen ein Küchengerät vom Gabentisch klaut. Die beiden haben einen One-NightStand und beginnen dann zögerlich eine Beziehung. Schon in der ersten Staffel medikamentiert sich Gret­ chen selber mit Sex, Alkohol und Drogen, aber erst in der zweiten Staffel zeigt sich, dass Gretchen seit ihrer Kindheit an Depressionen leidet, die sich mal stärker, mal schwä­ cher bemerkbar machen. Es beginnt damit, dass sie in der Nacht aus dem Bett steigt und mit dem Auto davonfährt, um in sicherer Distanz zu weinen – da, wo Jimmy sie nicht überraschen kann. Über mehrere Folgen verheimlicht sie ihm ihre Krankheit, bis er sie dann doch bemerkt. Was die Serie sehr schön zeigt, ist die Hilflosigkeit, mit der Umstehende sich auseinandersetzen müssen. Kein «Denk positiv», kein «Das wird schon wieder» und erst recht kein «Reiss dich doch zusammen» hilft. Gretchen zieht sich komplett in sich selbst zurück und liegt nur noch apathisch auf dem Sofa. Schliesslich sagt sie Jimmy, er solle sich von ihr trennen, weil es nicht besser werde. Jimmy ist verzweifelt hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, nicht aufzugeben, und der Unfähigkeit, eine Zu­ kunft für sie beide zu sehen. Eindrücklich ist dabei auch, was Chris Greer, der Dar­ steller von Jimmy, in einem Interview sagte: «Aya ist eine grossartige Schauspielerin. Sie bietet mir mit ihrer Dar­ stellung in allen Szenen immer so viele verschiedene Op­ tionen, spontan und unvoreingenommen zu reagieren. Aber während den Depressionsszenen kam, aus verständ­ lichen Gründen, nichts. Dabei konnte ich die Frustration, die Jimmy empfindet, bei mir selber fühlen, weil ich mich selber ständig fragte: ‹Mach ich das richtig? Mache ich genug? Mache ich zu viel?›» Damit hat Greer verständlich zusammengefasst, warum es für Umstehende so schwie­ rig ist, mit Menschen mit Depressionen umzugehen. Denn wenn die andere Person nicht mehr auf einen reagieren kann, ist man selber alleine.

«Fleabag», erhältlich bei Amazon «You’re the Worst», erhältlich bei Amazon oder über Streaming-Dienste «One Mississippi», erhältlich bei Amazon «This Is Us», läuft bei Sixx, erhältlich bei Amazon Weitere Beispiele: «United States of Tara», im Handel erhältlich, «Rick and Morty», Netflix, «BoJack Horseman», Netflix, «Shameless», läuft beim Bezahlsender FOX oder über Streaming-Dienste, «Please Like Me», Netflix, «Jessica Jones», Netflix, «Lady Dynamite», Netflix, «Crazy Ex-Girlfriend», Netflix, «13 Reasons Why», Netflix, «Homeland», läuft auf Sat1, «Mr Robot», bei Amazon oder im Handel erhältlich, «Louie», im Handel erhältlich, «Transparent», auf Amazon Prime streamen, «Girls», im Handel erhältlich. 23


Unterhaltsames Unbehagen Kino In Jeshua Dreyfus’ autobiografisch inspiriertem Zweitling «Sohn meines Vaters» stürzt sich ein naiver junger Mann in eine Affäre mit der Geliebten seines Vaters. TEXT  MONIKA BETTSCHEN

In einem Punkt sind sich die Menschen um Simon herum einig: Er soll endlich ein Mann werden. Will heissen, er soll sein Leben sowohl beruflich als auch privat auf die Reihe kriegen. Doch niemand scheint zu begreifen, dass es für ihn gerade in diesem Umfeld praktisch ein Ding der Unmöglichkeit ist, auf eigenen Füssen stehen zu lernen. Zu oft wird er in die ausgewachsenen Beziehungsprobleme seiner Eltern hineingezogen. Vater Karl, herrlich unausstehlich gespielt von Dani Levy, ist ein erfolgreicher Psychiater, der seine polyamouröse Neigung aktuell mit seiner Sekretärin Sonja auslebt. Anstatt sich diskret mit ihr zu treffen, schleppt er sie gleich mit einer selbstgefälligen Selbstverständlichkeit zum Schabbat mit, an dem seine Familie mit ihm eigentlich seinen 60. Geburtstag feiern möchte. Dass Simon seinen Eltern an diesem Anlass seine Freundin vorstellen wollte, quittieren diese mit einer verletzenden Mischung aus Abwertung und Gleichgültigkeit. Zu sehr sind sie mit eigenen Querelen beschäftigt, als dass sie sich ernsthaft für das Leben ihres Sohnes interessieren würden. Mutter Agnes (Sibylle Canonica) nötigt Simon nach einem Nervenzusammenbruch das Versprechen ab, zusammen mit Sekretärin Sonja das neue Buch von Karl zu transkribieren, damit dieser mit ihr statt mit der Geliebten in die Ferien 24

fährt. Der mit einem gutmütigen und auch gutgläubigen Naturell ausgestattete Simon beugt sich der mütterlichen emotionalen Erpressung. Und es kommt, wie es kommen muss: In Abwesenheit der Eltern beginnt der junge Mann aus naiver Neugier und Trotz heraus eine Affäre mit Sonja. Damit setzt er Prozesse in Gang, die neue Unruhe in das sowieso schon toxische Familiengefüge hineinbringen. Simon manövriert sich von einer misslichen Situation in die nächste, und in all der Tragik blitzen immer wieder komische Momente auf. Etwa, wenn Vater Karl in seinen FKK-Ferien in Denkerpose auf einem Stein kauert und den Sohn anruft, um zu erfahren, wie das Transkribieren des Buches voranschreitet. Das Halbwissen um die autobiografischen Züge Dimitri Stapfer ist für die Rolle des Simon, der von seinen Eltern mit seelischem Ballast überfrachtet wird, wie gemacht. In seinem sanften Gesicht ringen Gefühlsregungen wie Güte, jahrelang unterdrückte Wut und Überforderung auf überzeugende und berührende Weise während 89 Minuten um die Oberhand. Der 33-jährige Berner Regisseur Jeshua Dreyfus lässt die Öffentlichkeit wissen, dass sein mit dem Basler Filmpreis 2018 ausgezeichSurprise 446/19


Nachrichten aus der Scheibenwelt Buch In seiner Textsammlung «Aus der Tastatur

Beziehungen erfordern Rücksichtnahme. Schwierig, wenn die Selbstfindung wichtiger ist.

gefallen» lässt Terry Pratchett hinter die Kulissen eines Schriftstellerlebens blicken.

neter und für den Prix de Soleure 2019 nominierter Zweitling «Sohn meines Vaters» autobiografische Züge aufweise. Danach befragt, lässt er aber offen, welche Elemente vom realen Leben inspiriert worden sind. «Idealerweise schauen die Zuschauer den Film mit diesem vagen Hintergrundwissen genauer an, denken mehr da­ rüber nach, wenn sie wissen, dass der Film nicht komplett der Fantasie entsprungen ist.» «Sohn meines Vaters» ist äusserst unterhaltsam, fühlt sich gleichzeitig aber auch unbehaglich an, besonders dann, wenn Karl zugegen ist. In diesen Szenen liegt eine spezielle Qualität: Die Figuren provozieren mit ihrem selbstzerstörerischen, ignoranten oder passiven Verhalten stellenweise so sehr, dass man sie am liebsten kräftig durchschütteln möchte. Das Wissen darum, dass solch verschachtelte Familienkonstellationen im Rahmen des Möglichen liegen, steigert diesen Effekt noch zusätzlich. Jeshua Dreyfus, der Philosophie und Wirtschaft studiert und als Quereinsteiger zum Film gefunden hat, verhandelt in «Sohn meines Vaters» unter anderem die Frage, ab wann man anderen Menschen zu viel aufbürdet, indem man auf die eigene Selbstverwirklichung pocht. «Abgesehen von der Mutter sind alle Figuren damit beschäftigt, die Grenzen auszutesten, wie weit sie beim Befriedigen ihrer eigenen Bedürfnisse gehen können», so Dreyfus. «Stabile Beziehungen erfordern Rücksichtnahme und Kompromisse. Ich glaube, dass die 68er-Generation mit ihren Selbstfindungsbemühungen und die Menschen heute mit ihren Social-Media-Profilen in dieser Hinsicht in ein Dilemma geraten, weil Rücksichtnahme und Kompromisse oft nicht zum Ego-Traum passen.»

Jeshua Dreyfus: «Sohn meines Vaters», CH 2018, 89 Min., mit Dimitri Stapfer, Dani Levy, Sibylle Canonica u.a. Läuft zurzeit im Kino. Surprise 446/19

FOTO: ZVG

FOTOS: VINCA FILM

Haben Sie sich schon mal gefragt, wo der beste Ort ist, um ein Buch zu planen? Nun, im Bett, gleich nach dem Aufwachen. Das jedenfalls empfiehlt Terry Pratchett und fügt mit Selbstironie und augenzwinkerndem Understatement hinzu: «Ich glaube, mein Gehirn wird nachts von einem besseren Schriftsteller mitbenutzt.» Wohlgemerkt, das schreibt der vielfach preisgekrönte und zum Ritter geadelte Autor der Scheibenwelt-Romane, dessen Fantasy- und Science-Fiction-Bücher in 38 Sprachen übersetzt wurden. Britischer Humor in Reinkultur eben. In «Aus der Tastatur gefallen» hat er Buntgemischtes zusammengetragen, das klug ist, sachkundig und vor allem witzig. Texte, die hinter die Kulissen eines Schriftstellerlebens blicken lassen. Kommentare, Vorworte und Preisverleihungsreden, Texte zum Schreiben und zu Freud und Leid eines Autors auf Lesereisen, zu Fanpost, Fantasy- und Science-Fiction-Conventions. Und natürlich immer wieder über Fantasy, die gemäss Pratchett mit Ernsthaftigkeit, Liebe zum Detail und mit Sinn für Regeln betrieben werden sollte. Denn Fantasy ist in seinen Augen ein sehr realistisches Genre, das an der Realität nur etwas herumschraubt und hilft, aus einem anderen Blickwinkel Erkenntnisse über diese zu liefern. Wobei auch ein Terry Pratchett das allein gültige Rezept für erfolgreiches Schreiben nicht aus dem Ärmel schütteln kann. Und wenn, dann ähnelt dieses stark dem Rezept für erfolgreiches Boxen und steht entsprechend im Geruch von viel Knochenarbeit bis hin zur – oh weh! – Einhaltung von Rechtschreibung und Grammatik. Zum Erfolg gehört eben nicht nur Glück, sondern auch Interpunktion. Doch neben all dem Launigen über das Autorendasein, über Zauberer und Hexen, Weihnachten und Oma Pratchett oder auch Hüte, auf die er ein wahres Loblied singt, steht auch viel Zorn. Ein Zorn auf jegliche Art von Ungerechtigkeit, der stets ein Motor von Pratchetts Schreiben war. Mit «Tage des Zorns» ist denn auch das letzte Kapitel überschrieben. Zorn über das Aussterben der Orang-Utans, über den Krebstod seines Vaters – und immer wieder über Alzheimer, an dem Pratchett allzu früh erkrankt ist. Das Buch endet mit engagierten Plädoyers für die Sterbehilfe. Es deckt ein ganzes Schriftstellerleben ab – bis hin zum Tod. Dem Tod, dem der Autor mit dem Sensenmann in seinen Romanen ein Denkmal gesetzt hat. Ein Tod, der nicht grausam ist, nur sorgfältig, und mit viel Sympathie für die Kurzlebigen. CHRISTOPHER ZIMMER

Terry Pratchett: Aus der Tastatur gefallen. Gedanken über das Leben, den Tod und schwarze Hüte. Goldmann 2018. CHF 21.90

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Bern/Zürich «Weg», Theater, Fr, 15., Sa, 16., Do, 21., Fr, 22., Sa, 23. März, jeweils 20 Uhr; Mi, 20. März, 19 Uhr, Schlachthaus Theater Bern; Do, 28. und Fr, 29. März, jeweils 20 Uhr, Theater Rigiblick Zürich. schlachthaus.ch; club111.com

Erscanne dich selbst! Mit diesen Worten preist der Theater Club 111 seine neuste Produktion «Weg» an. Das Stück spielt im Gehirn von «Needer 101», von wo aus die Zuschauer an dessen Leben teilnehmen können. Needer 101 bewegt sich zwischen einer virtuellen, sinnlichen Abenteuerwelt und der Tristesse seines einsamen Lebens, das ihn in die schmierigen Räume einer Art digitalen Opiumhöhle treibt. Sein Leben ist ein Cyberrausch, fühlt sich aber real an. Neuste Technologie hilft ihm, Erlebnisse nach seinen Wünschen zu generieren. Doch auch über das virtuelle Pa­ ralleldasein entkommt er seiner Einsamkeit nicht. Wir brauchen in unserem Sozialleben eben mehr, als virtuell erfahrbar ist – auch wenn es manchmal aufreibend ist. EBA

Basel «Sturm und Regen», Geschichten am Sonntagnachmittag, So, 24. März, Fr, 5. April, Di, 7. Mai, jeweils 15.30 bis 17 Uhr, Literaturhaus Basel, Barfüssergasse 3, Anmeldung erforderlich unter lesen.bs.ch oder 061 267 62 95

Wer war schon mal am Meer? Habt ihr auch schon mal einen Brief geschrieben? Der Basler Erzähler, Autor und Leseförderer Urs Schaub weiss genau, mit welchen Fragen er seine Zuhörenden ins Gespräch verwickeln kann – ins Gespräch über Literatur. Ein hohes Ansinnen für Kinder ab fünf Jahren, die auf

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bunten Sofas das Stillsitzen üben. Auf eine Leinwand projiziert Schaub grossformatig die Illustrationen aus den sensibel ausgewählten Bilderbüchern, aus denen er vorliest und über deren grösseren Kontext er mit den Kindern spricht. Mal geht es um Brieffreundschaft, mal um den Erfinder der Glühbirne, mal sind Pinguin und Giraffe, mal intellektuelle Mäuse die Helden. Als Zugabe gibt es einen Zvieri, Sirup und Kaffee für die Eltern – alles gratis im Namen der Leseförderung und des Genusses für Gross und Klein. WIN

gross, ihr Anspruch global. Bei dieser sechsten Ausgabe des Festivals werden Dokumentarfilme über die grösste Müllhalde der Welt in Ghana («Welcome to Sodom»), die letzten indigenen Gemeinschaften («An den Rändern der Welt») und die hochtechnisierte Milchindustrie («Das System Milch») gezeigt. EBA

St. Gallen/Chur «Alles geben», Theater, Fr, 15., Sa, 16. März, jeweils 20 Uhr, Kellerbühne St. Gallen, St. Georgen-Str. 3; Sa, 23. März, 20.30 Uhr und So, 24. März, 18 Uhr, Klibühni Chur, Kirchgasse 14. kellerbuehne.ch; klibuehni.ch Linda und Marcel wollen ein «Achtsamkeits-Seminar» besuchen, um ihre Beziehung zu retten. Vordergründiger Streitpunkt des gut situierten Paares sind die drastischen Arbeitsanforderungen, denen sich Marcel seit Jahren nicht entziehen kann. Als er kurz vor dem Seminar einen Zusammenbruch erleidet, vermittelt seine Firma einen Burnout-Coach, der

um e n

Zürich «Wozu Wohnpolitik?», Podiumsgespräch, Do, 21. März, 19 Uhr, Zentrum Karl der Grosse, Eintritt frei, Anmeldung über karldergrosse.ch Wem gehören die Häuser in Zürich? Wer vermietet uns die Wohnungen? Wer profitiert von unseren Mieten? Warum ist eine Wohnpolitik so wichtig für die Stadt, und was hat das alles mit Bodenpolitik zu tun? Dies wird an der Podiumsdiskussion des Zentrums Karl der Grosse in Kooperation mit tsueri. ch verhandelt. Unter der Moderation von Helene Obrist (Watson) diskutieren Sarah Grossenbacher (Stv. Leiterin der Stadtentwicklung Luzern), Albert Leiser (Direktor HEV Zürich) und Niggi Scherr (Verein Noigass). EBA

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Zürich «Nebenrolle Natur Film Festival», Do, 14. bis So, 17. März, diverse Uhrzeiten, Rote Fabrik, Seestrasse 395. rotefabrik.ch Das «Nebenrolle Natur Film Festival – NNFF 2019» zeigt an vier Tagen elf Filme zu den Themen Menschen-, Klima-, Konsum- und Systemwandel. Begleitend finden Podiumsgespräche statt. Die Bandbreite der behandelten Themen ist

einen turbulenten therapeutischen Rettungsversuch unternimmt und auch Linda nicht aussen vor lässt. Im Anschluss an die Vorstellungen in St. Gallen finden Publikumsgespräche mit der Psychiatrie St. Gallen Nord statt. EBA

Partner des Theater Neumarkt

FOTO(1): YOSHIKO KUSANO, FOTO(2):ZVG

Veranstaltungen

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ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT

Agglo-Blues

Folge 29

Die Problemzone Was bisher geschah: Um die Firmenkultur des Unternehmens, in dem der ermordete Reto Schwander gearbeitet hatte, stand es nicht zum Besten, wie Vera Brandstetter herausfindet. Nicht nur, weil einige Mitarbeitende eine Verschwörung witterten. Im Büro startete Brandstetter den Computer und öffnete die Präsentation, die das Mordopfer erstellt hatte. Logos und Organigramme der Palladium Inc. sowie eines Hedgefonds erschienen. Auf einer nächsten Folie standen die jeweiligen Besitzer, neben einigen der Namen prangte ein sechszackiger gelber Stern. Die Verbindungen der Personen untereinander und zu verschiedenen Finanzhäusern – etwa Goldman Sachs – waren mit bunten Pfeilen dargestellt. Die Struktur der Palladium Holding umfasste mehrere Folien, ihr Anteil an der Comartec belief sich auf 56 Prozent. Der neue CEO hiess Leon Bloom. Brandstetter googelte ihn und fand ziemlich schnell heraus, dass er kein Jude war. Schwander hatte ihn in seiner Dokumentation als solchen gekennzeichnet. Sie wollte die Sekretärin anrufen, um einen Termin mit Bloom zu vereinbaren, aber die war bereits ausser Haus. Also wählte sie die Nummer des Elite-Fit, um ein Probetraining zu vereinbaren. «Welche Zeit passt dir am besten?», fragte die Frau, die sich als Selma vorgestellt hatte. «Ich bin recht flexibel, aber ich habe eine Bitte, ich würde gerne von Chris betreut werden. Er ist mir empfohlen worden.» «Ach ja, von wem denn?», ein Quäntchen Gift schlich sich in die süsse Melodie des professionellen Verkaufsgesprächs. «Von der Kollegin einer Kollegin.» Die Frau seufzte und Brandstetter war sicher, dass sie die Augen rollte. «Ich schau mal, was sich machen lässt.» Die Computer­ tastatur klickte. «Hm, warte mal, oh, wie wäre es morgen, ich hätte um zehn Uhr noch einen Slot mit Chris. Die Einführung dauert rund eine Stunde.» «Das passt», bedankte sich Brandstetter. Um die Zeit würde sie Olena nicht über den Weg laufen. Sie fuhr im Feierabendverkehr nach Hause. Dort suchte sie ihre Sportsachen zusammen, die tief unten im Schrank lagen. Sie packte eine ausgeleierte Trainerhose und ein schlabbriges T-Shirt ein. Surprise 446/19

Am Morgen, bevor sie losging, stopfte sie auch noch ein Paar Leggins und ein Tanktop in die Tasche. Chris stand am Empfang, als sie am nächsten Morgen kurz vor zehn Uhr das Elite-Fit b ­ etrat. Sein Händedruck war kräftig, er schien sich nicht an die Begegnung im Treppenhaus zu erinnern. In der Garderobe zog sie nach kurzem Zögern die Leggins und das Tanktop an. «Lass uns zuerst deine Trainingsziele analysieren.» Chris wies auf eines der Tischchen, das neben dem Empfang in einer Art Aufenthaltszone stand. Zwei Automaten mit isotonischen Getränken und Fitnessriegeln bildeten das Gastronomieangebot. «Die Problemzonen machen bei dir ja wenig Probleme», grinste er, nachdem er sie unverhohlen von oben bis unten gemustert hatte. Das galt hier wohl als Kompliment. Man zeigt, was man hat, schliesslich arbeitet man hart dafür. Neid muss man verdienen, Mitleid gibt’s gratis, die Richtung, dachte Brandstetter. So gesehen war sie eine Betrügerin, sie hatte seit Monaten keinen Sport mehr getrieben, dabei war sie lange Zeit geradezu fanatisch gewesen. Mit 13 hatte sie mit Karate begonnen. Eine klassische Variante, bei der die Grundtechniken immer und immer wieder geübt wurden. Bald ging sie dreimal in der Woche hin. Am besten gefiel ihr das Kampftraining. Sie wurde besser, fuhr am Wochenende frühmorgens zu Turnieren, in Mehrzweckhallen weit draussen auf dem Land. Sie gewann oft, aber nicht immer. Sie war keine gute Verliererin. Sie trainierte sich durch ihre Pubertät, die Probleme mit den Eltern, die verwirrenden Gefühle, das Interesse am anderen Geschlecht. Für nichts davon liess sie sich Zeit. Mit achtzehn war sie Junioren-Europameisterin. Mit neunzehn verletzte sie sich und musste aufhören. Seither hatte sie verschiedene Sportarten ausprobiert, aber keine mit derselben Leidenschaft ausgeführt. Zuletzt war sie ins Fit-Boxen gegangen, bei der Polizei absolvierte sie regelmässig ein Nahkampftraining. «Ich will nicht einrosten», antwortete sie auf die Frage nach ihrem Ziel. «Das kann ich mir in meinem Job nicht leisten.» «Was arbeitest du denn?», fragte Chris, der ihr Personalblatt, im Gegensatz zu ihrem Hintern, offenbar nicht allzu genau studiert hatte. «Ich bin Kriminalpolizistin.» «Oh.» Er wich unwillkürlich zurück.

STEPHAN PÖRTNER  schreibt und lebt in Zürich. Alle bisher

erschienenen Folgen des Fortsetzungskrimis gibt es zum Nachlesen und -hören unter www.surprise.ngo/krimi 27


IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Maya-Recordings, Oberstammheim

02

Cantienica AG, Zürich

03

Madlen Blösch, Geld & so, Basel

04

Schluep & Degen, Rechtsanwälte, Bern

05

Ozean Brokerage & Shipping AG, Muttenz

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Beat Vogel, Fundraising-Datenbanken, Zürich

07

InhouseControl AG, Ettingen

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Infopower GmbH, Zürich

09

Büro Dudler, Raum- und Verkehrsplanung, Biel

10

Hedi Hauswirth Psychiatrie-Spitex, Oetwil a. S.

11

SISA Studio Informatica SA, Aesch

12

Stellenwerk AG, Zürich

13

grafikZUMGLUECK.CH, Steinmaur

14

Waldburger Bauführungen, Brugg

15

Volonté Ofenbau, Schwarzbubenland

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CISIS GmbH, Oberwil

17

RLC Architekten AG, Winterthur

18

Sternenhof, Leben und Wohnen im Alter, Basel

19

Praxis für die Frau, Spiez

20

Fontarocca Brunnen + Naturstein, Liestal

21

OpenTrack Railway Technology GmbH, Zürich

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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

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Brother (Schweiz) AG, Dättwil

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Proitera, Betriebliche Sozialberatung, Basel

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Freunde der PH Zürich

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Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Der Weg in die Armut führte für Daniel Stutz über die Sucht. Als Jugendlicher rutschte der heute 44-Jährige in die Spielsucht und später in den Konsum harter Drogen. Dank einer Therapie schaffte er vor 7 Jahren den Ausstieg. Geblieben ist dem Zürcher Surprise-Verkäufer und -Stadtführer ein Schuldenberg. «Den Weg aus der Sucht habe ich hinter mir, der Weg aus der Armut liegt noch vor mir», beschreibt Daniel seine Situation. SurPlus gibt ihm dabei Rückenwind: «Es ermöglicht mir hin und wieder Ferien. Ausserdem bedeutet es, auch einmal krank sein zu dürfen – ohne gleich Angst haben zu müssen, die Miete oder Krankenkasse nicht zahlen zu können.»

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Wir alle sind Surprise Stadtrundgang Basel

#443: Herr Mourad und seine Richter

«Meine Ansicht geändert»

«Keine Hinterfragung»

Lilian Senn, Danica Graf und Markus Christen sprachen ein sehr deutliches Hochdeutsch, was ich als Ausländerin schätze. Sie sprachen zudem ohne Selbstmitleid, aber mit Humor über den Wahnsinn des Sozialhilfesystems. Mich hat am meisten beeindruckt, die Erfahrungen zum ersten Mal direkt von den Betroffenen zu hören. Dies hat meine Ansicht gründlich verändert. Mir ist jetzt bewusst, inwieweit die Spirale in die Armut von Schicksalsschlägen ausgelöst werden kann und wie wichtig eine stabile Kindheit ist. Ich hoffe, dass ich den Armen nie wieder die Schuld an ihrer Armut gebe. Ich danke Ihnen für ein Erlebnis, das dazu geführt hat, eine verständnisvollere Person zu werden.

Meine Frau kauft regelmässig das Magazin, und zwar beim gleichen Strassenverkäufer. Diese freundliche kurze Begegnung, man kennt sich bereits, finde ich beidseitig ausserordentlich aufbauend. Nun lese ich in dieser Zeitschrift manchmal auch Lebensgeschichten und versuche, sie zu verstehen. So wie die Geschichte von Herrn Mourad und seinen Richtern. Man könnte den Eindruck bekommen, ausser ein paar kleinen Vergehen eines leicht Ungehorsamen wird dem armen Kerl von den für die Rechtsstaatlichkeit zuständigen Personen nur Unrecht getan. Aber ich erkenne keine Hinterfragung von Rachid nach den Ursachen seiner leidigen Lebens­ situation. Er ist umgeben von Peinigern, er ist der Geplagte. Man kommt vom Eindruck nicht los, er sei ein Unschuldiger, von Pech verfolgt. Solche Geschichten stimmen eher gegen den Angeklagten, denn er hinterfragt nicht die wahren Gründe, die dazu geführt haben. Er äussert sich nicht dazu und wird wahrscheinlich seinen eingeschlagenen Lebensweg so weiterfolgen. Ehrlichkeit und Einsicht wären auch ein Thema in der Niederlegung von Geschichten im Surprise.

H. DICKINSON,  Basel

#438: Menschenrechte

«Ich kann nur mich verändern» Ich kann mit den Texten nichts anfangen, bis auf die hinterste Seite 30. Was ist jetzt damit gemeint? Zweitens: Wir alle sind ja vernetzt. Jeder ist ein Vorbild, ob man will oder nicht. In dieser Rolle kann ich nur mich verändern, sonst niemanden. Also überlege ich: Was brauche ich wirklich? Was tue ich? Zum Beispiel Plastik vermeiden und recyceln, viel Frischgemüse und kein Fleisch kaufen, jedoch nicht sektiererisch sein, die andern wollen auch leben. Ein Surprise kaufen, 100 Franken an Caritas oder Fastenopfer geben. Und zusehen, dass ich mit meinen Franken zurande komme. Mehr geht nicht. R. STAUBLI-EICHHOLZER,  Oberlunkhofen

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion
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 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Georg Gindely, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Dina Hungerbühler, Jonathan Liechti, Saskja Rosset, Murièle Weber

ERNST BIGLER,  Rüfenacht

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Surprise-Porträt

«Mit zehn war ich erwachsen» «Ich heisse Alunita Nicola – mein Nachname ist das Einzige, was ich von meinem Vater geerbt habe. Er starb, als ich wenige Monate alt war. Kurz vor seinem Tod waren meine Eltern vor der Ceaușescu-­ Diktatur in Rumänien nach Frankreich geflohen. Da war meine Mutter hochschwanger mit mir. Ohne Mann kehrte sie nach Rumänien zurück, um ihre vier Kinder dort aufzuziehen. Wir haben in einer Hütte gelebt. Vielleicht müsste man eher sagen, «überlebt». Oft hatten wir nichts zu essen, es waren nicht genügend Kleider für alle vorhanden, und um Wasser zu holen, musste ich mehrere Kilometer laufen. Ich war bereits mit zehn Jahren ­erwachsen. Statt in die Schule zu gehen, begann ich in diesem Alter auf den Gemüsefeldern zu arbeiten, u ­m meine Mutter finanziell zu unterstützen. Mit 19 Jahren ging ich das erste Mal als Saisonarbeiterin nach Deutschland, wo ich Spargeln und Beeren erntete. Ich brachte mir das Alphabet selbst bei und besuchte am Abend Deutschkurse. Mittlerweile spreche ich neben Rumänisch und Deutsch auch Italienisch, Französisch und sogar ein bisschen Schweizerdeutsch. In Rumänien zu leben ist nach wie vor schwierig. Es gibt dort keine Perspektive für junge Menschen. Armut und Korruption machen dir das Leben schwer. Du musst die Ärzte bezahlen, auch wenn du eine Krankenversicherung hast. Vor ein paar Jahren wäre ich beinahe an einer Blinddarmentzündung gestorben. Hätte meine Mutter die Ärzte nicht geschmiert, wäre ich nicht operiert worden. Ich bin froh, dass mein elfjähriger Sohn im Moment in der Schweiz in die Schule kann. Für mich ist das ­Leben hier auch nicht leicht, aber ich kann überleben und mein Sohn hat eine Zukunft. Ich kämpfe jeden Tag, um das Geld für meine Miete zusammenzukriegen. Mit dem Surprise-Verkauf komme ich gerade so über die Runden. Eine andere Festanstellung habe ich bisher nicht gefunden. Ohne permanente Auf­ enthaltsbewilligung ist das schwierig. Jedoch bräuchte ich wiederum eine feste Stelle, um meine Chancen auf eine permanente Aufenthaltsbewilligung zu erhöhen. Dieser Druck macht mich manchmal fast krank. Ich möchte unabhängig sein und genügend verdienen, damit mein Sohn ein besseres Leben führen kann, als ich es gehabt habe. Ich möchte ihm beibringen, dass man für sein Geld arbeiten muss, aber dann auch ­davon leben kann. Doch wie kann ich das ohne perma­ nente Aufenthaltsbewilligung und ohne feste Stelle? 30

Alunita Nicola, 33, stammt aus Rumänien, verkauft Surprise in Winterthur und wünscht sich, dass ihr Sohn ein besseres Leben führen kann als sie.

Wenn ich für Surprise Hefte verkaufe, vergesse ich diesen Druck zum Glück. Die Leute auf der Strasse geben mir Kraft. Viele ermutigen mich, wenn ich gerade nicht weiterweiss. Ich werde oft angesprochen. Viele ändern ihre Meinung, wenn sie meine Lebensgeschichte hören. Dieses grosse Interesse berührt mich. Eine Freundin hat mir von Surprise erzählt, als ich verzweifelt nach Arbeit suchte. Seit ich das erste Mal in das Surprise-Büro kam, ist immer jemand für mich da, wenn ich Hilfe brauche. Manchmal gehe ich in das Fussballtraining des Surprise-Teams. Dann schiesse ich sogar Tore. Meistens reicht die Zeit jedoch nicht fürs Arbeiten und noch Fussball spielen. Wenn ich gerade etwas Geld habe, gehe ich mit meinem Sohn ins Hallenbad. Oft muss ich sparen, dann unternehmen wir lange Spaziergänge. Mein grösster Wunsch ist es, eine gute Stelle zu finden. Am liebsten würde ich für die SBB Tickets verkaufen. Wie bei Surprise käme ich mit verschiedenen Leuten in Kontakt und könnte ihnen in ihrem Alltag helfen. Wahrscheinlich wird dies ohne Schulausbildung nichts. Andererseits habe ich gelernt, dass ich vieles erreichen kann, wenn ich hart arbeite.»

Aufgezeichnet von DINA HUNGERBÜHLER Surprise 446/19


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