Surprise Nr. 444

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Strassenmagazin Nr. 444 15. bis 28. Februar 2019

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass

Unfall

Nora lebt Die Zürcher Autorin Nora Zukker wurde vom Bus überfahren und hat überlebt. Wie, erzählt sie selbst. Seite 8

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GESCHICHTEN VOM FALLEN UND AUFSTEHEN Kaufen Sie jetzt das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» und unterstützen Sie einen Verkäufer oder eine Verkäuferin mit 10 CHF. «Standort Strasse» erzählt mit den Lebensgeschichten von zwanzig Menschen, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Porträts aus früheren Ausgaben des Surprise Strassenmagazins ergänzen die Texte. Der Blick auf Vergangenheit und Gegenwart zeigt selbstbewusste Menschen, die es geschafft haben, trotz sozialer und wirtschaftlicher Not neue Wege zu gehen und ein Leben abseits staatlicher Hilfe aufzubauen. Surprise hat sie mit einer Bandbreite an Angeboten dabei unterstützt: Der Verkauf des Strassenmagazins gehört ebenso dazu wie der Strassenfussball, der Strassenchor, die Sozialen Stadtrundgänge und eine umfassende Beratung und Begleitung. 156 Seiten, 30 farbige Abbildungen, gebunden, CHF 40 inkl. Versand, ISBN 978-3-85616-679-3 Bestellen bei Verkaufenden oder unter: surprise.ngo/shop Weitere Informationen T +41 61 564 90 90 | info@surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: Surprise NGO INS_Kurzportraet_GzD_Layout 1 09.05.17 15:43 Seite 1 INS_Kurzportraet_GzD_Layout 1 09.05.17 15:43 Seite 1

Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude

Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information

SURPRISE SURPRISE WIRKT WIRKT

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Erlebnis Erlebnis

Expertenrolle Expertenrolle

SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen und auf2die Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Gesellschaft. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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TITELBILD: GABI VOGT

Editorial

Die Verlangsamungsmaschine Ich halte nichts von der Idee, im Nachhinein sei man immer schlauer. Denn wir müssen nun mal (bis zur Erfindung einer Realitätskorrekturmaschine) damit ­zurechtkommen: dass wir Menschen falsche Entscheidungen treffen, unachtsam sind, uns überschätzen, unvorsichtig handeln. Und so Unfälle verursachen. Ein Unfall ist eine Art Alltagsumkehrer, eine Verlangsamungsmaschine. Plötzlich hat ­alles einen neuen Wert: Familie, Freunde, Arbeit, Hobbys, Finanzen. Was zuvor wichtig erschien, verliert an Bedeutung, und wo eben noch Hektik herrschte, hält nun Schneckentempo Einzug. Als würde man das Leben durch eine übergrosse Lupe betrachten, die wenig Weitblick zulässt und Naheliegendes enorm vergrössert.

Wenn also das Reden darüber das Befinden der Betroffenen verbessert. Denn eine ­Moral von der Geschicht – die gibt es meistens nicht. Die Schuldfrage ändert nichts am Geschehen. Der Heilungsprozess, ob seelisch oder körperlich, ob vollständig oder nur teilweise, verändert die Betroffenen. Wer es vermag, kann eine solche Erfahrung konstruktiv nutzen und neu geniessen, was das Leben bietet. Andere scheitern daran. Die Zürcher Autorin Nora Zukker hat selbst einen schweren Unfall überlebt. Ihr Artikel ab Seite 8 ist ein beeindruckender Hinweis auf die Bedeutung von Zeit, Empathie und den Wert des Lebens.

Hätte er mal ... wenn sie doch ... wäre ich nicht ... Über bereits Geschehenes zu ­klagen, macht nur dann Sinn, wenn es dem Verarbeitungsprozess zuträglich ist.

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

Wenn die Diebin klingelt

6 Moumouni …

... macht den Mund auf

7 Die Sozialzahl

Teilzeit und Gender

14 Ernährung

Was Kinder in einer Woche essen

SAR A WINTER SAYILIR

Redaktorin

22 Film

28 SurPlus Positive Firmen

25 Buch

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

Faire Unternehmer Im Sog der Therme

26 Veranstaltungen 27 Agglo-Blues

Der Niedergang der Comartec

30 Surprise-Porträt

«Mein ganzes Leben krachte zusammen»

8 Unfall

So fühlt sich Überleben an

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Aufgelesen

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 34 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

FOTO: PETER WERNER

Bürger fahren Bus In vielen kleineren Gemeinden Norddeutschlands fahren kaum noch Busse in die nächstgelegene Stadt – ein Problem für alle, die kein Auto besitzen. Darum gründen Bürger eigene Buslinien. So auch im nordfriesischen Ladelund, einem Ort mit 1400 Einwohnern zwischen Ost- und Nordsee an der Grenze zu Dänemark. Dort verkehrt seit 2014 ein Bus in die nächstgrössere Gemeinde. Rund 40 Freiwillige, darunter Hausfrauen, Handwerker und Pensionäre, aber auch der Bürgermeister und der Zahnarzt im Ort, nehmen die zehn Kilometer nach Leck unter die Räder. Ehrenamtliche sind es auch, die den Bus warten und reinigen, Fahrpläne austüfteln und Sponsoren anwerben. Die zwei VW-Busse konnten dank öffentlicher Unterstützung, privaten Spenden und Sponsorengeldern gekauft werden. Laufende Kosten werden durch Ticketeinnahmen von 1,50 Euro pro Fahrt gedeckt. Anfangs seien viele skeptisch gewesen, so Gründerin Heike Prechel. «Aber ich blieb hartnäckig, mit Erfolg.»

HEMPELS, KIEL

Mehr «Kangatarier» Australier hatten stets eine ambivalente Haltung zu ihrem Wappentier. ­Erlaubt ist der Verzehr von Känguru-Fleisch erst seit 1993, weitere sieben Jahre dauerte es, bis Supermärkte es auch verkauften. Noch heute gibt es überzeugte Fleischesser, bei denen kein Känguru auf den Teller kommt, weil sie das Tier zu sehr mit ihrer nationalen Identität verbinden. Doch in letzter Zeit scheinen die Hemmungen zu schwinden: Im Jahr 2017 wurden landesweit über sieben Millionen Kängurus getötet. 60 Prozent des Flei­sches landete auf dem menschlichen Speiseplan. Dahinter steckt eine ­wachsende Industrie. Anfangs hätten Jäger und Händler argumentiert, dass durch den Konsum von Känguru-Fleisch jener von rotem Fleisch (von Schafen und Rindern) zurückgehe, so Dr. Louise Boronyak von der Universität Sidney. «Das ist aber nicht passiert. Stattdessen ist eine weitere Fleischindustrie dazugekommen.» Inzwischen gibt es in Australien Vegetarier, die beim Känguru eine Ausnahme machen – sie nennen sich «Kangatarier».

BIG ISSUE AUSTRALIA, MELBOURNE

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Ohne Schutz

Obdachlose in den USA werden häufig Opfer von Gewaltverbrechen. In den Jahren 2016 und 2017 kam es zu insgesamt 112 registrierten Verbrechen gegen Obdachlose. Damit ist die Zahl von tätlich angegriffenen Obdachlosen seit 1999 auf 1769 gestiegen. Und dies sind lediglich die gemeldeten Fälle, die Dunkelziffer liegt um einiges höher. Wie die Nichtregierungs­ organisation «National Coalition for the Homeless» (NCH) mitteilt, sind viele der Verbrechen – darunter Mord, Vergewaltigung und Verstümmelung – durch Hass motiviert.

STREET SENSE, WASHINGTON DC

Schlafen im Sitzen

«Wenn es nicht regnet, schlafe ich lieber draussen.» Das sagt der Rumäne Marcu (Name geändert), der kein Bett im Rahmen des offiziellen Winternotprogramms der Stadt Hamburg erhalten hatte und in eine sogenannte Wärmestube verwiesen wurde. Dort gibt es keine Duschen, kein Essen und kein Trinken – nur 100 Stühle und mit Glück etwas Platz auf dem Boden. Er habe mehrere Nächte im Sitzen verbringen müssen, so Marcu.

HINZ & KUNZT, HAMBURG

2,5 Milliarden

FOTO: ZVG

Nach dem diesjährigen Ungleichheitsbericht der Hilfsorganisation Oxfam wuchs der Reichtum der Milliardäre weltweit innerhalb eines Jahres um 12 Prozent – das sind 2,5 Milliarden Dollar pro Tag. In Deutschland betrug der Anstieg gar 20 Prozent. Die statistisch gesehen ärmere Hälfte der Welt­ bevölkerung dagegen verlor in derselben Zeitspanne 11 Prozent ihres Vermögens oder im Schnitt 500 Millionen Dollar je Tag.

BODO, BOCHUM/DORTMUND

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Vor Gericht

Wenn die Diebin klingelt Kaum im überheizten Gerichtssaal, zieht sie ihren kanariengelben Strickpullover über den Kopf und verheddert sich beim Versuch, das Tageslicht wiederzufinden. Wüste Worte fallen. Sie wirken, als ob eine Schiffbrüchige wild mit einer Flagge fuchtelt: «Hilfe, hier bin ich!» Jacqueline P. * ist angeklagt wegen Einbruchdiebstahls. Nicht zum ersten Mal, wie der Richter beim Vorlesen des Vorstrafenregisters unterstreicht. Sein Versuch, das chaotische Leben der 41-Jährigen zu ordnen, scheitert: Da ist von einem tyrannischen Vater die Rede und einer alkoholsüchtigen Mutter, von gekündigten Wohnungen und Jobs, von Aufenthalten in Heimen und psychiatrischen Anstalten. «Irgendwann brachte ein Freund Heroin mit, und ich probierte es aus», wirft sie ein. «Mir war sowieso alles verleidet.» Seit Längerem bekommt sie das Ersatzmittel Methadon, fixt aber trotzdem noch regelmässig. Warum sie denn wieder so viele Delikte begangen habe, wo sie doch eine IV-Rente beziehe, will der Richter wissen. «Es ist halt einfach passiert», rechtfertigt sie ihre Beutezüge. Auf Spaziergängen durch die Stadt habe sie manchmal spontan auf die Klingel gedrückt, irgendeinen Frauennamen in die Gegensprechanlage gemurmelt, und schon surrte der Türöffner. Manche Haustüren standen bereits offen, und wenn sie in ein Haus gelangt sei, habe sie einfach alle Klinken runtergedrückt. Wo sich die Tür öffnete, packte sie ein, was in Reichweite lag. Das Geld brauchte sie für den Stoff, manche Sa-

chen für sich selbst, andere habe sie gegen Drogen getauscht, und fertig. Minutiös listet die Anklageschrift die Beute der sechs Einbrüche auf: Kopfhörer im Wert von knapp 300 Franken, eine Handtasche mitsamt Inhalt, zwei Smartphones, ein Tablet, eine Sonnenbrille Marke Gucci, ein Wollmantel, Schmuck, und so weiter und so fort. Summa summarum machten die Geschädigten eine Delikt­ summe von 20 000 Franken geltend. Die will Jacquelines Verteidigerin nicht auf ihrer Mandantin sitzen lassen. «Frau P. war immer allein und zu Fuss unterwegs. Also kann sie unmöglich zwei Kisten Wein abtransportiert haben, wie es ein Büro angab.» Sie spricht von höchstens 10 000 Franken. Angesichts der offenkundigen Nutz­ losigkeit der bisherigen Geldbussen und Strafen fragt der Richter ratlos: «Was machen wir mit Ihnen?» Jacqueline zuckt müde die Schultern: «Mir wurscht.» Die Staatsanwaltschaft fordert 15 Monate hinter Gittern; die Verteidigerin plädiert auf sechs Monate bedingt. «Was bringt es der Gesellschaft, wenn man Frau P. ins Gefängnis steckt?», fragt sie mehr rhetorisch. «Das kostet viel, aber es besteht keine Aussicht auf Resozialisierung.» Der Richter rechnet es Jacqueline an, dass sie nie Menschen bedrohte und «ein leichter Fall von Beschaffungskriminalität» sei. Er korrigiert die Deliktbeträge der Anklage nach unten und verurteilt Frau P. zu sechs Monaten Gefängnis unbedingt. «Wir hoffen», so fügt er ohne Euphorie bei, «dass Sie Ihre Zukunft nach der Haftentlassung ohne Drogen und Diebstähle gestalten.» * persönliche Angaben geändert

ISABELL A SEEMANN   ist Gerichts­reporterin

in Zürich. 5


ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

Moumouni …

… macht den Mund auf Ich glaube, dass es grundsätzlich wichtig ist, den Mund aufzumachen. Bei der Zahnärztin zum Beispiel. Da wäre es fatal, den Mund nicht zu öffnen, denn dann könnte sie ihren Job nicht machen und allfällige Probleme, die da im Mund schlummern, könnten nicht behoben werden. Karies und Parodontose würden sich ungehemmt ausbreiten, und das wäre sehr schlecht! Wenn man aber den Mund aufmacht, um etwas zu sagen, ist es wichtig, dass man auch weiss, was man sagt. Es gibt natürlich Ausnahmen: Ein Kind bei­ spielsweise lernt nie sprechen, wenn es nicht erstmal Sachen nachplappert, von denen es keine Ahnung hat. So wie es auch ok ist, dass Pubertierende hin und wieder was in den Raum stellen, ohne zu wissen, was die Konsequenz dessen ist. 6

Es gibt also Situationen, in denen es sehr wohl Sinn macht zu sprechen, obwohl man keinen Schimmer hat, worum es geht. In vielen anderen Situationen ist das aber nicht der Fall. Diese sprachgesteu­ erten Assistenzcomputer zum Beispiel, die einem zuhören und das Wetter ansa­ gen oder «George Harrison» rufen ­können, wenn man mal wieder vergessen hat, wie der Dritte von den Beatles hiess. Es wäre sehr ärgerlich, wenn der Com­ puter stattdessen «Pras Michel» rufen würde, das ist der Dritte von den Fugees, und der Computer hätte besser nichts gesagt als vollkommenen Kabis. In einer Demokratie ist das ähnlich, eigentlich sollten alle mitreden – aber erst, wenn sie wissen, wovon sie sprechen. Deshalb dürfen Babys, Kinder und Jugendliche auch noch nicht wählen. Auch Ausländer dürfen nicht wählen, schliesslich haben die auch keine Ahnung.

Ups, da ist der Fehler: Nicht bei einer ­Sache mitsprechen zu können, ist nicht das gleiche wie nicht zu dürfen. Und so gibt es oft ein tragisches Verhältnis ­zwischen denen, die den Mund aufma­ chen und es besser nicht tun sollten, und denen, die nicht gehört werden, aber sehr wohl eine qualifizierte Meinung ha­ ben. Mir fallen einige Bereiche ein, bei denen das ebenfalls der Fall ist. In vielen Diskussionen um Political Correctness zum Beispiel. Da äussern sich oft Leute, die sich mit bestimmten Wörtern, deren Bedeutung und Schlagkraft noch nie auseinandergesetzt haben, also eigent­ lich noch gar nicht so viel darüber sagen können. Und treffen dabei auf Leute, für die sexistische Witze, Homophobie, ab­ wertende Begriffe, der Ausschluss durch Sprache etc. schon immer ein Problem waren. Diese wiederum hatten historisch gesehen aber nie eine Plattform, sich dazu zu äussern, durften also nichts sa­ gen. Hätten die ersten ein bisschen ­geschwiegen, dann wäre für sie zum Bei­ spiel der Unterschied zwischen Flirten und sexueller Belästigung, der Fakt, dass es schon immer Homosexuelle und auch Transmenschen gab, und dass sich Leute zu Recht nicht gern als N*ger ­bezeichnen lassen, nichts Neues. Denn wenn man schweigt, kann man zuhören. Oder über eine Sache nachdenken. Und das wäre in vielen Situationen sehr gut. Zu den Themen, über die man lieber erst sprechen sollte, wenn man genau weiss, wovon man redet, gehören Quan­ tenphysik, Migration, Abtreibung, IV-­ Bezug, die koloniale Vergangenheit der Schweiz, Transgender und die verges­ senen Mitglieder von populären Bands. Wahrscheinlich ist die Liste noch viel länger, aber was weiss ich schon.

FATIMA MOUMOUNI  wollte nur mal kurz den Mund übers MundAufmachen aufmachen.

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INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK (2019): TEILZEITERWERBSTÄTIGKEIT IN DER SCHWEIZ 2017. NEUCHÂTEL.

Die Sozialzahl

Im zweiten Quartal 2017 arbeiteten in der Schweiz 1,7 Millionen Erwerbstätige Teilzeit, das sind knapp 37 Prozent aller Erwerbstätigen. Vor 20 Jahren waren es rund 28 Prozent. 59 Prozent der Frauen, aber nur 18 Prozent der Männer sind nicht vollzeitlich beschäftigt. Die Quote hat sich bei den Männern seit 1997 fast verdoppelt, bei den Frauen ist sie nur um etwas mehr als fünf Prozentpunkte angestiegen.

Offensichtlich übt die Lebens- und Familiensituation einen bedeutenden Einfluss auf den Beschäftigungsgrad von Frauen und Männern aus. Männer arbeiten am häufigsten Teilzeit, wenn sie alleinlebend sind. In familiären Lebenssituationen mit Kindern unter 25 Jahren nimmt hingegen die Vollzeiterwerbstätigkeit zu. Nur jeder zehnte Vater ist zu einem reduzierten Pensum erwerbstätig. Bei den Frauen ist genau der gegenteilige Verlauf zu beobachten. Alleinlebende Frauen arbeiten am seltensten Teilzeit im Vergleich zu anderen Lebens­ situationen. Leben Kinder und Jugendliche in einem Haushalt, so arbeiten acht von zehn erwerbstätigen Frauen nur noch teilzeitlich.

Ist das für die Familienpolitik eine positive Botschaft? Arbeiten heute mehr Männer teilzeitlich, weil sie sich stärker in der Care-Arbeit engagieren, häufiger zu den Kindern schauen oder sich an der Betreuung und Pflege von Familienangehörigen beteiligen? Zweifel sind angebracht, wenn man sich die aktuellen Zahlen der Schweizerischen Arbeitskräfteerhebung SAKE genauer ansieht.

Noch einmal wird das geschlechtsspezifische Muster der Teilzeitarbeit sichtbar, wenn nach den Gründen für die Teilzeit­ arbeit gefragt wird. Während Frauen am häufigsten angeben, zu einem reduzierten Pensum erwerbstätig zu sein, weil sie Betreuungsaufgaben in der Familie wahrnehmen, sind bei den Männern die häufigsten Gründe das mangelnde Interesse an einer Vollzeitstelle oder die Ausbildungssituation.

Zum Beispiel verlaufen die zeitlichen Kurven der Teilzeit­ quoten zwischen den Geschlechtern sehr unterschiedlich. Bei den Männern ist die Teilzeiterwerbstätigenquote (Anteil der ­Teilzeiterwerbstätigen an allen Erwerbstätigen in der entsprechenden Altersklasse) bei den 20- bis 29-Jährigen sowie bei den 60- bis 74-Jährigen am höchsten. Das deutet darauf hin, dass Männer hauptsächlich während der Ausbildungszeit sowie kurz vor und kurz nach dem Erreichen des Rentenalters zu einem reduzierten Beschäftigungsgrad arbeiten. In den Phasen der Familiengründung und der Kinderphase hingegen sinkt die männliche Teilzeitquote. Ganz anders sieht der Verlauf der Teilzeiterwerbstätigenquote bei den Frauen aus. Hier finden sich die höchsten Teilzeiterwerbstätigenanteile zwischen 40 und 54 Jahren, also in jener Zeit, wo es um die Betreuung der Kinder und die Wahrnehmung weiterer familiärer Verpflichtungen gegenüber älteren Familienangehörigen geht.

So erfreulich also auf den ersten Blick die über die letzten zwei Dekaden angestiegene Teilzeiterwerbstätigenquote bei den Männern ist, so zeigt die detaillierte Analyse, dass damit für die Frage der gemeinsamen Wahrnehmung familiärer Aufgaben zwischen Mann und Frau noch wenig gewonnen ist. Vielmehr deuten die aktuellen Daten darauf hin, dass nach wie vor die traditionelle Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern dominiert. Der «neue Mann» bleibt ein seltenes Wesen.

Teilzeit und Gender

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL  ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Vollzeit- und Teilzeiterwerbsquote nach Geschlecht und Altersgruppe, 2017, in % der entsprechenden Referenzbevölkerung 100

Männer Frauen

80

60

Vollzeiterwerbstätige

80,3 %

77,3% 39,1%

Teilzeiterwerbstätige

27,5%

64,4% 19,7 %

52,4% 43,7 % 53,4%

40

46,1%

42,4%

4,3%

20

0

11,5 %

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18,7 %

15–24

13,6% 25–39

11,0 % 40–54

14,2% 55–64

0,8% 12,0 % 7,6 % 65 und älter

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Toter Winkel. Und was von hier aus möglich ist Unfall Alle 38 Stunden stirbt in der Schweiz ein Mensch im Strassenverkehr.

Wer überlebt, hat Glück. Was macht es aber mit den Verunfallten, wenn das Leben innert Sekunden tiefe Risse bekommt? TEXT  NORA ZUKKER FOTOS  GABI VOGT

An einem Sonntag im letzten Juni zog ich die Wohnungstür hinter mir zu und kam nicht wieder zurück. Deutschland spielte bei der WM so schlecht, dass mein Vater, von dem ich die deutsche Staatsbürgerschaft habe, und ich es kaum aushielten, und die deutsche Nationalmannschaft viel zu früh ausschied. Trotzdem war ich voller Bewunderung für die sehnigen Körper mit den schnellen Füssen. Da wusste ich noch nicht, dass es mir wenig später beide Beine zertrümmert, die Haut und das Gewebe zerreisst, dass ich wie ein Kind wieder laufen lernen muss und den Rest meines Lebens mit der Invalidenversicherung zu tun haben werde. Menschen fallen von Leitern, Bäumen oder aus dem Fenster. Sie fahren mit dem Auto in einen Lastwagen, werden mit dem Motorrad aus der Kurve geschleudert oder kommen unter Tram, Zug und Bus. Ein Unfall geschieht innert Sekunden und wirft wuchtig Menschenleben durcheinander. Wenn ich an mich vor dem Unfall denke, erscheint es mir, als würde ich mir mit einer fremden Frau ein Leben teilen. In fünf Minuten wäre ich zu Hause gewesen, aber ich sah den Bus nicht, der um die Ecke kam. Der Busfahrer sah mich auch nicht. Toter Winkel. Ich stürzte, er hielt sofort an. Auf meinen Beinen. Er stieg aus, sah die Frau unter dem Rad (ob er damals wusste, dass ich noch lebe, weiss ich nicht – diese Bilder würde ich ihm gerne nehmen), stieg wieder ein und fuhr runter. Ja, ich war quer über die Strasse gelaufen und nicht dort, wo der Fussgängerstreifen ist. Nein, ich war nicht am Handy, hörte keine Musik, nein, ich war einfach glücklich über einen sommerlichen Sonntag mit meinem Vater und nicht sehr aufmerksam. Surprise 444/19

Durchschnittlich stirbt alle 38 Stunden ein Mensch im Stras­ senverkehr. 2017 kamen laut dem Bundesamt für Strassen in der Schweiz 230 Menschen bei einem Strassenverkehrs­ unfall ums Leben, 3654 Menschen wurden schwer verletzt. Bei 75 Unfällen mit Verkehrsmitteln des öffentlichen Stras­ senverkehrs verunfallten fünf mit einem Trolleybus. Wenn ich heute einen VBZ-Bus sehe und meinen kleinen Körper daneben, denke ich an eine Grafik aus der Schule. Darauf ist ein Elefant und viele kleine Menschen, um zu zeigen: So schwer ist das Tier. Ich werde nie begreifen, welche Kräfte wirkten, als mein kleiner Körper den Tonnen des Busses trotzte. Wie mir Stefan Krähenbühl von Roadcross Schweiz, der Schweizer Stiftung für Verkehrssicherheit, sagte, wird die Wahrscheinlichkeit, bei einem Unfall ums Leben zu kommen, über die Art der Verkehrsteilnahme bestimmt. Schwächere Verkehrsteilnehmende sind benachteiligt. So haben Fussgängerinnen ein höheres Risiko als Motorradfahrer, diese wiederum ein höheres Risiko als Autofahrerinnen. Nora lebt! Sie wurde vom Bus überfahren und lebt noch! Das sagten sich meine Familie und meine Freunde, als sie von dem Unfall erfuhren. 14 Operationen «Sie sind im Schockraum des Triemli-Spitals.» Ich wusste nicht, was ein Schockraum ist und befürchtete wegen des hohen Personalaufgebots um mich herum, man meine, ich sei Privatpatientin. Ich verstand nicht, dass die Not­ operation irgendwann abgebrochen worden war, weil ich sehr viel Blut verlor. Ein Körper im tiefen Schock kann nicht ewig operiert werden. Noch weniger verstand ich, 9


Nora Zukker  @NoraZukker  21. Juni 2018 Der Klingelton vom Telefon der Psychiaterin auf der Intensivstation ist: «Knockin‘ On Heaven‘s Door» – ­irgendwie möcht ich lieber nicht mit ihr reden. Nora Zukker  @NoraZukker  28. Juli 2018 Einfach mal kurz duschen. Man gönnt sich ja sonst nichts.

Nora Zukker  @NoraZukker  30. Juli 2018 Radiologieassistent: «Schwangerschaft ausgeschlossen?» Ich: «Natürlich, war ja vor drei Tagen schon hier!» Radiologieassistent: «Nach dem Wochenende frag ich immer nochmals nach.» Nora Zukker  @NoraZukker  30. Aug. 2018 Nicht nur Schraube locker, sondern gleich ganz raus. (Wenn man drei Wochen Narkosepause hatte, fährt die 13. richtig gut ein.)

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dass es danach erst los ging mit den bis heute 14 Operationen. Man nehme mir einen ganzen Sommer, klagte ich. Ich wurde ins Universitätsspital Zürich verlegt, wo ich zwei Monate auf dem Rücken lag oder ab und an im Rollstuhl durch den Park geschoben wurde. Ob ich dann Cellu­ lite an den Füssen hätte, wenn man die Haut meiner Oberschenkel, wie mit dem Sparschäler gehäutet, dorthin verpflanze? Und der grosse Zeh, der werde sich doch vom Bluterguss erholen? Nein, der Zeh war tot und überhaupt war an meinen Beinen mehr nekrotisch-schwarz als lebendig. Wussten Sie, wie wichtig die Lederhaut und das Fettgewebe an unseren Fersen ist? Diese Lederhaut haben Sie nur dort, die kann man nicht an einer anderen Stelle des Körpers wegnehmen. Man kann auch keine Fersen im Glas züchten. Ich laufe heute auf sehr wenig Gewebe und ganz dünner Haut, das ist eine Notlösung, aber die Alternative zur Prothese. Die Ärzte haben meinen Latissimus Dorsi, den gros­ sen dreieckigen Rückenmuskel unterhalb der Schulterblätter, rausgenommen und damit alles «gedeckt», was mir an den Beinen fehlte. Freie Lappenplastik nennt man diese Methode der Wiederherstellungschirurgie. Der grosse Zeh wurde amputiert, dafür versorgt seine Sehne jetzt die übrigen vier Zehen, die keine Sehnen mehr haben. Nach acht Wochen kam ich in die Rehabilitationsklinik nach Bellikon. Wer hier ist, hat überlebt. Das ist die gute Nachricht. Aber alle haben einen grossen Schreck, sie haben Arme, Beine, den Mut oder die Arbeit verloren und damit schier ihr altes Leben. Wenn ich vorher Unfallmeldungen im Radio hörte, wo von schwer- und schwerstverletzten Menschen die Rede war, wusste ich nicht recht, was ich mir darunter vorstellen sollte. Gemäss der Beratungsstelle für Unfallverhütung gilt als schwere Verletzung eine sichtbare Beeinträchtigung, die normale Aktivitäten zuhause für mindestens 24 Stunden verhindert. Also Bewusstlosigkeit, Knochenbruch oder ein Spitalaufenthalt von mehr als einem Tag. Für das Bundesamt für Strassen gilt ein Verunfallter als schwerstverletzt, wenn er lebensgefährlich verunglückt, mehr als 24 Stunden im Spital war und 30 Tage nach dem Unfall noch am Leben ist. Ich war also Schwerstverletzte und die anderen in den Rollstühlen um mich herum auch. Kaspar verunfallte auf Zypern mit dem Motorrad. Für den gebrauchten «Fixateur externe», eine Apparatur aus Karbon zur äusserlichen Fixierung von Knochenbrüchen, musste er 300 Euro bar Surprise 444/19


Nora Zukker  @NoraZukker  4. Okt. 2018 Heute hatte ich einen Beratungstermin fĂźr die Prothese. So offensichtlich der Verlust, so Ăźber­wältigend das GefĂźhl, diesen furchtbaren Unfall Ăźberlebt zu haben.

Die Gewissheit, dass ich irgendwann wieder laufen kann, gab mir die Kraft, jeden Tag vom Bett in den Rollstuhl zu wechseln und zu trainieren.

bezahlen, bis ihn die Rega fĂźr 45 000 Franken in die Schweiz flog. Joris hatte mit 22 Jahren einen Hirnschlag und sieht jetzt alles doppelt. Anna fiel beim Schlafwandeln vom Balkon 15 Meter in die Tiefe, kein Knochen blieb ganz. Ari verlor seine NOR A ZUKKER Hand in einer Metallfräse, Philip geriet in Flammen, als seine Wohnung abbrannte, und Lena trug Harassen in den Keller und stolperte. Jetzt trägt sie einen Helm und muss im Rollstuhl geschoben werden. Sie weiss zwar noch, wer sie ist, aber sie muss erst wieder sprechen lernen. Dagegen schien mein verlorener Zeh zunächst wie ein Kratzer. Erst mit der Zeit zeigte sich, welche Herausforderung es ist, auf einem Fuss zu stehen, der ohne Ferse, grossen Zeh und die ursprĂźnglichen Hautnerven zurechtkommen muss. Bis ich aufstehen durfte, vergingen Wochen, die ersten Schritte waren dann eine RĂźckeroberung. Die Gewissheit, dass ich irgendwann wieder laufen kann, gab mir die Kraft, jeden Tag vom Bett in den Rollstuhl zu wechseln und zu trainieren. Wer zahlt Diese Gewissheit hatten nicht alle in Bellikon. Wer ein Bein oder einen Arm verliert, muss sich an Prothesen gewĂśhnen und daran, dass er seinen Beruf vielleicht nie mehr ausĂźben kann. Im Unterschied zu vielen anderen bekam ich als selbständig Erwerbende keine 80 Prozent Lohnausfallersatz von der SUVA. Ich bin nur bei der Krankenkasse gegen Unfall versichert. Wegen meiner komplexen Verletzung aber wurden die Kosten fĂźr die neun Wochen Reha von der Krankenkasse diskussionslos gesprochen. Mehmet aus meiner Yogagruppe â€“ wo Sätze wie ÂŤwir heben die Arme Ăźber den KopfÂť oder ÂŤwir drĂźcken die Ferse in den BodenÂť ohne Arme und Fersen zu komischen Situa­ tionen fĂźhrten –, drohte der Entzug seiner Aufenthaltsbewilligung, weil er erst einen Arm und dann seine Arbeit verlor. Und wer zahlt dann? Mehmet, der sein Leben lang kĂśrperlich gearbeitet hatte, wollte davon nichts wissen, bis ich ihn zum Sozialdienst zerrte und sich herausstellte, dass das Migrationsamt doch kulant sein kann.

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đ&#x;˜­đ&#x;Ž‰đ&#x;’•đ&#x;˜­

Nora Zukker  @NoraZukker  8. Okt. 2018 Extremsport.

Nora Zukker  @NoraZukker  16. Okt. 2018 Am 17. Juni zog ich die HaustĂźr hinter mir zu. Heute ziehe ich in eine neue Wohnung. Das waren 17 eindrĂźckliche Wochen.

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Ich bin beschuldigte und geschädigte Person. Und ich bin die Verursacherin meiner eigenen Tragödie. Damit muss ich zurechtkommen.

Orthopädisch zugerichtet: Nora Zukker und ihre Sneakers.

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Sich Hilfe zu holen, ist nicht einfach, aber unausweichlich. Denn ein Unfall bedeutet Formulare, Formulare, Formulare. Ich habe schon früh Eva Clavadetscher von Roadcross Schweiz kennengelernt, sie hat sich um einen Anwalt für mich gekümmert. Sie erzählte mir, NOR A ZUKKER dass sich viele Menschen viel zu spät bei der IV meldeten. Dabei wäre es wichtig, sich spätestens nach einem halben Jahr Arbeitsunfähigkeit anzumelden. Nur dann kann die IV den Anspruch auf Leistungen prüfen und je nachdem Integrationsmassnahmen, Hilfsmittel, Taggelder oder eine Rente verfügen. Ich erinnere mich an den Nachmittag im Spital, es war Hochsommer, meine Mutter sass neben meinem Rollstuhl und füllte die Anmeldeformulare aus. Wir haben sehr geweint. Die Anmeldung bei der IV finde ich heute nicht mehr sehr schlimm. Schlimmer finde ich meine Massschuhe. Aus «Sneakers kaufen» wurde «orthopädische Schuhzurichtung». Psychisch geht es mir erstaunlich gut. Das sei nicht selbstverständlich, findet Frau Clavadetscher. Schwierig werde es immer dann, wenn die körperlichen Beschwerden irgendwann nachliessen und sich dann psychische Nachwirkungen zeige, die eine eingeschränkte Belastungsfähigkeit zur Folge haben. Bei psychischen Belastungen stellen Versicherungen die Kausalität zum Unfall gerne in Frage und bezeichnen die Beschwerden als Krankheit. Wenn die Betroffenen dann keine Krankentaggeldversicherung haben, zahlt die Unfallversicherung je nachdem nicht mehr lange. Roadcross Schweiz bietet in solchen Fällen kostenlose Beratung für Unfall­ opfer und Angehörige an. Allerdings betont sie auch, man trage als verunglückte Person bis zu einem gewissen Teil die Verantwortung, sich selbständig bei den Beratungsstellen zu melden und um Hilfe zu bitten. «Warum sind Sie denn nicht über den Fussgängerstreifen gegangen?», wollte die Polizei wissen. Eine berechtigte Frage. Aber so war es halt, der Unfall ist irreversibel, ich bin mein Leben lange versehrt und die Zeit wird zeigen, was von hier aus möglich ist. Dass ich ohne den grossen Rückenmuskel und mit diesen Füssen klettern

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Nora Zukker  @NoraZukker  31. Okt. 2018 Zwei 8jährige Jungs stehen für mich aus dem 4er Abteil im Bus auf. Der eine zum anderen: «Weisch d‘Frau brucht Platz für ihri grosse Schueh» Lovely.

lernen will, halten die Ärzte für einen kühnen Plan. Ich aber sehe es vor mir, und ich weiss auch, dass mir ein ortho­pädischer Schuhmacher passende Kletterschuhe bauen wird. Meine Imagination ist entscheidend für meine Heilung und schützt mich bis jetzt vor tiefer Verzweiflung. Die Schuldfrage Von der Staatsanwaltschaft wollte ich wirklich nie Briefe bekommen. Nun gelte ich als beschuldigte Person, weil ich die Verkehrsregeln verletzt habe. Wenn wir am öffentlichen Verkehr teilnehmen, können wir bei einem Unfall beides werden: verursachende oder geschädigte Person. Und der Busfahrer gilt als beschuldigte Person wegen fahrlässiger Körperverletzung. Eva Clavadetscher erklärte mir, dass es dabei grundsätzlich nicht um ­moralische Schuld, sondern um juristische Schuld und versicherungsrechtliche Haftung gehe. Ein Strafverfahren diene nicht der Vergeltung für mein Leid. Die juristische Schuld müsse geklärt werden, damit klar sei, welche Versicherung für den Schaden aufkomme. Dabei spiele der Grad meiner Verletzung und Behinderung keine Rolle. Ich hätte auch beide Beine verlieren können: Es ändert nichts daran, dass der Busfahrer alles richtig gemacht hat. Stefan Krähenbühl ergänzt: Bei 61 Prozent der schweren Fussgänger­unfälle ist der Kollisionsgegner alleiniger Verursacher. In 18 Prozent der Fälle teilen sich Fussgängerin und Kollisionsgegnerin die Schuld, und in 21 Prozent ist der Fussgänger alleiniger Verursacher. Polizei. Einvernahme. Staatsanwaltschaft. Strafverfahren. Ich bin beschuldigte und geschädigte Person. Und ich bin die Verursacherin meiner eigenen Tragödie. Damit muss ich zurechtkommen. Während ich diesen Text schreibe, wird das Strafverfahren gerade nach sieben Monaten eingestellt. Mein Anwalt könnte noch Beweisanträge stellen: eine Tatortbegehung und den Film aus der Buskamera anfordern, obwohl die Standbilder bereits alles zeigen. Aber die entstehenden Kosten, die ich bezahlen müsste, und die geringe Chance, dass die Sache plötzlich in ein anderes Licht rückt, ändern nichts daran, dass ich die Verursacherin bleibe. Ich habe alles gesehen. Die Bilder aus dem Bus und die Fotos meiner Füsse in allen Formen und Farben. Mit diesen Bildern bleibe ich alleine. Aber sie helfen mir zu verstehen, woher ich komme. Surprise 444/19

Nora Zukker  @NoraZukker  12. Dez. 2018 Für eine die den Bus im entscheidenden Moment nicht gesehen hat, find ich das bisschen frech.

Nora Zukker  @NoraZukker  8. Jan. An ganz wilden Tagen bestelle ich mir thematisch passende Socken im Internet.

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Kawakanih Yawalapiti (Brasilien, Xingu-Nationalpark) 9 Jahre, aus dem Yawalapiti-Stamm, der im brasilianischen Amazonasbecken lebt Kawakanih ernährt sich von Fisch, Maniok (ein Knollengemüse), Haferbrei, Früchten und Nüssen. Das Nachtessen zu besorgen brauche fünf Minuten, sagt sie. «Wenn du hungrig bist, gehst du mit deinem Fangnetz zum Fluss.» 14

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Kindermenü Ernährung Was essen Kinder in verschiedenen Teilen der Welt in einer Woche?

Der US-Fotograf Gregg Segal hat es bildlich festgehalten. Und darüber gestaunt, dass in ärmeren Ländern häufig gesünder gegessen wird. TEXT  ANDRES EBERHARD FOTOS  GREGG SEGAL

Übergewicht ist nicht nur in den USA ein Problem Segals Beobachtungen decken sich mit einer 2015 erschienenen Studie der Universität Cambridge. Diese zeigt auf, dass gerade die Menschen in ärmeren afrikanischen Ländern wie Tschad und Mali sich weltweit am gesündesten ernähren. Hinzu kommt, dass es in vielen Schwellenländern, etwa in Indien oder Malaysia, nicht die Ärmsten sind, die den ungesunden westlichen Fast Food konsumieren. «Die 13 Dollar für eine Pizza von Domino’s können sie sich nicht leisten», schreibt Segal. Vielmehr ist es die aufstrebende Mittelschicht, die viel Pizza, Burger und Chicken Nuggets isst – weil schnelle Kalorien süchtig machen, manchmal auch aus Statusgründen. Ungesunde Ernährung führt zu Übergewicht, welches wiederum häufig für chronische Krankheiten wie Herz-Kreislauf-­ Erkrankungen, Diabetes und Nierenprobleme verantwortlich ist. Gemäss der Weltgesundheitsorganisation sterben weltweit jährlich vier Millionen Menschen an den Folgen von Übergewicht und Fettleibigkeit. Dabei handelt es sich längst nicht mehr nur um ein Problem westlicher Gesellschaften wie den USA, Australien oder Europa. So gibt es etwa auch im Nahen Osten immer mehr Surprise 444/19

übergewichtige Menschen, die unter ihren Kilos leiden. In den Vereinigten Arabischen Emiraten, wo Segal bei seinem Besuch die 11-jährige Razan fotografierte, existierte vor 30 Jahren Diabetes praktisch nicht. Im Jahr 2014 hatte bereits jeder Fünfte oder 803 900 Menschen diese Krankheit. Warum nutzen wir den Wohlstand nicht zugunsten unserer Gesundheit? Segal sieht den Grund darin, dass wir uns dazu verleiten lassen, die Produktion unseres Essens an grosse Nahrungsmittelkonzerne auszulagern – mit der Folge einer immer stärkeren Verbreitung von ungesundem Fast Food und Fertiggerichten. Beispiel Nestlé: In Brasilien, das noch vor nicht langer Zeit mit vielen Unterernährten zu kämpfen hatte, versorgt der Schweizer Nahrungsmittelkonzern die Menschen mit günstigen Fertigprodukten – dank der Hilfe von lokalen «Mikrounternehmern», welche die Produkte in entlegene Gebiete transportieren. Nun nimmt der Anteil an hungernden Menschen in Brasilien tatsächlich ab. Dafür ist ein neues Problem geschaffen worden: 57 Prozent der Bevölkerung sind übergewichtig, jeder Fünfte gilt als fettleibig. Für den Fotografen Segal sind Hunger und Übergewicht deswegen zwei Seiten derselben Medaille. «In beiden Fällen fehlt den Menschen der Zugang zu nahrhaftem, gesundem Essen.» Dies hat auch die UNO erkannt, die unter dem Begriff «Mangel­ ernährung» heute nicht nur mehr zu wenig, sondern eben auch falsche Nahrung versteht – zu viele sogenannte leere Kalorien und tierische Fette, dafür zu wenig Vitamine, Mineralstoffe oder Eiweisse. Was also tun? Gregg Segal ist überzeugt, dass es nur eine Möglichkeit gibt: den Nahrungsmittelkonzernen und ihrer Snackkultur den Rücken kehren und wieder öfter selbst zur Kelle greifen. Auch wenn er damit vor allem die weit verbreitete Take-­awayKultur der USA im Blick hat, trifft Segal einen wunden Punkt, wenn er schreibt: «Nur wenn wir selbst kochen, wird uns bewusst, was wir zu uns nehmen.»

BILD: ZVG

Nach wie vor ist eine einfache, aber irreführende Vorstellung über unsere Ernährung weit verbreitet: Wer auf dieser Welt genug zu essen hat, ist gesund. Und wer kein Geld hat, hungert und leidet. Zwar gibt es trotz des insgesamt wachsenden Wohlstands noch immer viele Menschen, die aufgrund von Armut hungern. Gemäss aktuellen Zahlen der UNO sind es weltweit 821 Millionen oder ein Neuntel der Weltbevölkerung. Neun Millionen Menschen sterben jedes Jahr an Unterernährung, jede dritte Sekunde einer. Das ist viel. Viel zu viel. Dass Wohlstand allein aber nicht ausreicht, damit wir uns gesund ernähren, zeigt die Arbeit des Fotografen Gregg Segal auf plastische Art und Weise. Der Amerikaner reiste um den halben Globus, um Kinder inmitten des Essens zu fotografieren, das diese in einer Woche zu sich nahmen. Herausgekommen ist eine Serie namens «Daily Bread», in der man auf den ersten Blick erkennt, was auf unsere Teller kommt und was fehlt. «Überrascht hat mich, dass in armen Ländern tendenziell gesünder gegessen wird», schreibt Segal zu seinem Projekt, das er im April als Buch veröffentlichen will. So dominieren auf dem Bild mit der 11-jährigen Sira aus Senegal, die von sich selbst sagt, dass sie nicht immer genug zu essen bekommt, Getreide, Reis und Gemüse. Die Büchse Fanta sowie einige eingepackte süsse Snacks wirken wie Fremdkörper. Bei der 7-jährigen Greta aus Hamburg hingegen sucht man detektivisch nach Vitaminspendern zwischen Kalorienbomben wie Pommes, Pizza, Pouletschenkeln und Fischstäbchen.

Gregg Segal: «Daily Bread», powerHouse Books, erscheint am 16. April, ca. 40 Franken (englisch).

Die Werke aus dem Buch «Daily Bread» sind derzeit in folgenden Ausstellungen in der Schweiz zu sehen: – «Food Revolution 5.0» (bis So, 28.4), Gewerbemuseum Winterthur, Kirchplatz 14. www.gewerbemuseum.ch – «Wer is(s)t denn da?» (bis So, 4.8.), Kulturama, Englischviertelstrasse 9, Zürich. www.kulturama.ch

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Cooper Norman (Los Angeles, Kalifornien, USA) 10 Jahre, Vater Personal-Manager, Mutter Schulbeamtin Cooper bezeichnet sich als «aben­ teuerlichen Esser» und meint damit, dass er fast alles probieren würde. Am liebsten aber mag er die Küche Thailands, dem Heimatland seiner Mutter.

Soulaymane Landim Silva Fernandes (Nizza, Frankreich) 8 Jahre, eine Schwester, Vater Lieferant, Mutter Krankenpflegehelferin Zum Ende von Ramadan opfert die muslimische Familie ein Schaf, das mit Couscous serviert wird. Ansonsten kocht die Mutter häufig Fisch und Gemüse. Ab und zu gibt es auch etwas von McDonald’s.

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Razan Habib (Dubai, Vereinigte Arabische Emirate) 11 Jahre, Mutter Event-Koordinatorin, alleinerziehend Razans Lieblingsessen ist der Whopper von Burger King mit vielen Essiggurken. Ihre Mutter sagt, dass sie immer Gemüse auftische. «Doch sie rührt es einfach nicht an.»

Greta Möller (Hamburg, Deutschland) 7 Jahre, eine Schwester, Mutter alleinerziehend Gretas Lieblingsessen sind Fischstäbchen mit Kartoffelstock und Apfelmus. Nicht ausstehen kann sie Milchreis.

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Sira Cissokho (Dakar, Senegal) 11 Jahre, acht Geschwister, Vater Musiker, Mutter Hausfrau Sira hat nicht immer genug zu essen. Das meiste wächst im Garten der Familie, so auch Hirse und Erdnüsse. Für spezielle Anlässe kocht die Mutter Siras Lieblingsessen: Poulet.

Tharkish Sri Ganesh und Mierra Sri Varrsha (Kuala Lumpur, Malaysia) 10 und 8 Jahre, Vater Techniker in der Filmindustrie, Mutter Hausfrau Während der Woche essen Tharkish und Mierra, was ihre Mutter auftischt. Am Wochenende geht die Familie häufig zu KFC (Kentucky Fried Chicken), Pizza Hut oder zu einem Chinesen. Mierra mag gerne Süsses. Tharkish liebt Puttu, ein süsses lokales Reisgericht mit Kokosnuss und Banane.

Meissa Ndiaye (Dakar, Senegal) 11 Jahre, ein Bruder, Vater Techniker, Mutter Hausfrau Meissa liebt Ziegenfleisch und süsse Speisen wie Porridge. In dieser Woche machte er viele Sandwiches, die er mit allem Möglichen füllte: Spaghetti, Erbsen oder Pommes frites. 18


Andrea Testa (Catania, Italien) 9 Jahre, eine Schwester, Vater Soldat, Mutter Hausfrau Andreas Lieblingsessen ist Pasta Carbonara mit viel Speck. Blumenkohl kann er nicht ausstehen.

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Greta Deutschland Ø Einkommen: 50 582 CHF Big Mac: 4,72 CHF (ganze Eurozone) Kilo Reis: 2,40 CHF Unterernährte: <2,5 % Soulaymane Fettleibige: 22,3 % Frankreich Ø Einkommen: 43 910 CHF Big Mac: 4,72 CHF (ganze Eurozone) Kilo Reis: 1,88 CHF Unterernährte: <2,5 % Fettleibige: 21,6 %

Nona und Cooper USA Ø Einkommen: 59 543 CHF Big Mac: 5,49 CHF Kilo Reis: 3,88 CHF Unterernährte: <2,5 % Fettleibige: 36,2 %

Hamburg

Los Angeles

Sira und Meissa Senegal Ø Einkommen: 3485 CHF Big Mac: k.A. Kilo Reis: k.A. Unterernährte: 11,3 % Fettleibige: 8,8 %

Leona «Nona» Del Grosso Sands (Los Angeles, Kalifornien, USA) 6 Jahre, Mutter alleinerziehend

Nizza Catania

Dakar

Ihre Mutter zwingt Nona dazu, Gemüse zu essen, vor allem Broccoli. Nona mag nicht nur eine, sondern ganz viele Süssigkeiten.

Xingu-Nationalpark

Andrea Italien Ø Einkommen: 38 036 CHF (2017) Big Mac: 4,72 CHF (ganze Eurozone) Kilo Reis: 2,24 CHF Unterernährte: <2,5 % Fettleibige: 19,9 Prozent

Kawakanih Brasilien Ø Einkommen: 15 533 CHF Big Mac: 4,38 CHF Kilo Reis: 0,96 CHF Unterernährte: 3,3 % Fettleibige: 22,1 %

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Chetan Menge (Mumbai, Indien) 10 Jahre, Vater Nachtwächter, Mutter betreibt Kosmetiksalon

QUELLEN: Ø EINKOMMEN: CIA FACTBOOK, 2017; ÜBERGEWICHT: CIA FACTBOOK, NUR ERWACHSENE, 2016; UNTERERNÄHRTE: UNO WELTHUNGERBERICHT, 2018; PREIS FÜR BIG MAC: BIG MAC INDEX, THE ECONOMIST, 2018; PREIS FÜR 1 KILO REIS: NUMBEO.COM (ONLINE-DATENBANK, PREISE VON NUTZERN ZUSAMMENGETRAGEN)

Chetan Indien Ø Einkommen: 7169 CHF Big Mac: 2,50 CHF Kilo Reis: 0,70 CHF Unterernährte: 14,8 % Fettleibige: 3,9 %

Einst hasste Chetan Zwiebeln, heute aber isst er sie roh zu Pouletfleisch. Chetans Familie nimmt ihr Essen in der Regel vor dem kleinen TV in der Einzimmerwohnung ein.

Dubai Mumbai

Kuala Lumpur

Razan Vereinigte Arabische Emirate Ø Einkommen: 68 504 CHF Big Mac: 3,79 CHF Kilo Reis: 1,58 CHF Unterernährte: 2,5 % Fettleibige: 31,7 %

Altaf, Tharkish und Mierra Malaysia Ø Einkommen: 28 975 CHF Big Mac: 2,10 CHF Kilo Reis: 0,97 CHF Unterernährte: 2,9 % Fettleibige: 15,6 % Altaf Rabbal DLove Bin Roni (Kuala Lumpur, Malaysia) 6 Jahre, drei Geschwister, Vater Strassenverkäufer und Lieferant, Mutter Hausfrau Altaf isst am liebsten die mit Ingwer und Kräutern gewürzten Satay-Spiesse seines Vaters, die mit Erdnusssauce und Gurkenscheiben serviert werden. Surprise 444/19

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Patrick Hohmann (links) baute in Indien und Tansania Bio-Baumwollprojekte auf. Sina Trinkwalder (unten) leitet eine soziale Textilfirma mit 150 Mitarbeitenden.

Auf dem Feld des freien Marktes Film Es gibt sie: Unternehmer, für die Gewinn nicht das Wichtigste ist.

Der Schweizer Dokumentarfilm «Fair Traders» begleitet drei von ihnen und kommt ihnen nahe – hinterfragt aber zu wenig. TEXT  BENJAMIN VON WYL

Die Unternehmerin mit Brille versammelt ihre Belegschaft. «Das wird heute kein lustiges Gespräch», beginnt Sina Trinkwalder sichtlich wütend ihre Rede. Eine Angestellte hat sich krankschreiben lassen und anderswo schwarzgearbeitet. Das geht nicht, das ist unfair. Nicht nur wenn sie wütend ist, spricht Trinkwalder schnell und engagiert. Der Unternehmer mit grauen Haarsträhnen segelt mit zwei Weggefährten über einen Schweizer See. Patrick Hohmanns Blick schweift übers Wasser. «Du musst es wollen und du musst es tun», sagt Hohmann über seine Arbeit. Aus Hohmanns Mund tönt der Satz, der auch auf einem Motivationsposter stehen könnte, mehr nachdenklich als entschlossen. Trinkwalder und Hohmann sind zwei Protagonisten des Dokumentarfilms «Fair Traders». Der italienischschweizerische Regisseur Nino Jacusso nennt sie «Persönlichkeiten der freien Marktwirtschaft». So gegensätzlich ihre Temperamente wirken, es verbindet sie mehr als 22

ihre Position in der Firmenhierarchie. Beide setzen sich für Nachhaltigkeit und faire Arbeitsbedingungen ein. Sina Trinkwalder leitet eine Textilfirma mit 150 Mitarbeitenden, Patrick Hohmann gründete vor 36 Jahren die Textilhandelsgesellschaft Remei AG, die Bio-Baumwollprojekte in Tansania und Indien koordiniert. Die dritte Protagonistin des Films, Claudia Zimmermann, gründete einen Bioladen auf dem eigenen Hof. Niemand in «Fair Traders» hält Hymnen auf den freien Markt. Wenn der Markt erwähnt wird, dann nüchtern. Er ist schlicht das Feld, in dem man wirkt. Der Film nimmt zwei Unternehmerinnen und einen Unternehmer mit gegenteiligem Antrieb in den Fokus. Sie stellen ethische Überzeugungen nicht aus Profitwillen hinten an, sondern setzen sie ins Zentrum ihrer Arbeit. Obwohl der Film wohl nicht zufällig den Titel des allgmein bekannten «Fair Trade»-Labels trägt, wird dieses mitsamt seinen Zertifizierungsprozessen nicht explizit thematisiert. Es bleibt also dem Zuschauer überlassen, solche Surprise 444/19


FOTOS: FILMCOOPI

Verknüpfungen anzustellen. So kann der Begriff «Fair Traders» auch als Anspielung auf die Adrenalinjunkies an den Börsen verstanden werden. Trader kreieren oder verbrennen Geld mit dem Ziel der Profitmaximierung. Fairer Handel wird oft aus der Perspektive der Konsumentinnen und Konsumenten betrachtet: Deren Einkaufskorb entscheidet, ob sich fair produzierte Produkte durchsetzen. NGOs und die politische Linke argumentieren hingegen, die Politik müsse die Wirtschaft regulieren – wie das hierzulande etwa gerade im Rahmen der Konzernverantwortungsinitiative passiert. Kein Sweat­ shop-T-Shirt, das ein Kunde auf dem Wühltisch liegenlässt, sorgt dafür, dass sich Unternehmen zu Nachhaltigkeit und globaler sozialer Verantwortung verpflichten. Konsumenten, Wirtschaftsvertreter, Staat – wer in diesem

Diskussionsdreieck selten zu Wort kommt, sind jene Unternehmer, die sich zu 100 Prozent und freiwillig ihrer sozialen Verantwortung stellen. «Wir Unternehmer sitzen eine Stufe vorher am Hebel», sagt Sina Trinkwalder im Gespräch mit Surprise. «Wenn wir nicht mehr menschenverachtend produzieren, nehmen wir den Kunden einen Teil der Verantwortung ab.» «Mit der Ungerechtigkeit nicht klargekommen» Am Anfang stand Trinkwalders Idee: ein Textilunternehmen, das Bio-Baumwolle verarbeitet und in dem Leute arbeiten, denen der deutsche Arbeitsmarkt keine Chance mehr gab, älteren Langzeitarbeitslosen zum Beispiel. 2010 gründete Trinkwalder in Augsburg die manomama GmbH. Heute produziert diese Stofftaschen für Supermärkte und komplett in Deutschland produzierte Kleider, zum Beispiel die Baumwollhose «Moritz» für 99 Euro. Als der Gründerin die Idee für ihr ­Geschäft kam, hatte sie noch nie im Leben an einer Nähmaschine gesessen – im Unternehmertum verfügte sie aber bereits über E ­ rfahrung. Nach einem abgebrochenen Wirtschaftsstudium hatte Trinkwalder zusammen mit ihrem Mann eine Werbeagentur gegründet. Diese war erfolgreich und existiert bis heute, aber Trinkwalder erschien die Arbeit irgendwann sinnlos: «Ich bin mit der Ungerechtigkeit unserer Gesellschaft einfach nicht klargekommen. Die einen akzeptieren das, die

«Wenn wir nicht mehr menschenverachtend produzieren, nehmen wir den Kunden Verantwortung ab.» SINA TRINK WALDER

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anderen sehen weg, und die dritten krem­peln die Ärmel hoch.» Die Berufs­bezeichnung in Trinkwalders Mail­ signatur lautet «Mädchen für alles», sie hat mehrere Bücher und fast 100 000 Tweets verfasst. Beinahe täglich schreibt sie an ihre 29 000 Follower: «Guten Morgen, erstmal Kaffee». «Wenn wir uns von der Leistungsgesellschaft verabschieden und ein Miteinander hinbekommen, wird das eine wunderbare Sache», sagt Trinkwalder – gleichzeitig scheint sie selbst wenig Ruhemomente zu haben. Das Telefoninterview mit Surprise hat Trinkwalder in die Mitte eines Arbeitstags geschoben, der um sechs Uhr begann und in einem Abendtermin mit einem deutschen Minister endete. Der Samstag davor sei ihr erster freier Tag seit Wochen gewesen. Gibt es denn Momente, in denen sie sich von ihrer Tätigkeit abgrenzen kann? «Kommen Sie mir bloss nicht mit Work-Life-Balance! Wer sowas macht wie ich, hat wenig Zeit für sich. Aber mein Leben ist so voll menschlicher Begegnung, dass ich keinen Urlaub davon brauche.» Im Film kriegt sich Trinkwalder kaum mehr ein vor Lachen, als sie entdeckt, dass eine Mitarbeiterin, wenn die Schicht zu Ende ist, den Stromstecker an ihrem Arbeitsplatz per Schloss absperrt. Im Gespräch mit Surprise freut sie sich immer noch darüber. Das Steckerschloss wirke vielleicht absurd, aber die Hannelore sei ein sparsamer Mensch. Sie habe das gemacht, um Strom zu sparen. Sie habe eigenwillig, aber im Sinne des Unternehmens gehandelt. «Bei uns hat jeder seine Kanten, niemand muss sich angleichen. Es gibt einen unternehmerischen Rahmen, aber innerhalb davon kann sich jeder frei be24

wegen.» Natürlich gebe es Situationen, in denen Trinkwalder durchgreifen müsse. Eben zum Beispiel, wenn jemand offiziell krank ist und währenddessen schwarzarbeitet. «Gemeinschaft heisst, dass jeder auch was einbringt und sich nicht Einzelne auf Kosten der anderen nach oben ziehen.» Sie erkläre dann viel, gebe mehrere Chancen. «Wenn jemand partout nicht will, trennen wir uns von ihm.» Mit dem Herz bei den Angestellten Gesellschaftlich lehne sie den «moralinsauren Zeigefinger» ab und setze stattdessen auf Hebelwirkung. «Stellen Sie sich vor, Sie sind ein kleines Kind und vor Ihnen steht eine Süssigkeitenschüssel. Wenn ich Ihnen die Süssigkeiten verbiete, führt das zu keinem Umdenken. Wenn also jemand meint, er muss blutige Klamotten kaufen, soll er das tun.» Trinkwalder macht eine Pause und setzt dann nochmals an, hebt den Zeigefinger doch noch: «Er muss dann unter Umständen die Konsequenz tragen, dass er dafür verachtet wird.» In einer Szene von «Fair Traders» wirkt Trinkwalder herablassend. Als sie im Auto sitzt, lässt sie sich über ihre eigenen Angestellten aus und sagt dann, dass manche von ihnen wegen ihrer sehr eigenen Art wohl nirgendwo sonst eine Anstellung fänden. Während derselben Autofahrt sagt sie aber auch, dass man in ihrer Position überhaupt nicht nachtragend sein dürfe. Stimmt diese Selbstbeschreibung und denkt man sie mit dem freudigen Übermut zusammen, den sie ohne Unterbruch ausstrahlt, kommt man zum Schluss: Trinkwalder ist eine echte PaSurprise 444/19


Im Sog der Therme Buch Lucas Hararis erste Graphic Novel macht die Therme des Stararchitekten Peter Zumthor zum Schauplatz eines Mystery-Thrillers.

Claudia Zimmermann (unten) führt einen Bioladen auf dem eigenen Hof (links). Wie viel sie damit bewirken kann, thematisiert der Film «Fair Traders» allerdings nicht.

BILD: ZVG

tronin. Mit Herz bei der Sache, mit Herz bei ihren Angestellten – aber ihr ist anders als den Firmenpatrons früherer Zeiten der Bestand des Unternehmens nicht darum wichtig, weil sie es vererben will. «Fair Traders» hinterfragt wenig und ordnet kaum ein. Der Film gibt die Sicht der Protagonisten wieder und reiht deren Szenen kommentarlos aneinander. So wird nicht thematisiert, um wie viel schwächer der unternehmerische Hebel des Bio-Ladens von Claudia Zimmermann (der dritten Protagonistin im Film) im Vergleich mit Trinkwalders mittelständischem Unternehmen ist. Der Kontrast zu konventionellen Grossunternehmen fehlt komplett. Die Passagen über den Textilhändler Patrick Hohmann haben vor allem Memoirencharakter. Ohne die manomama GmbH und Trinkwalders raue Offenheit würde «Fair Traders» die Grenze zum Kitsch überschreiten. Aber die Eindrücke aus dem Textilunternehmen vermitteln, dass eine Wirtschaft, die den Menschen ins Zentrum stellt, nicht ohne Reibungen verläuft. Gerade wer will, dass sich die ganze Wirtschaft umbaut, muss sich mit diesen Reibungsmomenten auseinandersetzen. Die Leistung von «Fair Traders» ist also der Perspektivenwechsel: Fairer Handel geht nicht nur Politik, Konsumenten oder NGOs etwas an. Auch Unternehmen haben eine Hebelwirkung. Auch Unternehmerinnen und Unternehmer können ihr Gewissen ins Zentrum stellen.

Mit 13 Jahren besucht der französische Comic-Zeichner Lucas Harari (geb. 1990) mit seinen Eltern, beide Architekten, die 1996 eröffnete Therme von Peter Zumthor in Vals. Jahre später, nach einem abgebrochenen Architekturstudium und dem Besuch der Kunsthochschule, kehrt Harari nicht nur zu seiner Jugendliebe, dem Comic, zurück, sondern auch zu seinen Erinnerungen an die Therme, die zum Schauplatz seiner ersten Graphic Novel wird. Sie macht Zumthors architektonisches Meisterwerk zur fantas­ tischen Kulisse eines MysteryThrillers und ist zugleich eine zeichnerische Hommage an diesen aussergewöhnlichen Bau. Mit Blick auf Hararis biografische Wurzeln erstaunt es nicht, dass er mit dem Protagonisten Pierre ein unverkennbares Alter Ego ins Abenteuer stürzt. Wie der Autor selbst bricht Pierre sein Architekturstudium ab, und auch Pierres Gedanken kreisen um die Therme von Vals. Doch bei ihm ist es eine Obsession, die ihm keine Ruhe lässt. Sein Studium bricht er allein deshalb ab, weil es ihm nicht gelingt, das Geheimnis der Therme, die in seinen Augen mehr ist als nur ein Wellness-Tempel, zu entschlüsseln. Schliesslich bricht er nach Vals auf. Auch, um zu verstehen, warum die Therme ihn so unerbittlich anzieht. Schon diese Reise ist von düsteren Vorzeichen geprägt. Man könnte durchaus von Omen

sprechen. Ein Stein, der durch das offene Zugfenster fliegt, verfehlt Pierre nur knapp. So wie auch ein Auto auf der Strasse in Ilanz, wo er den Bus verpasst. Als er von einem alten Bauern mitgenommen wird, entgehen sie haarscharf einem Zusammenstoss mit einem anderen Wagen. Und doch bringt gerade diese Autofahrt etwas Licht ins Dunkel, wenn auch ein nicht weniger mysteriöses. Denn der Bauer erzählt Pierre die Legende vom Schlund des Berges, der alle 100 Jahre einen Fremden anlockt und verschlingt. Und dann kommt es knüppeldick: Der Zugang zu diesem Schlund soll sich ausgerechnet inmitten der Therme von Vals befinden. Spätestens jetzt geraten der Protagonist Pierre und wir mit ihm in den Sog der Therme, die nur noch scheinbar ein beschaulicher Ort ist. Dazu trägt auch das Figuren-Personal bei: ein Erfolgsautor, der hinter Pierres Erkenntnissen her ist, ein verrückter Alter, der den Schlund gesehen haben will, und eine verführerische Schöne namens Ondine. Dazu noch fliegende Steine und finstere Durchgänge, die sich in den Wänden der Therme öffnen und schliessen. All das eingefangen in Ligne-Claire-Zeichnungen, die mit Licht und Schatten spielen und deren Farben immer wieder vom Grau-Schwarz der Felsen von Berg und Therme verschlungen werden. Magisch!

CHRISTOPHER ZIMMER

Lucas Harari: «Der Magnet» Graphic Novel, Edition Moderne 2018, CHF 36.90

Nino Jacusso: «Fair Traders», Schweiz 2018, mit Patrick Hohmann, Sina Trinkwalder, Claudia Zimmermann, 90 Minuten. Ab 14. Februar im Kino. Surprise 444/19

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FOTO (1): LUCIA HUNZIKER, FOTO (2): MAURICE KORBEL, FOTO (3): MICHAEL BOE LAIGAARD

Veranstaltungen Dornach «Popoch», Theater, diverse Spieldaten und -uhrzeiten, 16. Februar bis 6. April, Neues Theater Dornach, Ticket Surprise erhältlich (2 bezahlen, eines geht an Bedürftige). schwarzbubenland.info/theater

Yonah Popoch wacht mitten in dieser Nacht auf und will alles ändern: sich und die Welt. Er will seine Frau Leviva verlassen und neu beginnen, um womöglich seine Seele zu retten. Das könnte alles geschehen, wäre da nicht ihr Nachbar Gunkel, der um drei Uhr morgens an ihre Wohnungstür klopft, um eine vor Jahrzehnten ausgeliehene Mütze zurückzufordern. Wie die meisten der über 40 Theaterstücke von Hanoch Levin, einem der bedeutendsten Dramatiker Israels (1943–1999), hält auch «Popoch» nicht nur der israelischen Gesellschaft kritisch den Spiegel vor, sondern ist gleichzeitig universeller Ausdruck grundlegender Fragen des Menschseins. Das Neue Theater Dornach bietet neu ein «Ticket Surprise» an. Die Besuchenden haben so die Möglichkeit, mit dem Kauf eines zusätzlichen Tickets Bedürftigen einen Theaterbesuch zu ermöglichen. Der Surprise Stras­ senchor konnte von diesem Angebot bereits profitieren. EBA

Zürich «Die Spirale des Abstiegs – Von Verlustängsten der ­Mittelschicht und dem Leben am Rand der Gesellschaft», Podiumsdiskussion, Donnerstag, 7. März, 20 Uhr, Theater Neumarkt, Am Neumarkt 5, Ticket Surprise erhältlich (2 bezahlen, eines geht an Bedürftige). theaterneumarkt.ch Vernon Subutex, der Protagonist der gleichnamigen Trilogie von Virginie Despentes, die im Januar im Theater Neumarkt Uraufführung hatte, ist desillusioniert. Bevor er selbst in die Abwärtsspirale geriet, dachte er immer, es sei wichtig, obdachlosen Menschen auf der Strasse aufmerksam zu begegnen und sie als Mensch wahrzunehmen, statt nur Geld zu geben. Nun ist er selbst auf die Gaben von Passanten angewiesen und pfeift auf deren Aufmerksamkeit. Denn die mache weder satt noch warm. Was das Trauma des Abstiegs mit Betroffenen macht und ob es allen so geht wie Subutex, möchte das

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Theater Neumarkt in Zusammenarbeit mit Surprise ausloten. Mit dabei: Stadtführer und Strassenmagazin-Verkäufer Daniel Stutz und Surprise-Geschäftsführerin Paola Gallo sowie weitere Gäste aus Journalismus und Wissenschaft. Wir verlosen fünf Tickets: Schreiben Sie eine E-Mail mit Namen und Adresse an info@surprise.ngo oder eine Postkarte an Surprise, Redaktion, Münzgasse 16, 4051 Basel, Betreff «Abstiegsspirale». Einsendeschluss ist der 28. Februar. W IN

Münchenstein «Schweizer Medienkunst», Ausstellung, 20. Februar (Eröffnung, 18 Uhr) bis 21. April, Haus der elektronischen Künste HeK, Frei­lagerPlatz 9, Münchenstein. hek.ch Die in der Ausstellung präsentierten Werke befassen sich mit digitalen Technologien und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft sowie ihrer wirtschaftlichen Dynamik. Die Künstlerinnen und Künstler äussern einerseits Bedenken hinsichtlich der immer engeren Verknüpfung von digitalen Systemen und wirtschaftlichen Prozessen sowie der daraus resultierenden potenziellen Entfremdung. Gleichzeitig laden sie die Besucher ein, Kontrolle über die uns zur Verfügung gestellten Instrumente zu übernehmen und so eine menschlichere Richtung einzuschlagen. Die Ausstellung besteht aus drei Einzelausstellungen zu den Preisträgern der 2018 erstmals verliehenen Pax Art Awards – einem Preis zur Förderung der digitalen und medienbasierten Kunst der Schweiz. EBA Bern «Heitere Saisoneröffnung», Lesung, Essen, Podium und Konzert, Sa, 16. Februar, 17 bis 23 Uhr, Heitere Fahne, Dorfstrasse 22/24, Wabern (gleich unterhalb der Talstation Gurtenbahn). dieheiterefahne.ch Anstelle von kollektiver Krisenstimmung und individueller Vereinsamung soll in der Heiteren Fahne zum Denken in Alternativen, zum Leben gemeinschaftlicher

Entwürfe und zum utopischen Bemühen angeregt werden. Wie können wir die Zukunft mitgestalten? Und wie wollen wir gelebt haben? Zur Saisoneröffnung findet um 18 Uhr ein Abendessen mit Lesung statt (Reservation online). Walter Däpp erzählt, und es werden Ausschnitte aus den Achtundsechziger-Biografien von Regula Keller und John Schmocker aus dem Buch «Revolte, Rausch und Razzien» gelesen. Um 20 Uhr folgt eine Podiumsdiskussion zum Thema «Wie wollen wir gelebt haben?», um 21 Uhr ein Konzert mit Tinu Heiniger und Hank Shizzoe. EBA

St. Gallen «Nordklang Festival», Musikfestival, Fr, 15. Februar, 19.30 Uhr, Kirche St. Laurenzen, und Sa, 16. Februar, diverse Uhrzeiten und Orte. nordklang.ch Immer im Februar findet in St. Gallen das Nordklang Festival statt. Nordische Bands treten auf verschiedenen Bühnen in der St. Galler Innenstadt auf. Die Stilrichtungen reichen von Rock, Pop, Indie und Folk bis zu den verschiedensten Mischformen. Am Samstag finden insgesamt 14 Konzerte statt, das Rahmenprogramm der Non-Profit-Veranstaltung umfasst auch eine Podiumdiskussion und ein Konzert des Sinfonieorchesters St. Gallen. EBA

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ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT

Agglo-Blues

Folge 27

Der Niedergang der Comartec Was bisher geschah: Bei den Ermittlungen im Fall eines ermordeten Joggers nahe ihres Wohnortes erfährt Vera Brandstetter von einer Firmenübernahme, über die eine langjährige Mitarbeiterin nur privat sprechen möchte. Frau Hoffmann nahm es Kommissarin Brandstetter nicht übel, dass sie 20 Minuten zu spät an der Tür schellte, und bat sie in die kleine Zweizimmerwohnung. «Das ist mein Refugium, ich wohne in Zwillikon draussen, das ist mir zu weit zum Pendeln. Mein Mann kommt unter der Woche gut ohne mich zurecht. Wir führen eine Art regionale Fernbeziehung.» Erika Hoffmann führte sie zum Esstisch, auf dem eine Flasche Weisswein und zwei Gläser standen. «Das geht mir ähnlich», lächelte Brandstetter und setzte sich. «Wie lange arbeiten Sie eigentlich schon für die Comartec?» «Exakt 30 Jahre. Am zehnten des vergangenen Monats war mein Jubiläum. Meinen Sie, das wäre irgendwie gefeiert oder auch nur erwähnt worden?» Hoffmann füllte die Gläser und sie stiessen an. «Martin Conrad, der alte Patron, hätte mir einen Blumenstrauss mit einem Umschlag auf den Tisch gestellt. Der kannte die Geburtstage und Jubiläen seiner engeren Mitarbeiter. Er war keiner, der ständig lobte, aber hin und wieder so eine Geste, das ist eigentlich alles, was es braucht. Wissen Sie, wenn es sein musste, bin ich bis morgens um zwei Uhr im Büro geblieben. Am nächsten Tag sass ich um Punkt sieben an meinem Platz. Mein Mann hat zum Glück immer Verständnis gehabt. Ich bin es, die den Lohn heimbringt. Er ist eben ein Träumer, und wissen Sie was? Auch die braucht es.» Sie nahm einen Schluck Wein. Brandstetter hatte an ihrem nur zum Anstossen genippt. «Der Firmengründer ist relativ jung verstorben?» Das hatte sie auf der Homepage gelesen. «Leider. Mit dem Junior ist dann alles anders geworden. Da war ich bereits über 20 Jahre im Betrieb und vielleicht war es ihm peinlich, dass ich ihn schon als Pfüderi im Büro des Vaters habe spielen sehen. Dass ich ihn getröstet habe, wenn er weinte, weil Surprise 444/19

der Papi keine Zeit für ihn hatte. Der Patron hat mir manchmal auch seine Sorgen mit dem Buben gebeichtet. Er hätte den jüngeren Sohn und sogar die Tochter als Nachfolger vorgezogen, aber die wollten nicht.» Sie schüttelte den Kopf. «Ich organisiere die Reisen, Flüge und Hotels. Der Sohn brauchte öfters ein zweites Ticket oder ein Doppelzimmer, es gab ein Appartement in der Stadt, das übers Geschäft angemietet wurde. Bei seinem Vater wäre das nicht denkbar gewesen. Es geht mich auch nichts an, aber wenn seine Frau mich anrief, die ich natürlich kannte, weil sie ab und zu im Büro vorbeikam, erst mit der kleinen Tochter und dann noch mit dem Bébé, und fragte, wo er war und ich sie anlügen musste, er sei in London aufgehalten worden, obwohl ich wusste, dass er bei seinem Gspusi war, das ging mir gegen den Strich.» «Warum hat der Junior die Firma verkauft?» «Weil er sie zugrunde gerichtet hat. Es lief immer schlechter, und die einzigen Massnahmen, die er ergriff, waren Entlassungen. Ich wusste oft als Einzige, was läuft. Das war nicht schön, wenn mir die Kollegin in der Kantine von ihrer neuen Wohnung erzählte und von der Einrichtung, die ein bisschen zu teuer war, und ich wusste, dass ihre Abteilung Ende Monat aufgelöst würde. Gar nicht schön war das, aber ich bin immer aufs Maul gehockt. Seit der Übernahme ist noch einmal alles anders. Noch zwei Jahre, dann lass ich mich frühpensionieren. Der neue CEO braucht mich noch, weil er keine Ahnung hat, wie der Laden läuft. Er ist Kanadier. Seine Methoden sind, sagen wir mal, ziemlich unorthodox.» «Inwiefern?» Erika Hoffmann trank ihr Glas aus und wiegte den Kopf. «Es wäre besser, wenn Sie ihn das selber fragen», sagte sie. Brandstetter erzählte ihr von Schwanders radikalen Ansichten. Hoffmann war erstaunt, er hatte sich bei der Arbeit nie etwas anmerken lassen. Gegen halb zehn Uhr fuhr Brandstetter nach Hause. In ihrer Wohnung trank sie ein Bier, ein Indian Pale Ale einer Schweizer Kleinbrauerei, das ihr Thorsten geschenkt hatte, und dachte über Schwander nach. Die Übernahme der Comartec und sein Rückzug aus den sozialen Medien lagen zeitlich nah beieinander. Hatte er Angst gehabt, die neue Firma würde ihn aufgrund seiner Ansichten entlassen? Sie kam nicht weiter, goss den Rest des Biers in den Abguss und ging schlafen. STEPHAN PÖRTNER  schreibt und lebt in Zürich. Alle bisher

erschienenen Folgen des Fortsetzungskrimis gibt es zum Nachlesen und -hören unter www.surprise.ngo/krimi 27


IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Madlen Blösch, Geld & so, Basel

02

Schluep & Degen, Rechtsanwälte, Bern

03

Ozean Brokerage & Shipping AG, Muttenz

04

Beat Vogel, Fundraising-Datenbanken, Zürich

05

InhouseControl AG, Ettingen

06

Infopower GmbH, Zürich

07

Büro Dudler, Raum- und Verkehrsplanung, Biel

08

Hedi Hauswirth Psychiatrie-Spitex, Oetwil a. S.

09

SISA Studio Informatica SA, Aesch

10

Stellenwerk AG, Zürich

11

grafikZUMGLUECK.CH, Steinmaur

12

Waldburger Bauführungen, Brugg

13

Volonté Ofenbau, Schwarzbubenland

14

CISIS GmbH, Oberwil

15

RLC Architekten AG, Winterthur

16

Sternenhof, Leben und Wohnen im Alter, Basel

17

Praxis für die Frau, Spiez

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Fontarocca Brunnen + Naturstein, Liestal

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OpenTrack Railway Technology GmbH, Zürich

20

Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

21

Brother (Schweiz) AG, Dättwil

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Proitera, Betriebliche Sozialberatung, Basel

23

Freunde der PH Zürich

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Osteopathie Martin Lieb, Bern

25

Kaiser Software GmbH, Bern

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Der Weg in die Armut führte für Daniel Stutz über die Sucht. Als Jugendlicher rutschte der heute 44-Jährige in die Spielsucht und später in den Konsum harter Drogen. Dank einer Therapie schaffte er vor 7 Jahren den Ausstieg. Geblieben ist dem Zürcher Surprise-Verkäufer und -Stadtführer ein Schuldenberg. «Den Weg aus der Sucht habe ich hinter mir, der Weg aus der Armut liegt noch vor mir», beschreibt Daniel seine Situation. SurPlus gibt ihm dabei Rückenwind: «Es ermöglicht mir hin und wieder Ferien. Ausserdem bedeutet es, auch einmal krank sein zu dürfen – ohne gleich Angst haben zu müssen, die Miete oder Krankenkasse nicht zahlen zu können.»

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 14 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

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Wir alle sind Surprise

Stadtrundgang Zürich

Stadtrundgang Bern

«Lebensnah und gesellschaftskritisch»

«Viel Mut»

Dass es den Stadtrundgängen gelingt, das Thema Armut ohne jeglichen Mitleidsfaktor, sondern eindringlich, gesellschaftskritisch, informativ und auf Augenhöhe den Teilnehmenden zu transportieren, ist ein sehr grosser Wert. Ändu Hebeisen hat sehr lebensnah, verständlich und auch mit seiner persönlichen Geschichte an das Thema herangeführt, was uns einen nachhaltigen und eindrucksvollen Tag ermöglicht hat. C. HEYDEN,  Bern

Strassenmagazin

Strassenverkäufer

«Solidarisch»

«Verspielt und zugewandt»

Kompliment für das tolle Heft. Finde es immer lesenswert. Und da ich auch dreimal arbeitslos war, früher, weiss ich, wie man sich fühlt, wenn man keine Arbeit hat. Deshalb meine solidarische Unterstützung.

Machen Sie doch mal ein Porträt von diesem verspielten, so zugewandten jungen Mann, der Surprise am Bahnhof SBB Basel verkauft. Ein Glück, ihm jeweils zu begegnen. Und weiter so, ich lese jedes Heft.

N. TORRES,  Zürich

R. GERBER,  Basel

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion
 Verantwortlich für diese Ausgabe: Sara Winter Sayilir (win) Amir Ali (ami), Andres Eberhard (eba) Reporter: Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99
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Surprise 444/19

Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Rahel Nicole Eisenring, Georg Gindely, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Gregg Segal, Gabi Vogt, Benjamin von Wyl, Nora Zukker Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach

G. MEUKENS,  Belgische Union Zürich

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten Strassen­verkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort

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Unsere kleine Gruppe war recht beeindruckt von den Schil­derungen, die Hans Rhyner machte. Er hat auf eindrück­liche Weise aus seinem eigenen Leben erzählt und, ohne etwas auszu­ schmücken, gezeigt, dass jeder und jedem so ein Absturz geschehen kann. Es braucht viel Mut, so ehrlich über sich und die verschiedenen Phasen der Sucht zu erzählen. Meine Bewunderung dafür.

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FOTO: BODARA

Surprise-Porträt

«Mein ganzes Leben krachte zusammen» «Mit 18 begann die beste Zeit meines Lebens. Ich ging in Zürich ins Gymi, hatte gute Freunde und ver­ liebte mich. Meine Eltern, die am Zürichsee lebten, waren weit weg; ich ging nur noch zum Schlafen heim. Mit 19 wurde ich schwanger. Mein Freund und ich freuten uns sehr. Wir nahmen uns eine eigene Woh­ nung und bekamen eine wundervolle Tochter. Kurz darauf machte ich die Matur und begann, Ger­ manistik und Geschichte zu studieren. Alles schien perfekt. Doch als ich 22 war, hatte ich einen Zusammenbruch und musste in die Klinik. Meine Kindheit war geprägt von der Alkoholsucht mei­ nes Vaters und von Missbrauch. Ich hatte das komplett verdrängt. Plötzlich brach die Vergangenheit mit aller Macht hervor, und meine ganze Stärke, meine ganze Idylle, mein ganzes Leben krachten zusammen. Damals glaubte mir niemand ausser meinem Mann. Ich hatte meine Eltern, meine Schwester und sogar meine Psychiaterin gegen mich. Einmal berief diese eine Sitzung ein, an der alle zusammenkamen, um sich auszusprechen. Ich sass auf der einen Seite, alle anderen mir gegenüber. Danach war ich völlig fertig. Ich stieg ins Auto, fuhr an den Platzspitz und kaufte Heroin und Kokain für je 100 Franken. Ich war 23. Erste Erfahrungen mit Drogen hatte ich schon wäh­ rend der Gymi-Zeit gemacht. Damals probierten wir einfach ein bisschen etwas aus und liessen es da­ nach wieder. Jetzt aber war es anders. Ich nahm die Drogen, um zu vergessen. Das funktionierte leider nur zu gut. Dann erbte mein Mann sehr viel Geld. Das Studium hatte ich aufge­geben, machte aber eine Anlehre als Floristin. Dank des Erbes konnte ich ein eigenes Blumengeschäft eröf­fnen. Schnell wurde mir alles zu viel, nach einem Jahr gab ich das G ­ eschäft wieder auf. Ich wog nur noch 46 Kilo. Die Ärzte sagten mir, sie müssten mich bald zwangsernähren.

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Karin Pacozzi, 52, verkauft das Surprise Strassenmagazin in Zug. Sie ist stolz darauf, ihr eigenes Geld zu verdienen – und auf ihre Tochter.

schnell die Sprache, man roch das Meer und ich nahm nur noch selten Drogen. Als die Schulzeit zu Ende war, zogen wir zurück nach Zürich – zurück in die Drogen. Es war eine schwierige Zeit. 2004 hatte ich ­einen schweren Unfall, 2005 starb mein Mann an einer Über­ dosis. Ich stürzte komplett ab und kam in die ­Klinik. Mittlerweile bin ich wieder auf den Beinen, wohne in einer eigenen Wohnung und habe meine Sucht im Griff. Seit Kurzem verkaufe ich Surprise. Der Kontakt zu Menschen tut mir gut, und ich bekomme sehr schöne Rückmeldungen. Ich erhalte zwar eine IVRente, aber es ist ein tolles Gefühl, durch meine eigene Arbeit Geld zu verdienen.

Nach zehn Jahren war das ganze Erbe weg. Mein Mann und ich hatten es für Heroin und Kokain ausge­ geben. Etwa gleichzeitig hatte unsere Tochter eine grosse Krise in der Schule. Sie wollte nicht mehr hin­ gehen und ich fand, dass ich sie ja nicht an den Haa­ ren hinschleifen kann. Wenig später standen der Schulpräsident, der P­sychologe sowie einige Beamte vor der Tür. Meine Tochter müsse zur Schule gehen.

Lange hatte ich überhaupt kein Selbstvertrauen. In den letzten Jahren habe ich gelernt, meine guten Sei­ ten zu sehen: Ich bin intelligent, freundlich, pünktlich und kann alleine wohnen. Pläne habe ich auch: Ich will Sprachen lernen, reisen, ganz weg von den Dro­ gen bleiben und weiter Surprise verkaufen. Natürlich ist mir meine Tochter sehr wichtig. Sie hatte es nicht leicht mit mir. Heute lebt sie ihr eigenes Leben und ist mitten im Studium. Ich bin unheimlich stolz auf sie.»

Ich zog mit meiner Tochter nach Venedig, in die Ferienwohnung meines Mannes. Es ging uns bestens. Meine Tochter ging wieder gerne zur Schule, lernte

Aufgezeichnet von GEORG GINDELY Surprise 444/19


Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren. BETEILIGTE CAFÉS IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstrasse 18 | Bäckerei KULT «Elsi», Elsässerstrasse 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Café Bohemia, Dornacherstr. 255 Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 | Kiosk Amann, Claragraben 101 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Badischer Bahnhof | Rest. Manger & Boire, Gerbergasse 81 | Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 | Café Spalentor, Missionstrasse 1 | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | Treffpunkt Breite, Zürcherstrasse 149 IN LENZBURG feines Kleines, Rathausgasse 18 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4-Markt Baselstrasse, Baselstr. 66 | Restaurant Quai4, Alpenquai 4 | Quai4-Markt Alpenquai, Alpenquai 4 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbad Volière, Inseli Park | Restaurant Brünig, Industriestrasse 3 | Arlecchino, Habsburgerstrasse 23 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN BERN Café Kairo, Dammweg 43 | Café MARTA, Kramgasse 8 | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa Lorraineladen, Lorrainestr. 23 | Luna Llena Gelateria Rest. Bar, Scheibenstr. 39 | Rest. Genossenschaft Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Rest. Löscher, Viktoriastr. 70 | Rest. Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestrasse 20 | Becanto GmbH, Bethlehemstrasse 183 | Phil’s Coffee to go, Standstrasse 34 IN BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Quartiertreff Enge, Gablerstrasse 20 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 | Kafi Freud, Schaffhauserstrasse 118 | Kumo6, Bucheggplatz 4a | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistrasse 76 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestrasse 47 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11 IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique & café, Bernstrasse 2 IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstrasse 3a

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