Surprise Nr. 439

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Strassenmagazin Nr. 439 30. Nov. bis 13. Dez. 2018

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Digital Detox

Abschalten ! Warum wir lieber anderen ins Gesicht als auf den Bildschirm schauen sollten Seite 8

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Bewegung und Bildung im Zeichen der Hiphop-Kultur. Am Anfang war das Feuer. Im April 2016 beschlossen Coskun Erdogandan aka «Tuff Kid», Jason Angelakos und Lucas Del Rio Estévez ihre Leidenschaft für Hiphop nicht nur auf das persönliche Ausleben zu beschränken, sondern ihr Wissen und ihre Skills aktiv weiterzugeben. Auf Initiative des tatkräftigen Trios entstand so der gemeinnützige Verein the movement. Zweck des Vereins ist die Förderung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch Bewegung, Bildung und der Kraft der weltweiten Hiphop-Kultur. Die Förderung der Selbstentfaltung, des Gemeinschaftssinns und eines gesunden Lifestyle steht dabei klar im Vordergrund. the movement setzt sich auch das Ziel, den Tanzstil Breaking und den Hiphop im Allgemeinen zu fördern und zu professionalisieren.

Pratteln, Kompetenzzentrum der Basler Hiphop-Community. Im Frühling 2018 fand the movement in Pratteln (BL) endlich ein zweckmässiges Zuhause. Dort entstand unter dem Namen the movement spot ein in Europa einzigartiges Community- und Kompetenzzentrum. Hier werden in zwei grosszügigen Räumen mit Schwingboden auf nachhaltige, authentische und inspirierende Art vielfältigste Aktivitäten angeboten. Das fördert die wachsende Breaking Community im Raum Basel und schafft wichtige Freiräume, in denen sich Bewegungsbegeisterte und -künstler austauschen, vernetzen und bis auf Profiniveau weiterentwickeln können. the movement repräsentiert eine weltweite Bewegung für Frieden, Liebe, Einheit, Freude und Bildung durch Kunst und die Hiphop-Kultur. The movement spot ist weit mehr als der Traum einiger Idealisten. «Wir stehen für eine gesunde, selbstbewusste Community und fördern den Nachwuchs. Wir sehen uns als Vorbilder, die Verantwortung tragen. Unsere Vision ist es, weltweit Projekte und Zentren wie the movement spot zu ermöglichen, die unsere Philosophie teilen. Dabei sollen kulturell und sozial benachteiligte Orte bevorzugt werden.» So lautet das Manifest der Hiphop-Dreifaltigkeit «Tuff Kid», Jason

Die Masterminds hinter the movement. Coskun Erdogandan aka «Tuff Kid» Initiant von the movement, Betriebsleiter the movement spot. Ausgebildeter medizinischer Trainingstherapeut und Bewegungscoach. International angesehener Breaking-Tänzer mit Performances in über 35 Ländern, mehrfacher Gewinner der renommiertesten BreakingContests, Preisträger des Respecanize-Awards (Anerkennung für einen ausserordentlichen Beitrag zur Breaking und Hiphop-Kultur), weltweit als Judge, Lehrer und Hiphop-Ambassador unterwegs. und Lucas, die alles daran setzen ihren Traum in die Realität umzusetzen. Dazu steht ihnen auch ein weitverzweigtes Netzwerk an Tänzern, Künstlern und Sportlern zur Verfügung.

Backspin, Flow und Jiu Jitsu. the movement spot hat eine Menge zu bieten. Nicht nur zum an sich schon weitläufigen Thema Hiphop. Neben den klassischen Hiphop-Disziplinen Breaking und Rap werden auch Kurse für brasilianisches Jiu Jitsu und House Dance, der in den frühen 1980er Jahren aus der Disco-Szene entstand, angeboten. Alle, die schon lange mal Rappen wollten, sich aber nie trauten, können sich im Rap Beginner Kurs erste Erfahrungen holen. Wer schon über ein bisschen Erfahrung im Reime verfassen und Vortragen verfügt, kann sich im Rap Boot Camp den letzten Schliff geben. House Dance ist ein Mix von verschiedensten Einflüssen wie afrikanische und lateinamerikanische Tänze, Tap, Jazz, Hip Hop und Kampfsportarten wie Capoeira. Last but not least bietet brasilianisches Jiu Jitsu Neueinsteigern und Fortgeschrittenen die Gelegenheit für sich selbst zu trainieren oder auch an Turnieren teilzunehmen. Interdisziplinäre Workshops, Projektwochen und Education-Projekte, auch für Schulklassen und Lehrpersonen, vermitteln unter Anleitung namhafter Dozenten die vier Elemente der Hiphop-Kultur: Dj-ing, Rapping, Breakdancing sowie Graffiti/ Writing.

Jason Angelakos Mitgründer von the movement. Designer FH in visueller Kommunikation (HGK Basel), Techniker HF in Informatik (hf-ict Pratteln),Hobbytänzer,-kampfkünstler und -musiker. Aufenthalte in der Ukraine und Niederlande, um sich als Tänzer weiterzuentwickeln. Lucas Del Rio Estévez Mitgründer von the movement, Betriebsleiter the movement spot, Profitänzer. Arbeitet freischaffend als Tänzer, unter anderem in der MIR Kompanie (Basel). Spezialisiert im Tanzstil Breaking/ B-boying, weiteres Tanztraining in den Tanzstilen Contemporary und House. Mehrere Aufenthalte im Ausland, um sich als Tänzer und Person weiterzuentwickeln (Ukraine, Niederlande, Polen, Los Angeles, Paris, Spanien). Abschluss des Bachelor of Arts in Kulturanthropologie und in Medienwissenschaft an der Universität Basel.

Gallenweg 8 | 4133 Pratteln | www.themovement.ch

Öffnungszeiten jeweils von: Montag bis Freitag: 16.00-21.00 Uhr Samstag: 11.00-17.00 Uhr | Sonntag: nach Absprache

Scherrer & Partner und Herrmann & Partner unterstützen the movement. Wir unterstützen jedes Jahr eine Institution oder eine Initiative die Wertvolles für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft leistet. Ohne die Frage nach dem grösstmöglichen Profit zu stellen. Dieses Jahr fiel unsere Wahl auf den Verein the movement. Weil wir überzeugt sind, dass eine gesunde Jugendkultur mit den dazugehörenden Freiräumen die beste Basis für Entfaltung bietet. Erfahren Sie mehr auf: www.scherrerpartner.ch & herrmannpartner.ch

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TITELBILD: ANTOINE GEIGER, «SUR-FAKE» (2015)

Editorial

Auf Entzug Eine halbe Stunde am Dienstag und eine halbe Stunde am Freitag darf unser sechsjähriger Sohn elektronische Medien be­ nutzen, egal ob er fernsieht oder mit dem Handy spielt – wobei wir gemeinsam auswählen, was er spielt oder schaut. Keine Gewalt, keine Ballerspiele, kein ungefilertes Youtube-Gucken. In Ausnahmefällen darf er auch mal länger schauen, einen ganzen Kinderfilm beispielsweise. Doch jedes Mal, wenn die Zeit um ist und er die Kiste – ob klein oder gross – ausmachen muss, fliessen Tränen. «Und warum dürft ihr immer mit dem Telefon spielen, wann ihr wollt?», fragt er dann. Weil wir vermuten, die ungehemmte Nutzung von Smartphone und Co. habe ungesunde Nebenwirkungen. Und weil wir erwachsen sind und unsere Süchte selbst kontrollieren müssen, wäre die nicht ganz kindgerechte, aber wohl korrekte Antwort.

hoffen darauf, dass das gute, bewusste Leben schon von selbst zurückkehrt, sobald wir das Smartphone aus der Hand legen. Tatsächlich täten uns ein bisschen weniger Abschottung und mehr reale Begegnungen ganz gut. Nicht nur unseren Ohren, den wunden Daumen und dem steifen Nacken. Auch gesellschaftlich führt nur mehr Aus­ tausch zu mehr Verständnis. Was bringt digitales Entgiften? Wir haben den bekennenden Digital Detoxer Jeroen van Rooijen gefragt, warum er den Verzicht auf die Online-Welt für einen Gewinn hält. Lesen Sie sein Plädoyer ab Seite 8. Erfolgsautor Thomas Meyer hingegen ist kein expliziter Smartphone-Kritiker. Dazu spielt er zu gern Online-Schach. Welche Erkenntnisse ihm ein Selbstversuch im Digital Detox gebracht hat, lesen Sie ab Seite 12.

Verdummung, Vereinsamung, zu wenig Bewegung: Gern machen wir jede neue Technologie dafür verantwortlich. Und 4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

Total normal 6 Challenge League

Vergrabene Leidenschaften

18 Integration

«Konflikte sind ein gutes Zeichen»

SAR A WINTER SAYILIR Redaktorin

22 Ausstellung

Wünsche von der Strasse 24 Black Space

Eine afrofuturistische Oper

7 All Inclusive

8 Digital Detox

Weg vom Smartphone Bericht von der Weltmeisterschaft

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Probleme berühren 26 Veranstaltungen 27 Agglo-Blues 28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

Symbolbilder

14 Strassenfussball

25 Film

25 Buch

Vom Geistesblitz getroffen

30 Surprise-Porträt

«Wo sollte ich hin?»

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Aufgelesen

FOTO: CHON GOTTI

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 34 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Katzen-Freundin «Katzen haben nicht dieselbe Wahl wie Menschen», sagt Connie Porter, in Washington D.C. auch bekannt als «Cat Lady». Neben ihrem Job als Verkäuferin der Strassenzeitung Street Sense füttert Porter seit fünf Jahren die Strassenkatzen der US-amerikanischen Hauptstadt. Schätzungen zufolge gibt es rund 40 000 Strassenkatzen in D.C., manche gehen von weit höheren Zahlen aus. Obwohl Porter selbst obdachlos ist, empfindet sie die Lage der Katzen als dramatischer als ihre eigene: Schliesslich könne sie ins Krankenhaus, wenn sie krank sei, könne für eine Mahlzeit in die Kirche gehen oder mal eine Nacht bei Verwandten oder in der Notschlafstelle verbringen. «Strassenkatzen können das nicht.» Die Verantwortung für ihre Katzen hat Porter in einer schwere Krise mit Selbstmordgedanken gerettet.

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GRAFIK: BODARA

STREET SENSE, WASHINGTON DC

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8 6 2 7

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1 Kasachstan 2 Türkei

3 Taiwan 4 Polen

5 Tunesien 6 Bulgarien

7 China 8 Frankreich

Weit gereist Die Jeans hat zwar einen gesellschaftlichen Aufstieg von der reinen Arbeitsklamotte zum allseits beliebten Beinkleid hingelegt, aber der ökologische Fussabdruck der meisten Hosen ist gigantisch. Rund 60 000 Kilometer legt eine durchschnittliche Jeans im Laufe ihrer Produktion zurück: Baumwolle aus Kasachstan wird in der Türkei zu Garn gesponnen, in Taiwan zu Stoff gewebt, in Tunesien mit Indigofarbe aus Polen gefärbt, in Bulgarien veredelt und in China 4

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9 Deutschland

QUELLE: LISA HEINRICH

zur Hose genäht, mit Knöpfen und Nieten aus Italien sowie Futterstoff aus der Schweiz versehen, bis sie in Frankreich per Stone-Washing den typischen Look bekommt. Als Altkleider aussortiert reisen viele Jeans aus Europa noch einmal rund 8000 Kilometer, bis sie per Schiff und LKW auf afrikanischen Binnenmärkten landen.

FIFTYFIFTY, DÜSSELDORF

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Pfandtausch

Um Pfandsammlern das Wühlen in Mülleimern zu ersparen, weisen deutsche Städte wie Berlin und Hamburg mit Aufklebern und eigenen Halterungen darauf hin, Pfandflaschen doch daneben zu platzieren. Findige Studenten haben nun eine App entwickelt, über die Pfandspenderinnen und Flaschensucher in Kontakt treten können: Pfandgeben.de. Wer sich online registriert und persönlich von Pfandspenderinnen und -spendern angerufen werden mag, kann profitieren.

DRAUSSENSEITER, KÖLN

821 Millionen zu viel

Nachdem die Zahl der hungernden Menschen eine Zeit lang gesunken war, wächst sie seit drei Jahren wieder an. Laut UN-Landwirtschaftsorganisation FAO ist sie 2017 auf 821 Millionen gestiegen, 2016 waren 804 Millionen Menschen betroffen. Das Ziel der Vereinten Nationen, bis 2030 den Hunger auf der Welt abzuschaffen, rückt damit in weite Ferne. Vor allem in Teilen Afrikas und in Lateinamerika verschlechtert sich die Situation. Ursachen seien gewaltsame Konflikte sowie die Folgen des Klimawandels. HEMPELS, KIEL

Pfandsegen

1 183 255 Pfandflaschen und -dosen haben die «Pfandbeauftragten» der Hamburger Strassenzeitung Hinz&Kunzt mit der Aktion «Spende Dein Pfand!» seit 2015 am Hamburger Flughafen gesammelt. Das entspricht 295 806,25 Euro Pfand, die sonst im Müll gelandet wären. Von dem gesammelten Geld finanziert das Magazin drei sozialversicherungspflichtige Stellen.

HINZ & KUNZT, HAMBURG

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Vor Gericht

Total normal Es gibt es wohl kaum einen widerwärtigeren Straftatbestand als Menschenhandel: die Würde eines Menschen zu missachten und Notlagen zu missbrauchen – einzig zum eigenen finanziellen Vorteil. Das Opfer in diesem Fall ist eine heute 27-jährige Transfrau aus Thailand, aufgewachsen in erbärmlichen Verhältnissen im Nordosten des Landes, sozial ausgegrenzt, ohne Perspektiven auf ein Vorankommen im Leben. Als Cabaret-Tänzerin und Masseurin brachte sich die Analphabetin mehr schlecht als recht über die Runden. Doch dann bot ein «Agent» ihr einen Job an, fast schon ein künstlerisches Engagement: Sie sollte in einer Thai-Bar in der Schweiz singen, tanzen, ein bisschen servieren und die Gäste zum Trinken animieren. Für 3000 Franken monatlich, abzüglich 600 für Kost und Logis. Sie zögerte nicht, ihre Verwandtschaft kratzte die für «Agenturdienste» geforderten 15 000 Franken zusammen. Ende 2014 reiste sie in die Schweiz. Was dann geschah, steht nun in einer Anklageschrift der Zürcher Staatsanwaltschaft gegen eine mit einem Schweizer verheiratete Landsfrau aus dem Grossraum Zürich. Gleich bei Ankunft zog die Beschuldigte den Pass der Zugereisten ein und eröffnete ihr, dass sie ihr für die Visums- und Reiseorganisation 30 000 Franken schulde. Nicht Karaoke und Showtanz wurden Alltag der jungen Transfrau, sondern Putzdienste und ungeschützter Analverkehr mit Dutzenden von Freiern in einem Club in der Schweizer Provinz. Die Beschuldigte bestimmte ihre Arbeitszeiten: immer, und wie sie sich zu kleiden hatte: kaum. Und wo sie sich verstecken musste, falls die Polizei für eine Kontrolle vorbeikam. Und die kam tat-

sächlich, fand auch das Versteck. Keine zwei Monate nach ihrer Ankunft wurde die damals 21-jährige Thai wegen illegalen Aufenthalts verhaftet. Nervös zupft die 38-jährige Beschuldigte an ihrem Minirock herum, während der Bezirksrichter versucht, die Sache auszuleuchten. Ob es zutreffe, dass sie die junge Frau für Prostitution ausgenutzt habe. Ja, aber von den strengen Gesetzen habe sie nichts gewusst. Hm, sagt der Gerichtspräsident und fragt nach ihrem Motiv. Langes Schweigen. Sie habe in der Zeit gerade niemanden gehabt, der für sie arbeite, sagt sie, also Geld. Darauf der Richter: «Dann finden Sie es total normal, jemanden unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in die Schweiz zu locken und Schulden aufzuschwatzen?» Das fand sie schon normal, ja. Aber jetzt habe sie ihre Lehren gezogen, sie werde sich nicht mehr auf diese Weise schuldig machen. Aus der Sicht der beschuldigten Thailänderin ist Menschenhandel also normal – der Gedanke, dass er auch Teil ihrer eigenen Geschichte ist, liegt nah. Sie ist schon lange im Bereich der sexuellen Dienstleistungen tätig. Hierzulande, erklärt der Richter bei der Urteilseröffnung, sei die Höchststrafe dafür 20 Jahre. Neben Menschenhandel spricht er die Frau auch der Förderung der Prostitution und der Förderung des illegalen Aufenthalts schuldig. Er verurteilt sie zu 18 Monaten bedingt und einer Busse von 600 Franken. Dem Opfer muss sie Schadenersatz in Höhe von 9000 Franken bezahlen, dem Gericht eine Gebühr von 1000 Franken. Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich.

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Challenge League

Vergrabene Leidenschaften FOTO: SEMHAR NEGASH

täglichen Kulturschock bis hin zu den lustigen und manchmal schmerzhaften Dingen, die ich erlebte. Es freut mich und macht mich gleichzeitig nostalgisch, darin zu lesen. Leider enden die Aufzeichnungen im Mai 2013. Ich blättere ein paar Seiten weiter, um noch etwas zu finden, ob ich nicht doch noch irgendwo etwas aufgeschrieben hatte. Aber ich finde nichts mehr. Ich frage mich, weshalb ich aufgehört habe zu schreiben.

«Ich frage mich, warum ich aufgehört habe zu schreiben»: Das Notizbuch unserer Autorin.

Es ist Samstag gegen 11 Uhr vormittags. Ich bin gut gelaunt. Noch in der Küche, während ich meinen Cappuccino trinke, entscheide ich, dass ich heute endlich all die Dinge erledige, die ich immer wieder aufgeschoben habe. Das Zimmer aufräumen, einkaufen, eine Lyca-PrepaidKarte am Kiosk kaufen und meine Familie anrufen. Meine Kleider waschen, joggen gehen. Während ich den letzten Schluck Cappuccino trinke, gehe ich langsam in mein Zimmer. Dort sehe ich rechts mein Bett stehen mit den vielen Kleidern darauf, die gewaschen werden wollen. Mein Laptop liegt auf dem Schreibtisch, links daneben steht meine einzige Pflanze sowie ein Bücherregal. Mein Blick bleibt an einem Notizbuch hängen, das auf dem Bücherregal liegt. Ich bekam es von einem ehemaligen Sozialarbeiter geschenkt, der im Asylzentrum arbeitete, wo ich untergebracht war. Er war einer der ersten Schweizer, der mir das Gefühl gab, ein normaler Mensch zu sein. Ein Mensch, der ein Geschenk verdient und einen Traum hat. Er liess mich spüren, dass ich in der Schweiz 6

willkommen war. Auf die erste Seite des Büchleins hatte er geschrieben: «Liebe Semhar, ich denke, wenn du deine Träume aufschreibst, werden sie schneller wahr.» In einem fremden Land anzukommen, bedeutet viele Hindernisse. Eines ist, dass wir Migrantinnen und Migranten Angst haben, missverstanden werden. Oder dass wir Gedanken im Kopf haben, von denen wir nicht wissen, wie wir sie beschreiben sollen, so wie wir gern möchten. Wann immer ich die Widmung im Notizbuch lese, gibt sie mir positive Energie, weil ich das Gefühl habe, verstanden worden zu sein. Es ist, als habe der Sozialarbeiter damals meine Gedanken gelesen. Vom ersten Tag an, als ich das Büchlein bekam, schrieb ich darin täglich meine Gedanken nieder. Ich reflektierte, was es bedeutet, eine eritreische Flüchtlingsfrau in der Schweiz zu sein. Ich versuchte, meinen Weg zu finden. Ich schrieb über Verschiedenes: angefangen vom schrecklichen Heimweh über den

Ein Tagebuch zu führen, war nichts Neues für mich. Ich hatte schon früher geschrieben, um mit mir selbst im Austausch zu bleiben, oft, wenn ich in einer besonderen Umgebung war. Zum Beispiel in der Zeit, als ich in Eritrea acht Monate lang weit weg von zuhause war, um die Militärausbildung zu absolvieren. Ich erinnere mich an ein Training, als ich mich in der Nacht sehr hungrig fühlte, weil ich die Essenszeit verpasst hatte. Ich erinnere mich daran, wie ich abends heimlich schrieb, und an die Freude, die ich daran hatte. Und ich frage mich wieder, wann und wieso ich damit aufgehört habe. Ich schäme mich dafür, dass ich das Notizbuch in den letzten fünf Jahren nicht angefasst habe. Während ich noch in Gedanken mit der Frage beschäftigt bin, wie ich meine Leidenschaft fürs Schreiben wieder hervorholen könnte, klingelt plötzlich mein Telefon und bringt mich zurück in die Gegenwart: Nun ist es schon 14 Uhr und ich habe noch nicht eines meiner Vorhaben für heute begonnen.

SEMHAR NEGASH ist Anthropologin aus Bern. Ab sofort beobachtet sie an dieser Stelle sich selbst und andere dabei, wie es ist, ein Teil der Schweizer Gesellschaft zu sein.

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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

lohnt sich mehr als Arbeit» berichtete sie vor einigen Jahren über die steigende Anzahl junger IV-Bezügerinnen und -Bezüger mit psychischen Erkrankungen. Bebildert war der Artikel mit einem Foto, das ausgelassen feiernde, Alkohol trinkende Jugendliche zeigt. Ein von jungen Menschen mit Behinderung geführter Verein reichte daraufhin Beschwerde beim Presserat ein: Diese Darstellung sei diskriminierend. Der Presserat wies die Beschwerde ab: Das verwendete Bild wolle in gewissem Masse provozieren, indem es auf die «Nullbockjugend» hinweise, die lieber feiere als arbeite. Dieses Bild sei aufgrund des Titels, dass eine IV-Rente sich mehr lohne als Arbeit, ausgewählt worden. Der Presserat fügte noch an: «Da sich dieses Bild nicht auf psychisch kranke IVRentner bezieht, kann Ziffer 8 (Diskriminierung) gar nicht zur Anwendung kommen.»

All Inclusive

Symbolbilder Meist sind Beine zu sehen: viele Männerbeine in Anzughosen und ein Paar wohlgeformte Frauenbeine in Pumps. Wenn in den Medien über die Frauenquote berichtet wird, greifen die Bildredaktionen häufig zu dieser Art Symbolfoto. Geht es um das Thema Behinderung, bleibt man ebenfalls in den unteren Körperregionen und zeigt die Räder eines Rollstuhls. Vordergründig geht es um die Bebilderung eines Artikels. Mit dem Symbolbild wird allerdings noch eine weitere Aussage hinzugefügt. Die inflationäre Abbildung von dekorativen Frauenbeinen beim Thema Frauenquote impliziert beispielsweise, dass es beim Einbezug von Frauen in Führungsgremien eher um eine kosmetische Angelegenheit als um die Fähigkeiten von Frauen geht. Denn diese würde man wohl eher in den Köpfen als in den Beinen der Frauen vermuten. Und wenn auf Symbolbildern zum Thema Behinderung der dargestellten Person der Kopf fehlt und nur Füsse, Rollstuhlräder oder der Blindenstock zu sehen sind, dann rückt zwar die Behinderung in den Fokus, der Mensch dahinter aber verschwindet. Das wirkt sich auf die Wahrnehmung der Surprise 439/18

Thematik aus: Neben einem Bild von Behinderten-Accessoires lassen sich beispielsweise Sparmassnahmen bei der Invalidenversicherung auch distanzierter abhandeln, als wenn der Leserin eine echte Person entgegenblickt. Besonders Bilder von Menschen mit einer geistigen Behinderung werden kaum je zur Illustration genutzt, wenn über die finanzielle Situation der Invalidenversicherung berichtet wird. Dies scheint ein Tabu zu sein, obwohl praktisch alle Menschen mit einer geistigen Behinderung auf eine IV-Rente angewiesen sind, aber bei weitem nicht alle Rollstuhlfahrenden. Eine besondere Herausforderung für die Bildredaktion liegt auch in der Darstellung psychischer Krankheiten. Oft werden dafür Menschen im Nebel oder zusammengekauert in einer Ecke gezeigt. Manchmal dienen auch Filmstills oder Fotos von heute nicht mehr gebräuchlichen Praktiken wie Zwangsjacken als Illustration und vermitteln damit ein verzerrtes Bild von psychischer Krankheit und der heutigen Psychiatrie. Die Zeitung 20 Minuten wählte das andere Extrem: Unter dem Titel «IV-Rente

Es ist fraglich, ob tatsächlich jeder 20Minuten-Leser damals so differenziert gedacht hat: Aha, das Bild stellt eine eigenständige gesellschaftskritische Aussage zur sogenannten Nullbockjugend dar und illustriert nicht etwa das Thema des Artikels, nämlich psychisch kranke Jugendliche. (Als hätten Bilder in Zeitungen grundsätzlich nichts mit dem Inhalt des jeweiligen Artikels zu tun.) Nicht nur die Medien haben zuweilen Mühe, das richtige Bild dem jeweiligen Thema zuzuordnen. Eine Untersuchung des Bundesamtes für Sozialversicherungen ergab, dass auch die IVStellen in ihren Statistiken teils ungenau sind: 40 Prozent der als «psychisch krank» eingestuften jungen IV-Beziehenden zwischen 18 und 21 Jahren haben effektiv eine geistige Behinderung. Was hätte der Presserat bei besagtem Zeitungsartikel wohl gesagt zu einem Bild mit geistig behinderten Jugendlichen, die feiern? Zur Erinnerung die Überschrift: «IV-Rente lohnt sich mehr als Arbeit»?

MARIE BAUMANN dokumentiert unter ivinfo.wordpress.com seit 2009 das politische Geschehen rund um die Invalidenversicherung.

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Einfach mal runterfahren Digital Detox Wie bekommt man die ständige Versuchung des Digitalen

in den Griff? Und was soll man mit der gewonnenen Zeit anfangen? TEXT JEROEN VAN ROOIJEN

Klar ist ein Smartphone nützlich, man würde nicht mehr darauf verzichten wollen. Man hat immer ein Lexikon zur Hand, braucht keine Faltpläne und Papiertickets mehr, steht immer auf verschiedensten Ebenen in Kontakt mit seinen Freunden und verfügt sogar über ein Spielzeug, wenn einem langweilig ist. Dass das Smartphone gleichzeitig eine Art elektronischer Fussfessel, eine Ersatzbeziehung für real existierende menschliche Kontakte und ein Suchtmittel ist, steht allerdings auch fest. Aufgeklärte Zeitgenossen wissen, dass jede Errungenschaft auch Opfer fordert. In der öffentlichen Diskussion zum Thema Internetsucht stehen sich grob gesagt zwei unversöhnliche Lager gegenüber: die Warnerinnen und die Euphoriker. Die Warner sind meistens schon etwas älter, sind ohne World Wide Web geboren und betrachten die Zeit, die heute fürs Netz draufgeht, als Bedrohung von Bildung, sozialem Frieden und gesellschaftlichem Zusammenhalt. Die oft jüngeren Euphorikerinnen sind meist zur Zeit des Internets geboren, mit dem Laptop oder Handy in der Hand aufgewachsen und betrachten die Parallelität der virtuellen und realen Existenz als bereichernd, stimulierend und den Horizont erweiternd. Beide Lager haben in der Regel wenig Verständnis für einander. Symbolisch für diese beiden diametral entgegengesetzten Positionen steht ein berühmt gewordener Schnappschuss aus dem Rijksmuseum Amsterdam, das eine Gruppe Jugendlicher zeigt, die auf einer Bank sitzt und ganz auf ihre Smartphones fixiert ist. Keiner würdigt das Bild, vor dem die Kids sitzen – immerhin «Die Nachtwache» von Rembrandt van Rijn (1606–1669), eine Ikone der barocken Malerei. Googeln die Jugendlichen gerade alle den Maler, entdecken sie online gerade die Biografie des niederländischen Meisters? So lesen Netz-Euphoriker das Foto. Ganz anders interpretieren es die Warnenden: Das Foto beschwört für sie das Bild einer Generation herauf, die vor lauter Surprise 439/18

digitalen Verlockungen kein Auge mehr für ihre reale Umwelt hat und sogar grosse Kunst ignoriert. Das Ende der Zivilisation. Ist es so simpel? Natürlich nicht. Auch der Fotograf Gijsbert van der Wal, der das Foto 2014 aufnahm, weiss nicht mit Sicherheit, womit die Kids gerade beschäftigt waren. Es könnte auch sein, dass sie gerade die neue Museums-App auf ihren Geräten installiert hatten, mit der Zusatzinformationen zum Bild abgerufen werden können – etwa, um damit eine Hausarbeit zu lösen. Auch junge Leute, die nach 1995 geboren sind und für die es das Internet immer gab (man nennt sie «digital natives»), sehen in der Allgegenwart des Netzes teilweise eine Gefahr. Sie beginnen sich zu fragen, ob man dem Netz überhaupt trauen kann. Und gerade sie sind es, für die ein Leben ohne Mobiltelefon fast schon rebellische Qualitäten hat. Umgekehrt gibt es auch unter den Alten – also den «digital immigrants» – etliche Internet-Fanatiker, die den freien Zugang zu Medien, Datenbanken und allerlei Formen der Online-Unterhaltung beklatschen und gerne ihre verbleibende Lebenszeit ins Netz investieren. Man gerät in Verdacht Zwischen den beiden Polen gibt es vermehrt Menschen aller Altersgruppen, die sich fragen, ob das Internet in der kurzen Zeit seines Daseins nicht etwas viel von unserer Aufmerksamkeit einfordert und uns zu Sklaven des (vermeintlichen) Fortschritts gemacht hat. Unabhängig von Jahrgang, sozialem Stand und Bildung beginnen die Menschen, nach Gegenstrategien zu suchen, um der digitalen Permanenz wenigstens zeitweise zu entkommen. «Digital Detox» verspricht einen solchen Entzug. Digitales Entgiften, also das bewusste Ab- und Ausschalten des Smartphones zwecks Wiederfindung eigener Impulse, wird gesellschaftsfähig. Beim Digital Detox geht es darum, sich bewusst zu werden, welche Folgen die digitale Permanenz für die innere Balance hat 9


Antoine Geiger Antoine Geiger (*1995) ist Fotograf in Paris. Diese Bilder entstammen seinem Projekt «SUR-FAKE» (Paris, 2015). Er thematisiert darin die Allgegenwart der Bildschirme und die dadurch entstehende Entfremdung von unseren eigenen Körpern und der realen Welt. www.antoinegeiger.com

und wie abhängig man von Netz und Handy geworden ist. Der erste Schritt ist das Bewusstwerden: Man erkennt, wie Smartphones, E-Mails, soziale Medien und Messenger-Dienste Lebenszeit und Energie auffressen und bekommt das Gefühl, dass das Leben an einem vorbeizieht, während man auf dem Bildschirm des Handys herumfummelt. Im zweiten Schritt geht es darum, Gegenmassnahmen zu ergreifen. Dies erfordert Willensstärke, und damit Digital Detox wirklich funktioniert, ist oft ein radikaler Wandel in der Lebensführung nötig. Wie jeder Entzug fordert die Abkehr von der digitalen Permanenz Nerven und Durchhaltevermögen. Ein Teil des individuellen Umfelds wird den Kopf schütteln. Man muss den Verdacht aushalten, ein Technikfeind, Kulturpessimist und Fortschritts-

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skeptiker zu sein. Dabei ahnt jeder, der ein bisschen nachdenkt, dass wir nicht stets auf Empfang sein können. Die Hirnforschung bestätigt zwar, dass wir einen veritablen Supercomputer unter der Schädeldecke haben. Dieser läuft aber – anders als elektronische Betriebssysteme – nicht optimal, wenn viele Programme gleichzeitig geöffnet sind. Einfach so dasitzen Je nach Sichtweise kostet Digital Detox Zeit – oder führt dazu, dass man zusätzliche Stunden gewinnt. Man deinvestiert auf der Online-Seite und gibt sich neue Offline-Zeit. Es gelingt, wenn man einfach mal den Einschaltknopf des Mobiltelefons drückt und zuschaut, wie es runterfährt. Auch wenn ihn kaum jemand noch benutzt und er gut versteckt ist: Immerhin haben diese Geräte (noch!) einen Knopf, um sie abzuschalten! Schwer und still liegt das Handy nun auf dem Tisch oder in der Jackentasche. Bei den meisten setzen beim Anblick des schwarzen Bildschirms sogleich die Symptome des Entzugs ein: Man wird nervös, und es beschleicht einen das ungute Gefühl, etwas zu verpassen. Man greift wiederholt nach dem Gerät und hofft auf ein Signal – eine Nachricht, eine E-Mail, ein Like oder ein Kommentar in den sozialen Medien. Wir sind so programmiert: immer auf der Suche nach Anerkennung und Bestätigung. Kommt diese nicht, werden wir unsicher. Zudem merken wir, dass wir gar nicht mehr wissen, was wir mit uns selbst anfangen sollen, wenn wir einfach so dasitzen. An diesem Punkt wäre ein Gedanke hilfreich: Vielleicht geht es im Leben ja gar nicht darum, stets leistungsfähiger zu werden? Vielleicht ist es angesichts unbeschränkter Möglichkeiten auch mal an der Zeit, Dinge nicht zu tun? Dieser Gedanke wird die Symptome des Entzugs allerdings nicht lange unterdrücken. Am Surprise 439/18


Anfang werden die Offline-Pausen darum kurz sein. Rasch schaltet man wieder ein – es gibt ja so viel zu sagen, kommentieren, tun, erledigen, schreiben. Dennoch sollte man die Kadenz und Dauer der Offline-Zeiten schrittweise erhöhen. Manche werden mit wenig zufrieden sein, andere brauchen längere Pausen – die richtige Dosis ist so individuell wie das Bedürfnis nach Schlaf oder Sport. Um sich Pufferzeit zu schaffen, helfen auch Abwesenheitsmeldungen, etwa eine Botschaft, wonach man E-Mails nur einmal täglich beantwortet. Damit verschafft man sich selber Zeit zum Nachdenken – und fordert vom Absender automatisch ein bisschen Bewusstsein ein. Allein dieser Nebeneffekt kann andere dazu bringen, über eigene Strategien des Entgiftens nachzudenken. Wirklich Vielbeschäftigte wissen auch: Viele E-Mails erledigen sich von selbst, wenn man sie eine Weile liegen lässt. Natürlich muss man es sich leisten können, solche Zeitreserven einzufordern – gewisse Berufe erlauben diese Entspanntheit nicht. Man muss es sich leisten wollen, auch auf die Gefahr hin, in gewissen Fällen etwas zu verpassen oder sogar Kontakte zu verlieren. Die gewonnene Zeit könnte man dazu investieren, die reale Dimension des Lebens neu zu entdecken. Denn je digitaler unser Leben ist, umso stimulierender ist es, etwas Haptisches oder Handwerkliches zu tun. Man kann Musik spielen oder Schallplatten auflegen, stricken, häkeln, nähen, zeichnen, malen, modellieren, gärtnern, schreinern, schnitzen, Bier brauen oder kochen – viele manuelle Tätigkeiten werfen sogar ein greifbares Produkt ab. Schnelles digitales Entgiften erlaubt auch das Velofahren: Es erfordert den Einsatz beider Hände, man greift also weniger zum Smartphone, man sieht mehr von der Welt und wird ganz von selbst ein ausgeglichenerer Mensch. Deswegen sollte man sich davor hüten, auch aus dem Fahrrad ein vernetztes elektrisches Gerät zu machen. Ein wichtiger Schritt zum Digital Detox ist zudem, die SocialMedia-Aktivität einzuschränken. Braucht man wirklich sowohl Instagram als auch Facebook? Oder reicht ein Kanal? Würde es genügen, dort einmal am Tag vorbeizuschauen, statt kontinuierlich zu checken, was los ist? Und muss man dauernd die Beiträge anderer Menschen kommentieren? Gewiss, die Algorithmen der Anbieter belohnen jene, die viel plappern, aber: Macht es einen auch glücklich, ständig Botschaften an die Timeline von anderen Leuten zu kritzeln und jeden Mist mit dem Freundeskreis zu teilen? Eine gute Strategie ist schliesslich, konsequent Gift und Galle zu entsagen. Böse Kommentare, polemische Debatten und Hetze gegen Minderheiten sind im Netz leider der Normalfall – wer sich zu sehr damit befasst, für den wird Grobheit auch im nicht-virtuellen Alltag eine Option. Der Verrohung entkommt man, indem man bei Anzeichen von Unmut erst mal an der frischen Luft spazieren geht, statt etwas Böses in die Tastatur zu hämmern. Die Welt ist auch ohne Shitstorms anstrengend genug. Wenn man dann und wann doch etwas schreibt, dann bitte richtig: E-Mails in absoluter Kurzform zu verfassen ist etwa so, als würde man sein Gegenüber im Kasernenton mit Aufgaben eindecken. Zu einer gepflegten Konversation gehören auch heute noch anständige An- und Abreden, Interpunktion, Grammatik und ein Hauch von Emotionen. Im digitalen Dauerrausch einen Rest von Anstand und Form zu bewahren, ist eine zivilisatorische Leistung, die man nicht dem Diktat der Effizienz opfern sollte. Surprise 439/18

Damit Digital Detox wirklich funktioniert, ist oft ein radikaler Wandel in der Lebensführung nötig. JEROEN VAN ROOIJEN

Jeroen van Rooijen

Jeroen van Rooijen (*1970) ist Modejournalist und Stilkritiker. Er schreibt seit 15 Jahren für die NZZ am Sonntag, hatte eine Radiokolumne bei SRF3 und hat sich selbst vorgenommen, weniger online und mehr offline zu sein. Aus diesem Grund hat er sich Mitte 2018 wieder seinem ursprünglichen Beruf zugewendet, der Schneiderei. vanrooijen.ch

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Ein bisschen zum Lachen Digital Detox Unser Autor gehört zu jenen, die bis zu 100 Mal am Tag

das Handy zücken. Geht es auch anders? Ein Selbstversuch. TEXT THOMAS MEYER

Tag 1 Auf meinem Küchentisch liegen zwei Telefone: mein Huawei P9 und ein brandneues MP01 der Schweizer Firma Punkt. Es ist ausgesprochen elegant gestaltet, in erdigem Braun, und wurde mir überlassen, damit ich darüber berichten kann, wie es sich anfühlt, vier Wochen lang in eine Zeit zurückversetzt zu sein, in der man mit Handys nur telefonieren und SMS schreiben konnte. Mehr beherrscht das MP01 nämlich nicht. Ich muss dazu sagen, dass ich einer dieser Menschen bin, von denen man derzeit oft liest, dass sie pro Tag 100 Mal ihr Smartphone aus der Tasche holen und nachher mehrere Minuten benötigen, um ihre Konzentration wiederzufinden. Wobei mir die 100 Mal ein gutes Stück zu tief gegriffen scheinen und «Konzentration wiederfinden» wie ein schlechter Witz – ich habe meine vor Jahren endgültig verloren. Die Aussicht darauf, einen Monat lang von diesem Joch befreit zu sein, erscheint mir daher höchst verheissungsvoll. Doch nachdem ich die SIM-Karte aus meinem Huawei entfernt habe, schaffe ich es nicht, sie das MP01 einzusetzen. Bloss telefonieren und SMS schreiben? Kein WhatsApp? Kein Instagram? Kein Schach? Und wie soll ich herausfinden, wann der Bus fährt? Heftige Isolations- und Amputationsängste türmen sich in mir auf und lähmen meine Finger, die den kleinen Chip halten, der daraufhin allen Ernstes zurück in mein Smartphone wandert. Ich bin offensichtlich dermassen süchtig, dass ich es noch nicht einmal schaffe, den Entzug überhaupt zu beginnen.

von meinem Smartphone zu verschaffen. Aber jedes Mal, wenn ich den Wechsel vollziehen wollte, fiel mir irgendein Grund ein, warum dieser Moment ungünstig sei, und ich verschob die Sache auf später. So muss es Menschen gehen, die sich von ihrem Partner trennen wollen, aber in ihrer unglücklichen Beziehung immer noch Halt und Geborgenheit finden. Heute aber ist es so weit, nicht zuletzt, weil ich mich selbst nicht mehr ernstnehmen kann und es mich befremdet, dass ein Gerät eine solche Macht über mich ausübt. Also habe ich dem Huawei die SIM-Karte entrissen, diese dem MP01 eingesetzt und bin mit einem Telefon aus dem Haus gegangen, das genau gleich viel kann wie mein erstes Nokia von 1995. Mit diesem war ich mir vorgekommen wie ein Geheimagent – heute fühle ich mich mit dem gleichen dürftigen Funktionsumfang wie ein Tattergreis, dem die Familie ein Seniorenhandy aufgezwungen hat. Nach kurzer Zeit machen sich erste Entzugsbeschwerden bemerkbar: Ich nehme das MP01 immer wieder in die Hand und betrachte sein Display, so wie ich es mit meinem Smartphone ständig gemacht habe. Doch da steht nur die Uhrzeit. SMS bekomme ich auch keine, denn mittlerweile kommuniziere ich mit praktisch all meinen privaten und geschäftlichen Kontakten über WhatsApp, wie mir nun bewusst wird. Aber das MP01 kann kein WhatsApp. Das wird zu einem Problem werden. Oder zu einer guten Entschuldigung, dieses Experiment bald wieder abzubrechen. Als ich wieder zuhause bin, hole ich als Erstes mein Smartphone wieder aus dem Schrank. Bloss um kurz meine WhatsApp-Nachrichten zu prüfen, wie ich mir einrede.

Tag 8 Eine geschlagene Woche lang blieb das MP01 so liegen: bereit und willig, mir die immer wieder herbeigesehnte Unabhängigkeit

Tag 9 Ich lese den Zettel, der dem MP01 beigelegen hat. Darauf steht, dass dieses keineswegs beabsichtige, das Smartphone zu erset-

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zen, sondern vielmehr als Gefährte bereitzustehen, wenn man sich eine Auszeit nehmen wolle. Es wird ein Szenario empfohlen, das mich sofort überzeugt und das ich heute ausprobiere: Das Smartphone bleibt eingeschaltet zuhause und empfängt per WLAN weiterhin WhatsApp-Nachrichten, unterwegs bin ich mit dem MP01. Tatsächlich kann ich in dem Café, das ich zum Schreiben aufgesucht habe, erheblich flotter arbeiten im Wissen darum, dass sich der ständige Griff in die Tasche einfach nicht lohnt, weswegen er dann auch bald mal unterbleibt. Wenn jemand anruft, höre ich es, wenn jemand ein SMS schreibt, auch, und solange kein Klang zu vernehmen ist, gibt es auch nichts zu tun, und das ist sehr angenehm, ja geradezu befreiend. Komme ich an etwas vorbei, das mich amüsiert, bewegt oder empört, mache ich kein Foto und verschicke es, sondern lasse es nur auf mich selbst wirken. Habe ich einen Gedanken, den ich bisher sofort geteilt hätte, erfreue ich mich allein daran. So muss es früher gewesen sein, als man seine Freunde nur per Brief oder Festnetz erreichen konnte. Es muss angenehm still gewesen sein, und was gesagt wurde, musste mehr Gewicht gehabt haben. Das MP01 hat ein wenig die Aura jener Zeit. Dafür liebe ich es. Tag 12 Am Wochenende hatte ich mein Smartphone wieder in vollem Betrieb: Ich spielte Schach gegen Menschen aus Holland, Indien und Schweden, bekam heitere Memes per WhatsApp und schickte meiner Freundin ausführliche Liebesschwüre, was mit dem Huawei-Touchscreen, auf dem man ohne abzusetzen mit dem Finger über die Buchstaben fahren kann, wesentlich einfacher ist als mit dem MP01, auf dem ich für ein «o» dreimal die «6» drücken muss. Und ich machte Fotos. Ich mache gern Fotos, von allen möglichen Personen, Dingen und Momenten. Dass man mit dem Smartphone auch stets eine Kamera in der Tasche hat, ist wohl das überzeugendste Argument dafür. Dass man es jeden Tag Dutzende von Male aus ebendieser Tasche angelt, um blöd draufzuglotzen, obwohl sich nichts getan hat, ist ein starkes Gegenargument – aber es unterwiegt. Die SIM-Karte bleibt nun definitiv im Huawei. Das Experiment, vier Wochen lang auf das Smartphone zu verzichten, ist nach zwei halben Tagen kläglich gescheitert. Tag 20 Ich habe andere Möglichkeiten gefunden, mich zu zügeln. Es gibt Apps, die das Smartphone oder eine Anzahl bestimmter anderer Apps für frei definierbare Zeiträume vom Internet trennen. Das mache ich bereits mit meinem Laptop so: von 8 bis 11 und von 12 bis 16 Uhr ist Ruhe, und das gilt nun auch für mein Smartphone. Und manchmal lasse ich es auch einfach absichtlich zuhause liegen. Das fühlt sich erst an, als würde man ohne Hosen auf die Strasse treten, und nach ein paar Tagen immerhin nur noch so, als hätte man das Portemonnaie vergessen. Aber es geht. Dass das alles so schwierig ist für mich, ist mir peinlich, und ich finde es auch ein bisschen zum Lachen. Aber die Selbstverachtungsgefühle sind verschwunden. Ich bin mir nicht mehr böse dafür, dass ich nicht ohne Smartphone leben kann. Warum sollte ich auch? Mir ist exakt eine Person bekannt, die dazu fähig ist. Aber der ist auch Fotograf und hat immer eine Kamera dabei. Surprise 439/18

Angenehm still: So muss es früher gewesen sein, als man nur per Brief oder Festnetz zu erreichen war. THOMAS MEYER

Thomas Meyer

Thomas Meyer (*1974) ist Autor und lebt in Zürich. Nach dem Erfolg der Verfilmung seines Romans «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» erscheint im Januar sein nächstes Buch «Meyers kleines Handlexikon», eine 150-Stichwort-Alternative zu «Meyers Grosses Taschenlexikon». www.thomasmeyer.ch

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FOTOS: ROLAND SCHMID, BEARBEITUNG: JOSHUA GUELMINO

Einmal im Leben mittendrin Strassenfussball In Mexiko ist am 18. November der Homeless World Cup

2018 zu Ende gegangen. Wir haben die Spieler unserer Nationalmannschaft gefragt, was sich durch die Teilnahme am HWC für sie verändert hat .

Von li. nach re., von hi. nach vo.: Christian Müller (Assistenz-Coach), Philippe Egli (Team Glattwägs United Zürich), Mehmet Bozbıyık (Team Glarus), Andreas Bloch (Dragons Basel), David Möller (Coach), Kevin Frimpong (Glattwägs United Zürich), Cedric Jelmini (Azatlaf Tessin), Alaa Amoka (Royal Action Biel), Ghebrit Mehari (FAFI Zürich), es fehlt: Mussie Teklehaimanot (FAFI Zürich)

Die Schweizer Strassenfussball-Nationalmannschaft hat den 26.  Rang gemacht von insgesamt 40. Alle Resultate sind zu finden auf: homelessworldcup.com Spielresultate: 1. Gruppenphase Schweiz – Schottland Schweiz – Russland Schweiz – Ungarn Schweiz – Schweden

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6:7 3:7 3:8 9:0

2. Gruppenphase Schweiz – Frankreich Schweiz – Guatemala Schweiz – Nordirland

7:5 8:7 4:2

Marca Claro Trophy (Plätze 25–32) Schweiz – Italien 3:2 (Viertelfinal) Schweiz – Hongkong 5:4 (Halbfinal) Schweiz – Kolumbien 1:6 (Final)

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Andreas, du sagstest vor der Abreise, du wärst vor 20 Jahren nicht in der Lage gewesen, Fussball zu spielen und an eine Weltmeisterschaft zu reisen. Warum? Ich habe vor fünf Jahren aufgehört, Drogen zu konsumieren. Jetzt lebe ich wieder. Ich hatte damals eine Art braune Sauce über meine Gefühle gelegt, das habe ich hinter mir gelassen. Jetzt spüre ich mich wieder, und ich fühle mich lebendig. Früher hätte ich nicht regelmässig Fussball spielen können, weil ich ständig diesem Gift nachgerannt bin. Hast du neue Leute getroffen, neue Beziehungen knüpfen können? Ich habe einen Holländer kennengelernt, mit dem ich lange reden konnte. Ich habe aber auch in meinem Team sehr tolle Menschen kennengelernt. Ich habe mich sogar mit einem Zürcher solidarisiert (lacht). Hier sind die Menschen sehr offen und alle sind lieb zu mir. Ich habe sonst Mühe mit Nähe und Vertrauen und knüpfe nicht so schnell neue Kontakte. Was nimmst du sonst noch mit von dieser Weltmeisterschaft? Sie hat mich verändert. Ich stehe hier im Hotel am Morgen auf und höre türkische Folklore, weil mein Zimmerpartner Mehmet sie abspielt. Früher hielt ich Distanz zu Fremdem, heute gehe ich anders darauf zu. Das finde ich gut. Ich muss aufpassen, dass ich mir nicht zu viel Druck mache und zu viel von mir selber erwarte. Wenn dann etwas nicht klappt, bin ich meistens enttäuscht und wütend. Hier lerne ich, damit umzugehen, und das will ich auch in die Schweiz mitnehmen. Surprise 439/18

Mehmet, du hast schon früher jahrelang Fussball gespielt. Was macht das Strassenfussball-Erlebnis so besonders im Vergleich zum sonstigen Fussball? Strassenfussball ist ganz anders. Etwas Neues. Etwas, das mir sehr Spass macht. Im Team unterscheidet es sich nicht gross, aber sportlich ist es anders. Strassenfussball ist viel schneller und intensiver. Mit den Banden bleibt der Ball immer im Spiel. Was hat dich am HWC beeindruckt? Die Qualität der Gegner ist sehr stark. Jedes Land spielt anders. Hier ist das Spiel noch viel schneller und intensiver. Es ist toll, die anderen Teams kennenzulernen. Ich habe die südafrikanische Mannschaft kennengelernt. Wir sind im gleichen Hotel, sehen uns daher oft und machen dabei immer Scherze. Ihr Torwart kam schon am ersten Tag zu mir und wollte mit mir das Trikot tauschen. Das hat mich sehr gefreut. Aber ich habe ihm gesagt, dass wir das erst am letzten Tag machen können, da ich es noch brauche. Was nimmst du von der Weltmeisterschaft mit nach Hause? Ich werde diese Erfahrung immer für mich bewahren. Ich bin jetzt 35 Jahre alt und hatte bereits viele Verletzungen. Ich denke, meine Karriere geht nach dieser WM dem Ende zu. Falls sie danach wirklich zu Ende ist, konnte ich sie immerhin mit einem absoluten Highlight beenden. Das wäre ein sehr schönes Ende! Ich werde mir auch einen Ordner zulegen, in dem ich die besten Fotos und Erinnerungen aufbewahren werde.

Alaa, worum ging es dir beim HWC: um das sportliche Zusammenspiel, die fussballerische Leistung oder das Gefühl von Freundschaft? Für mich gehört das alles zusammen. Ohne Freundschaft und ohne Freude am Spiel können wir als Team keine gute fussballerische Leistung auf den Platz bringen. Wenn die Stimmung in der Mannschaft nicht stimmt, kann man sich auch nicht auf seine Leistung konzentrieren. Am HWC bist du einer von sieben Spielern aus der Schweiz, die hier sein dürfen. Kitzelt das nicht auch das Ego des Teamplayers, den persönlichen Stolz? Natürlich ist man stolz darauf, bei so einer Veranstaltung dabei zu sein und im Rampenlicht zu stehen. Aber wie wir beim Surprise Strassenfussball gelernt haben: Es ist mehr als ein Spiel, es geht darum, Spass und Freude mit meinen Mitmenschen zu erleben. Nun ist der Homeless World Cup fast vorbei. Hast du schon neue Ziele? Mein Ziel habe ich bereits erreicht. Ich konnte eine Reise auf einen anderen Kontinent machen, viele neue Menschen kennenlernen und Teil dieses HWC sein. Ich werde das nie vergessen und bin unendlich dankbar, diese Chance bekommen zu haben.

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Kevin, du hast schon an einigen SurpriseTurnieren Erfahrung sammeln können. Waren das vor allem sportliche oder menschliche Erfahrungen? Für mich ist beides sehr wichtig. Ich lerne viele neue Menschen kennen und erlebe tolle sportliche Momente. Ich habe auch in den Trainings für die Nati sehr viel gelernt, konnte mich weiterentwickeln und das auch in den Turnieren anwenden. Was kommt am HWC für dich neu dazu? Ich lerne auch hier unglaublich viele spannende Menschen kennen. Zum Beispiel die südafrikanische Nationalmannschaft, die bei uns im Hotel wohnt. Und ich habe mich selbst besser kennengelernt. Normalerweise bin ich sehr frustriert, wenn es auf dem Platz nicht so läuft, wie ich es mir wünsche. Das habe ich hier auch erlebt und konnte daran arbeiten, auch dank meiner Teamkollegen. Dass sich hier so viele Teams versammeln, finde ich unglaublich. Die Eröffnungsparade fand ich unglaublich. So viele Nationen, die zusammen zu den Fussballplätzen pilgern, das ist einzigartig. Du konntest nun an einer Weltmeisterschaft teilnehmen. Dein Fazit? Wenn ich wieder zurück bin, will ich wieder mit 11er-Fussball anfangen. Aber ich werde auch meinem Surprise-Liga-Team Glattwägs United treu bleiben und weiterhin Streetsoccer spielen. Diese Erfahrungen hier nehme ich mit in die Schweiz und werde sie in meinem Herzen behalten.

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Mussie, du schätzt am Strassenfussball, dass sich dort Menschen treffen, die sich sonst nicht treffen würden, sagst du. Was war dein schönstes Erlebnis am HWC? Es war schön, viele Menschen kennenzulernen und Freundschaften zu schliessen. Es war eine grosse Fussballparty, das hat mir sehr gefallen. Was war die Weltmeisterschaft für dich: Spass, Stolz oder Stress? Definitiv Spass! Es war schön, mit den anderen Nationen Zeit zu verbringen. Wir haben viel Musik gehört und Neues gelernt. Der Homeless World Cup ist fast zu Ende. Was kommt jetzt? Wenn ich in der Schweiz bin, will ich weiterhin Strassenfussball spielen. Ich werde dieses Erlebnis nie vergessen.

Cedric, du hast dich auf die Einigkeit und den Freundschaftsgeist am HWC gefreut. Gab es auch weniger erfreuliche Szenen? Mexiko-City ist eine wunderschöne Stadt, aber die Schere zwischen Arm und Reich ist sehr gross, und das spürt man. Die sozialen Unterschiede fallen mir auf. Den Freundschaftsgeist unter uns habe ich aber tatsächlich gespürt. Am meisten schon im Trainingslager. Bei den gemeinsamen Abendessen habe ich die Einigkeit unserer Mannschaft stark gefühlt. Du hast dich auch auf die Reise nach Mexiko gefreut. Ja, das war einmalig. Ich bin noch nie so weit gereist. Du hast in Mexiko an einer Weltmeisterschaft mitgespielt. Was hat das mit dir gemacht? Für mich ist ein Traum in Erfüllung gegangen. Wenn ich zurück in der Schweiz bin, brauche ich neue Herausforderungen. Mein erstes Ziel ist es, zu heiraten. Auch will ich mich stärker in der Politik engagieren und weiterhin bei meinem Verein Azatlaf Tessin in der Surprise Strassenfussball Liga mitspielen. Auch sonst werde ich mir neue Verantwortlichkeiten suchen.

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«Nehmt die Trauer als Energie» Nachruf Vor wenigen Wochen ist der Gründer des

FOTO: J.J. KUCEK

Homeless World Cup verstorben.

Ghebrit, du hast gesagt, dir ist es wichtig, ein gutes Resultat zu erzielen. Nun seid ihr auf Rang 26 gelandet. Bist du zufrieden? Ich bin auch so einfach stolz, dass ich Teil dieses Teams bin. Was war für dich das Wichtigste an dieser Weltmeisterschaft? Die Schweiz hat sehr viel für mich getan, und ich möchte das auch irgendwie zurückgeben, so gut ich kann. Ich bin immer bereit, alles zu geben. Du hast nun eine Weltmeisterschaft hinter dir. Was nimmst du mit in deine Zukunft? Ich will mein Leben in der Schweiz weiter aufbauen, und ich bin froh, dass ich hier leben darf. Ich habe ab 2019 ein Praktikum als Sanitärinstallateur und bin hochmotiviert, es erfolgreich anzugehen.

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Harald Schmied *20. Februar 1960 bis †14. Oktober 2018

Harald Schmied, Mitarbeiter der österreichischen Caritas Steiermark und Chefredaktor der Strassenzeitung Megaphon in Graz, war der Vater des Homeless World Cup (HWC). Nach schwerer Krankheit ist Schmied vor wenigen Wochen gestorben, er wurde 50 Jahre alt. 2016 bekam er die Diagnose einer ALS-Erkrankung, einer tödlich verlaufenden Krankheit des Nervensystems. Vor seinem Tod hatte er noch eine Mitteilung an seine Mitstreiter vorbereitet: «Nehmt die Trauer als Energie, nicht als Blockade.» Schmied kam 2001 zusammen mit Mel Young – Chefredaktor des Strassenmagazins The Big Issue Scotland – auf die Idee, eine Fussball-Weltmeisterschaft für Obdachlose und andere sozial benachteiligte Menschen ins Leben zu rufen. Der allererste Homeless World Cup (HWC) wurde 2003 in Graz ausgetragen. Seither findet die Strassenfussball-Weltmeisterschaft jährlich an wechselnden Orten rund um den Erdball statt, 72 Nationen nehmen teil. Sie war schon für Tausende von Spielern weltweit ein Ziel vor Augen, das ihnen geholfen hat, eine konkrete Perspektive ins Auge zu fassen. Teilnahmeberechtigt am HWC ist jeder nur einmal im Leben. Alle Spielerinnen und Spieler müssen das 16. Lebensjahr vollendet haben und mindestens eine weitere Voraussetzung erfüllen: Sie waren im Jahr vor der Weltmeisterschaft zumindest vorübergehend obdachlos, verdienen ihr Haupteinkommen als Strassenzeitungsverkäuferinnen oder sind Asylbewerbende ohne positiven oder mit abgelehntem Bescheid. Strassenfussball setzt voraus, dass die Spieler im Team funktionieren und ihre Rolle finden und erfüllen. Nebst dem sportlichen Aspekt hat das Training zum Ziel, dass die Spielerinnen und Spieler sich auch ihren persönlichen Problemen stellen. So sind die Leiterin und der Coach des Surprise Strassenfussballs ausgebildete soziokulturelle Animatoren. Eines der Ziele des HWC ist, mit einer medienwirksamen Sportveranstaltung Menschen aus der Obdachlosigkeit wieder zurück in geregelte Wohnverhältnisse zu bringen. Von Beginn an waren neben dem Internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP auch die UEFA und die Vereinten Nationen Partner. DIF 17


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FOTOS LUTZ JÄKEL/LAIF

«Eine der Paradoxien: Wenn Diskriminierung thematisiert wird, bedeutet das, dass Integration weit fortgeschritten ist.»


«Mehr Integration heisst mehr Konflikt» Integration Dynamik, Chaos, Stress und Innovation: Eine offene Einwanderungsgesellschaft

zu sein, sei unglaublich anstrengend, sagt der deutsche Soziologe Aladin El-Mafaalani. Je intensiver die Konflikte diskutiert würden, desto besser. INTERVIEW BASTIAN PÜTTER

In Deutschland läuft zurzeit eine laute Integrationsdebatte. Was genau ist eigentlich Integration? Integration bedeutet, dass jemand oder eine Gruppe Teil eines Ganzen wird. Nimmt man den Begriff ernst, heisst das, dass die kleinere Gruppe sich bewegen muss – und damit verändert sich das Ganze. Und dieser zweite Teil ist mühsam und schwierig zu verstehen. Dass sich jene anpassen müssen, versteht einmal jeder. Das Wort «anpassen» ist gar nicht so schlimm, es betrifft die Sprache, den Umgang miteinander, den Arbeitsmarkt. Was wichtig ist: Wenn die zugewanderten Menschen diese Anpassungsprozesse vollziehen, dann verändern sie die Gesellschaft stärker, als wenn sie sich nicht anpassen. Es ist nicht eine Maschine, an der man eine Schraube wechselt, sondern es wird angebaut, die Maschine selbst ändert sich. Wie hat sich die Maschine bereits geändert? Das schönste Beispiel für mich ist, wie der öffentliche Raum genutzt wird. Dass man heute auf Grünflächen seine Freizeit verbringt und zum Grillieren zusammenkommt, ist nicht auf die neue Freiheit der sogenannten Achtundsechziger zurückführen, zumindest nicht hauptsächlich, sondern hat mit den Gastarbeitern zu tun. Sie haben damit angefangen, und die Surprise 439/18

Deutschen haben sich dazugesellt auf den Grünflächen, wo eigentlich «Betreten verboten»-Schilder standen, und diese Entspanntheit ebenso zu schätzen gelernt. Dadurch ist dieses Verhalten deutsch geworden. Das ist ein Beispiel, man könnte weitere aufzählen: die Art, wie man sich begrüsst, wie man feiert, was und wie man isst, der ganze Alltag. Die Bundesrepublik Deutschland bestand lange Zeit darauf, kein Einwanderungsland zu sein. Man glaubte, die sogenannten

«Wir sollten wahrnehmen, dass die Gegenwart relativ gut ist, und endlich über unsere Zukunft sprechen.»

Gastarbeiter würden einfach wieder gehen. Heute geben Sie der deutschen Integrationspolitik – schliesslich haben Sie als Lehrer gearbeitet – die Note 4+. Es ist unglaublich viel passiert. Allein das statistische Konstrukt «Migrationshintergrund» führte dazu, dass sich die Zahl der Menschen, über die man spricht, über Nacht fast verdoppelte. Plötzlich erfasste man auch all jene, die Ausländer genannt werden, aber zu grossen Teilen deutsche Staatsbürger sind – wie ich auch. Das war etwa zur Jahrtausendwende. Daraufhin fing man an, offen auszusprechen, dass man in einem Einwanderungsland lebt, und fast explosionsartig setzte eine aktive Integrationspolitik ein, öffentlich wahrnehmbar etwa über Integrationsgipfel und Integrationsbeauftragte. Da war auch ein Teil Aktionismus dabei, seither ist aber deutlich messbar, dass die Teilhabechancen für Menschen mit Migrationshintergrund deutlich steigen. Die Gesetze, die Institutionen, die Professionen haben sich geändert. Selbst die Vordenker der offenen Gesellschaft konnten sich nicht vorstellen, dass sich ihre Ideen in solcher Breite und Tiefe verwirklichen lassen würden. Sie schreiben, die «Wir sind kein Einwanderungsland»-Verweigerung habe den gleichen Effekt wie eine unkritische «Multikulti»-Position. Was meinen Sie damit? 19


«Die Konflikte, die wir am intensivsten diskutieren, sind die Folge positiver Entwicklungen und ein gutes Zeichen.» Das Entscheidende ist: Sieht man ein, dass Integration, eine Einwanderungsgesellschaft und eine offene Gesellschaft zu sein, unglaublich anstrengend ist? Alles hat mit Dynamik, Chaos, Stress und Innovation zu tun. Zu sagen: «Wir sind keine Einwanderungsgesellschaft, man muss nichts tun», ist auf der Handlungsebene dasselbe wie zu sagen: «Vielleicht sind wir’s, aber das ist doch einfach toll». Beide Seiten gehen von den gleichen Annahmen aus: Wir müssen nichts tun, wir werden uns nicht verändern, und wenn alle sich Mühe geben, ist alles harmonisch. Ich würde sagen, diese drei Annahmen stimmen nicht. Man streitet sich nur mit Leuten, mit denen man am Tisch sitzt. Ja. Die erste Generation begnügt sich mit dem Katzentisch. Die zweite Generation, ihre Kinder, sprechen deutsch und sind hier geboren, sie wollen ein Stück vom Kuchen. Die dritte Generation möchte mitbestellen und über die Tischregeln diskutieren – so wie alle anderen auch. Mehr Integration bedeutet mehr Teilhabe und damit mehr Konflikt – und das Land verändert sich. Die Frage zum Beispiel, ob der Islam zu Deutschland gehört, erzeugt erst Konflikte, seit sie überhaupt gestellt wird. Je besser Muslime integriert sind, desto eher wollen sie, dass sie und ihre Religion ein Teil des Landes sind. Vor 20 Jahren wäre es verrückt gewesen, die Frage zu stellen. Muslime und Nichtmuslime hätten relativ einheitlich mit Nein geantwortet. Heute antworten etwa die Hälfte der Muslime und die Hälfte der Nichtmuslime in Deutschland mit Ja. Also gibt es Streit um Zugehörigkeiten, aber die Spaltung verläuft nicht zwischen Muslimen und Nichtmuslimen, sondern zwischen denen, die dafür und denen, die dagegen sind. 20

Sie sagen sogar, es wird mehr über Diskriminierungserfahrungen gesprochen, weil es immer weniger gibt. Das ist ja nur eine der Paradoxien von Integration: Wenn Ungleichbehandlung als Diskriminierung erlebt und thematisiert wird, ist Integration schon weit fortgeschritten. Wenn ein enorm wachsender Teil der Menschen mehr Teilhabe erlebt, entsteht ein Bewusstsein, das empirische Gleichberechtigung erwartet. Die erste Einwanderergeneration hatte keinen Anspruch auf volle Zugehörigkeit. Ihre besser integrierten Kinder werden besser behandelt – Diskriminierung nimmt aber nicht so schnell ab, wie die Erwartungen an Zugehörigkeit und gleiche Teilhabe steigen. So nehmen in der dritten Generation auch deshalb die Konflikte zu, weil mehr Diskriminierung erfahren wird. Sie kann man als Differenz zwischen Erwartungen und Realität beschreiben.

Aladin El-Mafaalani Der Soziologe und Politikwissenschaftler wurde 1978 als Sohn syrischer Einwanderer im Ruhrgebiet geboren. Zunächst arbeitete er als Lehrer sowie als Dozent an verschiedenen Hochschulen, 2013 übernahm er eine Professur für Politikwissenschaft und Politische Soziologie an der Fachhochschule Münster. Seit März 2018 ist er Leiter der Integrationsabteilung im nordrhein-westfälischen Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration. Seine Thesen zu Themen wie Bildungspolitik, Einwanderung, Radikalisierung und Diskriminierung werden auch in Nordamerika öffentlich diskutiert.

Die Konflikte um Integration erleben jedoch viele als zunehmende Spaltung der Gesellschaft. Es geht bergauf und jeder, der schon mal bergsteigen war, weiss: Das ist anstrengend – und die letzten hundert Meter sind die anstrengendsten. Man weiss nicht, wie weit der Gipfel ist und ob nicht noch ein höherer folgt. Für einige ist das zu viel und sie wollen zurück ins Tal. Andere wollen lange Pausen machen und das Ganze langsamer angehen. Das ist ganz normal. Wenn es den Anschein macht, als wäre unsere Gesellschaft gespalten, dann ist sie es im Hinblick auf Haltungen. Mit Blick auf die gesellschaftliche Realität waren wir uns noch nie so einig wie heute. Zurzeit macht es den Eindruck, als wollte eine wachsende Zahl Menschen den Weg bergauf nicht mehr mitgehen. Es gibt eindeutig Menschen, Milieus, Ideologien, die damit nie klarkamen und nicht klarkommen werden. Die Gegenbewegung zur offenen Gesellschaft wächst im Augenblick überproportional, weil wir eine völlig verschobene, abseitige Diskussion über den Zustand unserer Gesellschaft haben. So wächst der Anteil an Menschen, die nicht sicher sind, ob die offene Gesellschaft das Richtige ist. Es ist der Grad an Offenheit, das Ausmass der Teilhabechancen, der Erfolg, der die Gegner mobilisiert. Objektiv betrachtet gab es aus soziologischer und historischer Sicht bisher keine bessere Situation in Deutschland als die jetzige. In praktisch allen gesellschaftlichen Bereichen ist Deutschland so frei, so demokratisch, so offen für Teilhabe wie nie zuvor. Derzeit wird unglücklicherweise vor allem über die Vergangenheit und rückwärtsgewandte Ideen geredet und unsere Gegenwart als schrecklich beschrieben. Wir sollten wahrnehmen, dass die Gegenwart relativ gut ist, und endlich über unsere Zukunft sprechen. Uns erwarten Herausforderungen, deren Lösungen nicht in der Gegenwart liegen und erst recht nicht in der Vergangenheit. Wer sind denn die Gegner der offenen Gesellschaft? Es gibt zwei in Europa entwickelte Ideologien, die miteinander zusammenhängen: Nationalismus und Rassismus. Aus ihnen speist sich die Anfälligkeit für Schliessungstendenzen. Hinzu kommt eine weitere grosse Schliessungsbewegung: der fundamentalistische Islam. Er ist heterogen, so Surprise 439/18


Inwiefern hat das mit dem Islam zu tun? Wie im Rassismus und Nationalismus gibt es eine im Islam vorhandene Anfälligkeit, sich überlegen zu fühlen, die sich aus dem Glauben an die letzte, die vollkommene Überlieferung speist. Statt Überlegenheit erleben viele Muslime ihre Lebenssituation jedoch als prekär, ausgegrenzt, benachteiligt, und tendenziell stimmt das auch. Darauf gibt es zwei Reaktionen: einerseits Zweifel und die Abwendung von der Religion, andererseits die Erklärung: «Die Botschaft Gottes ist wahr, wir glauben nur nicht streng genug daran, wir sind benachteiligt, weil wir Gottes Wort nicht ernst genug nehmen.» Wir nehmen nur die zweite Surprise 439/18

Variante wahr, sie ist auffälliger. Das andere Extrem, die Abwendung von der Religion, gibt es aber auch. Und dazwischen versuchen die meisten Muslime irgendwie zurechtzukommen. Eine ganz schwierige Situation. Aber sehr vergleichbar mit der Situation der Nichtmuslime: Wir haben Extreme und eine Mehrheit, die dazwischenliegt. Nochmal: Die Spaltung zwischen Befürwortern und Gegnern der offenen Gesellschaft verläuft nicht zwischen Muslimen und Nichtmuslimen oder zwischen Migranten und Nichtmigranten. Sie verläuft durch alle hindurch, auch durch alle Parteien. Was ist zu tun? Wir müssen kritischer gegenüber der Geschichte sein. Und wir müssen gesamtgesellschaftlich das Bewusstsein schärfen, dass die Konflikte, die wir am intensivsten diskutieren, Folge positiver Entwicklungen und ein gutes Zeichen sind. Solange das nicht stattfindet, ist Verunsicherung und

die Sehnsucht nach einer vermeintlich besseren Vergangenheit nachvollziehbar. Die gab es aber nie. Die Herausforderungen der Zukunft sind so gross, dass wir uns ihnen endlich zuwenden sollten. Statt einer Leitkultur brauchen wir eine Streitkultur, mit der wir die Modalitäten unseres Zusammenlebens aushandeln. Denn die offene Gesellschaft ist nur die Arena, spielen müssen wir selbst. Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von bodo/INSP.ngo

FOTO: ZVG

wie auch die anderen Schliessungsbewegungen. Nationalisten und Islamisten arbeiten am gleichen Projekt gegen die offene Gesellschaft. In dieser gibt es keine widerspruchsfreien Lösungen, die Schliessungsbewegungen bieten aber genau das an.

Aladin El-Mafaalani: «Das Integrationsparadox. Warum gelungene Integration zu mehr Konflikten führt» Kiepenheuer & Witsch, 2018, CHF 21.90

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Die Stimmen der Heimatlosen Ausstellung Die Künstlerin Eva Borner hat die Stimmen von Obdach- und Heimatlosen eingefangen. Ihre Soundinstallation erzählt von den Wünschen der Menschen. TEXT MICHAEL GASSER

Mit ihrer für die Kunsthalle Wil entwickelten Soundskulptur «Wirklichkeiten» widmet sich Eva Borner der Heimatlosigkeit. Insbesondere dem Aspekt, nicht mehr dort leben zu können, wo man gerne möchte. Etwa, weil dieses Zuhause nicht mehr existiert oder weil eine Wirtschafts- oder persönliche Krise den Verlust der eigenen Wohnung zur Folge hatte. «Meine Kunst soll gesellschaftliche Wirklichkeiten und individuelle Schicksale spiegeln», sagt Borner. «Ich will damit eine andere Sicht auf aktuelle Geschehnisse ermöglichen.» In den in Wil präsentierten Arbeiten sind die betroffenen Menschen allgegenwärtig – ohne physisch je sichtbar zu werden. Nur ihre Stimmen sind hörbar in einer raumgreifenden Soundinstallation. «Für mich ist es spannend, Projekte zu entwickeln, in denen die Abwesenheit eine wichtige Rolle spielt», sagt die Künstlerin. «Absenz schafft eine grosse Präsenz und kann zahlreiche Bilder im Kopf hinterlassen.» Für die Ausstellung hat Eva Borner lange zum Thema Heimatlosigkeit recherchiert und dabei erkannt, wie wenig es braucht, um durch die Maschen des sozialen Netzes zu fallen. In Erinnerung geblieben ist ihr insbesondere Michalis, ein Strassenmagazin-Verkäufer aus Athen. «Besonders schwer zu ertragen war es für ihn, quasi unsichtbar zu sein. Viele Menschen getrauten sich weder ihn anzuschauen noch ihn zu grüssen, wenn er seine Zeitschrift verkaufte.» Durch seine Schilderung sei ihr bewusst geworden, dass auch sie selbst in der Hetze des Alltags hin und wieder «blind» gegenüber ihren Mitmenschen ist. Die Aussicht auf die Ausstellung in der Kunsthalle Wil inspirierte sie dazu, tiefer in die Thematik einzutauchen. «Es ist ein Projekt, das die Grenzen zwischen uns und den ‹anderen› verwischt – wer auch immer diese ‹anderen› sind.» Denn alle Menschen hätten Träume und Wünsche und ihre Bedürfnisse würden sich stets ähneln – und zwar unabhängig von Herkunft und sozialem Status, so Borner. Die Sehnsucht nach der Familie Eva Borner begann, Wohnungs-, Obdach- oder Heimatlose nach ihren immateriellen Wünschen zu befragen. Bei Aufenthalten in Athen, Paris und Leipzig führte sie zahlreiche Interviews, zurück in der Schweiz recherchierte sie 22

weiter. Unter anderem erkundigte sie sich nach den Hoffnungen von Surprise-Verkaufenden (siehe Box). Viele der Befragten – speziell Geflüchtete aus Kriegsgebieten – hätten sich nach Frieden gesehnt, doch: «Die Wünsche waren so individuell wie die Menschen selbst.» Weil viele der Interviewten zurzeit von ihrer Familie getrennt leben, spürte Borner häufig eine Sehnsucht nach den Angehörigen. Andere erzählten von ihrem Wunsch, Arbeit zu finden oder einen Beruf erlernen zu können. «Viele dieser Aussagen haben mich berührt, so etwa diejenigen von Teenagern, die voller Hoffnungen und Träume sind, dann in die Mühlen der Migrationsämter geraten und daran schier verzweifeln.» Mit «Wirklichkeiten» will Borner den vermeintlich Sprachlosen eine Stimme geben: «Sie haben viel zu sagen. Und ihre Wünsche machen neugierig, mehr über den jeweiligen Menschen zu erfahren.» In der Ausstellung scheinen aus dem Boden eines in blaues Licht getauchten Raums skulpturale Blüten zu wachsen. Daraus klingen die von Eva Borner eingefangenen Wünsche – in vielen Sprachen und eingebettet in einen Klangteppich. Eine fast meditativ anmutende Arbeit, mit der es der Künstlerin gelingt, Verständnis und Anteilnahme für die Betroffenen zu wecken. In einem anderen Raum setzt sie ein Kammerstück von Dmitrij Gawrisch in Szene. Mit Blick auf ein Video, das unablässig heran- und wegrollende Meereswellen zeigt, kann man dem zunehmend surrealen Dialog zweier entfremdeter Menschen lauschen: einem Paar, das eigentlich alles hat, aber in seiner Lebenssituation gefangen scheint. Eine weitere Arbeit besteht aus Dutzenden Olivenseifen, einem häufigen Mitbringsel aus Griechenland. Eva Borner hat die Menschenrechte in die Seifen eingraviert. «Es sind diejenigen Menschenrechte, die aktuell am meisten ignoriert werden. Ob wir die Hände in Unschuld waschen oder uns reinwaschen – darüber müssen wir als Einzelne und auch als Gesellschaft immer wieder Rechenschaft ablegen», erklärt sie.

«Wirklichkeiten», Video-, Klang- und Objektinstallationen von Eva Borner, Do bis So, 14 bis 17 Uhr, bis So, 16. Dezember, Kunsthalle Wil, Grabenstrasse 33, Wil/SG. www.kunsthallewil.ch

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FOTO (1–3, 5) HANS PETER GUTJAHR, FOTO (4) MARTIN PREISSER

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Der eigene Wunsch in der Kunsthalle

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Seife, um die Hände in Unschuld zu waschen. Was zählt in der EU? Künstlerin Eva Borner. Die Strasse trägt Blüten: Borners Soundskulptur.

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Auch Surprise-Verkäufer Roger Meier erzählte Eva Borner von seinen Wünschen. Den einen grossen Wunsch gibt es für ihn nicht, seine Wünsche würden sich immer wieder ändern, erzählt er. «Momentan hoffe ich vor allem darauf, gesund zu bleiben. Und das möglichst lange.» Vor wenigen Wochen konnte der 57-Jährige, der lange obdachlos war, in eine «nigelnagelneue Einzimmerwohnung» ziehen. Womit einer seiner grössten Wünsche in Erfüllung gegangen sei. «Allerdings muss ich mich erst wieder daran gewöhnen, eine eigene Dusche und sogar eine Bodenheizung zu haben.» Dass sich andere Menschen möglicherweise mehr erhoffen oder leisten können als er, kümmert den Berner nicht. «Mir ist wichtiger, was ich für andere tun kann. Geht es um mich selbst, dann renkt sich das früher oder später von alleine ein.» Gerne würde er bei Gelegenheit die Ausstellung von Eva Borner besuchen gehen. «Und das nicht nur, um meinen eigenen Wunsch in der Ausstellung zu hören, sondern auch die von anderen Beteiligten. Dadurch lerne ich bestimmt etwas dazu», sagt Roger Meier. MIG

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Bis Sambia die Flagge hisst Theater Der erste Mann auf dem Mond hätte auch ein Afrikaner sein können. Ein Berner Künstler-Ehepaar erzählt in einer afrofuturistischen Performance-Oper, weshalb.

Auf zum Mond! Das sagten sich in den Sechzigerjahren nicht nur die Amerikaner und die Russen. Auch im afrikanischen Binnenstaat Sambia, zu jener Zeit noch britische Kolonie, träumte ein Wissenschaftler vom Aufbruch ins All. Mitten im Kalten Krieg gründete der in der Widerstandsbewegung aktive Lehrer Edward Mukuka Nkoloso 1960 die «Nationale Sambische Akademie für Wissenschaft, Weltraumfahrt und Philosophie» mit dem ambitionierten Ziel, das «Space Race» zwischen den verfeindeten Weltmächten USA und Russland als lachender Dritter für sich zu entscheiden. Die Öffentlichkeit war erstaunt darüber, dass ein Afrikaner nach den Sternen greifen wollte.

Vor knapp zwei Jahren stiess der Berner Dichter Raphael Urweider im Magazin New Yorker auf einen Artikel über Nkoloso und erzählte seiner Frau, der südafrikanischen Performance-Künstlerin Ntando Cele, davon. «Als ich das hörte, wusste ich sofort, dass wir aus diesem Stoff ein Bühnenstück entwickeln müssen», erinnert sie sich. «Warum sollten Afrikaner denn nicht in der Lage sein, in grossen Dimensionen zu denken? Mit ‹black.space. race› wollen wir am Beispiel der Raumfahrt, die allgemein als weisse Disziplin wahrgenommen wird, zeigen, wie kolonialistisch und eurozentrisch der Blick auf Afrika nach wie vor ist.» Urweider ergänzt: «Zwar gibt es heute keine Schilder mehr, die Schwarzen den Zutritt verwehren, aber es gibt ein unterdrückerisches System, das sie weiterhin ausschliesst. In der Wissenschaft gibt es wenige schwarze Vorbilder. Kaum ein afrikanischer Vater würde seinem Sohn raten: Werde Astronaut.» Die Zukunft der jungen Generation Dem negativen Bild, das fest in den Köpfen vieler Westler verankert ist, wolle man das Bild eines progressiven und humorvollen Afrika gegenüberstellen, das selbstbewusst nach vorne blickt und sich seines Potenzials bewusst ist, so Ntando Cele. Cele, die seit 2005 Theater- und Performanceprojekte in Europa und in Afrika entwickelt, kämpft in ihren Produktionen immer wieder gegen tiefsitzende Stereotypen an. Um sie und ihren Mann Raphael Urweider herum ist die Berner Gruppe Manaka Empowerment Prod. entstanden. «Raphael findet Beschreibungen für Erfahrungen, die ich selbst für nicht beschreibbar halte, da sie sehr persönlich und manchmal auch schmerzhaft sind. Die Worte, die er für mich findet, kann ich auf der Bühne mit meinem Wesen ausfüllen und bespielen», sagt Cele. Im Stück «black.space.race» entwerfen die Künstlerinnen und Künstler eine positive Vision von Afrika. «Der schwarze Kontinent befindet sich im Aufbruch. Das merkt man besonders in den Städten, wo die junge Generation ihre Zukunft aufbaut. Indem wir den Wissenschaftler Nkoloso als Ausgangspunkt nehmen, zeigen wir, dass dieser Innovationsdrang nicht neu ist, sondern schon zu Kolonialzeiten vorhanden war», sagt Ntando Cele. Den Wettlauf zum Mond haben die Amerikaner gewonnen. In der Mojave-Wüste tüfteln Leute wie Elon Musk oder Richard Branson nun daran, den Mars zu erobern. Wenn es vorstellbar wird, dass einst eine sambische Flagge auf dem roten Planeten gehisst wird, dann wissen wir: Der Blick auf Afrika verändert sich.

Nach den Sternen greifen: Das Stück «black.space.race» entwirft eine stylische Vision von Afrika. 24

Ntando Cele, Raphael Urweider: «black.space.race», eine afrofuturistische Performance-Oper, auf Englisch, Sa 22. Dezember, Do, 27. bis Sa, 29. Dezember, jeweils 20 Uhr, So, 30. Dezember, 19 Uhr, Mo, 31. Dezember, 22 Uhr, Schlachthaus Theater Bern, Rathausgasse 20/22. www.schlachthaus.ch

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FOTO: JANOSCH ABEL

TEXT MONIKA BETTSCHEN


Vom Geistesblitz getroffen

Kino «Touch Me Not» zeigt halbdokumentarisch,

Buch «Walking in the Rain» regt dazu an,

wie Menschen ihre Sexualität erforschen.

die eigene Komfortzone zu verlassen.

In einem weissen Raum sitzen Paare, Behinderte und Nicht-Behinderte. Sie folgen den Anweisungen eines Therapeuten. Schauen einander tief in die Augen oder berühren das Gesicht des Therapiepartners. Sanft streichelt Tómas (Tómas Lemarquis) Christian (Christian Bayerlein) über die Stirn und die Lippen. Es fällt ihm nicht leicht. Später sagt er, dass er sich vor Christians Spucke geekelt habe. Diese Aussage verletze ihn nicht, antwortet Christian. Er ist an spinaler Muskelatrophie erkrankt. Alleine kann er sich nicht bewegen. Er fühle sich manchmal wie ein Hirn, das durch die Welt getragen wird, erzählt er in einer Szene. Doch er betont immer wieder: «Ich bin zufrieden mit meinem Leben und meinem Körper.» Der Sex mit seiner festen Partnerin erfülle ihn. «Mein Penis ist das Einzige an meinem Körper, das normal funktioniert.» Tómas hingegen hat Hemmungen. Als Teenager fielen ihm sämtliche Haare aus. «Ich wurde vom hübschen zum sonderbaren Jungen», erinnert er sich. Heute störe ihn seine Kahlheit nicht mehr. Trotzdem ist er nicht gelöst und scheint unglücklich. In einer Szene hört man den Anruf seiner Ex-Freundin: Die Beziehung sei vorbei. Er solle das doch bitte akzeptieren. Christian und Tómas begegnen sich mehrmals – auch in einem Swingerclub. Auch Laura (Laura Benson) stösst immer wieder auf die beiden: Sie ist Mitte 50. In diesem Alter habe man noch 15 gute Jahre vor sich, erzählt sie. Und will man diese so verbringen wie bisher? Mit einem Callboy und einer transsexuellen Sexarbeiterin versucht sie, persönliche und sexuelle Grenzen zu überwinden. «Touch Me Not» vermischt Dokumentation, Schauspiel und Performance. Nie weiss das Publikum, ob eine Szene inszeniert ist. Doch die Offenheit und Ehrlichkeit der Protagonisten ist ungekünstelt. In einer Gegenwart, in der Sex oft als Wettbewerb gilt und Hasskommentare schnell getippt sind, öffnen sie sich einem Millionenpublikum. Ihre intimen Bilder und Gedanken fängt die rumänische Regisseurin Adina Pintilie hemmungslos, aber respektvoll ein. EVA HEDIGER

Wir bewegen uns zu wenig. Viel zu wenig. Das betrifft die ganze Bandbreite von Sitztäter bis Couch-Potato. Nicht, dass uns dies nicht bewusst wäre. Aber mit dem Mangel an Bewegung ist es wie mit dem Rauchen: Dass beides der Gesundheit schadet, ist allgemein bekannt. Der Wille zur Besserung aber vermodert allzu oft im Reich der guten Vorsätze. Dabei ist Bewegung weit mehr als Fitness und Fun. Äussere Bewegung verändert auch die innere Beweglichkeit. Das Buch «Walking in the Rain» möchte uns da auf die Sprünge helfen. Es versammelt Geschichten von Künstlern, Autorinnen, Psychologen und Coaches. Über das Gehen in Stadt und Natur, von Abenteuer-Touren, vom Flanieren, Wandern und Trödeln. Anregungen, um den Schritt aus der Komfort- und Gewohnheitszone hinauszuwagen. Geschichten vom Losgehen, um bei sich selbst anzukommen. Bei der eigenen Individualität und Kreativität. Es ist bezeichnend, dass nicht wenige Geschichten von Krisen dabei sind, von Lebenskrisen. Es braucht wohl bei manchen erst solch eine existenzielle Erfahrung, um für einen Ausbruch aus den eingefahrenen Mustern bereit zu sein. Einschneidende Erlebnisse wie ein Firmenkonkurs, der allzu frühe Tod der Mutter oder ein Burnout mit Bandscheibenvorfall. Da ist dann die ärztlich oder selbst verordnete tägliche Bewegung nicht selten ein wieder Gehen lernen. Andere Geschichten sind berührend, wie diejenige von Sehbehinderten, die einen Teil des Jakobswegs bewältigen, und von ihren Begleitern, die laut beschreiben, was sie sehen, und die dabei so viel für sich selbst gewinnen. Wieder andere schildern unerwartete Erfahrungen. Etwa die von Walking Meetings, die berufliche Gespräche und Auseinandersetzungen aus der bedrückenden Enge und Sterilität der Büros befreien. Oder von regelmässigen Stadtspaziergängen, bei denen sich zwischen Shisha-Rauch, Frittenfett und Abgaswolken ein Füllhorn an Sinneseindrücken öffnet. Zum Glück geht es auch ohne das Raus-in-die-Natur. Schliesslich leben wir in einer zunehmend urbanen Gesellschaft mit schwindenden oder fernen Landschaften. Allen Geschichten gemeinsam ist, dass das Gehen die Gehenden verändert. Bewegung schafft neue Räume für Gespräche. Sie löst kreative Blockaden und ordnet das innere Chaos. Sie befreit zwar nicht vom Denken, aber sie befreit das Denken. Sie verändert die Art, wie man die Welt und sich selbst sieht und wahrnimmt. Und im besten Fall, und nicht einmal selten, wird man auf Schusters Rappen vom Geistesblitz getroffen. CHRISTOPHER ZIMMER

FOTO: ZVG

FOTO: ZVG

Probleme berühren

Walking in the Rain: Schritt für Schritt zu einem klaren Kopf. Hrsg. Dept. store for the Mind. Dumont 2018, CHF 29.90

Adina Pintilie: «Touch Me Not», RU/BGR/DE 2018, 125 Min. Läuft zurzeit im Kino.

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Basel «Adväntsgass im Glaibasel», Rheingasse Basel, bis So, 23. Dezember, Auftritt Surprise Strassenchor, Do, 4. Dezember, 19.30 Uhr; www.advaentsgass.ch «Eine Million Sterne», Sa, 15. Dezember, 17 bis 19 Uhr, Marktplatz Basel, 17 Uhr Auftritt Surprise Strassenchor. www.einemillionsterne.ch/veranstaltungen

Die «Adväntsgass» ist das Gegenstück zum Advents-Kaufrausch mit Holzhütten- und Treffpunktcharakter. Der Quartier-Weihnachtsmarkt bietet Kunsthandwerk, himmlische Weihnachtschöre (wie den Surprise Strassenchor), Brass-Bands sowie Geschenkideen von Designern und Food-Produzenten aus der Region. Der Surprise Strassenchor singt sich danach weiter durch den Advent: In Basel im Rahmen der Caritas-Aktion «Eine Million Sterne». Kurz vor Weihnachten setzen Kinder und Erwachsene, Familien und Alleinstehende gemeinsam ein Zeichen für mehr Solidarität mit Menschen, die kaum Geld zum Leben haben. Dazu werden in schweizweiten Aktionen Tausende von Kerzen angezündet, die über 100 Veranstaltungsorte sind online zu DIF finden.

Kriens «Comedy of Manners: John Miller», Ausstellung, bis So, 17. Februar 2019, Museum im Bellpark Kriens, Luzernerstrasse 21, Kriens. bellpark.ch

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John Miller hat Instagram-Bilder gemacht, bevor es Instagram überhaupt gab. Seit 1994 arbeitet er an seiner Fotoserie «The Middle of the Day» – Bilder, die nichts anderes verbindet als ihr Aufnahmedatum: zwischen 12 und 14 Uhr. Es sind kurzlebige Bilder, wie sie heute jederzeit von allen gemacht werden, eine Dokumentation des Alltagslebens. Die Fotos richten den Blick auf das Verhältnis von Öffentlichem und Privatem und sind ein buntes Sittenstück der Gegenwart (worauf der Ausstellungstitel «Comedy of Manners» anspielt). Miller interessiert sich in seinem Werk immer auch für die technischen und künstlerischen Mittel an sich, für Kommunikationsmittel und ihre Weiterentwicklungen. Sein Werk umfasst Skulpturen, Malerei, Musik, Fotografie bis hin zu Arbeiten, die auf PowerPoint-Präsentationen aufbauen. DIF

von Palästinenserinnen, es geht um Opfer des spanischen FrancoRegimes, um den Völkermord an den Jesiden – und um die Frage, ob Kunst den Kreislauf der Rache durchbrechen kann. DIF

Winterthur «Food Revolution 5.0 –  Gestaltung für die Gesellschaft von morgen», So, 2. Dezember bis So, 28. April 2019, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Do 10 bis 20 Uhr, Gewerbemuseum, Kirchplatz 1. www.gewerbemuseum.ch Wenn man am Mittag im Büro zusammensitzt und isst, jeder mit seinem Take-away vor sich, kommt man manchmal auf Fragen wie diese zu sprechen: Wie und was sollte man essen in Zeiten des Klimawandels, des In-vitro-Fleisches, der Indoor-Farmen und Wurm-Delikatessen? Essen kann ein Problem sein, denkt man sich mit der Plastikgabel in der Hand und dem brasilianischen Poulet zwischen den Zähnen. Das Gewerbemuseum nimmt sich der Thematik an. Und wir versuchen, unser Thai-Curry in Zukunft vermehrt selbst zu kochen. DIF Zürich «Human Rights Film Festival Zurich», Mi, 5. Dezember bis Mo, 10. Dezember, Kino RiffRaff, Neugasse 57/63, Kino Kosmos, Lagerstrasse 104. humanrightsfilmfestival.ch Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte wird am 10. Dezember 70 Jahre alt. Das Human Rights Film Festival zeigt in seiner vierten Ausgabe Werke, die uns die Geschichten erzählen, welche hinter den Worten einer Menschenrechtserklärung stehen. Sie schauen in verschiedenste Winkel dieser Welt, wo es unter der Oberfläche brodelt: Es geht um die Macht des weiblichen Widerstands

Zürich «Social Design», Ausstellung, bis So, 3. Februar 2019, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Mi 10 bis 20 Uhr, Museum für Gestaltung Zürich, Toni-Areal, Pfingstweidstrasse 96. museum-gestaltung.ch Dass Design abgesehen von Prestigefragen, Lifestyle-Betrachtungen und allenfalls Kunstgeschmack etwas mit unserer Gesellschaft zu tun hat, ist wohl kaum jemandem gleich als Erstes präsent. Das Museum für Gestaltung Zürich lehrt uns nun: Es gibt einen ganzen Design-Bereich, der einer sich wandelnden Gesellschaft gewidmet ist – Social Design heisst das. Hier geht es darum, welcher Webstuhl zur Existenzgründung taugt, wie ein Solarkiosk zur lokalen Stromversorgung wird oder wie Netze Wasser aus der Luft gewinnen können. Ideen, die aus der Tatsache entstanden sind, dass die globale Wachstumsökonomie für die Umwelt wie für die soziale Gleichheit DIF gravierende Folgen hat. Zürich «Wer is(s)t denn da?», Ausstellung, bis Sa, 4. August 2019, Di bis So, 13 bis 17 Uhr, Kulturama Museum des Menschen, Englischviertelstrasse 9. kulturama.ch Während im Gewerbemuseum Winterthur die Essenskultur der Zukunft diskutiert wird (siehe Hinweis auf dieser Seite), bietet das Kulturama in Zürich sozusagen die Vorgeschichte dazu. Hier geht man der Frage nach: Was assen unsere Vorfahren? Die Ausstellung beginnt mit der Ess- und Trinkgeschichte vor 80000 Jahren und gibt Einblicke in die Menüpläne eiszeitlicher Jäger, steinzeitlicher Bäuerinnen, römischer Müllerknechte und mittelalterlicher Stadtbewohnerinnen. Damit sich die moderne Familie zum Schluss fundiert fragen kann: Was essen wir eigentlich? Und wieso? Das Kulturama bereitet seine Ausstellungen sinnlich auf, sodass sie auch für Kinder spannend sind. DIF

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BILD(1): CLAUDE GIGER, BILD(2): JOHN MILLER, BILD(3): CAROLIEN NIEBLING; FOTO: JONAS MARGUET SHAWN

Veranstaltungen


ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT

Agglo-Blues

Folge 22

Die Weltverschwörung Was bisher geschah: Um mehr über die politischen Ansichten des Opfers herauszufinden, trifft Vera Brandstetter in der Nähe des Tatorts dessen Bekannten, der sich als ziemlich paranoid herausstellt. «Nein, unser Thema war das Finanzsystem», erklärte Toni Delbosco. «Reto hat sich dafür interessiert, und ich als Banker habe ihm Informationen und Hintergründe dazu geliefert.» «Was hat das mit wehrhaften Patrioten zu tun? Wollten Sie etwa zum bewaffneten Kampf für das Bankgeheimnis aufrufen?» «Ach was, uns geht es um die Hintergründe. Die Dominanz gewisser Kreise in der Bankenwelt.» «Meinen Sie etwa die Juden?» fragte Brandstetter. Sie wusste, wie weit verbreitet die Verschwörungstheorien inzwischen waren, die bis vor ein paar Jahren nur Extremisten und Spinner geäussert hatten. Delbosco verzog das Gesicht. «Auch, ja, schon. Es ist nicht zu bestreiten, dass überdurchschnittlich viele Akteure an den Finanzmärkten Juden sind. Das gilt auch für die Presse. Damit haben sie einen überdurchschnittlich starken Einfluss auf das Weltgeschehen.» «Also, das verstehe ich jetzt nicht.» Brandstetter sah ihn an, als sei ihr das alles viel zu kompliziert. Die Masche wirkte. Welcher Mann kann schon widerstehen, einer Frau die Welt zu erklären? «Denken Sie nur mal an die letzte Finanzkrise: Bear Stearns, Lehmann Brothers und vor allem Goldman Sachs. Alles jüdische Firmen. Dort liefen die Fäden zusammen. Goldman Sachs hat hochriskante Hypothekarprodukte verkauft und gleichzeitig auf den Zusammenbruch des Immobilienmarktes gewettet. Als der eintraf, haben sie Unsummen verdient und sind seither noch viel mächtiger geworden.» «In Amerika wurde Trump gewählt, der öffentlich Sympathien für Neonazis und Antisemiten bekundet», wandte Brandstetter ein. Wenn sie daran dachte, hörte sie im Auto das «Echo der Zeit» oder schaute zu Hause «Zehn vor zehn». Sie dachte nur selten daran. Wegen Thorsten. Und Netflix. «Das hätten Sie dem Buchhalter mal sagen sollen. Der wäre an die Decke gegangen. Trump war für ihn nichts anderes als Surprise 439/18

eine Marionette des Finanzjudentums.» «Wie bitte?» Das war nun selbst für einen Neonazi eine gewagte Theorie. «Hören Sie, im Wahlkampf nannte Trump Goldman Sachs korrekterweise die globale Machtstruktur, welche die amerikanische Arbeiterklasse ausplündert und die Reichen reicher macht. Kaum gewählt, holte er die Leute in seine Regierung, Steve Mnuchin, Jude und ehemaliger Goldman-Partner, wurde Finanzminister. Nicht zu vergessen Jared Kushner und Trumps Tochter Ivanka, die konvertiert ist. Für Schwander gehörte Blocher übrigens zur selben Kategorie.» Brandstetter musste lachen. «Er hielt Blocher, der mit Finanzgeschäften schwerreich geworden ist, für einen Judenknecht. Der Israelitische Gemeindebund hat 2010 das SVP-Programm korrigiert. Die Partei ist klar pro Israel.» «Glauben Sie das alles etwa auch?» «Mit Glauben hat das nichts zu tun, das sind Fakten. Wissen Sie, was ich bei meiner Arbeit erlebe, gibt mir schon zu denken. Die Frage ist nicht, ob es zu einem Kollaps kommt, sondern wann. Die zerstörerische Energie der Finanzmärkte ist eine mächtige Waffe, mit der sich jede Regierung erpressen lässt.» Delbosco sah einen Moment durch die Windschutzscheibe, ehe er sich wieder zu ihr umdrehte. «Haben Sie schon eine Spur, wer Reto umgebracht haben könnte?» «Nein», gab Brandstetter zu. «Hat er Ihnen gegenüber je erwähnt, dass er sich bedroht fühlte?» «Er hat sich für die Unabhängigkeitsbewegung in der Ukraine interessiert, wegen seiner Frau. Das brachte ihn potenziell in Konflikt mit den Russen, und die sind bekanntlich nicht zimperlich.» «Gab es Probleme mit seiner Frau?» «Nein, er war enorm stolz auf sie, hat mir immer wieder Fotos gezeigt.» Delbosco nestelte an seiner Krawatte. «Bitte behandeln Sie meine Aussage diskret. Ich arbeite für eine Privatbank. Wenn meine Ansichten bekannt würden, wäre ich sofort meinen Job los. Meinungsfreiheit gibt es in diesem Land nur für die Linken.» «Machen Sie sich keine Sorgen», beruhigte Brandstetter. Sie öffnete die Wagentür und stieg aus. Mit dem linken Fuss trat sie in eine Schlammpfütze. STEPHAN PÖRTNER schreibt und lebt in Zürich. Alle bisher erschienenen Folgen des Fortsetzungskrimis gibt es zum Nachlesen und -hören unter www.surprise.ngo/krimi

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Barth Real AG, Zürich

02

Girsberger Holding AG, Bützberg

03

TopPharm Apotheke Paradeplatz, Zürich

04

Naef Landschaftsarchitekten GmbH, Brugg

05

VXL gestaltung und werbung AG, Binningen

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Steuerexperte Peter von Burg, Zürich

07

Burckhardt & Partner AG, Basel

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freigutpartners IP Law Firm, Zürich

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Hervorragend AG, Bern

10

Praxis Colibri, Murten

11

Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

12

SBB Angebotsgestaltung Langstrasse, Zürich

13

Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

14

Anyweb AG, Zürich

15

Leadership LP3 AG, Biel

16

Echtzeit Verlag, Basel

17

Maya-Recordings, Oberstammheim

18

Gemeinnütziger Frauenverein, Nidau

19

Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Madlen Blösch, GELD & SO, Basel

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Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

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Lotte’s Fussstube, Winterthur

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Cantienica AG, Zürich

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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

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Brother (Schweiz) AG, Dättwil

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Der Weg in die Armut führte für Daniel Stutz über die Sucht. Als Jugendlicher rutschte der heute 44-Jährige in die Spielsucht und später in den Konsum harter Drogen. Dank einer Therapie schaffte er vor 7 Jahren den Ausstieg. Geblieben ist dem Zürcher Surprise-Verkäufer und -Stadtführer ein Schuldenberg. «Den Weg aus der Sucht habe ich hinter mir, der Weg aus der Armut liegt noch vor mir», beschreibt Daniel seine Situation. SurPlus gibt ihm dabei Rückenwind: «Es ermöglicht mir hin und wieder Ferien. Ausserdem bedeutet es, auch einmal krank sein zu dürfen – ohne gleich Angst haben zu müssen, die Miete oder Krankenkasse nicht zahlen zu können.»

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 14 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise

Strassenfussball

#435: Zwischen Lust und Ekel

«Ein Mythos»

BILD: ZVG

Feierliche Übergabe 90 Schals haben die Surprise-Leserinnen und -Leser gestrickt, gehäkelt, genäht und sogar geschweisst: Die diesjährige Fan-Schal-Aktion war ein voller Erfolg. Sogar die berühmte Kunststrickerin Madame Tricot hat es sich nicht nehmen lassen, teilzunehmen. Am letzten Trainingslagertag kurz vor der Abreise nach Mexiko zum Homeless World Cup (HWC) wählte die Schweizer Strassenfussball-Nati den Gewinnerschal aus: Frau Dora Bräuchli-Walz aus Aarau wurde zur Schalmacherin des Jahres 2018 auserkoren. Auf dem Bild sieht man den Schweizer Goalie Mehmet bei der feierlichen Übergabe an den Goalie der kolumbianischen Gegner vor dem letzten Spiel. Platzieren konnte sich die Schweizer Nati am HWC diesmal im soliden Mittelfeld: Sie wurden 26. von 40 teilnehmenden Teams und gewannen in der Marca-Claro-Trophy um die Ränge 25–32 den silbernen Pokal mit einem 1:6 gegen Kolumbien. Seit sechs Jahren reist die Surprise Nati mit den jeweils für sie angefertigten Schals aus der Schweiz zum Homeless World Cup und verteilt diese an Spieler, Trainer, Schiris und Volunteers – ein Geschenk aus der Schweiz, handgemacht, von Leserinnen und Lesern als Zeichen von Freundschaft und Fairplay.

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Sara Winter Sayilir (win) Amir Ali (ami), Diana Frei (dif) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Rahel Nicole Eisenring, Georg Gindely, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Semhar Negash, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Michael Gasser, Antoine Geiger, Eva Hediger, Thomas Meyer, Bastian Pütter, Jeroen van Rooijen, Roland Schmid Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck AVD Goldach Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage 36 400 Abonnemente CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Den Artikel zur Sexarbeit fand ich wirklich gut. Nur den Titel auf der Frontseite finde ich sehr unglücklich gewählt, besonders wenn im Artikel klar gesagt wird: Die Frauen verkaufen eine Dienstleistung, nämlich Sex, nicht Liebe. Die Freier, die denken, eine Sexarbeiterin verkaufe Liebe, liegen vollkommen daneben. S. STEINLE, Basel

Sozialer Stadtrundgang, Zürich

«Bislang unbekannt» Unser Stadtrundgang mit Peter Conrath hat ganz wunderbar geklappt. Wir haben alle viel Neues gesehen und viel gelernt über ein für uns bislang unbekanntes Zürich. Peter war ein fantastischer Guide, der uns mit viel Herzblut und Offenheit vom Leben auf der Strasse erzählt hat. L . RUTISHAUSER, Zürich

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort

Rechnungsadresse: Vorname, Name Strasse PLZ, Ort Telefon E-Mail Datum, Unterschrift 439/18

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FOTO: SUSANNE KELLER

Surprise-Porträt

«Wo sollte ich hin?» «Ich bin in Äthiopien geboren und aufgewachsen. Als ich sieben Jahre alt war, starben mein Vater und meine Mutter kurz nacheinander. Da sie aus der damaligen Provinz Eritrea stammten und meine Verwandten somit weit entfernt wohnten, lebte ich fortan bei den Nachbarn. Später heiratete ich einen der Söhne dieser Nachbarsfamilie und hatte mit ihm drei Kinder. Eines Tages wurde mein Mann aus politischen Gründen verhaftet und später getötet. Ich blieb zunächst mit den Kindern bei den Schwiegereltern, doch sie behandelten mich sehr schlecht, und mein Leben wurde immer schwieriger. Dazu kam, dass Eritrea mittlerweile ein eigenständiger Staat geworden war und Äthiopien Leute mit eritreischen Wurzeln mehr und mehr des Landes verwies. Wo sollte ich nun hin? Für Eritrea stammte ich aus dem verfeindeten Äthiopien, für Äthiopien war ich eine unerwünschte Eritreerin. Schliesslich hielt ich meine Situation nicht mehr aus und flüchtete in den Sudan. Die Kinder liess ich zurück, weil ich ihnen die gefährliche Reise nicht zumuten wollte. Vom Sudan führte die Flucht durch die Sahara nach Libyen und über das Mittelmeer nach Italien. 2008 stellte ich in der Schweiz einen Asylantrag. Hier stellte sich das Thema «Äthiopierin oder Eritreerin?» erneut, denn ich hatte von keinem der beiden Staaten Ausweispapiere. Da ich aus Äthiopien geflüchtet war, betrachteten mich die Schweizer Behörden als Äthiopierin und lehnten mein Asylgesuch 2011 ab. Ich legte mit der Hilfe einer Rechtsberatungsstelle Rekurs ein und bemühte mich gleichzeitig, gültige Ausweispapiere zu bekommen. Dazu reiste ich nach Genf und versuchte, sowohl bei der äthiopischen wie auch bei der eritreischen Botschaft einen Ausweis zu bekommen. Beide Länder lehnten meinen Antrag jedoch ab, und so blieb ich staatenlos. Schliesslich wurde mein Asylgesuch nochmals geprüft, und 2013 wurde ich vorläufig aufgenommen. Nun konnte ich endlich auch anderweitig Arbeit suchen, nachdem ich vier Jahre lang nur Surprise verkaufen durfte. Mit Reinigungsaufträgen, einer Anstellung in einer Restaurantküche und dem Verkauf von Surprise schaffte ich es bald, mich von der Sozialhilfe zu lösen und meinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Das war nicht einfach, aber ich bekam von vielen Seiten Hilfe. Das Team von Surprise greift mir immer wieder bei Administrativem unter die Arme, und Freundinnen, Bekannte und Surprise-Kunden unterstützen mich auf verschiedene Weise, sei es mit einem warmen Tee und einem Znüni beim Heftkauf, mit einer Einladung zum Mittagessen oder einem Paar warmer Schuhe. Dafür bin ich allen diesen Menschen sehr dankbar. 30

Haimanot Ghebremichael, 44, verkauft Surprise bei der «Welle» am Berner Hauptbahnhof. Mit drei Jobs gleichzeitig schaffte sie den Schritt aus der Sozialhilfe.

Mein derzeit grösster Wunsch ist, dass mein vierzehnjähriger Sohn Jarid in die Schweiz kommen kann. Die beiden Töchter sind schon älter, haben bereits selbst eine Familie gegründet und bleiben in Äthiopien. Damit Jarid über den Familiennachzug in die Schweiz reisen darf, brauche ich jedoch die Aufenthaltsbewilligung B, und diese bekomme ich wiederum nur mit gültigen Ausweispapieren. Nun habe ich einen neuen Versuch bei der äthiopischen Botschaft in Genf gestartet und habe grosse Hoffnungen, dass ich meine Papiere bald bekomme. In den letzten Monaten hat sich in Äthiopien mit dem neuen Premierminister viel verändert, auch das Verhältnis zu Eritrea scheint sich zu bessern. Ich denke, sobald ich den äthiopischen Pass habe, wird es schnell gehen mit dem B-Ausweis und der Einreisebewilligung für Jarid. Deshalb schaue ich mich jetzt schon nach einer grösseren, bezahlbaren Wohnung um – meine Einzimmerwohnung ist zu klein für mich und meinen grossen Sohn. Ich besuche momentan auch dreimal pro Woche den kostenlosen Deutschkurs der Autonomen Schule denk:mal im Lorraine-Quartier, damit ich Jarid nach seiner Ankunft besser beim Deutschlernen helfen kann.»

Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN

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BETEILIGTE CAFÉS

Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren.

IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstrasse 18 | Bäckerei KULT «Elsi», Elsässerstrasse 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Café Bohemia, Dornacherstr. 255 Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 | Kiosk Amann, Claragraben 101 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Badischer Bahnhof Rest. Manger & Boire, Gerbergasse 81 | Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 | Café Spalentor, Missionstrasse 1 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4-Markt Baselstrasse, Baselstr. 66 | Restaurant Quai4, Alpenquai 4 | Quai4-Markt Alpenquai, Alpenquai 4 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 Sommerbad Volière, Inseli Park | Restaurant Brünig, Industriestrasse 3 IN RAPPERSWIL | Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN BERN Café Kairo, Dammweg 43 | Café MARTA, Kramgasse 8 Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa Lorraineladen, Lorrainestr. 23 | Luna Llena Gelateria Rest. Bar, Scheibenstr. 39 | Rest. Genossenschaft Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 Rest. Löscher, Viktoriastr. 70 | Rest. Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestrasse 20 IN BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Quartiertreff Enge, Gablerstrasse 20 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestrasse 47 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise

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Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Erlebnis Erlebnis

Expertenrolle Expertenrolle

SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf2 die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Surprise 000/18


Helfen tut gut. Zeit, zuzuhören. Zeit, abzuwarten. Zeit für Rückschläge. Zeit, zu helfen. All das gibt es in der Sozialberatung und -begleitung, die Surprise an seinen drei Standorten in Basel, Bern und Zürich anbietet. Die Verkaufenden des Strassenmagazins sowie die Stadtführer, die Strassenfussballer und die Chorsängerinnen erhalten hier nicht nur ihre Hefte, gratis Kaffee oder Internetzugang, sondern wenden sich mit ihren Sorgen und Fragen an die Surprise-Mitarbeitenden.

Ob bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, bei Schulden, beim Umgang mit Behörden und administrativer Korrespondenz, bei familiären Krisen oder Suchtproblemen – für rund 400 armutsbetroffene Menschen ist diese umfassende und niederschwellige Begleitung eine unentbehrliche Stütze im Alltag. Surprise hilft individuell und niederschwellig. Spenden Sie heute. Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden Surprise 000/18

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