Surprise Nr. 441

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Strassenmagazin Nr. 441 4. bis 17. Januar 2019

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Eingliederung

Wie's mir geht? Erstmals fragt eine Studie IV-Bezüger nach ihrem Befinden. Seite 8 Surprise 000/18

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Kultur

Solidaritätsgeste

STRASSENCHOR

CAFÉ SURPRISE

Lebensfreude

Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

Unterstützung

Job

STRASSENMAGAZIN

Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten

STRASSENFUSSBALL

Erlebnis

Expertenrolle

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

Information

Perspektivenwechsel

SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

BETEILIGTE CAFÉS

Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren.

IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstrasse 18 | Bäckerei KULT «Elsi», Elsässerstrasse 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Café Bohemia, Dornacherstr. 255 Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 | Kiosk Amann, Claragraben 101 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Badischer Bahnhof Rest. Manger & Boire, Gerbergasse 81 | Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 | Café Spalentor, Missionstrasse 1 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4-Markt Baselstrasse, Baselstr. 66 | Restaurant Quai4, Alpenquai 4 | Quai4-Markt Alpenquai, Alpenquai 4 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 Sommerbad Volière, Inseli Park | Restaurant Brünig, Industriestrasse 3 IN RAPPERSWIL | Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN BERN Café Kairo, Dammweg 43 | Café MARTA, Kramgasse 8 Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa Lorraineladen, Lorrainestr. 23 | Luna Llena Gelateria Rest. Bar, Scheibenstr. 39 | Rest. Genossenschaft Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 Rest. Löscher, Viktoriastr. 70 | Rest. Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestrasse 20 IN BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Quartiertreff Enge, Gablerstrasse 20 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestrasse 47 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise


TITELBILD: FLURIN BERTSCHINGER

Editorial

Danke der Nachfrage Seit Jahren diskutieren wir über die Invalidenversicherung und ihre Bezüger. Ist die Höhe der Renten angemessen? Müssten nicht mehr Menschen wieder in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden? Wird gründlich genug überprüft, wer weshalb Unterstützung erhält? Auf der politischen Ebene geht es meist darum, Geld zu sparen. In der Gesellschaft geht es bei den Diskussionen auch um Neid. Denn vermeintlich bekommen da Mitmenschen Geld fürs Nichtstun. Das könne doch nicht sein, wo andere so hart für Lohn und Brot arbeiten müssten, lautet der Tenor. Die IV-Bezügerinnen und -Bezüger selbst kommen nicht oder nur selten zu Wort. Leute wie Michael Hofer, der SurpriseVerkäufer auf unserer Titelseite. Er hätte gern eine echte Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt gehabt. Wenn möglich auch anstelle seiner IV-Rente, die er wegen eines Geburtsgebrechens erhält. Doch Hofer fühlt sich ausgerechnet von der IV ausgebremst. Die psychisch erkrankte Julia

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

8 Wiedereingliederung

Motiviert aufs Abstellgleis

Känzig hingegen steht seitens der IV unter Druck, möglichst schnell wieder arbeitsfähig zu werden – obwohl ihre Depressionen gerade auch mit Leistungsdruck zusammenhängen. Es ist diese konkrete menschliche Perspektive, die bei den politischen Debatten um erneute Kürzungen und überlastete Sozialversicherungen gern ausgespart wird. Nun hat das Bundesamt für Sozialversicherungen mit einer repräsentativen Studie erstmals einen Versuch der Evaluation gemacht: Wie geht es den Menschen in der IV wirklich? Das Ergebnis der Studie ist wenig erstaunlich und hat denn auch keine Schlagzeilen gemacht. Dabei ist die Bestandsaufnahme durchaus bemerkenswert. Und die persönliche Begegnung mit IV-Bezügern zeigt schnell auf: Zu beneiden sind sie nicht. Lesen SAR A Sie selbst WINTER SAYILIR Redaktorin ab Seite 8.

16 Survival

Gewappnet für den Ernstfall

Ein Chrampf 14 Kenia 6 Challenge League

Facetten der Einsamkeit

Vorreiter im Umweltschutz

24 Film

Wo Ketchup mehr wert ist als ein Kind 25 Film

7 All Inclusive

Was sind wir ohne Arbeit?

27 Agglo-Blues

Das Fitnesscenter 28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

Geld und Gewohnheit 30 Surprise-Porträt 25 Buch

«Ich liebe Eritrea»

Stille Schätze 26 Veranstaltungen

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Aufgelesen News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 34 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Gefangen im Nirgendwo 600 der Insassen weigerten sich, das australische Lager zu verlassen. In Papua-Neuguinea seien sie nicht willkommen. Nun leben sie ohne Strom, Wasser oder Gesundheitsversorgung auf dem ehemaligen Lagergelände. «Es ist eine Katastrophe, alle denken an Selbstmord», berichtet Abdul Aziz Muhamat dem Fotografen Matthew Abbott, der das Lager 2016 besuchte und seitdem Kontakt hält.

BIG ISSUE AUSTRALIA, MELBOURNE

FOTOS: MATTHEW ABBOTT

«Wir werden an einem Ort festgehalten, wo man uns nicht sieht. Niemand weiss von uns, wo wir sind. Niemand denkt an uns. Niemand hört uns, wenn wir weinen.» Der Sudanese Abdul Aziz Muhamat ist einer von 600 Geflüchteten, die in einem ehemaligen australischen Internierungslager für Asylsuchende auf der Insel Manus im Norden von Papua-Neuguinea feststecken. Nachdem die Regierung von Papua-Neuguinea die umstrittene Einrichtung auf ihrem Grund für illegal erklärt hatte, schloss Australien das Lager im Oktober 2017. Die Gefangenen wurden in ein Lager Papua-Neuguineas umgesiedelt.

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Vom Aussterben bedroht

In Deutschland werden traditionelle Beisetzungen im Sarg immer seltener. Waren 1960 nur 10 Prozent der Bestattungen Urnenbegräbnisse, wurden 2009 erstmals mehr Tote in der Urne als im Sarg beigesetzt. 2016 fanden nur noch 37 Prozent der Toten ihre letzte Ruhe unkremiert. Immer mehr Menschen wählen zudem einen sogenannten Friedwald als ihre letzte Stätte, pflegeleichter und meist kostengünstiger als ein Grab auf einem klassischen Friedhof. Anders als in der Schweiz ist es in Deutschland nicht gestattet, die Urne mit der Asche eines Verstorbenen mit nach Hause zu nehmen oder daraus einen Diamanten pressen zu lassen.

TROTT-WAR, STUT TGART

Virtuell auf der Strasse Auch Computerspiele bemühen sich um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema Obdachlosigkeit. Das britische Crowdfunding-Projekt «Change: A Homeless Survival Experience» ermöglicht es Gamern, in die Haut eines Strassenzeitungsverkäufers zu schlüpfen. Ziel ist, eine Wohnung zu mieten und sich einen Vollzeitjob zu sichern. Erreicht werden kann dies durch den Verkauf des Magazins «The Daily Issue» – angelehnt ans real existierende «The Big Issue». Im Spiel «Marvel’s SpiderMan» wird das Alter Ego des Superhelden Peter Parker zeitweise obdachlos und findet Unterschlupf in einer Notschlafstelle, die auch den Hauptschauplatz des Spieles bildet.

THE BIG ISSUE, LONDON

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Vor Gericht

Ein Chrampf In Arbeiterhosen steht der Beschuldigte vor dem Einzelrichter und knetet seine auf dem Rücken verschränkten Pranken. Seit er vor 42 Jahren in die Schweiz kam, arbeitet er als Eisenleger, bis heute, mit 61. Der osteuropäische Akzent liegt noch immer schwer in seinen Sätzen. Gesundheitlich gehe es ihm so lala. Hobbys, nein, nur Arbeit. Noch ein paar Jahre, dann mal schauen. Er ist nicht hier, weil er etwas getan hätte – sondern wegen Unterlassungssünden. Ende der Neunzigerjahre hat er eine Firma gegründet. Das Geschäft lief: Die GmbH mit zeitweise über 30 Angestellten machte Millionenumsätze. Dennoch blieb die Organisation minim – kaum Materiallager, kein Magazin, die Rechnungen schrieb die Ehefrau. Der Arbeiter wurde nicht zum Unternehmer, der sich um Kreditorenmanagement oder Rückstellungen kümmerte. Lange ging’s gut, aber dann klappten 2013 zwei grössere Aufträge nicht. Bald flatterten Zahlungsbefehle ins Haus. Der Stress nagte am Beschuldigten, alles wuchs ihm über den Kopf. Irgendwann wollte er einfach raus, um jeden Preis. Für 2500 Franken verkaufte er 2015 die Firma. Ein halbes Jahr später meldete der Käufer Konkurs an. Aus jenem Verfahren ergibt sich die Anklage: Misswirtschaft, Gläubigerschädigung durch Vermögensminderung, Unterlassung der Buchführung. Richtigerweise hätte er, der Eisenleger, die Bücher deponieren müssen. Stattdessen habe er die Firma verkauft, den Käufer nicht über die Ausstände informiert und sich die Fahrzeuge gesichert, indem er sie für je 1000 Franken seiner Frau verschacherte.

Hören Sie, sagt der Mann dazu. Viel lesen könne er nicht, aber arbeiten, das könne er, tschuldigung. Der Verteidiger preist ihn seinerseits als einen, der im Schweisse seines Angesichts Jahr für Jahr im Schnitt 3,75 Millionen erchrampft habe. Der Mann habe nie bezweckt, die missliche Lage seiner Firma zu verhüllen. Er hatte ja eben gerade die Übersicht verloren, konnte also gar keine Auskunft geben. Die Schulden seien nicht horrend gewesen, 144 000 Franken, der Verkauf der Firma damit rechtens. Die Autos? 16 und 17 Jahre alte Baufahrzeuge, nichts mehr wert, aber in der Buchhaltung halt nicht abgeschrieben. Der Anwalt fordert Freisprüche bei Misswirtschaft und Gläubigerschädigung und einzig einen Schuldspruch wegen Unterlassung der Buchführung. Der Richter sieht es ganz anders und spricht den Eisenleger einzig wegen Unterlassung der Buchführung frei. Und bloss, weil er diese juristisch als Teil der Misswirtschaft sieht. Er glaubt dem Beschuldigten, nicht mutwillig gehandelt zu haben. Aber Unwissen schütze vor Strafe nicht: «Sie hätten sich als Geschäftsführer für Ihre Pflichten interessieren müssen.» Auch bei den Autos sei der Fall klar: Er habe seine Frau bevorteilt. Dennoch geht der Richter mit seiner Strafe von 150 Tagessätzen à 90 Franken bedingt ganze 40 Tage unter den Antrag des Verteidigers. Damit stellt er dessen Arbeit ein lausiges Zeugnis aus. Und honoriert die Bemühungen des Chrampfers um Wiedergutmachung: Monat für Monat trägt er 1000 der noch 130 000 Franken Schulden ab, die er der AHV wegen nicht bezahlter Beiträge schuldet.

Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin

in Zürich

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Challenge League

Facetten der Einsamkeit

Schnell fand ich heraus, dass es nicht leicht werden würde: Die Anerkennung ausländischer Diplome ist sehr anspruchsvoll. Besonders für jemanden wie mich aus einem sogenannt unterentwickelten Land. Nach zahlreichen Anträgen bekam ich einen Brief von der Rektorenkonferenz der Schweizer Hochschulen: Mein Diplom wurde anerkannt. Der nächste Schritt war nun, herauszufinden, was genau ich studieren könnte. Im Internet fand ich eine Berufsberatungsstelle in Bern. Nach mehreren Treffen informierte mich mein dortiger Berater, dass ich nicht direkt weiterstudieren könne, da die Anerkennung meines Diploms nur für den Arbeitsmarkt, nicht aber für die Universität gültig war. Nach einigen Wochen der Unzufriedenheit beschloss ich, nach einem anderen Weg zu suchen. Dieses Mal kontaktierte ich die Unis direkt und landete schliesslich an der Uni Bern. Die Fakultät, an der ich studieren wollte, akzeptierte mein Diplom und meine Noten. Parallel dazu brauchte es zudem eine Bestätigung der Uni-Verwaltung. Beide, Uni und Fakultät, fragten nach einem Kontakt zu meiner Hochschule in Eritrea, wo ich den Bachelor gemacht hatte. Sie wollten überprüfen, ob mein Diplom echt ist. Aber die Hochschule in Asmara, an der ich studiert hatte, gab es nicht mehr, und meine ehemaligen Dozenten waren was-weiss-ich-wo-überall auf der Welt verteilt. Also suchte ich via Internet nach Lehrenden, die mich an der Uni unterrichtet hatten oder die die aktuelle Situation in Eritrea und meine Uni kannten. Ich hatte Glück und bekam genügend Referenzen zusammen. Nach der Anmeldung an der Uni suchte ich im Internet mehr Informationen zu meinem künftigen Studium. Und ich 6

FOTO: SEMHAR NEGASH

Nach anderthalb Jahren in der Schweiz, während denen ich den Sprachkurs besuchte, entschied ich, hier mein Studium fortzusetzen. Als ich noch Anglistik in Eritrea studierte, hatten wir oft von Leuten gehört, die zum Studium in den Westen durften. Wir waren neidisch auf sie.

«Ich verstehe ja, dass es nicht einfach ist, Lektüre zu lesen, die nicht in der Muttersprache verfasst ist», sagte der Dozent am ersten Tag: Unsere Kolumnistin im Hörsaal.

beantwortete Anfragen europäischer Studentinnen und Studenten, die sich für Erasmus in der Schweiz bewerben wollten, wie: «Wie finde ich in Bern Freunde oder Orte, an denen sich internationale Leute treffen, damit ich weniger einsam bin?» Ich dachte an meine Kollegen in Eritrea, die auch gern im Ausland studieren würden. Sie hätten wenig Verständnis für solche Fragen. Sie selbst durften nicht einmal das Land verlassen. Meine erste Vorlesung an der Berner Uni fand an einem Mittwoch statt, Beginn 8:15 Uhr. Ich war schon einige Minuten vorher da. Es war ein grosser Raum mit etwa 150 Studenten und Studentinnen. Vorne lag der Semesterablauf mit Literaturliste auf, den sich alle nahmen. Der Dozent hiess uns willkommen und gab uns kurz Zeit zum Lesen. Nach einigen Minuten breitete sich plötzlich Unruhe aus. Der Dozent fragte, was denn los sei. Jemand sagte etwas auf Berndeutsch, was ich nicht verstand. Der Dozent wiederholte die Frage auf Stan-

darddeutsch: «Weshalb ist ein Grossteil der Lektüre auf Englisch, wenn diese Vorlesung doch auf Deutsch stattfindet?» Der Dozent entschuldigte sich und sagte: «Ich verstehe ja, dass es nicht einfach ist, Lektüre zu lesen, die nicht in der Muttersprache verfasst ist. Ich konnte zu diesen Themen aber leider keine Texte auf Deutsch finden.» Wie würde es dann erst für mich werden, die weder Deutsch noch Englisch als Muttersprache hat? Ich wünschte mir eher mehr Texte auf Englisch. Und ich fühlte mich unverstanden. Ich hatte mich so sehr auf diesen Tag gefreut. Nun fühlte ich mich plötzlich einsam.

SEMHAR NEGASH hat inzwischen ihren Master in Anthropologie gemacht und beobachtet gern sich selbst und andere in der Schweizer Gesellschaft.

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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

Wie stellt man sich vor, wie sieht einen das Gegenüber, wenn man auf diese Frage keine einfache Antwort geben kann?

All Inclusive

Was sind wir ohne Arbeit? Eine ältere Dame erzählte mir vor einiger Zeit, ein schöner Aspekt des Alters sei, dass sich nun in gewisser Weise alle in der gleichen Situation befänden. Nach der Pensionierung sei es nicht mehr so wichtig, ob jemand früher Chefärztin oder Schreiner war. Jetzt zähle vor allem der Mensch. Allerdings falle es in ihrem Umfeld vor allem Männern, die sich früher sehr stark über ihren Beruf definiert haben, nicht ganz leicht, sich an die neue Situation zu gewöhnen.

gemeint, ob das Gegenüber gerne Handorgel spielt oder häkelt. Nennt nämlich jemand eine kreative Tätigkeit wie beispielsweise Schreiben oder Musizieren, wird gleich nachgefragt: Und davon kann man leben? Denn eigentlich wollen die Leute wissen: Womit verdienst du dein Geld?

Der Psychiater Christian Peter Dogs bietet Seminare für gestresste Top-Manager an und berichtete kürzlich im Tages-Anzeiger über ähnliche Erfahrungen: «In meinen Seminaren fordere ich die Teilnehmer jeweils auf, sich in der Runde vorzustellen, ohne ihre berufliche Funktion zu erwähnen. Das überfordert sie alle, weil kaum einer sagen kann, was er ist, ausser dem, was er tut.»

Der Beruf spielt im zwischenmenschlichen Miteinander sowohl für das eigene Selbstverständnis als auch für die Wahrnehmung durch andere eine wichtige Rolle. Welcher Arbeit jemand nachgeht, vermittelt dem Gegenüber eine Vielzahl an Informationen, aus der wir weitere Schlüsse ziehen können. Zum Beispiel, ob die Person eher viel oder weniger Geld verdient, oder ob sie eine einflussreiche Position innehat. Nicht zuletzt sagt der Beruf oft auch etwas über die eigenen Interessen aus und ist deshalb ein wichtiger Anknüpfungspunkt für ein vertiefendes Gespräch.

Man braucht kein Top-Manager zu sein, um bei dieser Aufgabe ins Straucheln zu kommen. Wenn man neue Menschen kennenlernt, ist oft eine der ersten Fragen: Was machst du? Damit ist selten

Menschen im erwerbsfähigen Alter, die kurz- oder längerfristig keiner bezahlten Arbeit nachgehen können, ist die Frage nach der beruflichen Tätigkeit deshalb meist unangenehm.

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Hinter einer Erwerbslosigkeit steht oft eine sehr persönliche Geschichte, beispielsweise gesundheitliche Probleme. Das sind keine Themen für einen lockeren Smalltalk mit jemandem, den man gerade erst kennengelernt hat. Die meisten Menschen sprechen zudem – auch mit Freunden und Bekannten – lieber über ein spannendes Projekt, an dem sie gerade arbeiten, als darüber, dass sie am Morgen die 87. Absage auf eine Stellenbewerbung aus dem Briefkasten geholt haben. Viele Menschen, die keine Arbeit haben, haben das Gefühl, es sei ihre Schuld – auch wenn sie gar nichts dafür können, weil ihre Kündigung beispielsweise aus betriebsbedingten Gründen erfolgte. Aus Scham ziehen sie sich zurück und fürchten sich richtiggehend davor, beim Einkaufen unverhofft einem Bekannten zu begegnen, der fragen könnte, was man denn jetzt so mache. Schliesslich könnten sie ausgerechnet auf jenen Kollegen treffen, der sich immer so abfällig über Leute äussert, die es sich seiner Meinung nach «in der sozialen Hängematte gemütlich machen». Menschen, die selbst nie erwerbslos waren, stellen sich Arbeitslosigkeit oft eher als «endlose Ferien» vor statt als einen für die Betroffenen unangenehmen Zustand. Doch vermutlich würden gerade diejenigen, die laut über Menschen wettern, die es sich in eben jener vielbeschworenen «sozialen Hängematte gemütlich machen», nach wenigen Wochen ohne Job und die damit verbundene Anerkennung selbst ziemlich kleinlaut werden. Kurt, der Lastwagenfahrer, wäre dann plötzlich einfach nur noch Kurt. Ohne Lastwagen. Und Johannes, der Medizinprofessor, wäre ohne Titel und die E-Mail-Adresse eines renommierten instituts nur noch johannes1963@emailfuerdich.ch.

MARIE BAUMANN dokumentiert unter ivinfo.wordpress.com seit 2009 das politische Geschehen rund um die Invalidenversicherung.

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«Ich hätte gern noch eine Lehre gemacht. Aber die IV legte ihr Veto ein.» MICHAEL HOFER, SURPRISE-VERK ÄUFER

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Momente des Scheiterns Eingliederung IV-Bezüger sollen in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden,

so wünschen es die Sanierer. Einfacher gesagt als getan. Nun wurden in einer breit angelegten Studie erstmals die Betroffenen selbst befragt. TEXT ANDRES EBERHARD

Michael Hofer hat sich angewöhnt, nicht mehr darüber zu sprechen, wovon er lebt. «Wenn mich die Leute fragen, was ich beruflich mache, dann erzähle ich ihnen irgendwelche Sachen. Dass ich Lagerist sei oder Elektroniker.» Dabei lebt Hofer, bei dem im frühen Kindesalter eine geistige Einschränkung diagnostiziert wurde, hauptsächlich von einer Invalidenrente. Geld von der IV erhält der 38-Jährige seit mittlerweile 18 Jahren. Wenige Jahre, nachdem seine Rente bewilligt wurde, drehte der politische Wind für Menschen wie Michael Hofer. Im Oktober 2004 initiierte die SVP ihre Scheininvaliden-Kampagne, die in den Köpfen das Bild des bequemen IV-Empfängers festsetzte, der ein Leben in der sozialen Hängematte führt. Für Hofer ist klar, dass zwischen der Kampagne und seinem Hang, die Wahrheit zu verschleiern, ein Zusammenhang besteht. «Ich schäme mich und habe Angst, dass die Leute blöd reagieren.» Ähnlich geht es vielen anderen Bezügern von IV-Leistungen, die unter Generalverdacht geraten sind, ihr Leiden nur vorzutäuschen und ein gemütliches Leben zu geniessen. Vor diesem Hintergrund gewinnt eine an sich banale Aussage aus einer kürzlich erschienenen Studie des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) an Bedeutung. Sie lautet: Bezügern von IV-Leistungen geht es schlecht. Nur ein Drittel der Befragten beurteilte den eigenen Gesundheitszustand als gut – in der Gesamtbevölkerung sind es über 80 Prozent (Zahlen Seite 10). Während nur einer von fünf Schweizern angibt, unter starken körperlichen Beschwerden zu leiden, sind es unter IV-Bezügern deren vier. «Ihre Lebensqualität ist nicht gut», bilanziert der Psychologe Niklas Baer von der Psychiatrie Baselland, der die Studie im Auftrag des BSV leitete, «das sollte man hin und wieder laut sagen.» Vor rund zehn Jahren setzte die Politik der IV ein neues Ziel: Möglichst viele Menschen sollten beruflich wieder eingegliedert werden. Viel wurde im Zug der IV-Revisionen der letzten Jahre darüber diskutiert, wie dieses Ziel erreicht werden könnte. Dabei wurde ausschliesslich über und nicht mit den Betroffenen gesprochen. Bis zur Studie mit dem sperrigen Titel «Beruflichsoziale Eingliederung aus Perspektive von IV-Versicherten», die in dieser Hinsicht Pionierarbeit leistet. Befragt wurden rund 900 Versicherte, die entweder im Jahr 2014 eine berufliche IV-Massnahme abgeschlossen oder erst kürzlich eine solche begonnen hatten. Beachtet wurde das über 180-seitige Werk bisher ausschliesslich in Fachkreisen, auch weil das Bundesamt keine Medienmitteilung veröffentlichte. Dabei möchten die Betroffenen mit ihren Bedürfnissen durchaus wahrgenommen werden, wie die hohe Rücklaufquote der Fragebögen zeigt. Rund jeder Vierte machte mit. Zusätzlich zu Surprise 441/19

FOTOS FLURIN BERTSCHINGER

den Fragebögen wurden mit 20 Teilnehmenden tiefergehende persönliche Interviews durchgeführt. Die Resultate sind repräsentativ – allerdings beschränkt sich die Umfrage auf Menschen mit psychischen (z. B. mit Depressionen) oder muskuloskelettalen Erkrankungen (Einschränkungen des Bewegungsapparates). Zusammen machen diese beiden Gruppen rund 70 Prozent aller IV-Versicherten aus. Die restlichen 30 Prozent stellen Menschen, die infolge eines Unfalls dauerhaft eingeschränkt sind oder wie Michael Hofer an sogenannten Geburtsgebrechen leiden. Das Fazit ist ernüchternd, zumindest in Bezug auf das selbstgesteckte Kernziel der IV: die Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Zu Beginn des Prozesses glauben vier von fünf Studienteilnehmern noch, dass ihnen die IV-Massnahmen helfen. Trotzdem scheitern am Ende zwei Drittel aller Integrationsversuche. Exemplarisch zeigt dies die Aussage einer 55-jährigen, psychisch kranken Frau, die im Rahmen der Studie befragt wurde: «Am Anfang war ich voller Hoffnung. Aber nach zwei Jahren und zwei Gutachten fühlte ich mich immer kränker, behinderter. Man stellte mich auf ein Abstellgleis, und ich resignierte.» Von einer Kasse in die nächste Während von den körperlich Kranken immerhin 45 Prozent erfolgreich integriert wurden, waren es bei psychisch Kranken gerade einmal 25 Prozent. «Das ist zu wenig», sagt Studienautor Baer. Vor allem, wenn man bedenke, wie niederschwellig die Kriterien waren: Als «erfolgreich integriert» gilt in der Studie, wer ein monatliches Einkommen von 1000 Franken erzielt und keine zusätzlichen Einkünfte aus AHV oder IV bezieht. Die Zahl jener, die nach den IV-Eingliederungsversuchen finanziell auf eigenen Beinen stehen, ist also viel kleiner. Klar ist auch, wo Menschen mit derart tiefen Einkommen landen. Studienautor Baer räumt ein, dass einige, die in der Studie als «erfolgreich eingegliedert» gelten jetzt von der Sozialhilfe abhängig sein dürften. Genaue Zahlen, wie viele Betroffene auf diese Weise von einer Kasse in die andere umgelagert wurden, liegen nicht vor. Michael Hofer, der als dauerhaft eingeschränkter IV-Bezüger für die Studie nicht befragt wurde, würde gern im ersten Arbeitsmarkt Fuss fassen. Doch er erhielt erst gar nie eine Chance. Zur Schule wurde er in ein geschütztes Heim geschickt, danach absolvierte er ein Praktikum als Kleinkinderzieher sowie eine Ausbildung zum Topfpflanzengärtner. Erst war es der skeptische Vater, dann die IV, die seinen Bemühungen einen Riegel vorschoben. Im Alter von 20 Jahren bekam Hofer eine IV-Rente. Man hielt ihn auf dem ersten Arbeitsmarkt für nicht vermittelbar. Hofer selbst sah das anders. Mehrfach versuchte er, sich bei der IV für 9


Eingliederungsprogramme zu empfehlen. «Ich hätte gerne noch eine Lehre gemacht, zum Beispiel als Bäcker/Konditor», sagt er. «Ich stellte alle möglichen Unterlagen zusammen, aber die IV legte ihr Veto ein.» Das war 2003. Seither fand Hofer hauptsächlich auf eigene Initiative hin einige befristete Arbeitseinsätze, so etwa in der Küche eines Hotels oder in einer Stadtgärtnerei. Mit einem längeren Engagement klappte es aber nie – dafür hätte Hofer die Unterstützung der IV gebraucht. Aus Hofers Sicht war es in seinem Fall ausgerechnet die selbsternannte «Eingliederungsversicherung», die ihn daran hinderte, in der regulären Arbeitswelt Fuss zu fassen. Die Studienautoren empfehlen, dass sich auch Arbeitgeber stärker engagieren sollten. Geschehen könnte dies mittels Schulung von Führungskräften und mittels finanzieller Anreize und Sanktionen. Letzteres würde bedeuten, dass Unternehmen dazu

Zahlen und Fakten aus der Studie

70% 30%

der IV-Versicherten leiden an psychischen Krankheiten oder Erkrankungen des Bewegungsapparates. der IV-Versicherten sind infolge eines Unfalls oder seit Geburt dauerhaft eingeschränkt.

80%

der Befragten mit psychischen Störungen gaben an, auch starke körperliche Beschwerden zu haben.

K ARIN PACOZ ZI, SURPRISE-VERK ÄUFERIN

der Befragten mit körperlicher Erkrankung sind auch psychisch belastet.

1/3 80%. nur

«Die IV hat mich immer grosszügig und gut behandelt. Ich bin zufrieden.»

60%

der Befragten IV-Bezüger

beurteilte den eigenen Gesundheitszustand als gut . In der Gesamtbevölkerung sind es über

45% 25%

der körperlich Kranken wurden erfolgreich integriert,

aber lediglich

der psychisch Kranken.

QUELLE: BUNDESAMT FÜR SOZIALVERSICHERUNGEN

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gezwungen werden könnten, sich an den Kosten von IV-Renten zu beteiligen oder dass sie bestraft werden, wenn sie bei einem kranken oder auffälligen Mitarbeiter über lange Zeit keine Hilfe beiziehen. Mit dieser Passage fassten die Autoren ein sozialpolitisch heisses Eisen an. Denn bisher wehrt sich der Arbeitgeberverband mit Händen und Füssen gegen jegliche Art von Mitwirkungspflicht. Der Vorschlag «Arbeitgeber verpflichten zu können, Behinderte zwangsweise in den Arbeitsmarkt zu integrieren» stosse auf «grosses Unverständnis». Michael Hofer glaubt heute nicht mehr daran, dass er noch einmal eine Chance bekommen wird. Immerhin kann er seit einigen Jahren wieder die Wahrheit sagen, wenn er nach seinem Beruf gefragt wird. Er arbeite im Verkauf, sagt er nun – was stimmt, schliesslich bietet er fast täglich vor einem Einkaufszentrum in Zürich Oerlikon das Strassenmagazin Surprise feil. Andererseits passt die Berufsbezeichnung «Verkäufer» auch, weil Hofer zusammen mit seinem Surprise-Ausweis noch ein weiteres Schild um den Hals trägt. Wo früher stand: «Hier könnte Ihre Werbung stehen», prangt heute ein grosses L. Damit wirbt Hofer für eine lokale Fahrschule. «Wenn sich jemand wegen mir dort anmeldet, bekomme ich eine kleine Provision.» Das Werbe-Instrument war seine eigene Idee. Viele sind mehrfach belastet Während also die IV dauerhaft eingeschränkten Versicherten wie Hofer womöglich zu wenig zutraut, erhöht sie den Druck auf andere – allen voran auf psychisch Erkrankte. Auf diese mit über 40 Prozent grösste Gruppe innerhalb der IV-Versicherten legte die Studie des BSV einen Fokus. Auch darum, weil die Integration in den Arbeitsmarkt bei ihnen besonders oft scheitert. Nur jeder vierte Eingliederungsversuch war erfolgreich. Seit 2004 und mehreren Gesetzesverschärfungen wird es für psychisch Kranke immer schwieriger, eine IV-Rente zu erhalten. Sie müssen ein strenges Beweisverfahren führen, in dem nicht nur die Krankheit, sondern auch Hobbys und das soziale Umfeld geprüft werden. Viele erhalten keine IV-Rente und landen in der Sozialhilfe. Dabei zeigt die neue Studie sehr deutlich, dass es gar keine klare Trennung zwischen psychisch und körperlich Kranken existiert. So gaben 80 Prozent der Versicherten mit psychischen Störungen an, ebenfalls starke körperliche Beschwerden zu haben. Umgekehrt waren 60 Prozent der Versicherten mit körperlicher Erkrankung auch psychisch belastet. «Rein psychische respektive rein körperliche Belastungsprofile sind die Ausnahme», heisst es im Forschungsbericht. Die Ungleichbehandlung läuft der Vorgabe zuwider, dass nicht die Art der Krankheit, sondern deren konkrete Auswirkungen juristisch entscheidend sein sollten für die Frage, ob jemand eine IV-Rente erhält. So können etwa Konzentrationsstörungen für geistig Tätige ein grösseres Defizit darstellen als etwa ein Rollstuhl. Julia Känzig erzählt ungern von ihren Depressionen. Nur unter der Bedingung, dass sie nicht ihren richtigen Namen nennen muss, willigt sie ein. Die erste grosse psychische Krise hatte die 30-Jährige vor zehn Jahren. Seither musste sie ein halbes Dutzend Mal in einer Tagesklinik oder stationär behandelt werden. Känzigs Depressionen haben unterschiedliche Auslöser, sie hängen stets mit Stress, Erwartungen und Leistungsdruck zusammen. Ihr Studium sowie die Ausbildung zur Bewegungspädagogin musste sie wegen ihrer Krankheit abbrechen. Beim dritten Versuch – einer dreijährigen Lehre als Gärtnerin – klappte es. «Ich Surprise 441/19

«Niemand wird reich mit der IV. Es langt gerade schlecht zum Leben.» HANS RHYNER, SURPRISE-STADTFÜHRER UND -VERK ÄUFER

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«Ohne Ergänzungsleistungen würde ich nicht zurechtkommen. Aber es geht gut, ich lebe.» L JIL JANA A ZIROVIC, SURPRISE-VERK ÄUFERIN

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«Mich wollte die IV zu einer Eingliederungsmassnahme verpflichten. Sie wussten offensichtlich nicht, dass ich bereits arbeite.» DANIEL STUT Z, SURPRISE-STADTFÜHRER UND -VERK ÄUFER

konnte die Ausbildung mit Müh und Not abschliessen, auch weil mich ein Job-Coach dabei unterstützte», sagt sie. Statt wie geplant zu verreisen, verbrachte Julia Känzig nach dem Lehrabschluss längere Zeit in einer Klinik. Danach dachte sie, die Krankheit endgültig überwunden zu haben. Sie fand eine Stelle in einer kleinen Gemüsegärtnerei, lebte in einer WG und meldete sich bei der IV ab, von der sie eine Zeit lang Taggelder erhalten hatte. Doch nach vier Monaten holten sie die Depressionen wieder ein. Heute, eineinhalb Jahre später, arbeitet Känzig in der Tagesstruktur einer Stiftung – dort kann sie ohne Leistungsdruck werken, nähen oder kochen. Vor Kurzem bekam sie Bescheid von der IV, wo sie sich nach ihrer letzten Depression wieder angemeldet hatte. Sie soll eine Viertelrente erhalten, was zwischen 294 und 588 Franken pro Monat entspricht. «Das heisst, dass ich auf dem ersten Arbeitsmarkt eine 70-Prozent-Stelle finden muss», erklärt sie. Auf Anraten ihrer Therapeutin erhob Känzig Einsprache, bei ihrem jetzigen Gesundheitszustand sei ein solches Arbeitspensum nicht machbar. Nun befindet sie sich erneut in der Rentenprüfung. Auf die Frage hin, wie sie sich ihre Zukunft vorstelle und ob sie Träume habe, kommen Känzig die Tränen. Erst muss sie sich stabilisieren, bevor sie an die Jobsuche denken kann. Immer wieder fragt sie sich, ob sie vielleicht doch selbst schuld sei. «Dass ich mir nur einen Ruck geben müsste, ein bisschen in den Arsch klemmen.» Je schwerer es ihr fällt, ihre Krankheit anerkennen, desto wichtiger ist es, dass ihr Umfeld verständnisvoll reagiert. Entsprechend entmutigt fühlte sie sich, als der Vertrauensarzt der IV ihr sagte, «dass man halt kämpfen muss und einen Weg finden, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen». Gerade weil sich viele Betroffene in einer persönlichen Notlage befinden, ist es entscheidend, dass das Umfeld am gleichen Strick zieht, sagt Studienleiter Baer. «Wenn IV-Berater und Arzt die Situation unterschiedlich beurteilen, wird es schwierig.» Gerade bei psychisch Kranken sei entscheidend, ob die geplanten Massnahmen sowohl für den Versicherten als auch für den beteiligten Arbeitgeber passen, bestätigt Thomas Ihde, Psychiater und Präsident des Stiftungsrates von Pro Mente Sana. «0815-Massnahmen für psychische Gesundung bringen nichts.» Was es braucht, ist also ein gutes Zusammenspiel aller beteiligten Stellen. Ein sogenanntes Roundtable-Gespräch wünschten sich auch die meisten Betroffenen. Doch nur in rund der Hälfte aller Fälle findet ein solches statt. Wo es nicht dazu kommt, bezeichneten auffällig viele Studienteilnehmer den Eingliederungsprozess als nutzlos oder gar gesundheitsschädigend. Julia Känzig weiss noch nicht, ob und welche Art von Integration die IV für sie vorsieht. Erst ein einziges Mal hat sie persönlich mit ihrem IV-Berater gesprochen – bei der Anmeldung. Seither erhält sie nur formelle Briefe. «Alles läuft sehr anonym, ich fühle mich recht verloren», sagt sie. Die Anmeldung bei der IV ist für viele ein kritischer Moment. In der Studie des BSV bezeichnete eine Mehrheit diesen Schritt als einen «Moment des Scheiterns». Ausserdem wehrten sich zwei Drittel ursprünglich dagegen – es waren vielfach andere, die sie von diesem Schritt überzeugten. Gerade deswegen sei es wichtig, dass die Betroffenen finanziell abgesichert sind, sagt Thomas Ihde von Pro Mente Sana. «Denn wer um die Existenz kämpfen muss, kann nicht gesund werden.»

Mitarbeit Marie Baumann.

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Weniger Luftverschmutzung, mehr Einnahmen: Chauffeur Kenga Rocha steuert eines der ersten E-Tuk-Tuks Afrikas.

Klick-klack in Kenia Nachhaltigkeit Kenia boomt – und leidet unter immer mehr Verkehr und wachsender

Luftverschmutzung. Findige Unternehmer glauben, eine Lösung gefunden zu haben, die auch eine Marktlücke ist: das E-Tuk-Tuk. TEXT FLORIAN STURM

FOTOS RACHEL REED

KENIA

Ukunda

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Kenias Regierung gilt international als ökologische Vorreiterin, gleichzeitig gehört die Hauptstadt Nairobi weltweit zu den Städten mit den meisten Staus.

Beinahe geräuschlos gleitet Kenga Rocha über die Hauptstrasse seines Wohnorts Ukunda, etwa 30 Kilometer südlich der kenianischen Küstenmetropole Mombasa. Vor, hinter und neben ihm hupt und knattert es, die Motoren heulen und spucken tiefschwarzen Qualm aus. Das einzige Geräusch, das Rochas Gefährt macht, ist: klick-klack, klickklack. Bis auf den Blinker hört man nichts. Rocha steuert eines der ersten elektrischen Tuk-Tuks Afrikas. Die dreirädrigen Rikschas, bekannt vor allem aus Asien, sind auch in vielen afrikanischen Ländern wichtige Transportmittel. Sie sind günstig, wendig und im Überfluss vorhanden. In Kenia sind sie zudem eine wichtige Ergänzung zu Matatus, den lokalen Minibussen, die einen Grossteil des öffentlichen Nahverkehrs ausmachen. Jeden Morgen kurz vor zehn geht Kenga Rocha in die Garage, wo sein Tuk-Tuk parkiert ist. Er nimmt die vier Bleisäurebatterien aus dem Ladegerät, das an einer normalen Haushaltssteckdose hängt. Rocha legt die Batterien ein, dann ist er startklar. Bis zum Feierabend gegen 19 Uhr wird er Einheimische und Touristen, Schulkinder und Seniorinnen herumchauffieren. Über 20 Jahre lang arbeitete Rocha in einem Hotel. Als die Touristen ausblieben, suchte er einen anderen Job. Letzten November kaufte er sich ein E-Tuk-Tuk. «Das ist Surprise 441/19

nicht nur gut für die Umwelt, ich verdiene auch deutlich mehr als mit einem herkömmlichen Tuk-Tuk», sagt der 48-Jährige. Tatsächlich sollen neben dem Umweltgedanken vor allem die geringen Betriebskosten dafür sorgen, dass baldmöglichst viele E-Tuk-Tuks über kenianische Strassen rollen. Eine mit Diesel oder Benzin betriebene Rikscha kostet den Fahrer mehr als zehn Mal so viel wie die elektrische Variante: Umgerechnet knapp 5 Franken für 120 Kilometer (so weit fährt ein Tuk-Tuk-Fahrer im Schnitt pro Tag) stehen nicht einmal 50 Rappen laufende Kosten gegenüber. Ohne eigenes Zutun sparen Rocha und die anderen Elektro-Fahrer somit täglich 4,50 Franken. Das ist bei einem Tagesverdienst von etwa 8,50 Franken ein enormer Betrag. Günstig und umweltfreundlich Ausserdem finden im E-Tuk-Tuk vier statt nur drei Passagiere Platz – potenzielle Mehreinnahmen mit jeder einzelnen Fahrt. Tuk-Tuks sind ohne Taxameter unterwegs, der Preis wird vor Fahrtantritt verhandelt und richtet sich nach Distanz und Destination. Ist etwa die Strasse zum Ziel in schlechtem Zustand, wird es etwas teurer. Bezahlt wird bar, selten auch mit dem Handy. Für drei Kilometer – 15


Knapp 2900 Franken zahlte Kenga Rocha für sein E-Tuk-Tuk, herkömmliche Modelle kosten viel mehr.

die durchschnittliche Distanz einer Tuk-Tuk-Fahrt – muss der Fahrgast umgerechnet rund einen Franken bezahlen, danach wird es entsprechend teurer, je länger die Fahrt dauert. Auch in der Anschaffung ist die elektrisch betriebene Variante günstiger. Rocha zahlte umgerechnet knapp 2900 Franken, ein neues herkömmliches Modell kostet mehr als 4000 Franken. Der Grund für den grossen Preisunterschied: Die Produktion von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor und Getriebekasten ist aufwendig und teuer. Das E-Tuk-Tuk dagegen kommt mit weniger Elementen aus. Ausserdem ist die Lieferkette kürzer, und weniger Mittelsmänner bedeuten auch niedrigere Kosten. Günstig und umweltfreundlich: Das klingt nach einer genialen Kombination. Doch eine grosse Hürde auf dem Weg zur massenhaften Verbreitung ist ironischerweise der elektrische Antrieb. Zwar gilt die Regierung Kenias als Vorreiterin in Sachen Ökologie. Sie war die erste weltweit, die Einwegplastiksäcke gesetzlich verboten hat. Kenia hat den ersten CO2-Zertifikatehandel Afrikas eingerichtet. Das Land plant den Bau des grössten Windparks in Subsahara-Afrika, und bereits heute wird weltweit nirgends mehr Strom aus Wind, Sonne, Wellen oder Geothermie gewonnen als in Kenia (53,6 Prozent der Gesamtmenge). 16

Deutschland liegt mit 49,9 Prozent auf Rang zwei, die Schweiz mit 11,2 Prozent auf Rang 67. Doch die Stromversorgung im Land ist instabil. Thilo Becker, Verkehrsökologe an der TU Dresden, war bereits zweimal für einen Forschungsaufenthalt in Kenia. «Wer länger dort gelebt hat, weiss Notstromaggregate zur Überbrückung von Stromausfällen zu schätzen», sagt er. Die neuen E-TukTuks würden das Netz zusätzlich belasten. Malhar Dave und Altaf Kana aber glauben an ihre Idee. Die beiden brachten Anfang 2018 mit ihrer Firma Dave Tuk-Tuk Ltd die ersten rein elektrisch betriebenen TukTuks auf den afrikanischen Markt. Kana ist Kenianer und ausgebildeter Maschinenbauer, Dave stammt aus Indien und kam 2005 nach Kenia, um für eine Schweizer Logistikfirma zu arbeiten. Die Idee für das E-Tuk-Tuk kam ihm während einer Reise in seine alte Heimat. «Dort hat die Regierung aus Umweltschutzgründen rund um den Taj Mahal jegliche Benzin- und Dieselfahrzeuge verboten», sagt er. Also nutzen die Inder elektrische Golfwagen. Zwei Jahre lang feilten Dave und Kana an ihrer Idee, bis sie marktreif war. Die Teile für das elektrische Tuk-Tuk fertigt ein chinesisches Unternehmen, anschliessend werden sie nach Mombasa verschifft und dort zusammengebaut. «Die grösste Herausforderung bestand darin, Surprise 441/19


einen Weg zu finden, wie die vier Bleisäurebatterien sicher und schnell von einer haushaltsüblichen Steckdose aufgeladen werden können», so Dave.

Die grösste Herausforderung: Wie können die vier Bleisäurebatterien an einer haushaltsüblichen Steckdose aufgeladen werden?

Voll aufgeladen hat das E-Tuk-Tuk eine Reichweite von rund 100 Kilometern.

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Schwierige Zulassung Wichtig war zudem eine möglichst grosse Reichweite. Einmal voll aufgeladen, schaffe man problemlos eine Distanz von 100 bis 120 Kilometern, heisst es bei Hersteller Dave. Die Erfahrung von Fahrer Kenga Rocha aber zeigt, dass mitunter schon nach 80 Kilometern der Saft weg ist – je nachdem, wie viel Passagiere man befördert und wie viele Höhenmeter man zurücklegt. Bis auf die Höchstgeschwindigkeit – 35 statt der 50 Stundenkilometer, die sich Rocha wünschen würde – ist der 48-Jährige mit dem E-Tuk-Tuk aber zufrieden: Die Fahrt ist bequemer, es gibt Sicherheitsgurte für alle, und die Gäste fühlen sich aufgrund der offenen Bauweise wie auf einer Rundfahrt mit Panoramasicht. Der Fahrgastraum herkömmlicher TukTuks ist deutlich enger und geschlossener konzipiert, aufgrund der vielen Metallstreben an den Seiten vergleichen ihn manche gar scherzhaft mit einer Gefängniszelle. Das E-Tuk-Tuk ist obendrein fast wartungsfrei. Getriebereparaturen oder Ölwechsel sind überflüssig. Einzig die Batterien müssen nach etwa 300 Ladungen – also nach knapp einem Jahr – ersetzt werden. Die Kosten dafür belaufen sich auf umgerechnet 90 Euro pro Batterie. Ausgediente Batterien werden zum Zulieferer nach China zurückgeschickt, dort überholt oder repariert und anschliessend wiederverwendet. Und sollte vorher eine ausfallen, erreicht man über eine Notfallhotline den nächsten lokalen Händler, der umgehend Ersatz vorbeibringt. Einer dieser Händler ist Kenneth Haji. Der 48-Jährige, der ursprünglich als Lehrer arbeitete, verkauft nicht nur elektrische Tuk-Tuks, sondern auch Solarheizungen. «Viele Leute sind an der neuen Technik interessiert», merkt er. Dennoch seien die meisten potenziellen Käufer noch skeptisch: «Momentan fehlen einfach noch die Erfahrungswerte.» Bislang hat Haji gerade einmal vier E-Tuk-Tuks verkauft. Auch der Absatz im ganzen Land ist überschaubar: Laut Hersteller gingen seit der Markteinführung vor rund einem Jahr 80 Fahrzeuge über den Ladentisch. Ein weiterer Grund für den geringen Absatz liegt bei den kenianischen Behörden: Die 47 Bezirke des Landes haben keine einheitlichen Genehmigungsverfahren für neue Verkehrsmittel, was die Markteinführung deutlich verlangsamt. Zudem kommt dem E-Tuk-Tuk mitunter auch die Politik in die Quere. Zwischenzeitlich verhängte das Verkehrsministerium einen Zulassungsstopp für alle Tuk-Tuks in der Region Mombasa, auch für die umweltfreundliche Elektrovariante. Mittlerweile hat ein Gericht das Verbot zwar wieder aufgehoben, doch in einigen Gebieten gebe es noch immer Probleme, neue Fahrzeuge für 17


Das Interesse an der neuen Technik ist da, doch die potenziellen Käufer sind noch skeptisch: Händler Kenneth Haji.

Überschaubarer Absatz: Im ganzen Land wurden seit der Markteinführung vor rund einem Jahr 80 Fahrzeuge verkauft. 18

Die Hersteller wollen das E-Tuk-Tuk in ganz Afrika etablieren. Ihre grosse Hoffnung dabei: der private Fahrdienst Uber.

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Der Inder Malhar Dave ging für eine Schweizer Firma nach Kenia. Die Idee für das E-Tuk-Tuk kam ihm vor dem Taj Mahal.

öffentlichen Personenverkehr anzumelden, so der Unternehmer. Die Ursache, die einst zum gesetzlichen Verbot führte, ist geblieben: Kenia leidet unter dem immer grösseren Verkehrsaufkommen, das die wirtschaftliche Entwicklung mit sich bringt. Die Hauptstadt Nairobi ist nach dem indischen Kalkutta die Stadt mit den meisten Staus weltweit. Die hohe Verkehrsdichte führt zu Luftverschmutzung, Smog und zahlreichen Unfällen. Was zunächst als krasser Gegensatz zur nachhaltigen Politik der Regierung erscheint, erklärt sich durch den Blick auf das grosse Ganze: Die öffentliche Infrastruktur ist in Kenia schwach, die wichtigsten Strassen sind heillos überfüllt. Vieles ist privatisiert, für Politiker steht oft der eigene Vorteil im Vordergrund, statt nachhaltige Strukturen zu schaffen. Die Schmalspurbahn etwa, fast 100 Jahre lang das wirtschaftliche Rückgrat des Landes, wurde aus politischem Kalkül aufs Abstellgleis befördert. Sich selbst überlassen und ohne Unterhalt zerfiel sie rasch, der Warentransport verlagerte sich auf die Strasse – und Politiker und Unternehmer verdienten mit LKW-Speditionen viel Geld. Laut der nationalen Verkehrs- und Sicherheitsbehörde sterben monatlich mehr als 230 Menschen auf Kenias Strassen, mehr als in jedem anderen Land der Welt. Zwar Surprise 441/19

verursachen Tuk-Tuks nur einen Bruchteil der Unfälle, doch sie tragen zum Problem der vollen Strassen bei. Die schwedische Biophysikerin Varvara Nikulina, die zu nachhaltigen strategischen Entwicklungen forscht, sagt: «Wenn elektronische Tuk-Tuks zusätzlich zu den traditionellen unterwegs sind, anstatt diese zu ersetzen, wird sich das Problem der verstopften Strassen eher verschlimmern als verbessern.» Das sieht auch der deutsche Forscher Becker so: Bei elektrischen Tuk-Tuks zeige sich die gleiche Problematik wie bei Elektroautos in Europa: «Bis auf die Minderung lokaler Schadstoffkonzentrationen in der Luft bleiben alle anderen Probleme wie Stau, der Flächenverbrauch und die gravierende Unfallproblematik bestehen.» Die Lösung sieht er in einer konsequenten Stärkung von Fuss-, Rad- und öffentlichem Verkehr sowie in restriktiven Massnahmen gegen den Individualverkehr. Grosses Potential Auch wegen der Gesetzeslage änderten Dave und Kana ihr Geschäftsmodell: Statt die E-Tuk-Tuks zu verkaufen, vermieten sie die Fahrzeuge nun tagesweise über eine Tuk-Tuk-Kooperative in Mombasa. Aktuell sind so knapp zwei Dutzend Fahrzeuge im Umlauf, und jeden Monat werden es mehr. Keine gigantischen Zahlen, doch das Potenzial ist gross, gerade wegen der tiefen Betriebskosten der E-Tuk-Tuks. Mietmodelle sind gängig in Kenia: Viele Fahrer wollen als Selbständige unterwegs sein, ihnen fehlt aber das Kapital für ein eigenes Fahrzeug. Dave und sein Team tüfteln derzeit an einem neuen Fahrzeugmodell: eine Pick-up-Variante, die bis zu 800 Kilogramm Lasten transportieren kann, mit fünf statt vier Batterien und einer Reichweite von bis zu 140 Kilometern. Nützlich wäre die Lastenrikscha vor allem für Verkäufer sogenannter schnelldrehender Produkte (meist niedrigpreisige Verkaufsgüter wie Lebensmittel und Kosmetika, die täglich in den Regalen ersetzt werden müssen). Der Sektor ist riesig, und die Transporteure könnten mit den E-Tuk-Tuks effizienter und schneller in den Städten unterwegs sein. Malhar Dave und Altaf Kana blicken optimistisch in die Zukunft. Ihr Ziel ist es, das E-Tuk-Tuk nicht nur in Kenia, sondern auf dem ganzen afrikanischen Kontinent zu etablieren. Ihre grosse Hoffnung dabei: der private Fahrdienst Uber. Der ist nicht nur in Kenia, sondern vor allem auch in Südafrika stark. Derzeit führt Dave Gespräche mit dem amerikanischen Fahrdienst-Giganten über die Aufnahme seiner elektrisch betriebenen Tuk-Tuks in die südafrikanische Fahrzeugflotte. «Wenn dieser Deal funktioniert, wäre das fantastisch und wir könnten so auch viel leichter in andere Teile des Kontinents expandieren», sagt Malhar Dave. 19


Der Überlebenskünstler Survival Guido Bannwart weiss, wie man sich aus

einer Notlage befreit – allein in der wilden Natur, aber auch sonst im Leben. Ein Besuch am Lagerfeuer. TEXT ANDRES EBERHARD

FOTOS MARKUS FORTE

«Ich war ganz unten»: Survival-Coach Guido Bannwart, 58, landete nach zwei Herzinfarkten einst in der Sozialhilfe.

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Ein Feuer machen, wenn es regnet? Für Guido Bannwart kein Problem. «Ich stopfe etwas Zunder in die Unterhose, bis er trocken ist. Dann nehme ich ihn heraus, zünde ihn an und füttere das Feuer mit den untersten Ästen dieser Tannen.» Bannwart kniet auf dem mit Laub bedeckten Waldboden am Stadtrand von Zürich. An diesem kühlen Herbsttag gibt er einer Gruppe von acht Surprise-Verkaufenden einen Survival-Crash-Kurs. Auf dem Programm steht das Wichtigste für den Notfall: Feuer machen, Wasser abkochen, Hütte bauen. Regnen tut es an diesem Nachmittag nicht. «Aber stellt euch vor, es wäre so.» Seit bald zwei Jahrzehnten bietet Guido Bannwart, 58, Überlebenskurse an – zunächst als Hobby, seit sechs Jahren als selbständiger Kleinunternehmer. Er lehrt, wie man allein in der Natur zurechtkommt. Ein Tageskurs kostet 100 Franken, ein Wochenende 190 Franken, vier Tage 390 Franken. Für den Intensivkurs steigt Bannwart mit seinen Schülern so lange das Maderanertal hinauf, bis die Handys keinen Empfang mehr haben und die Waldgrenze weit unter ihm liegt. Dort schlägt sich die Gruppe mehrere Tage ohne jegliche Ausrüstung durch. «Im besten Fall essen wir Blaubeeren, im schlimmsten Fall kauen wir Birkenrinde.» Was tun, wenn man ganz auf sich allein gestellt ist? Mit Bannwart kommt man immer wieder auf diese Frage zurück. Von dem Zürcher kann man etwas über Notsituationen in der wilden Natur lernen – aber nicht nur. Bannwart weiss aus eigener Erfahrung, dass das Überleben auch im Alltag eine Herausforderung sein kann. Nach einer Elektrikerlehre reiste er viel und hielt sich mit Gelegenheitsjobs und Akkordarbeiten über Wasser. Elf Jahre lang schlug er sich in Paris durch, dort lebt auch seine heute 22-jährige Tochter. Zurück in der Schweiz machte Bannwart sein Hobby vor sechs Jahren zum Beruf. Das Timing schien perfekt, hatte doch der Survival-Boom gerade erst begonnen. Das Überleben in der Wildnis – auch «Survival» oder «Bushcraft» genannt – ist in den vergangenen Jahren immer beliebter geworden. «Das letzte Jahr war sensatioSurprise 441/19

nell», sagt Bannwart. Zwei- bis dreimal pro Monat ist er mit einer Gruppe von acht Personen im Wald unterwegs, dazu kommen Aufträge von Schulen und Firmen. Die steigende Nachfrage erklärt er sich mit dem anhaltenden Outdoor-Trend, der sich in Läden wie Transa oder Sherpa manifestiert. «Zurück zur Natur» als Gegenpol zur globalisierten und digitalisierten Welt, in der immer alles verfügbar, aber nur selten greifbar ist. Anders gesagt: Wer die Welt nicht mehr überschaut, möchte sich immerhin vor der eigenen Haustür auskennen. Trillerpfeife statt Rambo-Messer Allerdings ist Bannwart bei Weitem nicht der einzige, der auf den Zug aufgesprungen ist. Zahlreiche Anbieter werben im Internet um Kunden. Auf der Online-Plattform Youtube werden die beliebtesten Abenteurervideos hunderttausendfach angeklickt. Dabei geht es längst um mehr als ums Überleben: Um die Szene hat sich ein riesiger Markt entwickelt. Messer, die besser schneiden, Taschenlampen, die stärker leuchten, oder Äxte, die leichter spalten, werden von den selbst ernannten Überlebenskünstlern gerne in die Kamera gehalten – werden sie von den Produkte-Herstellern doch dafür bezahlt. Bannwart, ein Mann mit grauen, kurzen Haaren und stoppligem Bart, stört sich an der versteckten Geldmacherei. Zwar ist auch er auf der Videoplattform präsent. Er bewirbt auf Youtube seine Kurse – und bringt es immerhin auf knapp 5000 Follower und bis zu 20000 Klicks pro Video. Doch Sponsoring-Angebote lehnt er ab. «Überleben heisst für mich nicht, mit einem

70-Kilo-Rucksack voller teurer Gadgets in den Wald zu rennen und in einer Hängematte zu schlafen», sagt er, der seine Kleider in Outlets und das Material für seine Expeditionen in Brockenhäusern kauft. «Ich möchte die Realität zeigen.» In einem Notfall würden teure Produkte kaum helfen. «Erstens hat man das ultrascharfe Rambo-Buschmesser vielleicht gerade nicht dabei. Und zweitens hilft eine Trillerpfeife oder eine reflektierende Decke meist mehr, um ein Notsignal abzusenden.» Es gab eine Zeit, in der Bannwart mehr Zeit im Spital als im Wald verbrachte – wegen chronischer Lungenprobleme sowie zwei Herzinfarkten. Er überlebte nur mit viel Glück und fiel in der Folge in ein gesundheitliches und psychisches Loch. «Ich verlor meinen Lebensmut und komplett den Boden unter den Füssen.» Da er als Selbständiger kein Anrecht auf Arbeitslosengeld hatte, lebte er fortan von der Sozialhilfe. «Ich war ganz unten», sagt er heute. Dass er, mit einem Herzschrittmacher ausgestattet, nach 18 Monaten den Ausstieg schaffte und wieder sein eigenes Geld verdiene, mache ihn «schon ein bisschen stolz». Reich werde er zwar in diesem Leben nicht mehr, er lebe von rund 3000 Franken pro Monat. Doch es genüge, er lebe bescheiden, wohne in einer WG und informiere sich über die Aktionen im Denner. Im Winter verdient er sich gelegentlich als Handwerker etwas dazu. «Im Sozialsystem habe ich gelernt, mit wenig Geld auszukommen.» Im Vergleich zu Bannwarts sonstigen Abenteuern ist der Kurs mit der Gruppe von der Zürcher Surprise-Regionalstelle

«Überleben heisst nicht, mit einem 70-Kilo-Rucksack voller teurer Gadgets in den Wald zu rennen und in einer Hängematte zu schlafen.» GUIDO BANNWART

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«Sucht nicht, was ihr braucht. Braucht, was ihr findet.» GUIDO BANNWART

Wohlfühlprogramm im Herbstwald: Guido Bannwart zeigt SurpriseVerkäufern und Mitarbeiterinnen, wie man sich in der Natur zurechtfindet.

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an diesem Herbstnachmittag Wohlfühlprogramm – die Teilnehmenden haben sogar Würste mitgebracht. Als Erstes zeigt der Kursleiter, wie man Feuer macht, und verkündet dazu seine erste Grundregel im Wald: «Sucht nicht, was ihr braucht. Braucht, was ihr findet.» Er zweigt ein paar Äste von den Bäumen ab, dann setzen sich die Kursteilnehmer auf Steine rund um eine Feuerstelle. Bannwart löst eine Eisenfeile vom Karabinerhaken, der an seiner Hose befestigt ist, und zeigt, wie man einen Funken erzeugt, wenn man mit einem harten Stein dagegen schlägt. «Höhlenbewohner hatten zwar kein Eisen, dafür eisenhaltige Steine wie Pyrit», erklärt er. Schwieriges Elternhaus Wenn gerade kein Eisen zur Hand ist, bleibt nur eines: Feuerbohren wie einst die Indianer. Bannwart spannt mit einem Seil («Ihr könnt auch eure Schnürsenkel nehmen!») eine Spindel an ein gebogenes Stück Holz, dann bewegen die Teilnehmer den Bogen zu zweit so lange hin und her, bis im Bohrstaub auf dem darunterliegenden Brett ein winziger Funke zu erkennen Surprise 441/19

ist. Diesen befördert Bannwart mit einem Messer auf ein Blatt und pflegt ihn wie einen winzigen Schatz, schliesslich soll er den Zunder und danach die Äste zum Brennen bringen. Während manche Zuschauer grosse Augen machen, geschieht hier für andere Kursteilnehmer nichts Aussergewöhnliches. «In abgelegenen Dörfern wird das bei uns heute noch gemacht», sagt Surprise-Verkäuferin Tadesse aus Äthiopien. «Die Kinder lernen das in der Schule.» Später, als die Cervelats gegessen sind, breitet der Kursleiter die Arme aus und fragt: «Wo würdet ihr hier übernachten?» Jemand antwortet: «Ich würde mich unter einen besonders dichten Baum legen.» Bannwart hat eine bessere Idee. Er holt den längsten Holzstamm, den er auf dem Waldboden finden kann, und stützt ihn von beiden Seiten mit dicken Ästen, die herumliegen. Die Kursteilnehmer bringen Zweige eines Haselnussstrauchs und füllen ihre Jacken mit herumliegendem Laub. Beides verteilen sie auf der Holzkonstruktion. «Wenn es regnet, wird das Dach zu einer modrigen Masse, die dicht bleibt», erklärt Bannwart und ergänzt sichtlich zufrieden:

«Eine solche Hütte hat man in 30 bis 60 Minuten gebaut. Sowas gibt einem doch ein gutes Gefühl.» Für Guido Bannwart ist Survival mehr als eine Pfadi-Übung für Erwachsene. «Schon als Kind war ich lieber im Wald als Zuhause», erzählt er einige Wochen später in seinem Wald-Camp im zürcherischen Stallikon, wo seine kürzeren Kurse stattfinden – einer Ansammlung von selbst gebauten Holzhütten sowie einer kleinen Feuerstelle. Bannwart erhebt sich vom Baumstamm, auf dem er fürs Gespräch Platz genommen hat, und legt ein kleines Holzscheit ins vor ihm lodernde Feuer. Mit ein Grund dafür, dass sich seine Faszination für die Natur schon früh entwickelte, sei ausgerechnet sein schwieriges Elternhaus gewesen. Der Vater starb an Krebs, als Guido elf Jahre alt war, von der Mutter wurden er und seine Schwester vernachlässigt. «Freunde waren ihr immer wichtiger als ihre Kinder», sagt er. Oft tagelang allein zuhause, warteten die Teenager vor dem Fernseher auf Sendungen wie «Im Reich der wilden Tiere», wo etwa gezeigt wurde, wie man Feuer bohrt. «Ich versuchte das im Wohnzimmer und im Wald nachzumachen. Es dauerte manchmal lange, aber irgendwann klappte es.» Bannwart, in Wanderschuhen, Fleece und Baseballmütze, auf der die WebAdresse seines Einmann-Unternehmens aufgedruckt ist, zündet sich eine Zigarette an. «Wer raucht, hat das Wort Survival wohl nicht verstanden», sagt er zerknirscht. Und doch schaffe er es nicht, damit aufzuhören. «Ich bin einfach zu schwach dafür.» Demnächst wolle er es mit Hypnose versuchen. Bannwart sitzt noch immer mit Zigarette auf dem Baumstamm am Feuer in seinem Camp. Mit sogenannten Preppern habe er nichts am Hut, sagt er und meint damit Leute, die sich auf die angeblich nahende Apokalypse vorbereiten. Er glaubt, dass er viele kleine Dinge vermitteln könne – Bannwart nennt es verniedlichend «Sächeli» – nicht mehr, aber auch nicht weniger. «Mich macht einfach glücklich, wenn ich anderen etwas beibringen kann.» Worin aber sieht er den Nutzen seiner Kurse? Bannwart nimmt einen Zug und sagt, dass jeder in eine Notlage geraten könne. Sich nach Einbruch der Dunkelheit auf einer Wanderung zu verirren, auf der letzten Skiabfahrt abseits der Piste zu stürzen zum Beispiel. Oder auch plötzlich von Armut betroffen zu sein. «Dann zählen nur deine eigenen Fähigkeiten.» 23


Man vergisst, dass es sich hier um Fiktion handelt: Zain, gespielt vom syrischen Flüchtlingsjungen Zain Al Rafeea, zeigt die Welt aus seiner verletzlichen Perspektive.

BILDER: ZVG

Wo Ketchup mehr wert ist als ein Kind Film Ein Zwölfjähriger verklagt seine Eltern dafür, ihn gezeugt zu haben. Aber eigentlich richtet sich die Anklage im Spielfilm «Capharnaüm – Stadt der Hoffnung» gegen eine ignorante Weltgemeinschaft. VON MONIKA BETTSCHEN

Während Zain im Jugendgefängnis in Beirut sitzt, verklagt er seine Eltern dafür, ihn in die Welt gesetzt zu haben. In eine Welt, in der es bisher nur Prügel und Vernachlässigung für ihn gab. Und in eine Welt, in der er offiziell gar nicht existiert, denn aus Gründen der Armut haben die Eltern seine Geburt nicht registrieren lassen. «Dass Zain seine Eltern verklagt, ist eine Geste im Namen all der Kinder, die es sich nicht ausgesucht haben, geboren zu werden und denen es möglich sein sollte, von ihren Eltern ein Minimum an Rechten zu verlangen», so die Regisseurin und Drehbuchautorin Nadine Labaki. In Rückblenden wird erzählt, wie es überhaupt zum Gerichtsprozess kommen konnte. Zain lebt mit seinen Eltern und den vielen Geschwistern in einem Armenviertel Beiruts. Als illegale Einwanderer im Libanon sind sie der Willkür ihres Vermieters Assaad ausgeliefert. Sie müssen in seinem Laden mithelfen oder mit ihrer Mutter Drogen herstellen, die sie dann ins Gefängnis schmuggeln. Die meiste Zeit befindet sich die Kamera auf Zains Augenhöhe, was sein Umfeld noch bedrohlicher erscheinen lässt. Aus der verletzlichen Kinderperspektive muss man mitansehen, wie Assaad Gefallen an Zains jüngerer Schwester findet, ihr nachstellt und schliesslich erfolgreich ist. Zain reisst aus und versucht, sich auf der Strasse durchzuschlagen. In einem Vergnügungspark trifft er auf die Äthiopierin Rahil, warmherzig und doch mit kämpferischem Naturell gespielt von Yordanos Shiferaw. Bei ihr erlebt Zain zum ersten Mal, was 24

es bedeutet, als Kind erwünscht zu sein. Obwohl auch sie illegal im Land lebt, nimmt Rahil den Jungen bei sich auf. Eine möglichen Razzia bedroht die kleine Wahlfamilie. Und ein Passfälscher drängt Rahil, ihm ihr Baby zu verkaufen. «Dein Sohn existiert nicht. Sogar eine Ketchup-Flasche hat einen Namen. Sie hat ein Produktions- und ein Ablaufdatum», sagt er lapidar. Der Film wirkt erschütternd realistisch, was einen stellenweise vergessen lässt, dass es sich hier um eine fiktive Geschichte und nicht um eine Dokumentation handelt. Der grösste Teil des Casts hat denn auch keine Schauspielerfahrung, dafür aber umso mehr Lebenserfahrung als Illegale, was das Schauspiel entscheidend prägt. Casting-Direktorin Jennifer Haddad suchte und fand die Darsteller auf den Strassen von Beirut. Zain Al Rafeea, der Zain spielt, flüchtete 2012 mit seiner Familie aus Syrien in den Libanon. Yordanos Shiferaw stammt aus Äthiopien und hielt sich unter anderem als Schuhputzerin und Dienstmädchen über Wasser. «Capharnaüm» erhielt 2018 in Cannes den Preis der Jury und ist für den Golden Globe als bester fremdsprachiger Film nominiert. Die trotz des Elends auch lebensbejahende Geschichte darf als Appell an die Weltgemeinschaft verstanden werden, die sozialen und geopolitischen Ursachen für derartige Schicksale entschlossener zu bekämpfen. Nadine Labaki: «Capharnaüm – Stadt der Hoffnung» Libanon 2018, 127 Min. Mit Zain Al Rafeea, Yordanos Shiferaw u.a. Ab 10. Januar im Kino.

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FOTO: ZVG

Geld und Gewohnheit

Buch Die Reihe «Poesien des Alltags» versammelt

Film Ein Oberschichtpaar häuft Schulden an,

kleine Liebeserklärungen an die unscheinbaren Dinge des täglichen Gebrauchs.

lesbisch ist es auch noch: Regisseur Marcelo Martinessi bricht Tabus.

«I han es Zündhölzli azündt und das het e Flamme gäh», singt Mani Matter und erzählt, wie es auf den Teppich spickt und beinahe die ganze Welt in Brand gesetzt hätte, wenn er es nicht aufgehoben hätte. Und schon beim Lesen der ersten Zeilen leuchten Melodie und Bilder auf. Denn so ist es nicht selten mit den scheinbar unscheinbaren Dingen des Alltags: In ihnen verbirgt sich eine stille Poesie, die unerwartet hörbar werden kann. Ein Autoren-Trio hat sich nun aufgemacht, diese alltagslyrischen Schätze zu heben. Mit kleinen, feinen Büchlein im A6-Format, die sich bestens als spontanes, ins Briefcouvert passendes Geschenk eignen. Vielleicht spielt ein solches Objekt ja gerade eine Rolle in irgendjemandes Alltag: die Büroklammer, das Zündholz, der Besen oder der Kaugummi. Mit den Büchlein zu diesen vier Objekten wurde die Edition eröffnet. Weitere Broschüren, die «Vom Brot» handeln oder «Das Messer» beleuchten, setzen die Reihe fort. Es ist daraus jeweils eine kleine Liebeserklärung an diese Dinge des alltäglichen Gebrauchs geworden, mit Kultur-, Erfindungs- und Nutzungsgeschichte. Und zur Bereicherung, aber auch zum Amüsement mit Geschichten, Rekorden und Kuriosa. Wer kennt schon den schwedischen Zündholzkönig, der um 1930 zwei Drittel des Zündholz-Weltmarktes beherrschte, indem er seine Monopole mit Millionenkrediten für bankrotte Staaten sicherte? Oder wem sind die Phillumenisten vertraut, die Zündholzschachtelsammler – mit dem Vereinsblatt «Alte Schachtel»? Zum Glück gibt es die Liste mit den Zündholzmuseen dazu. Dort liesse sich manche Wissenslücke schliessen. Werfen wir dagegen einen Blick auf die Büroklammer, treffen wir u.a. auf eine Formen- und Farbenvielfalt, die staunen macht. Auch ist die kleine Klammer höchst flexibel und vielfach verwendbar – etwa, um Handschellen zu öffnen. Als Clip mit integriertem USB-Speicher steht die Büroklammer gar für den gescheiterten Traum vom papierlosen Büro. Und als Symbol für E-Mail-Anhänge geistert sie durchs World Wide Web. «Digitale und analoge Welt klammern friedlich aneinander», schreiben die Autoren zu Recht. Alle diese kleinen Kompendien sind liebevoll gestaltet. Das Büchlein vom Zündholz etwa ist auf den Cover-Innenseiten mit Phosphor-Reibeflächen wie eine Zündholzschachtel versehen. Da kann sich jeder gleich selbst erproben, ein Hölzlein entflammen, fallen lassen und flugs wieder aufheben, um so ganz im Geiste Mani Matters en passant die Welt zu retten. CHRISTOPHER ZIMMER

Eine elegant gekleidete Dame schreitet durch einen dunklen Wohnraum. Sie betrachtet die antiken Möbel, lässt Kristallgläser klirren und fragt, ob die Standuhr noch funktioniere. «Bis vor Kurzem», antwortet ihr Chiquita (Margarita Irún). Sie hat Schulden und muss alles verscherbeln. Während Chiquita die Dame durch die geerbte Villa mitten in Paraguays Hauptstadt Asunción führt, wird sie von ihrer langjährigen Partnerin Chela (Ana Brun) beobachtet, die sich hinter einer Tür versteckt. Sie atmet schwer. Sie lebt schwer. Den Alltag übersteht sie nur mit Psychopharmaka. Regisseur Marcelo Martinessi bricht in seinem Spielfilmdebüt gleich mehrere Tabus. Als die extrovertierte und anpackende Chiquita später an die Geburtstagsparty einer alten Freundin aufbricht, bleibt Chela im Bett liegen. Auch um die finanziellen Probleme des Paars muss sich Chiquita alleine kümmern. Dann wird sie wegen Überschuldung angeklagt. Die Strafe: ein Monat Gefängnis. Was passiert jetzt mit Chela, die sonst immer von Chiquita betüdelt wird? Die erste Zeit zieht Chela sich zurück. Sie malt ihre Bilder und lässt sich von einer Bediensteten versorgen. Eines Tages klingelt eine alte Nachbarin an der Tür: Ob Chela sie mit dem Auto zu einer Freundin fahren könne? Die Frage wird Folgen haben. Auf Männer verzichtet Regisseur und Drehbuchautor Martinessi fast vollständig: Sie tauchen nur kurz als Autoverkäufer, Polizisten oder frisch verstorbene Gatten auf. Der Regisseur bezeichnet seinen Debütfilm als «Coming-ofAge-Geschichte einer 60-Jährigen». Doch «Die Erbinnen» ist auch ein Tabubruch: Über den Zerfall der Oberschicht und über gleichgeschlechtliche Liebe wird in Paraguay geschwiegen. Der 45-jährige Martinessi zeigt beides in unaufgeregten, ruhigen Bildern. Der Film wurde mehrfach ausgezeichnet, und Chelas Darstellerin Ana Brun gewann in Berlin einen Silbernen Bären. EVA HEDIGER

Helmut Stabe, Jule Claudia Mahn, Torsten Illner: «Das Zündholz» Poesien des Alltags. Edition Zeitblende. Jeweils CHF 9.90

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FOTO: ZVG

Stille Schätze

Marcelo Martinessi: «Las Herederas», Paraguay 2017, 104 Min. Mit Ana Brun, Margarita Irún, Ana Ivanova. Ab 10. Januar im Kino.

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Zürich «Emil Acklin – Fotografie als Klassenkampf», Ausstellung, Mo bis Fr, 8 bis 18 Uhr, Sa 10 bis 16 Uhr, bis Fr, 18. Januar, Stadtarchiv Zürich, Neumarkt 4.

Für Emil Acklin (1889 – 1976) war die Fotografie eine Fortsetzung des Klassenkampfes. Seine Bilder zeigen vornehmlich den Alltag von Arbeiterinnen und Arbeitern zwischen 1930 und 1950, oft im einstigen Zürcher Arbeiterquartier Aussersihl. Acklin war aber nicht einfach stiller Beobachter, sondern selber Kommunist und Revolutionär – «Aktivist», würde man heute wohl sagen. Er war auch an den Novemberunruhen 1917, den Protesten gegen Krieg und Militarismus beteiligt, die mit einem Militäreinsatz und vier Todesopfern endeten. Ursprünglich war Acklin selbst Oberleutnant, doch die Jahre der Industrialisierung, die Herausbildung der Arbeiterschicht, die wirtschaftliche Not und die Lebensmittelknappheit während des Krieges lösten in ihm einen Gesinnungswandel aus. Seinem Nachlass ist auch ein Band der Zeitschrift arché mit dem Titel «Emil Acklin: Fotografie als Klassenkampf» gewidmet, den das Stadtarchiv Zürich herausgibt. Acklins Schaffen zählt zur damals neuen, engagierten Dokumentarfotografie – wie auch diejenige von DIF Jakob Tuggener, Hans Staub und Emil Schulthess.

Auf Tour «Mein blaues Herz – Eine Spurensuche nach Maria Tanase», Di 8. Januar, 20.15 Uhr, Phönix Theater Steckborn; So, 13. Januar, 17.30 Uhr, Theater Ticino Wädenswil; Sa, 16. März, 20.15 Uhr, TaB Theater am Bahnhof Reinach. www.kraehenbuehl-co.net Die Sängerin Maria Tanase wird oft als «Edith Piaf des Ostens» bezeichnet. Sie wurde in Rumänien als Interpretin von Volksliedern zur Legende, nicht zuletzt dank ihrer mondänen Ausstrahlung. Sie wurde vom Publikum abgöttisch verehrt, liebte aber auch den Flirt mit den Mächtigen. Durch alle politischen Wirren des Landes hindurch blieb sie eine Koryphäe der rumänischen Musik mit einem ganz eigenen Zugang zu alten Volksweisen. Die Sängerin Irina Ungureanu ist in Bukarest geboren und aufgewachsen. Seit ihrer Kindheit singt sie rumänische Lieder vom Lieben, Fluchen und von der Sehnsucht. Der musikalische

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fen. Im Foyer, an der Fensterfront und auf dem Vorplatz kreieren die Objekte und Bilder zusammen einen Raum, der an einen magischen Kraftort erinnert, Wünsche sichtbar macht und Verbindungen schafft. DIF

Bern / Lausanne / St. Gallen «9. Norient Musikfilm Festival 2019 – Global Warning!», Do, 10. bis So, 13. Januar, verschiedene Spielorte in Bern, St. Gallen und Lausanne. www.musikfilmfestival.net

Abend «Mein blaues Herz» geht der Frage nach: Warum lässt einen die Herkunft nicht los, und wonach sehnen wir uns wirklich? DIF

Grenchen «Boycotlettes – A chacun son souhait», Intervention, bis So, 13. Januar, Mi bis Sa, 14 bis 17 Uhr, So 11 bis 17 Uhr, Bahnhofstrasse 53, vis-à-vis Bahnhof Süd. www.kunsthausgrenchen.ch Im Alltag Westafrikas gibt es die fest verankerte Praxis, für alle möglichen Begehrlichkeiten und Tätigkeiten ein sogenanntes Juju – einen Talisman – zur Hand zu haben. Das Künstlerinnenduo Boycotlettes, bestehend aus der Solothurnerin Melanie Fischer Fadera (*1976) und der Aargauerin Lara Schwander (*1976), hat sich davon inspirieren lassen und bringt nun viele gute Wünsche in das Kunsthaus Grenchen. Unter dem Titel «A chacun son souhait» (dt. «jedem seinen Wunsch») haben die Künstlerinnen eine «Juju-Installation» geschaf-

Norient sucht weltweit nach neuer Musik, Klängen und Lärm, unter anderem mit einem Musikfilmfestival. Das aber nicht nur Filme zeigt, sondern auch Live Acts hören lässt. Die 13 nominierten Filme beschäftigen sich mit aktuellen Themen: Migration, Protest, Tradition, Krieg, Liebe, Futurismus. Da sind die Erfahrungen zu Migration und Diaspora, erlebt und erzählt von der britischen Reggae-Legende Blacker Dread («Being Blacker»), der anglo-tamilischen Künstlerin M.I.A. («Matangi/Maya/M.I.A.») und der schwedisch-syrischlitauischen Rapperin Silvana Imam («Silvana»). Und da ist die Menschlichkeit, die in Filmen über syrischen Metal («Syrian Metal Is War»), eine Hochzeit in der marokkanisch besetzten Westsahara («Oulaya’s Wedding») oder den Karneval in den Armenvierteln von Rio de Janeiro («This Is Bate Bola») durchdringt. DIF

Aarau «Play – Das Spiel als Ausstellung», Mo, Mi, Fr, 11 bis 18 Uhr, Do 11 bis 20 Uhr, Sa und So 11 bis 17 Uhr, bis So, 7. Juli, Stadtmuseum Aarau, Schlossplatz 23. www.stadtmuseum.ch Digitale Spiele verändern die Welt. Die Ausstellung im Stadtmuseum Aarau zeigt uns, wie die «Gamification» bis weit über die Grenzen des Spiels hinaus wirkt und den digitalen Wandel im Gesundheitswesen, in der Erziehung, in der Betriebswirtschaft und in der Forschung vorantreibt. Die Ausstellung «Play» verbindet Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur und Technik und zeigt, was digitale Spiele leisten. Sie untersucht, wie Games aggressiv, süchtig und einsam oder aber glücklich, kreativ und kommunikativ machen. Sie fragt, wie Profi-E-Sportler Tausende ins Stadion und Millionen vor den Bildschirm locken. Und sie thematisiert Möglichkeiten und Grenzen von politisch ambitionierten Computerspielen. DIF Zürich «111 Bunker – Entdecke das verborgene Zürich!», 9. Januar bis 28. Februar, Mi bis So, 14 bis 18 Uhr, Zentrum Architektur Zürich ZAZ, Höschgasse 3; Anmeldung Bunkertouren im ZAZ oder unter info@zaz-bellerive.ch. www.zaz-bellerive.ch Das Zentrum Architektur Zürich ZAZ hat sich in ein Tourismusbüro für Befestigungsbauten verwandelt. Man wird an einem Schalter empfangen und dort über alle 111 kriegerischen Sehenswürdigkeiten von Zürich informiert und zu Bunkerwanderungen eingeladen. Das Ziel: ein Bild von Zürich nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1939 zu zeigen. Es sind heute noch einige dieser Spuren zu sehen. Henri Guisan, der letzte General der Schweiz, hat einmal ein Zürich beschrieben, zu dem es sich unter gegebenen Umständen hätte entwickeln können: «keine Fassaden, keine Kirchen, keine Bäume mehr, ein einziges Trümmerfeld, eine Mondlandschaft». Das blieb den Schweizern zum Glück erspart. Daher bietet das ZAZ nicht Ruinenwanderungen, sondern Bunkerspaziergänge am Limmatufer, Seebecken und auf dem Üetliberg DIF an.

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BILD(1): STADTARCHIV, STADT ZÜRICH, BILD(2+3): ZVG

Veranstaltungen


ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT

Agglo-Blues

Folge 24

Das Fitnesscenter Was bisher geschah: Die Frau des Opfers im Mordfall Schwander teilte offenbar die radikalen Ansichten ihres Mannes, wie Vera Brandstetter bei einem Besuch feststellt. Für eine trauernde Witwe wirkte Olena Schwander zudem auffällig zurechtgemacht. «Ich war im Fitnesscenter, trainieren», antwortete Olena Schwander sichtlich stolz. «Sie haben doch den ganzen Tag Zeit, warum trainieren Sie ausgerechnet so spät am Abend? Wollten Sie die Zeit nicht mit Ihrem Mann verbringen?», fragte Brandstetter. Sie konnte sich tatsächlich nicht vorstellen, was Olena, ohne Job und ohne Familie, den ganzen Tag trieb. Die hob verächtlich die fein gezupften Augenbrauen. «Montag- und Mittwochabend ging er joggen, Donnerstag zum Pokern. Die Leute, die seriös trainieren, gehen frühmorgens oder spätabends ins Fitness. Über Mittag und am Feierabend ist es überfüllt, tagsüber kommen die Hausfrauen, die ständig quatschen, und die Rentner, die einen anstarren.» «Wo trainieren Sie denn?» «Im Elite-Fit in Gründorf.» «Wissen Sie noch, wie lange Sie dort waren?» «Das kann ich Ihnen genau sagen.» Sie nahm ihr Handy, das in einer zartrosa Hülle mit Glitzersteinen steckte, und bearbeitete es flink mit ihren langen roten Fingernägeln. «Hier, auf der App vom Fitnesscenter werden die Trainingszeiten gespeichert.» Schwander hielt der Ermittlerin das Display vor die Nase. «Olena 20:07–22:14», stand da neben dem Datum, an dem Reto Schwander umgebracht worden war. Sie zog das Handy wieder weg. «Es waren noch mehr Leute dort, nehme ich an.» «Natürlich, um die Zeit sind immer etwa dieselben am Trainieren, unter Aufsicht von einem Coach. Ich glaube, an dem Tag war es Chris.» Reto Schwander war ziemlich genau um halb neun gestorben. Seine Frau hatte ein Alibi. Brandstetter stand auf. «Rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch etwas einfällt.» Sie verliess die Wohnung, überzeugt, dass sie nichts von Olena Schwander hören würde. Im Treppenhaus kam ihr ein Mann entgegen, sie hatte ihn nicht gehört und erschrak. Zwei Stufen auf einmal nehmend eilte er mit gesenktem Blick an ihr vorbei. Surprise 441/19

Er trug Trainerhosen, Turnschuhe und ein Sweatshirt mit dem Schriftzug «Elite-Fit Gründorf». Brandstetter blieb stehen und horchte. Wenn sie richtig gezählt hatte, war er in den sechsten Stock gestiegen. In ihrem Auto googelte sie das Fitnesscenter und gelangte auf die Website. Unter der Rubrik «Team» fand sie den Mann. Er hiess Christof Wegmüller und war Fitnesstrainer. Das Elite-Fit war bis 23.00 geöffnet. Sie fuhr hin. Am Empfang sass eine drahtige junge Frau, die Brandstetter wie eine alte Freundin begrüsste. Sie trug ein pinkes Poloshirt, auf dem das Elite-Fit-Logo und ihr Name eingestickt waren: Bianca. Brandstetter zeigte ihren Polizeiausweis, was Biancas Freundlichkeit keinen Abbruch tat, ausser, dass sie vom Du zum Sie wechselte. Sie bestätigte, dass sowohl Olena als auch Chris zur Tatzeit im Center gewesen waren. «Sie ist ziemlich angefressen», anerkannte Bianca. «Sie trainiert fünf Mal die Woche.» Sie drehte den Bildschirm so, dass Brandstetter die Tabelle einsehen konnte. Olena Schwander hatte ihr strenges Trainingsregime, meist spätabends, hin und wieder frühmorgens, durchgezogen. Selbst an dem Tag, an dem sie vom Tod ihres Mannes erfahren hatte, checkte sie um 19.58 ein. «Haben Chris und Olena etwas miteinander?», fragte Brandstetter. Bianca gluckste und beugte sich vertrauensvoll vor. «Sagen wir mal, sie verstehen sich sehr gut. Ich habe Olena ein paar Mal aus der Trainergarderobe kommen sehen, eigentlich hat sie da nichts verloren. Was genau läuft, weiss ich allerdings nicht. Bei Chris den Überblick zu behalten ist nicht ganz einfach.» Sie zuckte lächelnd mit den Schultern. Brandstetter schaute sich einen der Flyer an, die auf dem Empfangstresen lagen. Seit ihrem gescheiterten Versuch bei der Konkurrenz hatte sie kein Fitnesscenter mehr betreten. «Kommen Sie doch zu einem Probetraining, kostenlos natürlich.» Bianca zog einen Gutschein hervor. «Hier, benutzen Sie diesen Code. Sie können sich online anmelden. Auf Abos gewähren wir Angehörigen von Polizei und Sicherheitsdiensten zudem zehn Prozent Rabatt.» Nicht gerade schmeichelhaft, mit den Angehörigen der wildwuchernden Sicherheitsbranche in einen Topf geworfen zu werden, dachte Brandstetter, bedankte sich artig und fuhr nach Hause.

STEPHAN PÖRTNER schreibt und lebt in Zürich. Alle bisher

erschienenen Folgen des Fortsetzungskrimis gibt es zum Nachlesen und -hören unter www.surprise.ngo/krimi

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Sternenhof, Leben und Wohnen im Alter, Basel

02

Praxis für die Frau, Spiez

03

Fontarocca Brunnen + Naturstein, Liesthal

04

OpenTrack Railway Technology GmbH, Zürich

05

Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

06

Brother (Schweiz) AG, Dättwil

07

Proitera, Betriebliche Sozialberatung, Basel

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Freunde der PH Zürich

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Osteopathie Martin Lieb, Bern

10

Kaiser Software GmbH, Bern

11

Humania Care AG, Zürich

12

Olivier Gerig, Hypnose-Punkt.ch

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Barth Real AG, Zürich

14

Girsberger Holding AG, Bützberg

15

TopPharm Apotheke Paradeplatz, Zürich

16

Naef Landschaftsarchitekten GmbH, Brugg

17

VXL gestaltung und werbung AG, Binningen

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Steuerexperte Peter von Burg, Zürich

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Burckhardt & Partner AG, Basel

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freigutpartners IP Law Firm, Zürich

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Hervorragend AG, Bern

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Praxis Colibri, Murten

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Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

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SBB Angebotsgestaltung Langstrasse, Zürich

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Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Der Weg in die Armut führte für Daniel Stutz über die Sucht. Als Jugendlicher rutschte der heute 44-Jährige in die Spielsucht und später in den Konsum harter Drogen. Dank einer Therapie schaffte er vor 7 Jahren den Ausstieg. Geblieben ist dem Zürcher Surprise-Verkäufer und -Stadtführer ein Schuldenberg. «Den Weg aus der Sucht habe ich hinter mir, der Weg aus der Armut liegt noch vor mir», beschreibt Daniel seine Situation. SurPlus gibt ihm dabei Rückenwind: «Es ermöglicht mir hin und wieder Ferien. Ausserdem bedeutet es, auch einmal krank sein zu dürfen – ohne gleich Angst haben zu müssen, die Miete oder Krankenkasse nicht zahlen zu können.»

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 14 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise Stadtrundgang Zürich

Strassenmagazin

«Beeindruckt, berührt, bewegt»

«Surprise als Lektüre im Wartezimmer?»

Die Führung war fantastisch. Stadtführer Hans Rhyner hat das super gemacht. Mich haben seine Ehrlichkeit, sein Mitgefühl, seine Aufmerksamkeit, seine Kompetenz und seine Bescheidenheit zutiefst beeindruckt und berührt. Die ganze Führung hat mich sehr bewegt und wird mich noch lange bewegen. L . VINCENZ, Chur

Frauenarmutstouren Basel

#438: Menschenrechte

«Toll und selbstbewusst»

«Missachtung»

Ein sehr spannender, beeindruckender und horizonterweiternder Rundgang. Geleitet von zwei tollen und selbstbewussten Frauen, die berührend ihre Geschichten erzählen und den Teilnehmenden eine ganz andere Sicht auf die Stadt ermöglichen. Und auch einen Einblick geben, was es heisst, als Frau auf der Gasse überleben zu müssen. Ein grosses Kompliment an Danica Graf und Lilian Senn. Ich bin schon gespannt auf weitere Rundgänge, war sicherlich nicht mein letzter.

Wie wichtig die Menschenrechte sind wird auch am Beispiel von Artikel 26.3 sichtbar: «Die Eltern haben ein vorrangiges Recht, die Art der Bildung zu wählen, die ihren Kindern zuteil werden soll.» Eltern in der Schweiz können von diesem Artikel nicht Gebrauch machen, da sich die Behörden mit Erfolg seit Jahren weigern, diesen in die Bundesverfassung aufzunehmen. Eine klare Missachtung der Menschenrechte!

G. BURGHARTZ, Basel

M. KNAUSZ, Solothurn

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Sara Winter Sayilir (win) Amir Ali (ami), Diana Frei (dif) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Georg Gindely, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Flurin Bertschinger, Monika Bettschen, Markus Forte, Eva Hediger, Susanne Keller, Rachel Reed, Florian Sturm

25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name

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Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik

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Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage 28 000 Abonnemente CHF 189, 25 Ex./Jahr

R. UMFELD, Zürich

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Wie können wir das Strassenmagazin noch mehr verbreiten? Meine Idee: Beim nächsten (Zahn)arztbesuch nehmen ganz viele SurpriseLeserinnen und -Leser ein Exemplar von Surprise mit und fragen, ob die Praxis das Heft fürs Wartezimmer abonnieren wolle. Es wäre für mich eine echte Alternative zu den – inhaltlich oft eher seichten – aufliegenden Illustrierten.

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FOTO: SUSANNE KELLER

Surprise-Porträt

«Ich liebe Eritrea» «Geboren und aufgewachsen bin ich in Asmara. Heute ist das die Hauptstadt von Eritrea, damals war es einfach eine Stadt in der Provinz Eritrea, die zu Äthiopien gehörte. 1988, als ich 17 Jahre alt war, trat ich den Militärdienst an, um für die Unabhängigkeit zu kämpfen. Nachdem Eritrea 1993 offiziell gegründet und unabhängig war, mussten viele Soldaten im Dienst bleiben, weil die Grenzkonflikte mit Äthiopien andauerten. So auch ich. Nach fast 20 Jahren im Militär hatte ich genug, ich wollte endlich als freier Mensch zuhause in Asmara zusammen mit meiner Familie leben. Aber das war nicht möglich. Wer desertierte, wurde gesucht, verhaftet und in den «National Service» zurückgebracht. Ende 2007 hielt ich es nicht mehr aus. Ich flüchtete über die Grenze ins Nachbarland Sudan, obwohl ich Frau und Kinder zurücklassen musste. Dort sowie danach in Libyen arbeitete ich jeweils ein Jahr auf Baustellen und machte Schreinerarbeiten, um mir die weitere Flucht nach Europa zu finanzieren. Im April 2010 erreichte ich die Schweiz und stellte ein Asylgesuch. Da ich so lange im Militär gewesen war, wurde das Gesuch bald positiv beantwortet und meine Frau und meine damals neunjährige Tochter durften 2012 über den Familiennachzug in die Schweiz kommen. Für meinen Sohn aus einer früheren Beziehung bekam ich hingegen keine Bewilligung, wahrscheinlich weil er zu diesem Zeitpunkt schon fast 18 war. Er lebt nun seit ein paar Jahren bei seiner Mutter, die in die USA flüchten konnte, und macht am College in Seattle ein Ingenieurstudium. 2017 war er zwei Monate zu Besuch bei uns und konnte seine heute sechsjährige Schwester und den vierjährigen Bruder kennenlernen, die beide in der Schweiz zur Welt kamen. Mit der Arbeit hat es bis jetzt noch nicht so gut geklappt. Ich habe ein halbjähriges Praktikum in der Reinigung gemacht, dann als Bodenleger. Schliesslich fand ich eine Anstellung als Chauffeur und lieferte in der Nacht Zeitungen aus, aber Rücken- und Hüftprobleme zwangen mich bereits acht Monate später, dies wieder aufzugeben. Vor Kurzem war ich bei einem Spezialisten: Er fand heraus, dass ein Bein fast zwei Zentimeter länger ist als das andere und ich deshalb solche Schmerzen habe. Jetzt schauen wir, ob mir ein speziell angepasster Schuh helfen kann. Trotz der Beschwerden arbeite ich momentan zu 50 Prozent in einem Recyclingbetrieb, daneben verkaufe ich am Freitag und Samstag Surprise. Genau vor acht Jahren habe ich mit dem Heftverkauf angefan30

Semere Yemane, 47, flüchtete nach 20 Jahren Militärdienst aus Eritrea. Eines Tages möchte er aber zurückkehren. Derweil verkauft er Surprise in der Berner Lorraine.

gen. Früher stand ich vor der Berner Markthalle, wo es viele Restaurants, Bars und kleine Läden gab. Als sie geschlossen und umgebaut wurde, musste ich meinen Platz wechseln. Heute verkaufe ich vor der Migros im Lorraine-Quartier. Kontakt zu SurpriseKundinnen und -Kunden habe ich nicht so viel. Das liegt vor allem daran, dass ich nicht gut Deutsch spreche. Ich war zwar in zwei Deutschkursen, aber das hat nicht gereicht, um wirklich gut reden und verstehen zu können. Mit besseren Deutschkenntnissen hätte ich wahrscheinlich mehr Chancen auf eine Arbeitsstelle. Für das neue Jahr wünsche ich mir, dass ich eine Arbeit finde und genug Geld verdienen kann, um mich und meine Familie von der Sozialhilfe zu lösen. Hilfreich wäre auch eine grössere Wohnung – wir wohnen jetzt in Köniz zu fünft in einer 3½-ZimmerWohnung. Das geht schon, aber zu einem Zimmer mehr würden wir nicht Nein sagen. Ich hoffe, dass wir eines Tages in unsere Heimat zurückkehren können. Ich liebe Eritrea. Die aktuelle politische Entwicklung in der Region gibt immerhin Anlass zur vorsichtigen Hoffnung.» Aufgezeichnet von ISABEL MOSIMANN

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GESCHICHTEN VOM FALLEN UND AUFSTEHEN

Porträts der Surprise Verkaufenden in Buchform

Kaufen Sie jetzt das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» und unterstützen Sie einen Verkäufer oder eine Verkäuferin mit 10 CHF. «Standort Strasse» erzählt mit den Lebensgeschichten von zwanzig Menschen, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Porträts aus früheren Ausgaben des Surprise Strassenmagazins ergänzen die Texte. Der Blick auf Vergangenheit und Gegenwart zeigt selbstbewusste Menschen, die es geschafft haben, trotz sozialer und wirtschaftlicher Not neue Wege zu gehen und ein Leben abseits staatlicher Hilfe aufzubauen. Surprise hat sie mit einer Bandbreite an Angeboten dabei unterstützt: Der Verkauf des Strassenmagazins gehört ebenso dazu wie der Strassenfussball, der Strassenchor, die Sozialen Stadtrundgänge und eine umfassende Beratung und Begleitung.

156 Seiten, 30 farbige Abbildungen, gebunden, CHF 40 inkl. Versand, ISBN 978-3-85616-679-3 Bestellen bei Verkaufenden oder unter: surprise.ngo/shop Weitere Informationen T +41 61 564 90 90 | info@surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: Surprise NGO


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SURPRISE-RUCKSACK CHF 99.– (exkl. Versandkosten) Modell Ortlieb-Velocity, 24l, wasserfest. Hergestellt in Deutschland. Erhältlich in ultramarin, silber, rot und schwarz.

SURPRISE-GYMBAG CHF 20.– (exkl. Versandkosten) 100% Baumwolle, hergestellt in Handarbeit in Griechenland. Erhältlich in rot und schwarz.

SURPRISE-ETUI CHF 27.– (exkl. Versandkosten) Hergestellt von JLTbag in Altdorf, Uri. JLTbag beschäftigt in der Produktion anerkannte Flüchtlinge und fördert damit deren Ausbildung und Integration. Erhältlich in rot und schwarz.

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