Sudetendeutsche Zeitung 30. Juli 2021 Ausgabe 30

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Sudetendeutsche Zeitung Folge 30 | 30. 7. 2021

Am Mittwoch hat die Beauftragte der Bayerischen Staatsregierung für Aussiedler und Vertriebene, Sylvia Stierstorfer, gemeinsam mit der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit in München das Themenheft „Flucht und Vertreibung“ der Öffentlichkeit vorgestellt. Es ist die erste umfassende Dokumentation dieser Art in Deutschland. Im Interview mit der Sudetendeutschen Zeitung erklärt die CSU-Landtagsabgeordnete, warum dieses Thema auch über 75 Jahre nach Kriegsende von hoher Relevanz ist, wie sie sich inbesondere an die Enkelgeneration wendet, und welche Projekte sie derzeit plant.

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rau Stierstorfer, wie kamen Sie auf die Idee, das Thema „Flucht und Vertreibung“ in einem Themenheft umfassend aufarbeiten zu lassen? Sylvia Stierstorfer: Im vergangenen Jahr stand das große Thema „75 Jahre Flucht und Vertreibung“ auf der Agenda. Leider konnten wir auf Grund der Corona-Pandemie keine Präsenzveranstaltungen durchführen, um an dieses Trauma zu erinnern. Ich habe mich dann mit der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungsarbeit zusammengesetzt, um mit dem Themenheft „Flucht und Vertreibung“ eine umfassende Dokumentation herauszugeben. Es ist die erste Dokumentation dieser Art in Deutschland. Warum mußten dafür 75 Jahre vergehen? Stierstorfer: Aus drei Gründen. Das Thema „Flucht und Vertreibung“ ist nicht mehr so emotional aufgeladen, was einer sachlichen Auseinandersetzung in der Vergangenheit oft im Weg gestanden hatte. Zweitens, in der alten Bundesrepublik hatte die Gesellschaft den Blick fast ausschließlich gen Westen ausgerichtet und sich kaum für die Vertriebenen und für das, was östlich von uns, hinter dem Eisernen Vorhang, passierte, interessiert. Und drittens gibt es jetzt mit der Enkelgeneration viele junge Frauen und Männer, die mehr über das Schicksal ihrer Großeltern erfahren möchten. Das Thema Flucht und Vertreibung ist in Deutschland in der politischen Öffentlichkeit viel zu lange totgeschwiegen worden. Woher kommt Ihre Erkenntnis, daß sich gerade junge Menschen für diesen Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte interessieren? Stierstorfer: Bei meinen vielen Schulbesuchen erlebe ich hautnah das wachsende Interesse der Schüler an der eigenen Familiengeschichte. Mit dem Themenheft „Flucht und Vertreibung“ wollen wir deshalb das große Bild aufzeigen und insbesondere Lehrern und anderen politisch Interessierten Informationen zur Verfügung stellen. Die Beschäftigung mit Flucht und Vertreibung ist ein junges Thema, ein Zukunftsthema. Nur wer seine eigenen Wurzeln kennt und aus der Geschichte lernt, kann Zukunft gestalten. Blicken wir in Ihre eigene Geschichte zurück. Wie wurden Sie Beauftragte der Bayerischen Staatsregierung für Aussiedler und Vertriebene? Stierstorfer: Am 16. März 2018 ist Markus Söder vom Bayerischen Landtag zum Ministerpräsidenten gewählt worden. Er hat dann, ohne daß irgendwelche Namen in die Öffentlichkeit gelangten, sein Kabinett zusammengestellt. Ich bin mitten in einer Sitzung des Petitionsausschusses, die ich geleitet hatte, von der Staatskanzlei angerufen worden, da der Ministerpräsident mit mir sprechen wollte. Für mich kam das völlig überraschend, aber natürlich ist diese Aufgabe eine große Ehre für mich. Haben Sie gleich zugesagt oder erst den Familienrat befragt? Stierstorfer: IIch wollte den

AKTUELL Sylvia Stierstorfer, Beauftragte der Bayerischen Staatsregierung für Aussiedler und Vertriebene

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und Vertreibung. Außerdem bieten wir Lehrern entsprechende Fortbildungen an. Als Teil der deutschen Nachkriegsgeschichte muß dieses Thema aber noch stärker im Lehrplan verankert werden. Jeder dritte Deutsche hat einen Vertriebenenhintergrund. Wie bereits gesagt: Gerade mit Blick auf ein vereintes Europa können wir unsere Zukunft nur dann gut gestalten, wenn wir unsere Wurzeln kennen. Welche konkreten Projekte stoßen Sie an den Schulen an? Stierstorfer: Ein Beispiel: Mit dem Haus der Bayerischen Geschichte haben wir Konzepte entwickelt, wie wir das Thema Flucht und Vertreibung insbesondere für die Jugend verständlich und interessant aufbereiten können. Und über die Schulen wollen wir verstärkt Schüleraustausch und Tschechisch als Fremdsprache fördern. So wird das Wilhelm-Hausenstein-Gymnasium in München-Bogenhausen zentral für die Münchner Schüler Tschechisch-Unterricht anbieten. Dieses Projekt haben wir übrigens gemeinsam mit der tschechischen Generalkonsulin Kristina Larischová umgesetzt. Und umgekehrt bemühen wir uns darum, daß in Eger eine Schule Deutsch-Unterricht anbietet. Es ist gar nicht so einfach, entsprechende Lehrer zu finden, zumal dies auch noch in die Kompetenz des Bundes fällt. Nach Ihrer Ernennung als Beauftragte hat Sie Ihre erste Auslandsreise Zur Person: Sylvia Stierstorfer Sylvia Stierstorfer, Beauftragte der Bayerischen Staatsregierung für Aussiedler und Vertriebenach Prag gene und Mitglied des Bayerischen Landtags. Foto: Maria Klinke führt. Warum? Geboren am 22. Februar 1963 in Regensburg Stierstorfer: Verheiratet, eine Tochter, römisch-katholisch. Ministerpräsidenten natür- hat die wichtigen Unterlagen Bayerns stark Neben zahl Ausbildung zur Bankkauffrau. lich nicht warten lassen. Ich ha- mitgenommen, vor allem das Fa- verankert. reichen Tref Seit 2003 Mitglied des Bayerischen Landtags für den Stimmbe sehr zeitnah zugesagt. Mein milienstammbuch. Der Nach- Ministerpräfen mit wichtikreis Regensburg-Land. Mann hat es im Nachgang erfah- bar hat meine Großeltern und die sident Margen Gesprächs Von 2008 bis 2013 im Landtag stellvertretende Vorsitzende ren, aber klar gesagt, daß er mei- drei kleinen Kinder mit dem Lei- kus Söder ist partnern in und von 2013 bis 2018 Vorsitzende des Ausschusses für „Eingane Entscheidung mitträgt und terwagen an die rund 60 Kilome- der SchirmPrag war ich ben und Beschwerden“. mich zu hundert Prozent unter- ter entfernte Grenze gefahren. herr der SudeSchirmherrin Von 2008 bis 2018 im Landtag Mitglied des Präsidiums und stützt. Auf dem Weg zur Grenze haben tendeutschen. einer AusstelLandessportbeirätin. Die Entscheidung des Mini- dann junge Tschechen, die mein Sozial-, Arlung von Anti Seit 2011 Mitglied im CSU Parteivorstand. sterpräsidenten, Sie auszuwäh- Opa nicht kannte und die nicht beits- und Fakomplex, einer Seit März 2018 Beauftragte der Bayerischen Staatsregierung. len, scheint auf der Hand zu lie- wußten, wer er war, meiner Fami- milienminigemeinnützigen, da Sie selbst sudetendeut- lie das letzte Hab und Gut abge- sterin Carogen Organisatische Wurzeln haben. nommen. Nur den Rucksack mit lina Trautner on in der TscheStierstorfer: Ob dies eine Rol- dem Familienstammbuch durf- ist die Schirmchischen Rele gespielt hat, weiß ich nicht, ten sie behalten. Das Wichtigste herrschaftsministerin. Melanie ne ist im Sozialministerium ver- publik, die sich mit der eigenen aber ich habe in der Tat sudeten- war aber, daß meine Familie zu- Huml verantwortet als Ministerin ankert. Insofern ist es für mich Nachkriegsgeschichte kritisch deutsche Wurzeln. Mein Groß- sammen und unbeschadet ge- die europäischen und internatio- als Beauftragte zielführend, in auseinandersetzt. Ich hoffe, daß vater stammte aus Blatnitz im blieben ist. Aus vielen Gesprä- nalen Kontakte und war erst kürz- diesem für meine Arbeit maß- diese Ausstellung demnächst Landkreis Mies, meine Großmut- chen mit Zeitzeugen weiß ich, lich in Prag. Und Gesundheits- geblichen Ausschuß aktiv zu auch einmal in Bayern zu sehen ter aus Tuschkau. Die beiden hat- daß dies damals keine Selbstver- und Pflegeminister Klaus Holet- sein. Außerdem bin ich die direk- sein wird. ten einen großen Hof, der übri- ständlichkeit war. In der Nacht schek hat selbst sudetendeutsche te Abgeordnete des WahlkreiSie sind auch selbst aktiv, um gens heute noch steht, und mein ist dann meine Familie uner- Wurzeln. Wie grenzen Sie Ihre Ar- ses Regensburg-Land mit knapp die Vertreibungsgeschichte aufOpa war bis zur Vertreibung Bür- kannt über die Grenze nach Bay- beit insbesondere gegenüber der 196 000 Einwohnern. Diese Auf- zuarbeiten und zu dokumentiegermeister von Blatnitz. Aus vie- ern geflüchtet und zu Fuß zum Schirmherrschaftsministerin ab? gabe ist sehr anspruchsvoll, denn ren – was für eine Politikerin eher len Erzählungen weiß ich, wie Bruder meines Großvaters gelauStierstorfer: Mein Schwer- ich vertrete diese Menschen im ungewöhnlich ist. sehr meine Familie die Heimat fen, den man nach dem Krieg ge- punkt ist das Thema Aussiedler Landtag. Stierstorfer: Das Thema vermißt und wie viel sie ihnen be- warnt hatte, er solle unbedingt in und Vertriebene. Frau Trautner Die Position der Beauftragten Flucht und Vertreibung läßt deutet hat. Bayern bleiben und nicht in seine hat als Staatsministerin für Fami- für Aussiedler und Vertriebene mich nicht los und ist ein HerHeimat zurückgehen. zensanliegen von mir. Ich mache Wann waren Sie das erste Mal gerade einen Podcast und interin der Heimat Ihrer Eltern und viewe dafür 60 Angehörige der Großeltern? Erlebnisgeneration. Es ist wichStierstorfer: Ich war damals tig, die Augenzeugenberichsieben oder acht Jahre alt. Mein te dieser Zeitzeugen für spätere Opa wollte noch einmal die HeiGenerationen zu bewahren. Die mat sehen. Weil wir Sudetenersten Ausgaben dieses Podcasts deutsche waren, haben die tschesollen dann ab September veröfchischen Grenzbeamten am fentlicht werden. Übergang bei Furth im Wald das Sie sind gelernte Bankkaufganze Auto auseinandergenomfrau und kennen den in der Wirtmen. Ich werde das nie vergesschaft weiter verbreiteten Elevasen, wie die Grenzer mit Maschitor-Pitch, bei dem eine Idee, ein nenpistolen vor mir standen. Ich Projekt oder eine Bewerbung in möglichst kurzer Form zusamhatte damals richtig Angst. Als mengefaßt wird. Deshalb in ein wir dann in Blatnitz waren, hat paar Worten: Wofür braucht Bayman gemerkt, wie schwer dies ern eine Beauftragte für Aussiedemotional für meinen Opa war. ler und Vertriebene? Vor allem, als ältere EinwohDas Themenheft „Flucht und Ver- ner ihn mit dem Satz begrüßten: Bayerns Ministerpräsident Markus Söder erhält von Sylvia Stierstorfer und Stierstorfer: Der Freistaat Baytreibung“ der Bayerischen Landes- „Unser Bürgermeister ist wieder Rupert Grübl, Leiter der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildungs- ern braucht einen Beauftragten zentrale für politische Bildung wur- da.“ Als wir am Hof vorbeigefah- arbeit, das erste Exemplar des Themenhefts „Flucht und Vertreibung“. für Aussiedler und Vertriebene de am Mittwoch vorgestellt. Foto: Jörg Koch, Bayerische Staatskanzlei für die Wertschätzung der Leiren sind, den wir damals nicht stungen der Vertriebenen und besuchen konnten, hatte mein Wie wurde Ihre Familie vertrie- Opa Tränen in den Augen. Mei- lie, Arbeit und Soziales natürlich wurde 2018 neu geschaffen. Sie Aussiedler, die Würdigung ihres ben? ne Oma war zu diesem Zeitpunkt ein viel breiteres Aufgabenfeld. konnten also auf keine Strukturen Schicksals, und dafür, deutlich Stierstorfer: Mein Opa war ein bereits verstorben. Sie hatte bis Insofern sprechen wir uns regel- zurückgreifen. Wie haben Sie Ih- zu machen, daß Vertriebenenpolitik keine Sache der Verganausgleichender Mensch und kam zum Schluß gehofft, daß sie ir- mäßig ab und ergänzen uns. Als ren Bereich aufgebaut? auch mit den Tschechen gut aus. gendwann wieder zurück in ihre Beauftragte habe ich mein Büro Stierstorfer: Da ich die erste genheit ist, sondern gelebte VerInsbesonEr selbst konnte zwar nur wenig Heimat kann, und wollte deshalb zwar im Sozialministerium, bin Beauftragte bin, habe ich bei mei- ständigungspolitik. Tschechisch sprechen, verstand nie auf Besuch dorthin. Erst nach aber dem Ministerpräsidenten nem Amtsantritt bei Null ange- dere den Sudetendeutschen, als aber, was gesagt wurde. Am 22. ihrem Tod konnte deshalb mein direkt verantwortlich. fangen. Ich habe viele Gespräche Viertem Stamm Bayerns, ist BayOktober 1945, einen Tag nach Großvater diese Reise machen. Sie sind außerdem stellvertre- geführt, und es hat sich schnell ern das schuldig. Ohne die AufKirchweih, hat ein tschechischer Wir haben dann auch noch den tende Vorsitzende des Sozialar- herausgestellt, daß wir vor al- bauleistung der SudetendeutNachbar meinen Opa gewarnt. Geburtsort meiner Oma besucht. beitskreises der CSU-Fraktion im lem die Jugend für das Thema schen nach dem Zweiten Welt„Bürgermeister, die kommen, ihr In der Bayerischen Staatsregie- Bayerischen Landtag. Warum? gewinnen müssen. Ich gehe des- krieg hätte der Freistaat Bayern müßt gehen.“ Mein Vater war da- rung sind die Anliegen der SudeStierstorfer: Der gesamte Be- halb oft in die Schulen und re- diesen Aufschwung nie realisieTorsten Fricke mals sieben Jahre alt. Mein Opa tendeutschen als Vierter Stamm reich Aussiedler und Vertriebe- de mit den Schülern über Flucht ren können.

„Vertriebenenpolitik ist gelebte Verständigungspolitik“


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