an ihre Gattung mustergültig: Im Zentrum der Geschichte steht eine unerhörte Begebenheit. Der Handlungsablauf ist straff aufgebaut und führt auf ein einziges Ziel hin – bis zum überraschenden Wendepunkt. Bedenkt man den Entstehungszeitpunkt dieses Werks, ist Kleists Thematik und Gesellschaftsauffassung darin höchst modern und revolutionär: Zum einen kritisiert er die Doppelmoral der bürgerlichen Gesellschaft. Dort ist alles erlaubt, solange es nicht thematisiert wird. Schönstes Beispiel in Kleists Text dafür ist einer der berühmtesten Gedankenstriche der Literaturgeschichte: Hier – traf er, da bald darauf ihre erschrockenen Frauen erschienen, Anstalten, einen Arzt zu rufen; versicherte, indem er sich den Hut aufsetzte, dass sie sich bald erholen würde; und kehrte in den Kampf zurück. Erst am Ende der Erzählung wird deutlich, der Gedankenstrich steht für den Moment, in dem die Marquise geschwängert wurde. Zum anderen zeichnet Kleist ein sehr modernes Frauenbild: Der Marquise gelingt es, aus der Opferrolle heraus ein neues Selbstbewusstsein zu schaffen und sich vehement den Konventionen der Gesellschaft zu widersetzen. Aber auch den anderen Frauenfiguren schreibt Kleist in seiner Erzählung sehr durchsetzungsstarke und eigenständige Charaktere zu: Die Obristin z. B. setzt sich immer mehr gegen ihren Mann durch. Die Tochter verzichtet nie auf ihr Selbstbestimmungsrecht. Heinrich von Kleist hat mit «Die Marquise von O…» ein gesellschaftskritisches Werk geschrieben, auf welches seine Zeitgenossen mit Verstörung reagierten. Heute hingegen zählt die Novelle zu den wichtigsten Werken der Literaturgeschichte.
Fotos: Die Marquise von O… ©Matthias Käser
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