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Colette Couleau

IM GESPRÄCH

«Priorität hatte Hans»

Colette Couleau betreute und pflegte während Jahren ihren Partner Hans Landert. Die Französin erzählt, was sie in dieser Zeit erlebte, was ihr zu schaffen machte und wie sie Freiräume für sich schuf.

Von Peter Birrer

Colette Couleau wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Sie sitzt am Stubentisch ihrer Basler Wohnung und erzählt ihre Geschichte, die auch die Geschichte von Hans Landert ist, ihrem langjährigen Partner.

Die beiden lernten sich 1988 in Florenz kennen, sie eine bildende Künstlerin, er ein Antiquitätenhändler und 18 Jahre älter als die Französin aus Toulouse. Ein Jahr später verunfallt Landert schwer, ein Autounfall macht ihn zum Paraplegiker.

Colette Couleau bleibt an seiner Seite, zieht mit ihm in die Schweiz und betreut ihn auch, als sich sein Gesundheitszustand zusehends verschlechtert und Alzheimer diagnostiziert wird.

Ab 2019 werden die beiden von Alexander Post begleitet, der sich als Sozialarbeiter der Schweizer Paraplegiker-Vereinigung um ihre verschiedenen Anliegen kümmert. Manchmal bleibt ihm aber nur die Rolle des Zuhörers, weil aus sozialversicherungsrechtlichen Gründen oft wenig Handlungsspielraum besteht.

Die 61-jährige Colette Couleau pflegt und kämpft, organisiert und leidet. Alexander Post ist beeindruckt, wie sie sich dafür einsetzt, dass Hans Landert nicht ins Pflegeheim muss: «Sie hatte kaum einmal einen freien Abend.»

Colette Couleau, war für Sie nach dem Unfall von Hans Landert immer klar, dass Sie ihn begleiten und pflegen würden?

Die erste Reaktion war die: Ich will ihm helfen und ihn beschützen. Wir legten uns darauf fest, dass wir fünf Jahre lang schauen, wie sich alles entwickelt. Wir wussten ja beide nicht, wie wir das Leben unter völlig neuen Umständen meistern. Aus den fünf Jahren wurden 31 Jahre, die wir gemeinsam verbrachten. Bis er im Juli starb.

Wie meisterten Sie mit Ihrem Partner die grosse Herausforderung?

Er war jemand, der trotz allem Freude am Leben hatte, der kulturell interessiert war, die Musik liebte, das Theater, die Oper. Diese Leidenschaft teilte ich mit ihm. Das sorgte für Ablenkung und half uns auch in schwierigen Momenten. Ich kümmerte mich zu Beginn auch um den Verkauf von Antiquitäten, das war bis zum Unfall die Arbeit und Leidenschaft von Hans.

Das Leben änderte sich für Sie und Hans Landert schlagartig. Wie gelang diese Umstellung?

Zuerst musste ich viel zum Thema Querschnittlähmung lernen. Was bedeutet das überhaupt? Wie geht man damit um? Welche Massnahmen sind notwendig, um ein gutes Leben führen zu können? Oder auch: Wie funktioniert das Katheterisieren? So schwierig das in den ersten Monaten war: Wir fanden für alles eine Lösung.

Am 21. Juli 2022 stirbt Hans Landert. Zurück bleibt Colette Couleau mit vielen Erinnerungen an intensive Jahre – und auch an sehr schöne Momente, die sie gemeinsam trotz schwieriger Umstände erlebten.

Colette Couleau bleiben viele Erinnerungen

War der Unfall oft Gesprächsthema?

Nein. Mein Partner schob das meistens zur Seite. Er war trotz körperlicher Beeinträchtigung aktiv, oft unterwegs und verdrängte auch, dass beispielsweise das Risiko besteht, dass er aus dem Rollstuhl fallen und zu Boden stürzen kann. Ich glaube, dass ich ihm Stabilität gab und für ihn so etwas wie ein Anker war. Er wusste, dass er sich auf mich verlassen konnte. Ich wies ihn oft auf Gefahren hin. Die Ärzte sagten, dass er ohne mich wohl früher gestorben wäre.

Ein häufiges Thema für Menschen mit Querschnittlähmung ist der Dekubitus. Wurde Hans Landert mit diesem Problem konfrontiert?

Er hatte grosses Glück, dass er lange davon verschont blieb. Es war ein ständiger Kampf: Ich versuchte aufzuzeigen, wie wichtig es ist, einen Dekubitus zu vermeiden, weil die Folgen gravierend sein könnten, aber er passte nicht besonders auf. 2015 sah er sich erstmals mit dem Problem konfrontiert. Da wurde es sehr schwierig. Mir war klar, dass wir auf Hilfe angewiesen sind, doch er wollte keine Spitex. Jedes Mal, wenn ich weg war, musste ich befürchten, dass etwas passiert.

Wieso lehnte er die Spitex ab?

Er wollte sich nicht von fremden Leuten pflegen lassen, seine Intimsphäre sollte intim bleiben. Wenn er Unterstützung annahm, dann nur von mir.

Das muss Sie enorm belastet haben.

Ich gelangte an einen Punkt, an dem ich sagte: «Ich mache so nicht weiter.» Darum organisierte ich eine Sitzung im Rehab Basel (Klinik für Neurorehabilitation und Paraplegiologie). Die Ärzte sagten: «Herr Landert, Sie müssen verstehen, dass Sie Hilfe benötigen. Ihre Partnerin kann nicht alles machen.» Ich glaube, er hat das nie wirklich akzeptiert.

Aber die Spitex kam fortan trotzdem, um ihn zu pflegen.

Ja. Allerdings gab es regelmässig Diskussionen.

Wieso?

Hans meinte, er schaffe das alleine, dabei war klar: Das geht nicht. Ich wollte herausfinden, ob es mit der Spitex doch klappt. Ich verreiste für fast einen Monat und rief zwischendurch an, ob alles in Ordnung sei. Von den Leuten der Spitex hörte ich, sie würden das in den Griff bekommen. Aber

die Realität war leider eine andere. Hans fiel in eine Depression, verlor viel Gewicht, dann wurde ein Dekubitus festgestellt und er musste ins Spital.

Was konnten Sie in dieser Situation tun?

Ich organisierte viel, bemühte mich intensiv um Lösungen mit der Spitex und strebte an, dass sich immer das gleiche Team um Hans kümmern würde. Aber das liess sich nicht einfach so umsetzen. Erschwerend kam hinzu, dass er die Spitex ja gar nicht wollte. Die Lage verschlechterte sich. Es kamen verschiedene Leute von der Spitex vorbei, zum Teil junge, unerfahrene. Manchmal erschrak ich, wie sie die Arbeit machten – oder eben nicht machten. Dann zeigte ich ihnen zum Beispiel, wie sie ein Pflaster an der entsprechenden Stelle anbringen mussten, oder ich erklärte, wie die Haut reagiert. Ich hatte beim Rehab einiges gelernt. Nicht selten fiel der Besuch der Spitex kurz aus. Hans reklamierte deswegen nicht, er war ja froh, wenn er wieder seine Ruhe hatte. Nur: Für mich war das kein tragbarer Zustand.

Wie gingen Sie vor?

Ich kontaktierte erneut das Rehab und schilderte das Problem, dass beispielsweise die Behandlung eines Dekubitus ungenügend sei. Man sagte mir, ich solle das mit Fotos dokumentieren. Ich legte diese Bilder Ärzten des Rehab vor, worauf ich den Rat bekam, die ParaHelp in Nottwil zu kontaktieren. Das machte ich – zum Glück! Wenn mir dieses Angebot vorher bekannt gewesen wäre, hätte ich es früher in Anspruch genommen. Dort arbeiten Leute, die wissen, wovon Menschen mit Querschnittlähmung sprechen, und sie handeln speditiv. Die ParaHelp erwies sich als die Hilfe, die ich mir gewünscht hatte, auch später, als es darum ging, gegen eine überhöhte Rechnung zu kämpfen. Immerhin fanden wir gegen Ende der Leidenszeit von Hans jemanden von der Spitex, der regelmässig bei uns vorbeikam. Das sorgte für eine gewisse Stabilität.

Konnten Sie überhaupt einmal abschalten und für sich Freiräume schaffen?

Es war fast unmöglich. Natürlich hatte ich meine Arbeit, die machte ich auch gerne. Aber gedanklich drehte sich ständig alles um die Angelegenheiten daheim. Das liess mich nie los. Wenn ich auswärts war, fragte ich mich: Machen die Leute, die jetzt bei Hans sind, alles korrekt? Und ich bemühte mich permanent um bessere Optionen.

War ein Pflegeheim auch einmal ein Thema?

Hans hätte das nie gewollt. Und ich hatte den Mut nicht, etwas zu machen, mit dem er nicht einverstanden gewesen wäre…

…weil Sie aus Liebe handelten.

Ich hätte es nicht übers Herz gebracht, ihn alleine zu lassen. Wenn er im Spital lag, fühlte er sich total desorientiert. Zuhause war es ihm am wohlsten, das war spür- und sichtbar. Er zeigte trotz aller Schwierigkeiten Freude am Leben. Um mehr bei ihm zu sein, arbeitete ich weniger in meinem Atelier oder lehnte auch einmal einen Auftrag ab, weil ich merkte, dass ich das nicht auch noch auf mich nehmen konnte. Priorität hatte immer Hans, die persönlichen Interessen stellte ich hinten an.

Für Sie muss das ein hoher Stress gewesen sein. Woher nahmen Sie die Kraft, um das alles zu bewältigen?

Ich hatte das Glück, dass ich im Leben immer wieder schöne Dinge entdeckte. Grundsätzlich bin ich ein Mensch, der Lösungen sucht. Die Probleme musste ich nie suchen, die waren ja da… (lächelt). Oft haben wir am Morgen zusammen Musik gehört und haben zusammen gefrühstückt, manchmal hat er gesungen, das war sehr eindrücklich. Wichtig war für mich auch die Zeit in meinem Atelier, da tauchte ich in meine Welt ein. Oder wenn ich am Abend heimkam und wir miteinander reden konnten, waren das Momente der Freude, die mir sehr viel gaben. Obwohl es zwischendurch Meinungsverschiedenheiten gab: Am Ende fanden wir immer eine Einigung. Es gibt so viele Dinge des Zusammenlebens, die mir ermöglichten, Kraft zu schöpfen. Und ich habe nie bereut, dass ich all die Jahre an seiner Seite blieb. Uns verband eine unheimlich tiefe Freundschaft.

Der Gesundheitszustand von Hans Landert verschlechterte sich zusehends. War der Tod für ihn eine Erlösung?

Ja, das glaube ich.

Und für Sie?

Ich hoffte sehr, dass er sich von der Lungenentzündung erholen wird. Aber ich musste einsehen, dass es nicht weitergeht. In seinem Zustand wäre es nicht mehr möglich gewesen, in unserer Wohnung zu bleiben. Ein Pflegeheim wäre unumgänglich gewesen. Zum Glück blieb ihm das erspart. Ja, vielleicht war es das Ende, das er wollte. Aber natürlich… (sie weint) Wissen Sie, es kommen so viele Erinnerungen hoch, wenn ich davon erzähle, so viele schöne Momente, die wir gemeinsam erlebten. Ich habe viel investiert, ja, aber ich habe auch viel bekommen.

Wie zum Beispiel?

Ich habe dank Hans viel Neues auf dem Gebiet der Kunst und Kultur entdeckt und mich weiterentwickelt, ich profitierte von seinem breiten Wissen, etwa, was die Musik angeht. Schauen Sie… (sie zeigt auf die Regale mit den Schallplatten). Er war ein Liebhaber und Kenner. Wir haben so viele wunderschöne Momente erlebt, obwohl er querschnittgelähmt war.

Was hätten Sie sich in all den Jahren der Pflege gewünscht?

Vertrauen in die Leute, die Unterstützung leisten. Sicherheit, dass sie ihre Arbeit sorgfältig und effizienter erledigen, nicht oberflächlich.

Aber man muss auch bereit sein, Hilfe anzunehmen.

Das stimmt. Es gab schon auch Leute bei der Spitex, die Hans akzeptierte. Zum Beispiel hatte er Freude, wenn eine Frau des psychiatrischen Spitex-Teams zu uns kam und versuchte, mit ihm Erinnerungen aufzufrischen, etwa indem sie gemeinsam auf einem Atlas schauten, welche Städte Hans in seinem Leben besucht hat.

Wie finden Sie sich ohne ihn zurecht?

Es ist schwierig. Ich lebe in der Wohnung, die ich bis Juli mit Hans teilte. Geblieben sind ganz viele Erinnerungen, und ich weiss, dass ich es nicht schaffe, mich von ihnen zu trennen. Die vielen Schallplatten zum Beispiel – ich kann sie nicht verkaufen, das geht nicht. Ich muss jetzt einen Weg finden, wie ich mein Leben ohne Hans einrichte.

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