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Tetrahandchirurgie auf höchstem Niveau

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Jacqueline Calame

Jacqueline Calame

FORTBILDUNG

Spezialistinnen und Spezialisten aus aller Welt trafen sich in Nottwil zum «10th Instructional Course on Reconstructive Tetraplegia Hand Surgery». Sie arbeiten am Ziel, Menschen ein Stück Lebensqualität zurückzugeben.

Von Peter Birrer

Silvia Schibli ist zutiefst beeindruckt. Die Chefärztin Hand- und Tetrahandchirurgie am Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) steht im Skills Lab des Luzerner Kantonsspital, schaut den Chirurginnen und Chirurgen zu, die an fünf Operationstischen hoch konzentriert arbeiten. Seit Stunden schon sind sie daran, Eingriffe zu üben und Techniken anzuwenden, die ihnen zuvor gezeigt worden sind – oder welche aufzufrischen, die ihnen bereits vertraut sind. An den neun Humanpräparaten werden an diesem Tag vier verschiedene Operationen durchgeführt.

«Die Teilnehmenden zeigen einen enormen Wissensdurst und grösstes Engagement», sagt Silvia Schibli, «sie löchern uns mit klugen Fragen. So macht es Spass.» Die Praxis im Skills Lab ist ein wichtiger Bestandteil einer Fortbildung, für die Fachkräfte aus der ganzen Welt angereist sind – und bei der Silvia Schibli sowie Sabrina Koch-Borner die Hauptrollen übernehmen. Silvia Schibli trägt die Gesamtverantwortung dieses «Instructional Course on Reconstructive Tetraplegia Hand Surgery» und kümmert sich um die Gruppe der Ärztinnen und Ärzte; Sabrina KochBorner ist als Leiterin Handchirurgie-Management in Nottwil zuständig für die Therapeutinnen und Therapeuten, die sich eingeschrieben haben.

Viel Knowhow dank Vorträgen

In den drei Tagen dreht sich alles um die Frage, mit welchen operativen Massnahmen bei Menschen mit einer Tetraplegie

Teilnehmende aus aller Welt die Handfunktion verbessert und damit die Lebensqualität erhöht werden kann. Theoretisches Know-how wird mit verschiedenen Vorträgen vermittelt, zum Beispiel zur Verlagerung und neuen Zusammenführung von Sehnen, Muskeln oder Nerven, um Hand- und Armfunktionen zu ermöglichen. Wie gut das gelingt, hängt natürlich auch von der Lähmungshöhe der Betroffenen ab.

Silvia Schibli leitet das Kompetenzzentrum in Nottwil seit anderthalb Jahren. Sie übernahm die Position von Jan Fridén, den sie als «Pionier» im Bereich der Tetrahandchirurgie bezeichnet und der den Kurs nun begleitet – als «Senior Consultant». Silvia Schibli sagt: «Seine Kompetenz ist für uns ungemein hilfreich. Wir sind froh, dass wir ihn immer noch bei uns haben.»

Die Teilnehmenden sind keine Neulinge auf dem Gebiet. Viele von ihnen befassen sich längst mit dem Thema oder sind bestrebt, in ihrem Land eine Vorreiterrolle in der Tetrahandchirurgie zu übernehmen, wie zum Beispiel eine kleine Gruppe aus Tschechien oder ein Arzt aus Usbekistan. Von grossem Wert ist ein reicher Erfahrungsschatz aus der Praxis. «Es gibt sehr wohl hervorragende Literatur, in der man sich theoretische Kompetenzen aneignen kann», sagt Silvia Schibli, «aber ganz wichtig ist für jede Chirurgin und jeden Chirurgen, dass er Gelerntes auch

Die Eingriffe werden an Präparaten geübt

umsetzen kann. Die Tipps von erfahrenen Fachleuten sind unersetzlich.» An Fortbildungen wie dieser wird von den Teilnehmenden auch der Austausch untereinander geschätzt. Und aus gemeinsamen Diskussionen ergeben sich für einzelne Fälle vielleicht gar neue Lösungsansätze.

Wissen verändert sich

Die Tetrahandchirurgie hat sich in den vergangenen Jahren stetig entwickelt, laufend ist man ein Stück vorangekommen – und das Spezialistenteam um Silvia Schibli ist überzeugt, dass mit Hartnäckigkeit weitere Fortschritte erzielt werden können. «Das Wissen verändert sich kontinuierlich», sagt sie. Und je mehr davon vorhanden ist, desto bessere Perspektiven eröffnen sich Menschen mit einer Querschnittlähmung. Plötzlich wieder Besteck in der Hand halten, ein Tablet bedienen, einen Lichtschalter anmachen – Dinge, die vor einem Unfall selbstverständlich waren, können wieder Alltag werden.

Silvia Schibli ist seit langem schon fasziniert von der Tetrahandchirurgie. «Gefragt ist ein filigranes Vorgehen», sagt sie, «und das Schöne ist, dass jeder noch so kleine Fortschritt für die Patientin oder den Patienten mit einem Gewinn an Lebensqualität verbunden ist.» 2009 fand der erste Kurs statt, seither folgten neun weitere Auflagen. Und Silvia Schibli kann festhalten: «Gegenüber den Anfängen ist extrem viel passiert.»

Bedeutung der TherapieFachleute

Nicht nur 21 spezialisierte Chirurginnen und Chirurgen absolvierten die Fortbildung, sondern auch 20 Fachleute aus der Physio- sowie Ergotherapie. Sie übernehmen vor allem postoperativ eine unverzichtbare Rolle. Sie zeigen Patientinnen und Patienten Wege auf, die helfen sollen, die neu erlangten Handfunktionen auch richtig zu nutzen.

Sie bringen ihnen verschiedene Trainingstechniken bei und müssen behutsam vorgehen. Weil das Risiko, ein chirurgisches Werk zu beeinträchtigen oder gar zu zerstören, da sei. So sagt es Sabrina KochBorner, die als Physiotherapeutin über langjährige Erfahrung verfügt und am Kurs in leitender Funktion tätig ist. Für sie ist klar: Wer einen Patienten therapeutisch begleitet, muss den chirurgischen Eingriff verstehen, und sollte wissen, welche Nahttechnik angewendet worden ist oder wie die Nervenbahnen nach einem entsprechenden Transfer neu verlaufen. Denn: Ein Betroffener hat oft viele Fragen. Und er wünscht Antworten, die ihm das Therapeutenteam geben soll, das im Normalfall gleich am Tag nach der Operation mit der Rehabilitation anfängt.

Auch im Bereich der Therapie sind die Fortschritte der vergangenen Jahre beträchtlich. Inzwischen dauert die Rehabilitation nach einer Operation mit dem Ziel, die Ellbogenstreckung wieder zu erlangen, nicht mehr drei Monate, sondern nur noch halb so lang. Die neu gewonnenen Bewegungen werden am ersten Tag nach der Operation direkt unter therapeutischer Anleitung aktiviert. Die positiven Veränderungen werden mittels Videos dokumentiert – zu Beginn der Therapie und nach einem Jahr wieder. Die Unterschiede sind frappant.

Der grosse Aufwand hat sich gelohnt Sukhvinder Kalsi-Ryan ist eine der Teilnehmerinnen, extra aus Toronto angereist und angetan vom Angebot in Nottwil. «Wir profitieren von Wissen, das es in dieser Form nicht an vielen Orten weltweit gibt», sagt sie, «darum wollte ich unbedingt dabei sein.» Die Qualität der Lerninhalte stuft sie als hoch ein, und ebenso bedeutend war auch für sie das Networking, der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus aller Welt: «Bei Gesprächen in der Pause oder nach einem offiziellen Programmpunkt ergaben sich neue Ansätze, die man mitnehmen kann. Das erhöhte für mich den Wert des Kurses zusätzlich.»

Die Rückmeldungen aus der Schar der Teilnehmenden fallen durchweg positiv aus, am Schluss erhalten Silvia Schibli und Sabrina Koch-Borner jedenfalls viel Lob. So viel Energie sie die intensive Zeit mit detaillierter Vorbereitung und straffer Durchführung gekostet hat, eines wissen sie: Ihr immenser Aufwand hat sich gelohnt.

Mehr erfahren www.tetrahand.ch

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