
7 minute read
Mehr als nur Medaillen
TOKYO 2020
«United by emotion» war das Motto der Spiele in Tokio. Die Schweiz lebte den Teamspirit vor und schickte positive Vibes nach Hause.
Von Nicolas Hausammann
Strahlend und überglücklich, teilweise ungläubig ob der eigenen Leistung und derer ihrer Kolleginnen und Kollegen, so präsentierten sich die Schweizer Rollstuhlsportlerinnen und Rollstuhlsportler meist vor der Kamera bei den Interviews von SRF Sport. Die lachenden Gesichter und erfrischenden Statements liessen keinen Sportfan kalt. Positive Emotionen in Zeiten der Pandemie waren gefragt wie selten zuvor.
Es begann in der Leichtathletik
Die Rollstuhl-Leichtathletik, seit jeher das Steckenpferd der paralympischen Erfolge der Schweiz, legte einen Blitzstart hin. Manuela Schär eröffnete den Medaillencount für die Schweiz und die viel zitierte «Ketchup-Flasche» für sich selbst mit Silber über 5000m T54. Fortan sprudelte es nur so Medaillen aus dem Land der aufgehenden Sonne. Marcel Hug doppelte nach mit Gold, was sonst, doch dazu später. Bereits am zweiten Wettkampftag machte Catherine Debrunner den ersten Medaillensatz mit Bronze komplett. Bemerkenswert war sie, die Einstellung unserer Stars. So konnte sich Manuela Schär nicht nur über eigenes Edelmetall freuen, sondern fand immer wieder herzliche Worte für siegreiche Konkurrentinnen: «Ich habe Silber gewonnen und freue mich auch für Susannah, die mit mir gemeinsam immer bereit ist, ein Risiko einzugehen und aufs Tempo zu drücken», so Schär nach ihrer Silbermedaille.
Personifizierte Dominanz
Sieben Mal am Start, sieben Mal als erster über die Ziellinie gefahren. Diese makellose Bilanz steht hinter dem Namen von Swiss Silver Bullet, Marcel Hug. Seine «KetchupFlasche» wurde definitiv bereits in Rio vor fünf Jahren geöffnet. Und die Goldmedaillen, sie flossen in Tokio im Viererpack. Viel wurde auch um seinen massgeschneiderten Carbon-Rennboliden diskutiert. «Den schnellsten Rollstuhl der Welt» zu bauen, war das Ziel von Orthotec-Geschäftsführer Stefan Dürger. Offensichtlich ist ihm dies in Zusammenarbeit mit der ETH Zürich und Sauber gelungen. Gepaart mit dem Thurgauer in Topform und seinem Knowhow, wenn es um Regenmaterial geht, entstand ein überragender Champion.
Goldener Donnerstag
Der 2. September wird in die Geschichtsbücher eingehen als Schweizer Tag. «Ja was erleben wir denn hier, Schweizer Gold im Minutentakt!», schreit SRF-Kommentator Beat Sprecher ins Mikrofon. Tatsächlich waren es drei Goldmedaillen in einer Stunde. Wieder vom Trio infernale Debrunner, Schär, Hug.


Doch damit nicht genug. Noch am selben Tag holten sich die stehenden Athletinnen Elena Kratter Bronze im Weitsprung und Schwimmerin Nora Meister eine Bronzemedaille über 400m Freistil.
Irgendwie hatte aber ein anderer diesen Tag eingeläutet, nämlich der Maestro des Rollstuhlsports, Heinz Frei, höchstpersönlich.
Kampf bis zum letzten Meter
Bereits am 1. September auf dem «Fuji Speedway» holte Heinz Frei seine sage und schreibe 35. paralympische Medaille. In einem packenden Finish fehlte nur wenig für ein kitschig-goldenes Märchenende. Mit wenig Sauerstoff im Blut und überwältigt von Emotionen erklärte ein überglücklicher 63-jähriger Frei, dies sei wohl sein letztes paralympisches Rennen gewesen. «Mein Spirit für den Sport, auch auf diesem Leistungsniveau, ist jedoch immer noch da, so dass ich sicher noch weiter Rennen fahren und für nachrückende Athleten im Hinblick auf Quotenplätze auf Punktejagd gehen werde. Paris steht jedoch nicht mehr auf meinem Plan», so Frei im Interview.
Sportliche Leistung und Inklusion
Die fantastischen Leistungen der Paralympioniken rückten den Rollstuhlsport für einige Zeit in den Fokus der medialen Sportberichterstattung. Mit der Kampagne #WeThe15 wurden die Sportlerinnen und Sportler auch zu Vorzeigebeispielen einer inklusiven Welt. Beim Auftritt im Sportpanorama von Manuela Schär und Marcel Hug stellte Sascha Ruefer dann auch gleich zu Beginn klar: «Rollstuhlsport auf Paralympics-Niveau hat sich zu absolut kompromisslosem Spitzensport entwickelt.» Umso höher sind die Leistungen unseres Teams einzustufen. Und zwar nicht nur diejenigen der Medaillengewinner, sondern aller Teilnehmenden.
So zum Beispiel diejenige unseres Badminton-Doppels, welches es bei der paralympischen Premiere ihrer Sportart auf den unglücklichen vierten Platz schaffte. Cynthia Mathez und Karin Suter-Erath hatten einen unüberwindbaren asiatischen Block vor sich, welcher zusätzlich noch Athletinnen aus einer höheren Klasse einsetzen konnte. Was den Regeln entspricht, in der Schweiz sind allerdings noch keine Athletinnen in dieser mobileren WH2Klasse auf diesem Niveau aktiv.
Oder aber Silvio Keller, der nachnominiert wurde für den verletzt ausgefallenen Weltmeister. Im zweiten Gruppenspiel lag die Überraschung beinahe in Reichweite. Doch nach zwei ganz knappen ersten Sätzen war die Luft raus. Der Tischtennisspieler musste ohne Satzgewinn wieder abreisen. Dasselbe Schicksal erreichte Tenniscrack Nalani Buob an ihrem ersten paralympi-
PLATZIERUNGEN AUF EINEN BLICK

Badminton
Cynthia Mathez (WH1)
Einzel Gruppenphase ausgeschieden Doppel 4. Platz (Diplom)
Karin SuterErath (WH1)
Einzel Viertelfinale ausgeschieden (Diplom) Doppel 4. Platz (Diplom)
Handbike
Team Relay 7. Platz
Tobias Fankhauser
Time Trial DNF Road Race 4. Platz (Diplom)
Heinz Frei (MH3)
Time Trial 7. Platz (Diplom) Road Race Silber
Sandra Graf (WH4) Time Trial 11. Platz Road Race 11. Platz
Fabian Recher (MH4)
Time Trial DNF Road Race 7. Platz (Diplom)
Sandra Stöckli
Time Trial 8. Platz (Diplom) Road Race 9. Platz
Leichtathletik
Beat Bösch (T52)
100 m 5. Platz (Diplom)
Catherine Debrunner (T53)
800 m Bronze 100 m 6. Platz (Diplom) 400 m Gold
Patricia Eachus (T54)
5000 m 10. Platz Marathon 9. Platz
Marcel Hug (T54)
5000 m Gold 1500 m Gold (WR) 800 m Gold Marathon Gold
Manuela Schär (T54)
5000 m Silber 800 m Gold 1500 m Silber 400 m Gold Marathon Silber
Sportschiessen
Nicole Häusler (SH2)
Sitzend Schiessen 20. Platz Stehend Schiessen 13. Platz
Tennis
Nalani Buob
1. Runde ausgeschieden
Tischtennis
Silvio Keller
Gruppenphase ausgeschieden
schen Auftritt. Auch sie schied ohne Satzgewinn aus. Ihr Koffer wird allerdings für einen nächsten Auftritt mit den ersten Erfahrungen angereichert sein. Für Nicole Häusler reichte es im Sportschiessen auch nicht ganz für einen Exploit. Sie platzierte sich auf Rang 13 im «Liegend Schiessen».
Entgegen den Erwartungen des perfekten japanischen Organisationstalents gab es auch reihenweise Kurioses anzutreffen. So warteten beispielsweise die Handbiker am ersten Tag vergebens auf einen rollstuhlgängigen Bus zum Transport auf die Strecke. Auf der Strecke liefs den Athleten unterschiedlich. Fabian Recher beispielsweise riss die Kette im Zeitfahren. Tobias Fankhauser musste sich im Strassenrennen mit Rang vier begnügen, zeigte sich aber ob seiner gezeigten Leistung, so kurz nach überstandenem Infekt, zufrieden. Die Staffel Recher, Fankhauser, Frei holte sich ein Diplom konnte jedoch nicht um die Medaillen kämpfen. Auch bei den Frauen konnten Sandra Graf und Sandra Stöckli nicht in die Medaillenentscheidungen eingreifen. Stöckli holte sich jedoch ein paralympisches Diplom mit Rang acht im Zeitfahren. Gleiches gelang auch Beat Bösch in der Leichtathletik. Für Patricia Eachus reichte es leider nicht ganz für ein Diplom.
Begeisterter Empfang in Nottwil
Wie sehr das Schweizer Team hierzulande für Emotionen sorgte, zeigte sich auch beim begeisterten Empfang im SPZ Nottwil am Mittwoch nach den Paralympics. Die Balkone der Klinik waren voll besetzt und der Therapiegarten umzingelt von Fans mit Transparenten und Schweizerfahnen.
Nachdem die Spiele leider ohne Publikum stattfinden mussten, war das Bad in der Menge, wenn auch auf Distanz, eine willkommene Abwechslung für die Athletinnen und Athleten. «Für uns ist alles aufgegangen mit 14 Medaillen und vielen weiteren Topleistungen», konstatierte Roger Getzmann dann auch als Fazit der Spiele. «Dass wir unser Ziel um mehr als das Doppelte übertroffen haben, liegt daran, dass alle im wichtigsten Moment geliefert und somit auch mentale Stärke gezeigt haben. Hinzu kam noch das nötige Wettkampfglück.»
Zwei Pionierinnen treten zurück
Die Schweiz zeigte Frauenpower an den Olympischen wie Paralympischen Spielen. Nun treten zwei starke Frauen des Schweizer Rollstuhlsports zurück. Beide nahmen in mehreren Sportarten an den Paralympics teil. Karin Suter-Erath in den Rückschlagspielen Tennis und Badminton und Sandra Graf im Monoskibob, der Leichtathletik sowie im Handbike.
Karin SuterErath
«Ich bin im Moment in Topform und es ist ein Privileg, jetzt aufhören zu können und nicht irgendwann dazu gezwungen zu werden, weil der Körper nicht mehr mitmacht. Mit 50 ist eine Stop-and-Go-Sportart wie Badminton eine hohe Belastung. Der Trainingsaufwand ist enorm. Ich konnte phasenweise nicht mehr ganz in dem Umfang und der Intensität trainieren, wie ich mir das gewünscht hätte», begründet Karin Suter-Erath ihren Rücktrittsentscheid. Eigentlich hätte diese Topform noch bis Ende Oktober 2021 ausgereicht, um als Schlusspunkt die WM in Tokio zu spielen. Die Absage des Organisationskomitees bringt nun das verfrühte Karriereende. Die Paralympics in Athen 2004 waren zweifelsohne der grösste Erfolg der Baslerin. Sie holte sich zusammen mit Sandra Kalt die Bronzemedaille im Tennis-Doppel. Im Badminton wurde sie Einzel-Weltmeisterin in Dortmund 2012 und kehrt mit zwei Diplomplätzen aus Tokio zurück. Sie wird mit ihrem Know-how dem Badmintonsport als Trainerin erhalten bleiben.
Sandra Graf
Wenn jemand gezeigt hat, dass Familie und Sport vereinbar sind, dann Sandra Graf. Im selben Jahr, in dem sie in Lillehammer im Riesenslalom (4. Platz) an ihren ersten Paralympics teilgenommen hatte, wurde sie Mami, was sie nicht von einer grossen Rollstuhlsport-Karriere abhielt. Nach ihrem Wechsel in die Leichtathletik nahm die Appenzellerin im Rennrollstuhl an den Paralympics in Sydney, Athen und Peking (Bronze im Marathon) teil. Ihre grössten Erfolge feierte sie im Handbike, wo sie in London 2012 im Zeitfahren die lang ersehnte paralympische Goldmedaille gewann. Hinzu kam in England noch eine bronzene Auszeichnung im Leichtathletik-Marathon. Dass nun Tokyo 2020 ihr letzter grosser internationaler Auftritt sein würde, war lange klar: «Ich hatte eine schöne Karriere, allerdings sind andere Sachen privat zu kurz gekommen, da möchte ich jetzt mehr Zeit investieren. Mein Wissen möchte ich jedoch weitergeben und werde im Handbike-Sport engagiert bleiben. Beim Sportcamp ‹move on› war ich bereits im Einsatz.»