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MEDIZIN UND WISSENSCHAFT
HILFSMITTEL
Gewusst wie – gekonnt durch den Alltag
Die grösstmögliche Selbstständigkeit im Alltag ist oberstes Ziel für viele Patientinnen und Patienten im Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ). Dazu gehört, fehlende Funktionen durch Kompensationstechniken zu ersetzen oder die richtigen Hilfsmittel zu kennen.
Von Nathalie Lammers, Sarina Stöckli und Sarah Kleikemper; Therapien SPZ
Wie trage ich den heissen Topf voll Älplermagronen vom Kochfeld auf den Esstisch, wenn ich meine Hände doch zum Antreiben des Rollstuhls benötige? Wie schliesse und öffne ich die kleinen Knöpfe meines Hemds, das ich für einen wichtigen Termin tragen muss? Wie bleibe ich Teil der digitalen Welt, wenn mir die Fingerfertigkeit fehlt, um Tastatur und Maus zu bedienen? All diese Gedanken flirren durch die Köpfe von Menschen mit einer Para- oder Tetraplegie, die sich in ihrem Rehabilitationsprozess auf dem Weg zur grösstmöglichen Selbstständigkeit im Alltag befinden.
Eine Tetraplegie bedeutet meist auch eingeschränkte Handfunktionen. Je nach Lähmungshöhe kann es sein, dass Fingerfunktionen komplett ausfallen. Wie kleine Alltagshilfen eine grosse Wirkung zeigen können, illustriert der fiktive Tagesablauf eines Tetraplegikers.
Nützliche Hilfsmittel
Für die Morgentoilette kommt die Spitex und hilft mir beim Duschen und Abführen. Trotz dieser Unterstützung bin ich froh, dass ich einen Duschbrausehalter besitze, mit dem ich den Duschkopf selber halten kann. Meine Tetrahandschuhe ermöglichen es mir, dass ich meinen Unterkörper selbstständig anziehen kann. Dazu nutze ich das Gummipad, das sich in der Innenseite der Handflächen befindet, und kann damit die Hosenbeine an meinen Beinen hochstreifen, ohne dass ich die Hose greifen muss. Die Tetrahandschuhe sind übrigens auch beim Antreiben des Rollstuhls notwendig, um genügend «Grip» am Greifreifen zu haben.
Den Transfer vom Bett in den Rollstuhl führe ich mit meinem Rutschbrett durch, welches mir den Weg in den Rollstuhl wie eine Brücke ebnet. Beim Frühstück bin ich auf meine Tetraschlaufe angewiesen. Ich befestige mein Besteck in der dafür vorgesehenen Plastikhülse und schnalle die Schlaufe um meine Handfläche. Im Schlüsselring am Ende des Verschlusses hake ich meinen Daumen ein und schliesse so den Klettverschluss. Teilweise benötige ich dafür aber auch meine Zähne. Manchmal benutze ich auch das Besteck, welches mir meine Ergotherapeutin mit Schienenmaterial angepasst hat. Je nach Mahlzeit ist ein hoher Tellerrand von Vorteil, damit ich das Essen nicht von meinem Teller schiebe.
Wenn ich etwas von der Küche zum Esstisch transportieren möchte, nutze ich meinen Knietisch. Diesen habe ich während meiner Reha im SPZ selbst gebaut. Dank der Styroporkügelchenfüllung im Kissen passt sich der Knietisch meinem Schoss an und das Tablett verrutscht beim Fahren kaum. Am späten Vormittag beantworte ich EMails. Dabei hilft mir meine Tetramaus, mit der ich den Klick mit dem Handballen auslösen kann. Die Sprachsoftware nimmt mir einige unnötige Schritte durch langwierige Menüoptionen ab oder ich kann lange Texte einfach diktieren. Mein Handy befindet sich auf einem kleinen Keil aus Trocellen und ist durch ein Band mit einem Klettverschluss an meinem Bein fixiert. Die Spitex platziert das Handy dort jeden Morgen, damit es für mich in Reichweite ist, wenn ich einen Anruf erhalte. Den Anruf nehme ich mit dem Touchpen entgegen, den ich in der Tetraschlaufe befestige.
Anschliessend mache ich mich auf den Weg zu meinen ambulanten Therapien. Dafür nehme ich den Zug und lasse mich von meinem Elektrohilfsantrieb ziehen. Dieser wird einfach mit Klemmen an den Rohren von meinen Fussrasten befestigt. Die besonders geformten Schrauben ermöglichen es mir, dass ich den Elektrohilfsantrieb auch ohne fremde Hilfe an meinem Rollstuhl befestigen kann. Ich überprüfe in der SBB-App, welche Verbindungen einen barrierefreien Zugang haben und wo ich eine Voranmeldung machen muss, damit mir jemand beim Ein- oder Aussteigen hilft. Manchmal bin ich auch mit meinem angepassten Auto unterwegs. Da nutze ich das integrierte Rutschbrett für den Transfer und verlade den Rollstuhl mit




Die richtigen Hilfsmittel ermöglichen einen möglichst selbstständigen Alltag

einem Seilzug hinter den Autositz. Zum Tanken nutze ich eine App, mit der ich mich zum Tanken anmelden kann. Alternativ nehme ich manchmal auch Freunde mit, die mir beim Tanken helfen. Komme ich nach der Therapie nach Hause, muss ich erst mal mein Gesäss entlasten. Um zu kontrollieren, wie meine Haut aussieht, habe ich eine Spiegelfolie neben dem Bett angebracht.
Abendroutine
Danach beginne ich mit den Vorbereitungen für das Abendessen. Das dauert meist lange, sodass ich froh bin, wenn ich im Supermarkt geschnittenes Gemüse kaufen konnte. Meine Küche ist entsprechend umgebaut. Der Wasserhahn in der Küche ist ausziehbar und der Hebel extra lang. So kann ich den Topf auf der Arbeitsfläche positionieren, mit Wasser füllen und muss ihn nur rüber auf den Herd schieben. Trotz diesen Anpassungen bin ich froh, wenn ich nicht alleine kochen muss.
Wenn ich abends Zeit habe, zocke ich gerne auf meiner Spielekonsole. Neu habe ich einen angepassten Controller, den ich selber finanziert habe.
Vor der Nacht putze ich mir die Zähne und nutze dafür wieder meine Tetraschlaufe, in der meine Zahnbürste steckt. Was ich einmal ausprobieren möchte, ist eine elektrische Zahnbürste. Diese werde ich gemeinsam mit meiner ambulanten Ergotherapeutin mit Schienenmaterial anpassen und den Ein- und Aus-Schalter mit einem Gummiaufkleber erhöhen. All diese kleinen Hilfsmittel, Apps und Tricks vereinfachen meinen Alltag sehr und ermöglichen mir eine grössere Selbstständigkeit.
Die wichtigsten Alltagshelfer im Überblick
In diesem Fallbeispiel hat die Tetraschlaufe eine grosse Bedeutung im Alltag zugeschrieben. Mit dieser kann auch eine Person ohne Fingerfunktionen eine Gabel oder einen Löffel halten. Die Tetraschlaufe besteht aus Klett und einer Plastikhülse. Der oder die Betroffene befestigt die Schlaufe um die Hand und steckt das Besteck in die vorgesehene Hülse. Dafür ist teilweise auch der Einsatz der Zähne notwendig. Die Tetraschlaufe kann auch für das Putzen der Zähne oder das Bedienen des Smartphones per Touchpen verwendet werden. Wenn Fingerfunktionen teilweise vorhanden sind, aber noch kein vollständiger Faustschluss möglich ist, erleichtern einfache Verdickungen aus Schaumstoff das Greifen.
Ein weiteres zentrales Hilfsmittel für den Alltag sind die Tetrahandschuhe. Diese bestehen aus Leder und einem Gummipad und werden individuell angefertigt. Das Gummipad haftet an den gummierten Greifreifen am Rollstuhl, wodurch das Antreiben des Rollstuhls auch ohne Fingerfunktionen möglich ist. Ebenso haftet es an jeglicher Kleidung, die auf diese Weise am Körper entlang gestreift werden kann.
Individuelle Anfertigungen
Müssen Hilfsmittel optimiert oder neu entwickelt werden, erarbeitet ParaWork gemeinsam mit Patientinnen und Patienten Lösungen. Der benötigte Gegenstand wird mit Hilfe des CAD-Programms gezeichnet und durch einen 3D-Drucker gefertigt. Hilfsmittel wie beispielsweise eine Griffverdickung für die Gabel oder eine Hilfe zum Einklappen der Antikippräder am Rollstuhl wurden so schon erfolgreich hergestellt.
Die Webseite «evilcontrollers» vertreibt anpassbare Module für die Controller von Gaming-Konsolen. Diese erlauben das Bedienen des Controllers mit nur einer Hand oder den Handballen. Auch hier werden individuelle Lösungen ermöglicht.
Angebot Therapien SPZ www.paraplegie.ch/spz